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Wahre Stärke kommt aus dem Herzen Berlin, 1913. Seit ihrer Geburt leidet Elisa an der seltenen Glasknochenkrankheit, weshalb sie kaum je die elterliche Villa verlassen hat. Ihr einziger Lichtblick sind die Besuche ihres Arztes Wilhelm, für den sie heimlich Gefühle hegt – doch ihr Vater verheiratet sie gegen ihren Willen mit dem Bankierssohn und Frauenhelden Louis Lindqvist. Zu ihrer Überraschung fühlt Elisa sich jedoch bald so frei wie noch nie: Zum ersten Mal darf sie ins Theater gehen, durch die Stadt ziehen und das Leben in vollen Zügen genießen. Und auch in Louis erkennt sie unter der rauen Fassade bald einen verletzlichen Menschen, dem sie sich immer näher fühlt. Trotzdem kann sie Wilhelm nicht vergessen und als der Krieg ausbricht und beide Männer an die Front ziehen, muss Elisa beweisen, wie stark sie wirklich sein kann … »Eines der schönsten und feinfühligsten Bücher, das ich seit Langem gelesen habe. Absolute Empfehlung!« Bestsellerautorin Hanni Münzer Ein ergreifender Roman über die Liebe, Hoffnung und den Mut, über sich hinauszuwachsen – von der BESTSELLERAUTORIN der »Müggelsee-Saga«.Dies ist eine Neuausgabe des bereits unter dem Pseudonym Julie Hilgenberg der Autorin erschienenen Titels »Das Mädchen aus Glas«.
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Seitenzahl: 629
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Berlin, 1913. Seit ihrer Geburt leidet Elisa an der seltenen Glasknochenkrankheit, weshalb sie kaum je die elterliche Villa verlassen hat. Ihr einziger Lichtblick sind die Besuche ihres Arztes Wilhelm, für den sie heimlich Gefühle hegt – doch ihr Vater verheiratet sie gegen ihren Willen mit dem Bankierssohn und Frauenhelden Louis Lindqvist. Zu ihrer Überraschung fühlt Elisa sich jedoch bald so frei wie noch nie: Zum ersten Mal darf sie ins Theater gehen, durch die Stadt ziehen und das Leben in vollen Zügen genießen. Und auch in Louis erkennt sie unter der rauen Fassade bald einen verletzlichen Menschen, dem sie sich immer näher fühlt. Trotzdem kann sie Wilhelm nicht vergessen und als der Krieg ausbricht und beide Männer an die Front ziehen, muss Elisa beweisen, wie stark sie wirklich sein kann …
eBook-Neuausgabe September 2025
Dies ist eine Neuausgabe des bereits unter dem Pseudonym »Julie Hilgenberg« der Autorin erschienenen Titels »Das Mädchen aus Glas.«
Copyright © der Originalausgabe 2020 by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © Adrian Grosu / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (ah)
ISBN 978-3-98952-801-7
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Julie Heiland
Roman
Am Tag ihres siebten Geburtstags hatte Elisas Gefangenschaft begonnen.
Ein Tag, der zunächst so schön gewesen war. Elisa hatte außerhalb des Grundstücks spielen dürfen, was ihre Mutter normalerweise strengstens verbot. Nach Hause zurückgekehrt war Elisa mit einem Herz voller Geheimnisse, die ihre Augen strahlen ließen und ihr ein abenteuerliches Lächeln auf die Lippen zauberten. Die Luft duftete damals intensiv nach warmer Erde, Sonne und frisch gebackenem Apfelkuchen, so köstlich, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief.
Selbst heute, sechzehn Jahre später, spürte Elisa noch immer das saftige, weiche Gras unter ihren nackten Füßen, wenn sie an diesen Tag zurückdachte. Die Geräusche der Natur waren von ihrem Singen übertönt worden, und sie hatte aus Leibeskräften gesungen, denn sie war überglücklich und voller Energie gewesen, sodass sie die zwei Treppenstufen, die vom Garten auf die Terrasse führten, hinaufgesprungen war.
Da war es passiert.
Sie war gestürzt. Schlug hin.
Der Schmerz, der daraufhin durch ihren Arm schoss und sich dort festkrallte wie ein böser Nachtmahr, war ihr bereits bekannt gewesen. Sie hatte nicht geweint. Hatte gewartet. Regungslos.
Als ihre Mutter kurz darauf auf die Terrasse gekommen war, um Elisa zum Abendessen zu rufen, hatte sie aufgeschrien. Auf einmal war Elisa eiskalt gewesen, obwohl die Sonne auf ihre Schultern gebrannt hatte. Verschwunden war der süße Duft, der eben noch die Luft erfüllt hatte. Sie hatte bereits geahnt, dass sich von nun an alles ändern würde.
MAI 1913
Elisa versuchte, die Erinnerungen an diesen Tag abzuschütteln. Es war halb zwölf, und das Weiß der leeren Tagebuchseite vor ihr strahlte ihr entgegen. Kein einziges Wort hatte sie geschrieben, obwohl sie schon eine halbe Stunde lang an ihrem Schreibtisch saß. Als ihre Füllfeder nach einer Weile doch über das Papier kratzte, spürte sie, dass sie die Worte förmlich herauszwang. Schließlich gab sie es auf und steckte den Deckel auf ihr Schreibgerät, um den einsamen Satz auf sich wirken zu lassen. Es war ein Satz, den sie schon unzählige Male geschrieben und gelesen hatte, denn der Eintrag glich exakt dem des Vortags. Und dem des Tages davor.
Nach dem Frühstück mit Mutter habe ich zwei Stunden lang gelesen.
Sie überraschte sich selbst, als sie sich von ihrem Stuhl erhob und die Seite herausriss, mit ihr noch zwei weitere, diese zusammenknüllte und in den Papierkorb warf. Elisa legte die Hände vors Gesicht, und als sie wieder etwas ruhiger atmen konnte, fuhr sie sich über ihr Haar. Sie bereute es sofort, da ihre Mutter mindestens eine halbe Stunde für die Flechtfrisur gebraucht hatte und es sofort bemerken würde, wenn auch nur eine Strähne aus der Reihe tanzte.
Durch ihre offene Zimmertür drang der Duft frisch aufgebrühten Kaffees. Sie hörte die Stimme ihres Vaters, der wütend zu sein schien oder vielleicht auch nicht, denn selbst wenn August von Treue einen guten Tag hatte, war sein Tonfall streng und gebieterisch. Mittagssonne fiel durch das Fenster, und Elisa schaute, noch immer aufgebracht, nach draußen auf die Straße. Dort zog das Geklapper von Pferdehufen auf Pflastersteinen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Vor dem Haus hielt eine Droschke, aus der vorsichtig ein Mädchen stieg. Sie schien sehr darauf bedacht, dass dem feinen, lang geschnittenen Karton in ihren Armen nichts geschah. Bertha, Elisas Kammerfrau, eilte ihr entgegen, nahm den Karton und drückte ihr Geld in die Hand.
Zehn Minuten später klackerten die Absätze von Elisas Mutter die Treppenstufen herauf und kündigten an, dass sie sich zielstrebig ihrem Zimmer näherte. Tack. Tack. Tack. Tack. Wie immer verschwendete Pauline von Treue keinen Gedanken daran, dass ihre Tochter vielleicht lieber ungestört wäre, und platzte ins Zimmer. Die Haltung perfekt, das rosafarbene, mädchenhafte Kleid hochgeschlossen, die Haare zu einer aufwendigen Frisur aufgesteckt.
»Ich habe eine Überraschung für dich, Elisa. Ist das nicht schön? Du magst doch Überraschungen!«, freute sie sich mit ihrer hohen Stimme.
Für einen Moment war es so still, dass man ihr straff geschnürtes Korsett leise knistern hören konnte. Mit einer Hand umfasste sie die Lehne des Stuhls, auf dem Elisa gerade eben noch gesessen hatte.
Elisa kannte Überraschungen eigentlich nur, wenn ihre Mutter ihr ein neues Buch schenkte. Bücher halfen ihr, die Zeiger der Uhr etwas schneller wandern zu lassen, damit sich die Tage nicht gar so endlos anfühlten.
»Was ist es denn, Mutter?«, fragte sie.
Bertha schlich nun ins Zimmer, darauf bedacht, kaum aufzufallen. Noch immer trug sie den mysteriösen Karton in den Armen. Vorsichtig, als sei darin ein Säugling, legte sie ihn auf dem Bett ab.
»Sieh nach«, sagte ihre Mutter, die ihre freudige Aufregung kaum verbergen konnte.
Elisa öffnete den Karton. Eingeschlagen in dünnes Papier kam ein wunderschönes Kleid zum Vorschein. Sie streckte die Hand nach dem feinen, fliederfarbenen Stoff aus. Doch als ihr Zeigefinger ihn streifte, zog sie die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. Im Vergleich dazu war das cremefarbene, locker sitzende Reformkleid, das sie trug, unauffällig. So wie sie es bevorzugte.
Früher hatte ihre Mutter ihr oft schöne Kleider geschenkt. Mehrmals hatte Elisa sie darum gebeten, damit aufzuhören, doch ihre Mutter hatte nicht hören wollen – bis zu dem Tag, an dem Elisa eines dieser Kleider mit der Schere zerschnitten hatte. Ganz still, mit ruhiger Hand, unter Tränen. Erst als ihre Mutter sie gefunden hatte und ihr Kleid und Schere wegnehmen wollte, hatte Elisa geschrien. Endlich war die Traurigkeit aus ihr herausgebrochen, die sie empfand, wenn sie diese schönen, wertvollen Seiden- und Chiffonstoffe trug. Eine junge Frau, die das Haus nie verließ, brauchte keine kostbaren Kleider. Sie würden ohnehin nur von Motten zerfressen werden und aus der Mode kommen.
»Aber es gibt doch gar keinen Anlass.« Elisa sah vom Kleid zu ihrer Mutter und wieder zurück.
»Doch, den gibt es. Aber den verrate ich dir noch nicht. Niemand wird ihn dir verraten.« Ihre Mutter warf Bertha einen strengen Blick zu, die daraufhin einen Knicks machte und sich zurückzog.
»Selbstverständlich, Frau von Treue.«
»Wie geht es dir, Kind?«, fragte ihre Mutter. Während sie Elisa musterte, schien sie im Kopf eine Strichliste durchzugehen. Kleid? Knitterfrei. Teint? Blass, jedoch leicht gerötete Wangen. Haare? Eine Strähne ist verrutscht. »Du wirkst etwas fahrig.«
»Es geht mir gut«, entgegnete Elisa. »Wirklich.«
»Bist du auch ganz ehrlich?«
»Ja. Natürlich.«
Ihre Mutter musterte sie erneut lange, als könnte sie auf diese Weise Elisas Gedanken lesen. Schließlich nickte sie. »Schön. Sehr schön. Kommst du gleich herunter? In etwa einer halben Stunde gibt es Mittagessen. Sei vorsichtig auf der Treppe.«
Nachdem ihre Mutter sie wieder allein gelassen hatte, sank Elisa auf die Bettkante neben das Kleid. Obwohl ihr Körper zierlich war, fühlte er sich heute unendlich schwer an. Heute war der 30. Mai, was bedeutete, dass Elisa in exakt zwei Monaten ihren vierundzwanzigsten Geburtstag feiern oder eben nicht wirklich feiern würde. Allein bei dem Gedanken daran graute es ihr, denn sofort waren wieder die Bilder ihres siebten Geburtstags vor ihrem inneren Auge. Sie wollte nicht daran zurückdenken, aber sie hatte nicht viel, an das sie sonst denken konnte. Normale Menschen sammelten Erinnerungen, erlebten kleinere oder größere Abenteuer. Elisa erlebte nichts, deshalb hatte sie auch keine Erinnerungen, die sie ablenken konnten.
Nach dem Unglück an ihrem Geburtstag hatte ihr Vater sofort ihren Arzt gerufen. Noch immer hörte Elisa die aufgebrachten Stimmen ihrer Eltern sowie die tiefe, ruhige Stimme von Doktor Johannes Friedmann, als diese sich lange hinter verschlossener Tür unterhalten hatten.
»Elisa ist krank«, hatte der Arzt gesagt. »Schwer krank. Ihre Knochen brechen sehr leicht. In etwa so leicht wie Glas.«
»Was soll das für eine merkwürdige Krankheit sein?«, hatte ihr Vater entgegnet. »Ich habe noch nie etwas von ihr gehört!«
Osteogenesis imperfecta, erklärte Doktor Friedmann. Bisher sei Osteogenesis imperfecta noch kaum erforscht. Er selbst kenne die Krankheit nur aus Büchern. Er werde sich erkundigen.
Elisa hatte ihre Hände, ihre Arme, ihre Beine betrachtet – da war doch nichts Außergewöhnliches an ihr? Sie hatte sich immer für ein normales Mädchen gehalten, das sie allem Anschein nach nicht war.
Nachdem Doktor Friedmann gegangen war, hatte sie sich im Garten unter den Apfelbaum gesetzt. Ein Marienkäfer war über ihren rosafarbenen Schuh gekrabbelt, die weißen Socken hinauf, bis zu ihrem Knie. Tief, so tief wie möglich hatte sie den Duft der noch jungen Äpfel eingeatmet. Sie hatte geahnt, dass der Sommer bald für sie vorbei sein würde.
Elisa ist krank. Schwer krank ...
Ihre Gefangenschaft hatte langsam begonnen. Zunächst hatte ihre Mutter Elisa verboten, ihre Freundinnen zu besuchen. Ein paar Wochen später war Spielen im Freien oder ein Spaziergang durch den Garten nur noch unter strenger Beobachtung erlaubt gewesen. Ihre Mutter hatte eine elektrische Klingel neben Elisas Bett installieren lassen, die – wenn das Mädchen den kleinen Elfenbeinknopf drückte – sowohl in der Schlafkammer der Angestellten als auch in Frau von Treues Schlafzimmer läutete.
Das alles hatte seine Ursache in den Bildern, die Doktor Friedmann ihrer Mutter ein paar Tage nach dem Unfall gezeigt hatte. Pauline von Treue hatte nach Luft geschnappt und sich von dem Buch abgewandt, weil sie den Anblick nicht ertragen konnte. »Diese Krankheit hat sie? Das hat Elisa? Tun Sie es weg. Schnell! Das ist ... das ist widerwärtig.«
Das ist widerwärtig.
Elisa hatte sich damals unter dem Schreibtisch versteckt, um zu lauschen. Noch lange nachdem der Arzt wieder mit dem Buch verschwunden war, hatte sie dort gekauert, die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen. Sie hatte sich an sich selbst festgehalten.
Eine Woche später hatte Johannes Friedmanns Sohn Wilhelm das Buch mit den Lithografien auf Elisas Bitte zu ihr nach Hause geschmuggelt, damit sie mit ihren eigenen Augen sehen konnte, was ihre Mutter so entsetzt hatte. Wilhelm war schon immer ihrbester Freund gewesen. Egal um was sie ihn gebeten hatte, er hatte ihr jeden Wunsch erfüllt.
Die beiden hatten sich in die Bibliothek zurückgezogen, verborgen von den hohen Regalen, und das Buch aufgeschlagen. Es war das Buch eines holländischen Professors der Anatomie gewesen, Willem Vrolik. Darin waren Lithografien von Patienten gewesen, die an Osteogenesis imperfecta litten. Offenbar gab es die Krankheit in unterschiedlichen Ausprägungen. Es gab Patienten, denen man kaum etwas ansah, und Patienten, die missgeformte Körper hatten. Zu große Köpfe, zu kurze Beine, zu krumme Rücken.
»Du bist viel hübscher.« Wilhelm hatte seine Hand auf ihre gelegt und zärtlich ihre Finger gedrückt.
»Ehrlich?« Eine Träne war auf das Bild eines jungen Mannes mit schiefem Rücken getropft.
»Ganz ehrlich. Ich verspreche es dir hoch und heilig.«
Wie um ihr zu beweisen, dass er sie wirklich nicht widerwärtig fand, hatte Wilhelm ihr einen Kuss auf die Wange gegeben. Seitdem waren sechzehn Jahre vergangen, in denen Elisa nicht mehr geküsst worden war.
Sechzehn Jahre der Gefangenschaft.
Den Rest des Tages war alles in heller Aufregung. Elisas Kammerfrau Bertha und Johanna, das Dienstmädchen der von Treues, fegten, putzten und schrubbten das ganze Haus von oben bis unten. Außerdem wurden Sonnenblumen und Margeriten gekauft, die Frau von Treue in golden verzierten Vasen auf den frisch polierten Kommoden platzierte. Die Hausangestellten klopften den Staub aus den dunklen Teppichen, und die Buchsbaumhecken wurden vom Gärtner in Form gebracht.
Gegen Nachmittag beobachtete Elisa, die sich gerade mit einem ihrer Lieblingsromane – Effi Briest von Theodor Fontane – ins Landschaftszimmer gesetzt hatte, wie Johanna aufgeregt mit dem Gärtner tuschelte. Immer wieder warf das Dienstmädchen einen Blick über die Schulter, wie um sich zu vergewissern, dass auch wirklich niemand lauschte. Gedämpft drang ihre sensationslüsterne Stimme durch das gekippte Fenster zu Elisa.
»Lindquist. Sie sollte sich freuen, wer käme denn sonst infrage? Aber man erzählt sich ja so einiges. Er soll ja sogar schon im Gefängnis gesessen haben.«
»Lindquist?« Der Gärtner machte große Augen. »Das kann nicht sein ... Das würde ihr Vater niemals zulassen.«
»Aber ich hab’s doch gehört!«
Lindquist. Ein Name, der hin und wieder während des gemeinsamen Abendessens mit ihrer Familie gefallen war. Emil Lindquist war Privatbankier, und soweit Elisa wusste, hatte er zwei Söhne. Der ältere der beiden hieß Franz, und laut dem Wenigen, das man sich über ihn erzählte, war er ein rechtschaffender Mann. Der Name des jüngeren war Louis. Louis war ein Tunichtgut sondergleichen, der sämtliche Bordelle Berlins kannte, wenn man den Gerüchten Glauben schenkte. Und Elisa glaubte den Gerüchten.
Pünktlich um halb acht, wie jeden Abend, wurde das Essen serviert. Die Sonne ging auf der anderen Seite der Villa unter, weshalb der Speisesaal um diese Zeit im Schatten lag.
Mit langsamen Bewegungen zerschnitt Frau von Treue ihr Filet. Ihr gegenüber, am anderen Ende des langen Tischs, thronte Elisas Vater, der sich räusperte und den Mund mit der weißen Stoffserviette abtupfte, um sie dann neben seinem Teller in der geballten Faust zusammenzuknüllen. »Morgen Nachmittag bekommen wir Besuch.«
Wie immer war Herrn von Treues runder Kopf tiefrot, als würde sich dort all sein Blut stauen. Die Anspannung, die die Arbeit in seiner Firma mit sich brachte, nahm er tagtäglich mit nach Hause. Von Treue Süßwaren &feinstes Gebäck war in den letzten Jahren zu weit mehr als einer gewöhnlichen Süßwarenfabrik herangewachsen. Sogar die Dampfmaschinen, die zur Produktion benötigt wurden, stellte mittlerweile eine Zweigfabrik der Von Treue GmbH selbst her. Ihr Vater besaß Verkaufsfilialen nicht nur in Berlin, sondern auch in München, Hamburg, Dresden und Wien.
An seine Frau gewandt fuhr er fort: »Mach Elisa bitte morgen die Haare ordentlich. Und zieh ihr ein anständiges Kleid an. Nicht diese Kombination aus Rock und Bluse.«
Ohne ihren Mann anzusehen, antwortete Frau von Treue: »Das mache ich. Sie wird wunderschön aussehen. Wie eine Prinzessin.«
Elisa sah ihren Vater an. »Wer kommt denn? Ein Geschäftspartner? Verwandtschaft?«
»Weder noch.«
Johanna betrat mit einer Wasserkaraffe den Raum und schenkte Elisa und ihrer Mutter nach, zuletzt auch ihrem Vater. Der sah Johanna etwas zu lange hinterher, wie Elisa fand.
Frau von Treue legte das Besteck nieder und streckte ihre Hand aus – eine stille Aufforderung, dass Elisa ihre darauflegen sollte. »Morgen wird ein sehr, sehr schöner Tag. Für uns alle. Für dich und für mich und für deinen Vater.«
»Aber wer besucht uns denn nun?« Elisa kam Johannas Getuschel mit dem Gärtner in den Sinn. »Hat es mit der Familie Lindquist zu tun? Kommt einer von ihnen zu Besuch?«
Die Standuhr schlug achtmal. Acht Schläge lang schien die Welt stillzustehen.
»Lindquist«, wisperte ihre Mutter und entzog Elisa die Hand. »Wie kommst du darauf? Wer hat dir davon erzählt?«
»Hast du es ihr gesagt?«, fuhr Herr von Treue seine Frau an. Eine Ader pochte an seiner Stirn.
»Nein! Kein Wort habe ich gesagt!«
»Niemand hat mir etwas verraten. Ich habe es zufällig gehört. Von welchem der Lindquists ist die Rede? Und was will er hier?«
»Stell nicht so viele Fragen, Elisa«, mahnte ihre Mutter.
Als ihr Vater sich zurücklehnte, spannte sein Hemd über seinem prall gefüllten Bauch. »Die Rede ist von Louis Lindquist.«
»Hast du geschäftlich mit ihm zu tun?«
»Ja und nein.« Ihr Vater strich sich über seinen Schnurrbart. »Er hält um deine Hand an.«
Elisa glitt ihre Gabel aus der Hand, was ihr Vater sofort mit einem ärgerlichen Blick quittierte. »Er ... er will um meine Hand anhalten?«
Ihre Mutter lächelte gequält.
»Aber ... ich verstehe nicht ...«
»Morgen ist er zum Kaffee hier. Beschlossene Sache.«
»Was ...? Aber ...«
»Nichts aber! Sein Vater ist Besitzer einer angesehenen Privatbank.«
»Aber man erzählt sich nur Schreckliches über ihn! Dass er zu viel trinkt und zahlreiche Affären hat und ...«
»Diese Verbindung wird die Fabrik finanziell absichern.«
»Aber wir haben doch genug Geld!«
»Rede nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst! Die Welt dreht sich immer schneller, und wir müssen mithalten. Stollwerck verkauft seine Schokolade inzwischen sogar in Chicago und New York. Warum sollten wir also nicht auch unsere Süßwaren dort verkaufen? Aber dafür brauchen wir Kapital! Eine Verbindung zu einer Bank wäre ein Segen!« August von Treues Kopf war noch roter geworden.
Etwas bäumte sich in Elisa auf. Etwas, das ihr ins Ohr flüsterte, dass sie ihrem Vater widersprechen musste. »Was ist mit der ... «
»Mit der Liebe?«, schnitt er ihr das Wort ab. »Ach, Elisa ... Du bist krank. Du solltest dich freuen, dass Louis Lindquist sich bereit erklärt, dich zu heiraten.«
Ja, sie war krank. Eben genau deshalb hatte sie bisher so gut wie keinen Gedanken daran verschwendet zu heiraten. Sie war keine Frau, in die ein Mann sich verliebte.
Elisa hielt sich an der Tischkante fest. »Aber ...«
»Elisa! Noch ein Widerwort und du gehst auf dein Zimmer!«, brachte ihr Vater sie zum Verstummen.
Nervös gab ihre Mutter dem Dienstmädchen mit der Hand ein Zeichen. Kurz darauf kehrte Johanna mit einer Tasse Kamillentee zurück, die sie vor Elisa abstellte.
»Trink das«, flüsterte Pauline von Treue. »Der beruhigt. Und du magst Kamillentee doch so gerne.«
Was nicht stimmte. Das behauptete ihre Mutter nur immer. Dennoch trank Elisa, denn wenn sie nicht trank, musste sie wieder mit ihr diskutieren, und ihr Vater würde noch wütender werden.
»Bring sie in ihr Zimmer«, wies Frau von Treue das Dienstmädchen schließlich an.
Widerstandslos ließ sich Elisa die Treppe hinaufführen. Der Tag war anstrengend und verwirrend gewesen. Sie sollte am besten einfach schlafen.
»Und von dort aus bin ich dann nach Hause geflogen.« Louis ließ sich auf das Sofa fallen und stemmte die Füße gegen die verschnörkelte Nussbaum-Armlehne. Seine Reitstiefel waren voller Gras und Schlamm, wie ihm erst jetzt auffiel, aber das kümmerte ihn nicht.
Magda, das Dienstmädchen, sollte das eigentlich sehr wohl kümmern, aber sie bemerkte den Dreck nicht, denn ihre großen Augen flehten Louis an weiterzuerzählen. »Geflogen? Richtig mit dem Flugzeug geflogen?«
Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und setzte den Blick eines Helden auf, der sich an eine erfolgreiche Schlacht erinnerte. »Selbstverständlich.«
Gerade, als Louis zu einer neuen Lügengeschichte ansetzen wollte, hallten Schritte im Flur. »Louis!«, rief sein Vater. »Louis! Bist du wahnsinnig?!«
Louis kniff die Augen zusammen, weil die laute Stimme seines Vaters ihm Kopfschmerzen bereitete. Schon rauschte Emil Lindquist in die Bibliothek und deutete mit dem Finger auf den hellen Perserteppich, auf dem eine Spur dicker Erdklumpen zum Sofa führte. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
Seufzend schwang Louis die Beine von der Armlehne und richtete sich auf. Seine Reitstiefel hatten auch auf dem beige-weiß gestreiften Sofabezug braune Flecken hinterlassen. »Wenn du so lieb wärst, Magda, und mir einen starken Kaffee mit einem Schuss Cognac bringen könntest? Das wäre jetzt genau das Richtige.« Er zwinkerte ihr zu.
Mit glühenden Wangen senkte Magda den Blick zu Boden. »Sehr wohl.«
»Keinen Kaffee mit Cognac.« Sein Vater atmete schwer und legte eine Hand auf die linke Brustseite, über sein Herz. »Wenn du meinem Sohn überhaupt etwas bringst, dann Wasser.«
Zwei Atemzüge lang stand Magdas Mund unvorteilhaft offen, dann machte sie hastig einen Knicks, um schließlich aus dem Raum zu huschen. Fast wäre sie in Franz hineingelaufen, der seinem Vater wie immer auf Schritt und Tritt folgte. Franz, der Vorzeigesohn. Franz, der tagtäglich mit seinem Vater in die Privatbank der Familie marschierte. Franz, der abends sämtliche Zeitungen studierte. Der nie auch nur einen Fehler im Leben gemacht hatte.
»Du stinkst nach Zigarren, Pferdestall und Alkohol, Louis.« Herr Lindquist öffnete das Fenster, stützte sich mit beiden Händen auf der Fensterbank ab und schaute hinaus.
»Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich zu waschen.«
»Ja, weil du erst vor einer halben Stunde nach Hause gekommen bist! Und es ist wohlgemerkt bereits zehn Uhr morgens!«
»Erstens ist Sonntag. Da steht es einem jawohl frei zu machen, was man will. Und zweitens war ich ausreiten.«
»Und davor hast du dich die ganze Nacht weiß der liebe Gott wo herumgetrieben.«
Franz legte seinem Vater eine Hand auf den Rücken. »Beruhige dich. Du weißt, dein Herz ...«
»Jaja, ich weiß, ich weiß.«
Gefleckte Haut schimmerte an Herrn Lindquists Hinterkopf durch sein lichtes Haar hindurch. Sein Anzug war ihm zu weit, was daran lag, dass er in letzter Zeit immer dünner wurde. Louis hatte ihm schon mehrmals gesagt, er solle sich einen neuen Anzug maßanfertigen lassen. Aber sein Vater nickte dann immer nur abwesend.
Er drehte sich zu Louis um. »Du hast mich angelogen.«
»Angelogen?« Louis legte die Arme über die Rückenlehne des Sofas. »Nicht dass ich wüsste.«
»Bitte versuche nicht, mich für dumm zu verkaufen. Du hast keine Semesterferien, Louis. Dein Professor hat mich heute Morgen angerufen und mir gesagt, dass du sämtliche Prüfungen nicht bestanden hast. Und nun von der Universität ausgeschlossen wurdest.«
Franz starrte auf seine Schuhspitzen, als ginge ihn dieses Gespräch nichts an. Einmischen wollte er sich nicht, dafür war er zu feige. Aber verpassen wollte er auch nicht, wie seinem kleinen Bruder die Leviten gelesen wurden.
»Da muss ein Missverständnis vorliegen. Ich habe dir doch erzählt, dass ich die Prüfungen nicht bestanden habe. Obwohl ich so viel gelernt hatte.« Louis erhob sich vom Sofa, um mit aufgesetzt zerknirschtem Gesichtsausdruck die Hände auf die Schultern seines Vaters zu legen. »Es tut mir leid, wenn das untergegangen sein sollte. Ich dachte wirklich, du hättest mir damals zugehört. Aber vermutlich hattest du wieder zu viele andere Dinge im Kopf. Ich hätte es dir noch einmal sagen sollen.«
Damit ließ Louis einem seiner größten Talente freien Lauf. Nahezu spielerisch gelang es ihm meist, von der eigenen Schuld abzulenken, indem er andere ganz beiläufig anklagte. Franz durchschaute diesen Trick inzwischen, weshalb er mit den Augen rollte.
Doch auch sein Vater ließ sich dieses Mal nicht täuschen. »Louis, hör auf mit diesem Unsinn! Franz ist mein Zeuge, dass du nie etwas von deinen Prüfungen erzählt hast. Dein Professor meinte, du seiest nicht einmal zu den Vorlesungen erschienen! Wir hatten eine Abmachung, und die lautete, dass du nur in München studieren darfst und ich dir dort eine Wohnung finanziere, wenn du fleißig bist und einen guten Abschluss erzielst.«
»Das wollte ich auch. Wirklich. Aber ...«
»Du verstehst scheinbar nicht, wie ernst es mir ist. Ich habe weder die Lust noch das Geld, deine Eskapaden länger zu finanzieren. Nimm dir doch ein Beispiel an deinem Bruder. Franz hat sein Abitur mit Bravour gemeistert, ebenso seine kaufmännische Studienzeit!«
Dein Bruder war in Südafrika, Großbritannien und den USA, um möglichst viel zu lernen. Und was hast du gemacht? Du warst gerade einmal in Paris, und dort haben sie dich bereits nach drei Wochen aus der Bank geschmissen, weil du so gut wie nie zur Arbeit erschienen bist ... Louis konnte diesen Vortrag nicht mehr hören.
»Franz ist mit einer wundervollen Frau verheiratet und hat zwei ebenso wundervolle Töchter. Er ist ein hervorragender Ehemann. Du gibst dir ja nicht mal Mühe, ein nettes Mädchen kennenzulernen.«
»Ich finde schon irgendwann eine Frau. Aber jetzt noch nicht. Ich bin erst fünfundzwanzig Jahre alt und damit noch zu jung, um zu heiraten. Und warum muss ich studieren, wenn ich doch einfach in der Bank arbeiten könnte? Ich könnte dir helfen und ...«
»Ach, papperlapapp! Wie willst du mir denn helfen, wenn du von nichts eine Ahnung hast!«
Das saß.
»Ich könnte es lernen«, erwiderte Louis leise.
»Du willst doch nur in der Bank arbeiten, damit du weiterhin dieses Lotterleben führen kannst. Keinen Finger würdest du rühren, weil du nicht weißt, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen! Während dein Bruder und ich arbeiten würden, würdest du unser Geld ausgeben.« Emil Lindquist rang nach Luft. »Deshalb habe ich andere Pläne mit dir.«
»Andere Pläne? Was soll das heißen?«
Magda kam mit einem Glas Wasser in den Salon, doch Franz scheuchte sie davon.
»Was für Pläne? Franz?!« Hilfesuchend sah Louis zu seinem Bruder, doch der verschränkte nur die Hände hinter seinem Rücken und musterte angestrengt den Holzfußboden.
Sein Vater drehte den goldenen Ring an seiner rechten Hand. Seinen Ehering. »Du wirst heiraten.«
»Heiraten?!« Louis machte zwei Schritte zurück. »Man heiratet mit dreißig!«
»Dein Bruder war sechsundzwanzig, als er geheiratet hat.«
»Dann habe ich noch ein Jahr.«
»Es tut hier nichts zur Sache, wie alt du bist. Es ist beschlossen. Wenn du weiterhin von meinem Geld leben willst, verlange ich von dir, dass du heiratest. Punkt.«
»Aber warum?«
Franz wagte es, das Wort zu ergreifen: »Du weißt, wie sehr wir mit unserer Bank zu kämpfen haben. Die Aktienbanken gewinnen immer mehr an Bedeutung und nehmen uns wichtige Kunden weg. Ein Konnubium mit der Tochter eines angesehenen Fabrikanten würde unsere Zukunft sichern.«
Während Louis den Blick seines Vaters hielt, dachte er nach. Heiraten ... vielleicht wäre das gar nicht so verkehrt. Sein Vater hatte ihm versprochen, dass er in diesem Fall weiterhin Geld zur Verfügung hätte. Niemand könnte ihm verbieten, weiterhin nachts um die Häuser zu ziehen. Es gab viele hübsche Fabrikantentöchter, so schlimm würde es ihn schon nicht treffen. Warum also nicht?
»Wen?«, fragte er.
»Elisa von Treue.«
»Elisa von Treue? Bitte sag mir, dass das ein Scherz ist.«
»August von Treue hat gute Verbindungen zum Hof«, referierte Franz. »Kaiser Wilhelm konsultiert ihn gerne, wie man sagt.
Deshalb wurde er auch vor vier Jahren geadelt. Und die Familie verfügt über reichlich Kapital, was bedeuten würde, dass die Mitgift entsprechend hoch wäre.«
»Großartig!«, sagte Louis ironisch. »Ich habe gehört, dass ihre Eltern sie einsperren. Das ist doch seltsam! Und mit so einer Frau wollt ihr mich verheiraten?«
»Sie sperren sie nicht weg. Das Mädchen ist krank. Es ist aber nichts Ansteckendes. Sie darf nur nicht nach draußen«, erwiderte sein Vater kurzatmig. Einen Moment lang hatte Louis Angst, sein Vater würde hier und jetzt zusammenbrechen, aber er fing sich wieder und schüttelte ärgerlich und enttäuscht den Kopf.
»Ja, diese mysteriöse Krankheit!«, gab Louis nicht auf. »Man sagt, sie zerbreche, sobald man sie anfasst. Das kannst du mir nicht antun, Vater!«
»Das kann ich eben doch, weil es für uns wichtig ist, um den Fortbestand unserer Bank zu sichern. Der Bank, die schon seit drei Generationen im Besitz unserer Familie ist. Und du hast lange genug mein Geld ausgegeben und nie etwas dafür getan. Jetzt verlange ich von dir, dass du mich unterstützt. Solltest du dich weigern, dann ...«
»Dann was?«
»Dann hast du nicht länger Zugriff auf unsere Konten und kannst schauen, wo du bleibst.«
Louis schluckte. Das war nicht das erste Mal, dass sein Vater ihm damit drohte. Doch noch nie hatte er dabei derart entschlossen ausgesehen. Die Lage war also ernst. »Aber andere Industrielle haben doch auch Töchter ... und Geld.«
»Es geht nicht nur ums Geld, Louis. Versteh das doch! Es geht auch um die exzellenten Kontakte. Um das Prestige!«
»Dann such von mir aus eine Tochter von einem der Direktoren einer Aktiengesellschaft aus! Es kann doch nicht schaden, Verbindungen zu ...«
Als könne er es nicht länger ertragen, bedeckte Franz seine Augen mit den Händen.
»Wie kannst du das ernsthaft vorschlagen?« Emil Lindquists Stimme war zu einem gefährlichen Flüstern gesenkt. »Wie ich bereits sagte, sind die Aktiengesellschaften doch gerade der Grund, warum ich dich überhaupt darum bitten muss zu heiraten. Sie nehmen uns die Klienten, Louis!«
Louis stöhnte auf.
»Elisa von Treue kommt aus einem sehr guten Haus. Gewiss ist sie exzellent erzogen und wird dir eine hervorragende Frau sein. Morgen Nachmittag besuchen wir gemeinsam um vier Uhr die Familie, damit du dich vorstellen kannst.«
Die Hände in den Haaren vergraben, ließ sich Louis wieder auf das Sofa fallen. »Aber ich will sie nicht heiraten! Ich will einfach nicht!«
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Franz den Zeigefinger hob, als würde er in der Schule aufzeigen. »Einen Vorteil hat Elisa von Treue noch: Sie ist mit Sicherheit absolut unberührt. Heutzutage kann man sich nicht mehr sicher sein, dass eine Frau wirklich als Jungfrau in eine Ehe geht.«
»Mit Sicherheit darf ich sie gar nicht anfassen.« Da fiel Louis ein, dass er Elisa von Treue noch nie auf einem Ball oder sonstigen Feierlichkeiten gesehen hatte. »Vielleicht will ich das auch gar nicht. Oder wie sieht sie aus? Merkt man ihr diese seltsame Krankheit an?«
»Das wirst du dann schon sehen«, sagte Herr Lindquist.
»Aber du hast doch unsere Mutter auch aus Liebe geheiratet, Vater. Wie kannst du von mir verlangen, nicht aus Liebe zu heiraten?«
Auf einmal wirkte Emil Lindquist, als sei sämtliche Kraft aus ihm gewichen. »Ja, das habe ich. Und ich hätte mir das auch für dich gewünscht. Aber du lässt mir keine Wahl.«
Nachdem sein Vater verschwunden war, blieb Franz noch einen kurzen Moment in der Bibliothek. Franz, der zu groß und zu dünn war. Franz mit der schlechten Haltung. Franz, für den Louis sich so oft geprügelt hatte, wenn die Jungs an der Schule ihn gehänselt hatten.
»Stimmt es, dass du eine Affäre mit Rosalie von der Heyt hast?«, wollte er von Louis wissen.
Es stimmte. Louis hatte die Achtzehnjährige vor ein paar Wochen kennengelernt. Von der ersten Sekunde an hatte sie ihn fasziniert. Außerdem genoss Rosalie ebenso sehr wie er das Abenteuer ihrer kleinen Liaison, wurde dabei aber nie anhänglich. Das wusste Louis zu schätzen.
»Alles nur Gerüchte.«
Franz nickte. Jedoch mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich erkennen ließ, dass er seinem Bruder nicht glaubte. »Gut. Denn du weißt, was es bedeuten würde, wenn ihr Vater herausfände, dass du seine Tochter verführst. Er ist ein sehr impulsiver Mann. Am Ende fordert er dich noch zum Duell heraus.«
»Mein lieber Bruder, es werden schon lange keine Duelle mehr ausgefochten. Und selbst wenn, dann könnte es mir egal sein, da ich keine Affäre mit seiner Tochter habe.«
Ein zweites Mal nickte Franz. »Und was Elisa von Treue angeht ...«
Louis sprang vom Sofa auf und strafte seinen Bruder mit einem verachtungsvollen Blick. »Lass mich einfach in Frieden, Franz.«
Damit rauschte er aus dem Raum. Er hasste Diskussionen. Hasste Meinungsverschiedenheiten. Hasste Streit. Fliehen – das war eines der wenigen Dinge, die Louis wirklich gut konnte.
Vier Uhr. Noch immer war kein Louis Lindquist in Sicht. Vielleicht kommt er nicht, wagte Elisa zu hoffen. Sie stand an einem der Flurfenster im ersten Stockwerk und trug das Kleid, das ihre Mutter extra für den heutigen Tag hatte anfertigen lassen. Es fühlte sich falsch an ihr an. Zu schön.
Nun war es laut der goldenen Uhr auf der Kommode schon fünf nach vier. Während der Sekundenzeiger weiter- und weiterrückte, rieb Elisa nervös über ihre Handknöchel.
Um zehn nach vier hielt schließlich eine Kraftdroschke vor der Villa. Louis Lindquist stieg aus. Mit einer Hand richtete er den Kragen seiner weißen Chemisette und öffnete sein sportlich weit geschnittenes Jackett, während die andere Hand auf dem Knauf seines Spazierstocks lag. Gelassenen Schrittes, obwohl er zehn Minuten zu spät war, steuerte er dem Eingang entgegen. Ein flacher Strohhut verdeckte sein Gesicht, was Elisa ärgerte, denn nur deshalb hatte sie hier gewartet. Sie hatte in seinem Gesicht lesen wollen, ob sie gleich einem Casanova gegenübertreten würde, wie man sich von ihm erzählte, oder ob die Gerüchte allesamt logen. Denn er hatte eine Chance verdient, und ihr Vater hatte recht: Sie konnte ohnehin von Glück reden, wenn sich jemand ihrer erbarmte und sie heiratete.
Es läutete.
Stimmen waren zu vernehmen.
»Darf ich Ihnen Hut und Stock abnehmen?«, fragte Stefan, der Hausdiener.
»Sehr gerne.«
»Wenn Sie einen Augenblick warten würden. Ich sage Herrn von Treue, dass sein Besuch nun da ist.«
Schritte.
Vorsichtig trat Elisa ans Treppengeländer des Flurs, denn von dort aus hatte sie perfekte Sicht auf Louis Lindquist. Er stand mit dem Rücken zu ihr, weshalb sie nur haselnussbraunes Haar sah, das mit sonnengebleichten Strähnen durchzogen und alles andere als ordentlich gescheitelt war.
Gleich würde ihr Vater nach ihr rufen. Gleich würde sie die Treppe heruntergebeten werden. Gleich würde sie ihrem zukünftigen Ehemann in die Augen sehen.
»Herr Lindquist! Es ist mir eine Freude, Sie in meinem Haus begrüßen zu dürfen!« Elisas Vater trat aus dem Arbeitszimmer, gefolgt von ihrer Mutter, die wie ein Kind, das gerade Ärger bekommen hatte, den Kopf einzog. Ihr Vater streckte Lindquist die Hand entgegen, die dieser ergriff.
»Die Freude ist ganz meinerseits. Frau von Treue, es ist mir eine außerordentliche Ehre.« Lindquists Stimme war tief und männlich. Eine Stimme, die nicht laut sein musste, um gehört zu werden.
Der Kuss, den er ihrer Mutter auf den Handrücken hauchte, brachte wieder etwas Leben in deren Wangen und entlockte ihr ein mädchenhaftes Kichern.
»Kommt Ihr Vater später?«, fragte Herr von Treue.
»Ich muss ihn leider entschuldigen. Er musste wegen dringender Geschäfte nach Potsdam.«
»Schade. Nun ja, grüßen Sie ihn von mir. Es wundert mich, dass Elisa nicht schon längst hier ist«, brummte Herr von Treue. »Ich werde sie holen. Einen Augenblick Geduld, bitte. Pauline, sieh nach, ob sie mal wieder in der Bibliothek steckt.«
Elisa zog sich in den Schatten des oberen Stockwerks zurück.
Endlich drehte sich Lindquist um, sodass sie einen Blick auf sein Gesicht erhaschen konnte. »Ich warte so lange hier.«
Sein schmeichelnder Tonfall wurde von einem leichten Lächeln begleitet. Ein Lächeln, das vermutlich auf viele charmant wirkte. Aber Elisa durchschaute es. Es war nicht charmant. Es war gerissen.
Seine braunen Augen irrlichterten umher, rastlos, als würden sie den Wert jedes einzelnen Gegenstands taxieren. Elisa wusste nicht, ob sie ihn attraktiv fand oder nicht. Überhaupt wusste sie ihn nicht richtig einzuschätzen. Er war nicht sonderlich groß, aber auch nicht klein. Sein Körper war sehr schlank, doch er schien Muskeln zu haben. Von was? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Louis Lindquist einem Sport nachging.
Kurzum: Er hatte etwas. Etwas, das Elisa gefiel, doch sie kam nicht dahinter, was es war. Vielleicht war es seine Haltung, die signalisierte, dass ihm all das hier egal zu sein schien. Er machte den Eindruck, als würde es ihn kein bisschen beeindrucken, dass ihm heute seine zukünftige Frau präsentiert wurde. Die Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen sollte.
Zunächst nahm er sich das Bücherregal vor. Mit einem gelangweilten Ausdruck, den nur Menschen hatten, die nichts mit Literatur anfangen können, wandte er sich ab. Von draußen hörte Elisa ihren Vater ihren Namen rufen, vermutlich suchte er sie im Garten. Als ob sie sich dort verstecken würde! Das letzte Mal hatte sie vor drei Tagen das Haus verlassen und sich gerade mal bis auf die unterste Stufe der Terrasse gewagt. Und das unter den panischen Blicken Berthas und ihrer Mutter.
»Elisa!«, äffte Lindquist den Ruf ihres Vaters leise und mit verstellt hoher Stimme nach, um dann über sich selbst zu lachen.
Elisa war so empört, dass sie die Hand vor den Mund schlug.
Er beäugte die Meissener Porzellanvase mit den bunten floralen Verzierungen auf der Kommode. Sie war kostbar, daher verfolgte Elisa gespannt und gleichermaßen missbilligend, wie Lindquist die Vase anhob und prüfend drehte. Schon jetzt zweifelte sie keine Sekunde mehr daran, dass dieser junge Mann ein berechnendes Scheusal war.
Ihr Vater kam so plötzlich zurück in den Salon, dass Elisa zusammenzuckte. Lindquist fuhr herum, seine Hände riss er nach hinten. Die Vase fiel und zersprang auf dem Boden in zwei Hälften. Ein glatter Bruch, wie Elisa ihn nur zu gut kannte.
Es folgte ein höchst angespannter Augenblick der Stille.
»Verzeihen Sie mir! Das tut mir schrecklich leid!«, entschuldigte Louis Lindquist sich atemlos.
Herr von Treue stand mit dem Rücken zu Elisa, deshalb konnte sie sein Gesicht nicht sehen, aber sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie an der Stirn ihres Vaters eine Ader hervortrat. So wie es immer der Fall war, wenn er innerlich kochte. »Nicht der Rede wert«, knurrte er.
»Ich werde die Vase natürlich ersetzen«, versprach Louis.
»Nein, sie war nicht von Bedeutung.«
Das war eine Lüge. Die Vase hatte ihr Vater von Kaiser Wilhelm höchstpersönlich geschenkt bekommen. Immer, wenn die Familie Gäste empfing, wurde sie stolz präsentiert und damit geprahlt, dass man Kontakte zum Hof hatte.
»Leider kann ich Elisa nirgends finden. Ich weiß wirklich nicht, was in sie gefahren ist, diesen wichtigen Termin zu verpassen«, wechselte ihr Vater das Thema. Die Freundlichkeit war nun aus seiner Stimme verschwunden.
»Kein Problem. Ich werde sie schon irgendwann kennenlernen. Spätestens am Tag der Hochzeit«, witzelte Lindquist schwach und lachte.
Ihr Vater lachte nicht.
»Ich meine damit natürlich, dass Ihre wundervolle Tochter vermutlich ihre Gründe haben wird, nicht zu erscheinen. Wir können ja schon einmal die Mitgift besprechen.«
»Sie kennen meine Tochter doch überhaupt nicht. Woher wollen Sie wissen, dass sie wundervoll ist?«
Lindquist brauchte drei ganze Atemzüge, ehe er antwortete.
»Ich habe davon gehört.«
»Sie haben davon gehört? Wo, wenn ich fragen darf?«
Das Schmunzeln war nun von Lindquists Gesicht gewichen. »Wenn Ihre Tochter nur halb so schön wie Ihre Frau ist, dann muss sie eine Augenweide sein.«
Ihr Vater überhörte das Kompliment. »Elisa!«, brüllte er.
Sie hatte keine Wahl. Früher oder später würde sie sich diesem Widerling stellen müssen.
»Ich bin hier.« Ein letztes Mal blickte sie auf Louis Lindquist hinab. Dann löste sie sich aus dem Schatten und schritt so würdevoll wie möglich die Treppenstufen hinab.
»Warum kommst du erst jetzt? Und was hältst du dich dort oben alleine auf? Wenn du gestürzt wärst, was glaubst du, wäre dann wieder los gewesen?«
»Entschuldige«, sagte sie. »Ich bin in meinem Zimmer eingeschlafen.«
»Warum ist Bertha nicht bei dir?«
»Ich habe sie in die Stadt geschickt, um mir ein neues Buch zu besorgen.«
»Was? Schon wieder?« Ihr Vater mochte es nicht sonderlich, wenn Elisa sein Geld für Literatur ausgab. Aber das wollte er in diesem Moment nicht ausführen. »Elisa, darf ich dir Herrn Lindquist vorstellen? Deinen zukünftigen Ehemann.«
Erneut machte sich diese Art von schiefem Lächeln auf Lindquists Mund breit, als seine Augen ihren Körper hinauf und wieder hinabwanderten. »Wie schön es ist, Sie kennenzulernen, Fräulein von Treue.«
Elisa entgegnete nichts darauf.
»Gehen wir doch in den Salon und setzen uns dort«, schlug Herr von Treue vor. »Es gibt Kaffee und Kuchen.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte jemand.
Nun, es war Elisa selbst, die das sagte. Es war ihr ein Rätsel, woher auf einmal ihr Mut kam, aber die Worte waren nun ohnehin schon heraus, deshalb konnte sie es auch zu Ende bringen. »Ich werde Herrn Lindquist nicht heiraten. Das ist ausgeschlossen. Wir verschwenden nur unsere Zeit.«
Die plötzliche Stille dauerte nur kurz.
»Was sagst du? Du bist wohl nicht ganz bei Sinnen!«
»Doch. Das bin ich.«
»Das ist sicher nur die Aufregung«, versuchte ihr Vater die Situation zu retten.
»Ist es nicht«, entgegnete Elisa. »Sie entschuldigen mich? Ich bin sehr müde und würde mich gerne noch einmal hinlegen.« Zum Abschied nickte sie Lindquist zu und verließ dann den Raum.
»Elisa! Komm sofort zurück! Elisa! Pauline!«, brüllte ihr Vater.
Der Geschmack von Eisen breitete sich in Elisas Mund aus. Sie hatte sich aus Versehen auf die Zunge gebissen. Das Blut schmeckte nach dem Ärger, der sie erwarten würde, wenn Louis Lindquist die Villa verlassen hatte.
Aus Höflichkeit hielt Louis es noch etwa eine Stunde in der Villa von Treue aus. Er pickte in seinem Stück Kuchen herum, nippte an seinem Kaffee. Natürlich wurden auch Alpenbrillanten gereicht – feine Pralinen mit Marzipankern, für die Von Treue Süßwaren & feinstes Gebäck vor allem bekannt war. Es wurde über das Bankgeschäft diskutiert, von dem er nicht viel Ahnung hatte, aber er wusste sich mit vagen Formulierungen zu retten. Frau von Treue hatte nichts zu diesem Thema zu sagen, weshalb sie schweigend in ihrer Tasse rührte und hin und wieder matt lächelte.
Während er zwei Löffel Zucker in seinen Kaffee gab, wagte Louis zu fragen: »Ist Ihre Tochter immer so ...«
»Unerzogen?«, fiel Herr von Treue ihm ins Wort. »Selbstbestimmt«, erwiderte Louis höflich.
»Zum Glück nicht. Normalerweise widersetzt sie sich nie. Das stimmt doch, Pauline, nicht wahr?«
Frau von Treue riss den Kopf hoch. »Was? Jaja. Das stimmt. Sie ist ein liebes, sehr liebes Mädchen.«
»Sie wirkte eher, als hätte sie ihren eigenen Kopf.«
»Selten. Und wenn doch, dann wissen wir damit umzugehen.«
Louis runzelte fragend die Stirn, aber Herr von Treue ging nicht genauer darauf ein. Kurz war es so leise, dass man das Klirren hören konnte, wenn sein Löffel das dünne Porzellan streifte. Um das peinliche Schweigen zu überbrücken, nahm er einen Schluck und hatte große Mühe, nicht das Gesicht zu verziehen, denn der Kaffee war so stark, dass er bitter auf der Zunge lag. Wie bloß hatte Herr von Treue schon drei Tassen davon heruntergebracht?
»Sie wird der Heirat zustimmen«, brach dieser schließlich das Schweigen. »Das steht außer Frage. Sie war den ganzen Morgen sehr nervös. Vermutlich hat die Aufregung sie durcheinandergebracht.«
»Ihre Tochter wirkte mir aber nicht sonderlich durcheinander. Im Gegenteil, sie wirkte sogar äußerst klar.«
»Das täuscht. Wie gesagt, sie wird ihre Meinung gewiss noch ändern.«
Louis räusperte sich. »Schön, nun ...« Erneutes Räuspern. »Können wir dann vielleicht zum geschäftlichen Teil kommen?«
»Welcher geschäftliche Teil?«
»Die Mitgift?«
»Was gibt’s da zu bereden?«
Louis legte die Fingerspitzen aneinander. »Immerhin ist Elisa ein Pflegefall, wie ich hörte.«
»Das Wort Pflegefall klingt mir etwas übertrieben, aber Sie haben recht. Sie ist krank, und man muss auf sie aufpassen.«
»Man muss wirklich sehr gut auf sie aufpassen«, warf Frau von Treue sorgenvoll ein.
»So gut auch wieder nicht«, knurrte ihr Mann. »Aber keine Sorge, die Mitgift wird natürlich großzügig ausfallen.«
»Gut, dann ...« Louis’ Stuhl kratzte über den Holzboden. Er hatte nicht mal die Hälfte des Kuchens gegessen, aber er bekam keinen Bissen mehr herunter. »Dann werde ich nun aufbrechen. Sprechen Sie bitte noch einmal mit Ihrer Tochter und teilen Sie mir ihre Antwort mit.«
»Ich begleite Sie nach draußen.« August von Treue leerte seine Kaffeetasse und stemmte seinen Körper mithilfe der Stuhllehne in die Senkrechte.
»Nein, das ist wirklich nicht ...«
»Doch, doch. Keine Widerrede.«
»Es gibt da noch etwas, das Sie wissen sollten ...«, setzte Frau von Treue an und folgte Louis ebenfalls in Richtung der Tür.
»Nicht jetzt!«, schnitt ihr Mann ihr das Wort ab.
»Ach ja? Und was sollte ich wissen?« Louis drückte die Klinke herunter, öffnete die Tür und – fast wäre er in Elisa hineingestolpert.
Ihre Blicke trafen sich.
Tränennasse Augen, farblose Wangen, zitternde Lippen ...
»Pflegefall?«, presste sie hervor.
Es war doch nur ein Wort gewesen. Ein dummes, dummes Wort!, wollte er ihr sagen. Doch stattdessen schüttelte er sein Mitleid ab. Dieses Mädchen war der Grund, weshalb er niemals eine gesunde Ehefrau an seiner Seite haben würde. Wegen ihr war er gezwungen, so jung zu heiraten.
Er verbeugte sich halbherzig. »Auf Wiedersehen, Fräulein von Treue.«
Ihr Vater sperrte die Tür des Arbeitszimmers hinter ihr ab, ehe er sich seine glänzende Stirn mit einem Stofftaschentuch abwischte. »Womit habe ich es verdient, dass du mich derart bloßstellst?«
Elisa senkte im Schatten des Aktenschranks den Blick zu Boden. Ihre Schultern waren verspannt, da das fliederfarbene Kleid aufgrund des aufwendigen Perlenbesatzes an dem hochgeschlossenen Dekolleté wesentlich schwerer war als die Kleider, die sie für gewöhnlich trug. Der massige Körper ihres Vaters stand im einzigen Strahl des weichen Abendlichts, der an den dunkelroten Samtvorhängen vorbeifiel. Einzelne Strähnen seiner vollen Haare klebten an seinen Schläfen.
»Es war nicht meine Absicht, dich bloßzustellen, Vater.«
»Ach ja? Dafür hast du aber ganze Arbeit geleistet!«
Schon als Kind hatte Elisa das Arbeitszimmer ihres Vaters gemieden. Wahrscheinlich wegen des schweren Geruchs, der in dem Raum hing. Eine Mischung aus Tabak, altem Leder und noch älteren Wandteppichen.
»Zu dir ist wohl noch nicht durchgedrungen, dass du krank bist! Oder was bildest du dir ein? Dass die jungen Männer vor unserer Haustür Schlange stehen?«
Elisa war bewusst, dass sie keine begehrenswerte Frau war. Die meisten Männer in dieser Stadt wussten vermutlich nicht einmal, dass sie existierte. Aber das aus dem Munde ihres Vaters zu hören, tat weh. Schamgefühl brannte in ihrer Brust, in ihrer Kehle, in ihren Augen. Jetzt zu weinen würde ihre Lage jedoch noch viel demütigender machen. Sie biss sich auf die zitternde Unterlippe und fixierte die dunklen Linien im Parkett.
»Du wirst Lindquist heiraten, ob du willst oder nicht.«
»Aber warum muss ich überhaupt heiraten?«, wagte sie leise zu fragen.
Die Türklinke wurde mehrmals heruntergedrückt, aber ihre Mutter blieb ausgesperrt.
»Warum, warum! Das fragst du noch? Herrgott noch mal, eine Frau braucht einen Ehemann. Vor allem du! Deine Mutter und ich können uns nicht ewig um dich kümmern!« Der Schreibtischstuhl knarzte leidvoll, als ihr Vater sich darauf fallen ließ. »Außer diesem Lindquist wirst du keinen Ehemann finden! Oder zumindest keinen mit diesem familiären Hintergrund. Du schreibst ihm gefälligst einen Brief, in dem du dich entschuldigst.«
»Aber er hat mich als einen Pflegefall bezeichnet.«
»Da hat er ja gewiss nicht ganz unrecht.«
»Aber ...«
»Schluss jetzt! Es ist nicht so, als ob du eine Wahl hättest.«
Als Elisa endlich auf ihr Zimmer durfte, eilte ihre Mutter ihr im Flur entgegen. Frau von Treue drückte sie, ganz vorsichtig nur, dennoch tröstete Elisa diese Umarmung. Mit hochrotem Kopf rauschte ihr Vater an ihnen vorbei. Kurz bevor er ins Herrenzimmer verschwunden war, blieb er noch einmal stehen. »Hat sie ihre Medizin schon bekommen?«
»Nein«, entgegnete Frau von Treue.
»Dann sorg dafür, dass sie sie bekommt. Jetzt. Und ab heute am besten zweimal am Tag. Ich mag nicht noch einmal einen solchen Ärger haben.«
Elisa hasste diese Medizin. Sie machte sie müde. Warum bestand ihr Vater darauf, dass Elisa sie ab sofort zweimal am Tag nahm? Inwiefern hing das mit ihrem aufmüpfigen Benehmen zusammen? Doch sie wagte nicht, danach zu fragen, um ihren Vater nicht noch mehr zu provozieren.
»Gefällt er dir denn gar nicht?«, fragte ihre Mutter sie. »So überhaupt nicht? Er ist ein attraktiver Mann. Und er kommt aus gutem Hause.«
»Das ist doch nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass ich ihn nicht leiden kann.«
»Ach, meine Kleine.« Frau von Treue strich ihr über die Wange, ohne sie wirklich zu berühren. Es war vielmehr die Andeutung einer Berührung. Als hätte sie Angst, Elisa könnte ansonsten zerbrechen. »Was erwartest du denn? Dein Vater August und ich kannten uns auch kaum, als wir geheiratet haben. Und jetzt sind wir schon seit fünfundzwanzig Jahren ein glückliches Ehepaar.«
Elisa hielt es für besser zu schweigen.
»Es wird sich für dich nichts ändern. Du bleibst natürlich weiterhin bei uns wohnen. Alles andere wäre ja schrecklich gefährlich.«
»Versprochen?«
»Jaja. Und du weißt doch: Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen.«
Auf die Sekunde pünktlich klingelte Wilhelm Friedmann, der mittlerweile selbst Arzt war und die Behandlung von Elisa übernommen hatte, um acht Uhr abends an der Haustür. Elisa hörte Stefan im Flur fragen, ob Wilhelm nach einem gewiss anstrengenden Arbeitstag Hunger habe. Worauf dieser erwiderte: »Ein klein wenig vielleicht ... Aber wenn es Umstände bereitet, dann ...«
»Ich sage unserer Köchin, sie soll ein paar Scheiben vom kalten Braten und etwas Brot schneiden.«
»Das klingt himmlisch«, seufzte Wilhelm.
Kurz darauf klopfte es an der Tür zur Bibliothek. Elisa legte den Gedichtband, den sie gerade gelesen hatte, auf ihren Schoß. »Komm nur herein.«
Wilhelm zu sehen hatte für Elisa dieselbe Wirkung, wie in der Sonne zu sitzen. In diesen Stunden lebte sich das Leben etwas leichter. Jedes Mal verspürte sie den Drang, ihm über die Wangen zu streichen und zu fühlen, ob seine Haut auch wirklich so zart war, wie es den Anschein hatte. Vor ein paar Wochen hatte sie ihm geraten, sich einen Backenbart wachsen zu lassen, wie es derzeit Mode unter Männern war. Es hatte gedauert, bis sich die rötlich blonden Haare an seinen Wangen verdichtet hatten, aber inzwischen war der Bart genau so, wie es sich gehörte. Sein freundliches, weiches Gesicht wirkte seitdem etwas kantiger und männlicher.
»Wie schön es ist, dich zu sehen«, begrüßte Wilhelm sie.
»Wie schön es ist, dich zu sehen«, entgegnete sie freudestrahlend.
Elisa mochte es lieber, wenn Wilhelm sie früh am Morgen besuchte, denn abends, nach so vielen Krankenvisiten, war es ihr immer, als hätte jeder Kranke ein Stück von Wilhelms Seele herausgerissen, bis fast nichts mehr übrig war als ein winziger Rest, durch den er gerade noch ein müdes Lächeln zustande brachte. Zudem war es Elisa abends stets, als haftete der Geruch der Krankheit an ihm. Eine Mischung aus Schweiß, abgestandener Luft und auch Blut, was wohl daherkam, dass Wilhelm oftmals die kranken Arbeiter der Mietskasernen Berlins behandelte. Und das, ohne einen Pfennig dafür zu verlangen. Alles andere hätte gar nicht seinem gutmütigen Wesen entsprochen.
Schwer ausatmend ließ er sich vor sie auf den Sessel fallen und rutschte ein Stück hinab, sodass er den Kopf gegen das weiche Polster lehnen konnte.
»Du arbeitest zu viel«, sagte Elisa. »Und dann kümmerst du dich auch noch so oft um mich.«
»Du weißt doch, dass es keine Arbeit für mich ist, wenn ich dich untersuche. Das ist für mich wie Freizeit.«
»Vielleicht solltest du deine Freizeit besser nutzen, indem du mal ins Theater gehst oder ins Lichtspielhaus. Du solltest etwas Schönes und Lustiges machen und nicht hier mit mir deine Zeit verschwenden.«
»Wie könnte ich jemals mit dir meine Zeit verschwenden, Elisa?«
Zum Glück trug in diesem Moment Stefan ein Tablett mit Braten, Brot und Butter sowie einem Glas Milch herein. So sah Wilhelm nicht, dass Elisas Wangen rot geworden waren.
Als sich ein Strahlen auf Wilhelms Gesicht ausbreitete, erinnerte er Elisa an den Jungen, mit dem sie sich vor sechzehn Jahren angefreundet hatte. Anstatt sich sofort auf den Braten und das Brot zu stürzen, zog er vorher eine Zeitschrift aus seiner ledernen Arzttasche und legte sie auf den Sofatisch. Die Frauen-Rundschau. Ihre Eltern verboten es Elisa, dass sie diese emanzipatorische Art von Zeitschrift las. Ihr Vater lachte über die Frauenbewegung, also lachte Pauline auch darüber. Deshalb schmuggelte Wilhelm sie heimlich für Elisa ins Haus.
»Tausend Dank, Wilhelm.« Ihre Hand legte sich auf seine. Ganz kurz nur, als hätte es diese Berührung niemals gegeben.
Bevor Wilhelm sich etwas Butter auf eine Brotscheibe schmierte und diese mit Braten belegte, schob er seine Ärmel nach oben. Dabei bemerkte Elisa das locker sitzende Armband, das an seinem Handgelenk zum Vorschein gekommen war. Es war aus mehreren bunten Fäden geflochten und an den Rändern schon ganz ausgefranst.
»Wie schön, dass du das Armband noch immer trägst.«
»Natürlich trage ich es noch. Ich hatte dir damals versprochen, dass ich es niemals ablegen werde. Und daran halte ich mich auch.«
Als sie zehn Jahre alt gewesen war, hatte Elisa es ihm geschenkt. Wilhelm war damals fünfzehn gewesen. Sie wusste, dass die Jungs in der Schule ihn wegen des Bandes gehänselt hatten – ein Mädchenband, so bunt wie es war. Aber trotzdem hatte Wilhelm es nie abgelegt.
Elisa lächelte. Wilhelm lächelte. Es war ihr, als würden sie sich erneut berühren.
Nachdem Wilhelm eine Brotscheibe gegessen hatte, holte er das Stethoskop aus seinem Arztkoffer hervor. »Darf ich die Patientin bitten, mir den Rücken zuzuwenden?«
»Das dürfen Sie«, erwiderte Elisa und schmunzelte.
Knopf für Knopf öffnete er ihr Kleid. Sie spürte den Hauch einer Berührung auf ihrer Wirbelsäule, kurz bevor sich das kalte Metall des Stethoskops unter ihr Leibchen und zwischen ihre Schulterblätter legte. »Einmal bitte tief einatmen ... und jetzt wieder ausatmen.«
»Bist du mich denn nicht langsam leid?«, fragte sie ihn. »Seit deinem zwölften Lebensjahr bist du regelmäßig hier.«
»Du darfst so etwas nicht einmal denken. Ich habe meinen Vater immer gerne hierher begleitet. Außerdem musste ich doch aufpassen, wie er dich behandelt, damit ich irgendwann seine Arbeit übernehmen kann.«
»Wärst du denn nicht lieber in Amsterdam geblieben?« Sie wandte den Kopf halb zu ihm um. »Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen. Dann denke ich, dass ich dich an mich festkette.«
Wilhelm war für einige Zeit nach Amsterdam gegangen, um sich mit der Arbeit Willem Vroliks zu beschäftigen. Vrolik war durch seine Forschungen an der Glasknochenkrankheit bekannt geworden. Nach dem Tod seines Vaters war Wilhelm sofort nach Berlin zurückgekehrt, um dessen Arbeit bei Elisa zu übernehmen. Sein Vater war Orthopäde an verschiedenen Krankenhäusern gewesen, hatte jedoch hauptsächlich für die Charité gearbeitet.
»Ich bin gerne bei dir, Elisa. Sehr gerne.«
Ein Schweigen entstand, das lang genug währte, um Wilhelm durch das Stethoskop hören zu lassen, wie Elisa der Atem stockte. Erneut schoss ihr das Blut in den Kopf, weshalb sie hastig den Blick nach vorne wandte, damit Wilhelm nicht auch noch ihre geröteten Wangen bemerkte.
Elisa war es durchaus gewohnt, dass Wilhelm ihr Kleid öffnete und sie berührte. Doch meistens war ihre Mutter bei der Untersuchung anwesend, sodass dieses seltsame Knistern, das nun auf einmal zwischen ihnen herrschte, gar nicht hätte aufkommen können.
»Wo ist deine Mutter?«, fragte Wilhelm, der offenbar ganz ähnliche Gedanken gehabt hatte.
»Ich weiß nicht. Sie kommt bestimmt gleich.«
Draußen war der Gärtner damit beschäftigt, Holz für den Winter zu stapeln. Elisa sah durchs Fenster, wie seine Stirn im Abendlicht vor Schweiß glänzte. Wie seine Muskeln arbeiteten. Wie schön es sein musste, seine Muskeln zu fühlen. Sie selbst hatte keinerlei Gespür für ihren Körper. Was zum einen daran lag, dass sie kaum Muskeln besaß; sie bewegte sich ja nur sehr wenig. Zum anderen daran, dass sie ihren Körper verabscheute. Denn ihr Körper war es, der sie im Haus gefangen hielt.
»Wie geht es dir? Irgendwelche Beschwerden?«, fragte Wilhelm und erlöste sie beide, indem er ihr Kleid zuknöpfte und das Stethoskop in seine Tasche packte.
»Nein, eigentlich nicht. Ich bin nur müde, wie immer.«
»Hhhm ...«
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihm direkt in die Augen. »Ich muss dir etwas sagen, Wilhelm.«
Er stellte das Glas Milch, aus dem er gerade trinken wollte, zurück auf den Tisch.
»Ich werde heiraten.«
Stille. Selbst die Staubpartikel, die eben noch im Schein der Lampe getanzt hatten, schienen in der Luft erstarrt zu sein.
»Was? Aber ... warum?«
»Mein Vater will es so. Diese Heirat ist wichtig für unsere Firma.«
»Wen?«
»Louis Lindquist.«
Wilhelms Schweigen schnürte Elisa die Kehle ab.
»Louis Lindquist ...«, wiederholte er schließlich.
»Das ist mein Ende, Wilhelm! Louis ist ein Widerling. Er hat meinem Vater direkt ins Gesicht gesagt, ich sei ein Pflegefall!«
Wilhelms Blick fiel auf das geflochtene Band an seinem Arm. Als er die Hände zu Fäusten ballte, traten deutlich die Sehnen an seinem Gelenk hervor. Mit gepresster Stimme sagte er: »Wer weiß, vielleicht ist das eine Chance für dich. Vielleicht entwickelt sich alles ganz wunderbar.«
Die Enttäuschung fühlte sich an wie eine Ohrfeige. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Es ist vermutlich nicht schlecht, wenn du dein Zuhause auch einmal verlässt ... Vielleicht ... vielleicht geht es dir besser, wenn du ... Ich meine, dann hättest du etwas Abstand ...« Er schien unbedingt etwas sagen zu wollen, sagte aber nichts. Nichts von Gehalt.
»Warum sollte es mir besser gehen, wenn ich mit diesem Alkoholiker verheiratet bin?«
»Weil er dann dein Mann ist und dein Mann auf dich aufpassen wird. Er wird hoffentlich dafür sorgen, dass es dir gut geht, und ich ...«
»Was ist mit dir, Wilhelm? Du passt doch auf mich auf! Und meine Mutter. Ich brauche sonst niemanden.«
»Elisa ...«
Die Tür schwang auf. »Hier steckt ihr«, sagte Frau von Treue. »Geht es dir gut?« Die Frage war an Elisa gerichtet, doch sie sah Wilhelm an.
»Alles ist gut, Mutter.«
»Ich dachte, wir könnten vielleicht eine Partie Karten spielen, sobald Wilhelm gegangen ist.«
»Einverstanden«, meinte Elisa und warf Wilhelm einen traurigen Blick zu. »Wenn Wilhelm mit der Untersuchung fertig ist, komme ich gleich zu dir.«
Eine halbe Stunde hatte Wilhelm es noch ausgehalten, mit Elisa in einem Raum zu sein. Dieselbe Luft zu atmen, die sie atmete. Eine Vorstellung, die ihn bisher mit Glück erfüllt hatte. Doch nun drohte er an der Erkenntnis, wie sehr er sie brauchte, zu zerbrechen.
Nachdem Elisa ihm gestanden hatte, dass sie heiraten würde, war es ihm tatsächlich gelungen, den Rest der Zeit über höfliche Konversation mit ihr und ihrer Mutter zu betreiben. Es war ihm auch gelungen, mit Elisa einen Termin in zwei Tagen zu vereinbaren, sich mit einem freundlichen Lächeln und den besten Wünschen zu verabschieden, sich hinter das Lenkrad seines Ford T zu setzen und nach Hause zu fahren. Auf dem Weg hatte es zu regnen begonnen, und wie üblich bei Regen war im Stadtkern das Chaos ausgebrochen. Die Kutscher hatten über die Pfützen geschimpft, die sich an den Bordsteinen gebildet hatten. Die Pflastersteine waren rutschig geworden, weshalb Wilhelm aufgrund der dünnen Reifen des Wagens langsam gefahren war. Er war so in Gedanken gewesen, dass er fast ein Ehepaar übersehen hatte, das über die Straße geeilt war. Der Ehemann hatte sich mit erhobenem Spazierstock beschwert und dabei vergessen, den Regenschirm weiterhin über den Kopf seiner Frau zu halten, woraufhin diese mit ihrem Gatten geschimpft hatte, denn ihr üppig geschmückter Hut und ihr dünner Seidenmantel waren nass geworden.
Wilhelm hatte aufgeatmet, als er endlich zu Hause angekommen war. Völlig erschöpft war er die Treppe hinaufgestiegen und hatte mit zitternden Händen die Schlüssel aus seinem Arztkoffer hervorgezogen. Kaum hatte er seine Wohnung betreten, war er gegen die Tür gesunken und hatte so heftig geweint wie an dem Tag, an dem sein Vater gestorben war. Denn der Gedanke, Elisa verloren zu haben, fühlte sich an, als müsste er verbluten.
Seit seinem zwölften Lebensjahr war er in Elisa verliebt. Es war eine stille Liebe, die er ihr gegenüber nie auch nur ansatzweise erwähnt hatte. Natürlich hatte er so manches Mal davon geträumt, ihr seine Gefühle mitzuteilen, und, sofern sie diese erwiderte, ihr einen Antrag zu machen. Doch er kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass er niemals einer Heirat zwischen Elisa und ihm zustimmen würde. Zwar war Wilhelm ein angesehener Arzt mit einem stolzen Einkommen, aber er war nun einmal nicht vom gleichen Stand. Zudem fehlten ihm die Kontakte und Verbindungen, die für August von Treue von Nutzen sein könnten.
