Das Mädchen aus Prag - Tereza Vanek - E-Book

Das Mädchen aus Prag E-Book

Tereza Vanek

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Beschreibung

1997: Nach ihrem Studium geht Marina als Deutschlehrerin nach Prag. Das ehemalige Ostblockland ist für sie eine völlig neue Welt, in der sozialistische Tristesse und optimistische Aufbruchsstimmung aufeinandertreffen. In einem Club trifft sie auf Zach Cohen und verliebt sich in ihn. Er ist der erste Jude, den sie je näher kennengelernt hat und die Gespräche mit ihm bringen sie dazu, sich näher mit der Geschichte ihrer eigenen Familie auseinanderzusetzen. 1939: Julia reist nach Prag, um ihren Bekannten Arthur um Hilfe zu bitten, da ihr Bruder aufgrund seiner kommunistischen Überzeugung verhaftet wurde. Arthurs Familie hat gute Beziehungen zu wichtigen Mitgliedern der Nazi-Regierung und Julia hofft, sie können ihrem Bruder helfen. Als Gegenleistung für ihre Hilfe, nimmt sie Arthurs Heiratsantrag an. Doch kurz darauf begegnet sie einem Mann, der sie magisch anzieht, aber dem tschechischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung angehört...

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Kurzbeschreibung:

1997: Nach ihrem Studium geht Marina als Deutschlehrerin nach Prag. Das ehemalige Ostblockland ist für sie eine völlig neue Welt, in der sozialistische Tristesse und optimistische Aufbruchsstimmung aufeinandertreffen. In einem Club trifft sie auf Zach Cohen und verliebt sich in ihn. Er ist der erste Jude, den sie je näher kennengelernt hat und die Gespräche mit ihm bringen sie dazu, sich näher mit der Geschichte ihrer eigenen Familie auseinanderzusetzen. 1939: Julia reist nach Prag, um ihren Bekannten Arthur  um Hilfe zu bitten, da ihr Bruder aufgrund seiner kommunistischen Überzeugung verhaftet wurde. Arthurs  Familie hat gute Beziehungen zu wichtigen Mitgliedern der Nazi-Regierung und Julia hofft, sie können ihrem Bruder helfen. Als Gegenleistung für ihre Hilfe, nimmt sie Arthurs Heiratsantrag an. Doch kurz darauf begegnet sie einem Mann, der sie magisch anzieht, aber dem tschechischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung angehört... 

1939: Julia reist nach Prag, um ihren Bekannten Arthur  um Hilfe zu bitten, da ihr Bruder aufgrund seiner kommunistischen Überzeugung verhaftet wurde. Arthurs  Familie hat gute Beziehungen zu wichtigen Mitgliedern der Nazi-Regierung und Julia hofft, sie können ihrem Bruder helfen. Als Gegenleistung für ihre Hilfe, nimmt sie Arthurs Heiratsantrag an. Doch kurz darauf begegnet sie einem Mann, der sie magisch anzieht, aber dem tschechischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung angehört...

Tereza Vanek

Das Mädchen aus Prag

Historischer Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Tereza Vanek

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-238-3

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

Nachwort

Böhmen, 20. Mai 1945

„Es dauert nicht mehr lange, dann kommt sie“, flüsterte die Frau ihren zwei Begleitern zu, denn sie begannen ungeduldig zu wirken. Karel, der ältere von beiden, murrte unzufrieden und zog eine Zigarette aus der Tasche.

„Woher weißt du das so genau?“, fragte er. „Vorhin hat sie noch im Dorf eingekauft.“

Die Frau lächelte. Immer wieder wurden ihre Fähigkeiten unterschätzt. „Ich habe mich umgehört. Die Bäckerin sagte, dass die Deutsche zum Badesee wollte. Sie hat ihr den Weg erklärt, aber nicht die Abkürzung durch den Wald. Dort hätte sie sich nur verlaufen.“

Karel zuckte mit den Schultern und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Flachmann. Der Frau gefiel das nicht, denn sie brauchte ihn klarsichtig und aufmerksam. Aber sie wusste, dass es keinen Sinn gehabt hätte, ihn zurechtzuweisen.

„Warum sollen wir ihr eigentlich auflauern?“, fragte sein jüngerer Bruder Milan. „Alle im Ort sagen, sie hat nichts Schlimmes getan.“

„Sie lügt!“, entgegnete die Frau entschlossen. „Ich kann bezeugen, dass sie den Reichsprotektor unterstützt hat. Alle Deutschen waren irgendwie schuldig. Aber auf mich hört man nicht, weil dieses Weib allen Männern den Kopf verdreht hat.“

Karel grinste sie auf unverschämte Weise an. „Na ja, die hat auch ganz andere Voraussetzungen als du.“

Die Frau unterdrückte mühsam den Wunsch, ihn zu ohrfeigen. Beide Brüder waren dumm und bösartig, aber im Augenblick konnte sie nicht auf ihre Hilfe verzichten. Zu viel Unrecht war ihr im Leben widerfahren, zu oft hatte sie zurückstecken und sich fügen müssen, während andere sich ihre Wünsche erfüllen konnten.

Der Krieg ist wie eine Seuche, hatte ihre Mutter immer wieder gesagt, er tötet die Menschen, er macht sie krank und kaputt. Aber das stimmte nicht immer. Der Krieg hob geltende Verbote auf, erschütterte alte Hierarchien und ermöglichte es manchmal zu tun, was man immer hatte tun wollen.

„Ihr macht einfach, was ich sage. Sonst sorge ich dafür, dass ihr Ärger bekommt“, teilte die Frau ihren Begleitern mit. Glücklicherweise fehlte ihnen der Verstand, um diese Drohung ernsthaft zu hinterfragen. Beide hatten in einer deutschen Waffenfabrik gearbeitet. Eigentlich kein Verbrechen, aber im Moment konnte es als Landesverrat hingestellt werden. Im Moment konnte alles geschehen, weil es keine Regeln mehr gab.

Die Frau hatte lange gelauert, beobachtet und Rückschlüsse gezogen. Vorsicht war notwendig gewesen, denn es gab auch jetzt noch Leute, die versuchen würden, sie an ihrer Rache zu hindern. Schöne, kultivierte Frauen fanden immer Verehrer, die sie schützen wollten, während man unscheinbare Arbeiterinnen entweder übersah oder ausnutzte. Aber nun würde sie dafür sorgen, dass der Lauf der Dinge sich für einen Augenblick änderte. Einmal würde sie selbst Macht ausüben dürfen, anstatt sich immer nur ducken zu müssen.

Als sie Schritte und fröhliches Geplauder von Frauenstimmen vernahm, zog ihr Magen sich angespannt zusammen. Gleich wäre es so weit. Sie konnte tun, was ihr gefiel, ohne die Folgen fürchten zu müssen. Von dieser Erfahrung der Stärke würde sie für den Rest ihres Lebens zehren können. Sie klammerte sich an diese Hoffnung und fegte alle nagenden Zweifel unwirsch hinweg. Sie durfte ihre Zeit nicht mit unnötigen Grübeleien verschwenden, denn der Moment war kostbar.

Irgendwann würden wieder Recht und Ordnung einkehren und jeder Mensch würde an seinen vorgegebenen Platz zurückgestellt. Ihre Mutter hatte bis zu ihrem Tod darauf gehofft, aber noch war es nicht so weit.

Noch gab es eine Gelegenheit zur Abrechnung.

1. Kapitel

Regensburg, 1997

„Sekretärin für juristischen Fachbuchverlag gesucht, Abitur Bedingung, gute Englischkenntnisse erwünscht.“

Marina warf die Zeitung auf ihren Schreibtisch und rieb sich nachdenklich die Nase. Immerhin wäre es ein Verlag, auch wenn er auf Themen spezialisiert war, von denen sie keine Ahnung hatte. Im Geiste begann sie ein Bewerbungsschreiben zu formulieren, ganz nach den Ratschlägen, die ihr im Bewerbungstraining an der Uni vermittelt worden waren. Knapp, klar und präzise musste hervorgehoben werden, warum gerade man selbst besonders geeignet für diese Stelle wäre. Nur war das bei einer Position, die nicht unbedingt dem entsprach, was sie sich immer gewünscht hatte, etwas schwierig. Gute Rechtschreibkenntnisse fielen ihr ein. Außerdem hatte sie Anglistik als Nebenfach gehabt und war acht Monate in London gewesen, beherrschte die englische Sprache also absolut verhandlungssicher. Dass sie zudem Shakespeare im Original lesen konnte, interessierte Anwälte vermutlich weniger. Und dann noch … wie formulierte man, dass man sich gut ausdrücken konnte, ohne dabei anmaßend zu klingen?

Sie stieß einen Seufzer aus und stand auf, um ihr Gehirn durch eine Tasse Kaffee anzuspornen. Vielleicht würde es auch helfen, Musik aufzulegen. Während der Prüfungsvorbereitung hatte sie regelmäßig zu Songs von Donna Summer und Chansons von Édith Piaf in ihrer winzigen Wohnung getanzt, damit ihr Kopf wieder aufnahmefähig wurde. Aber damals hatte sie sich wenigstens mit wissenschaftlichen Fragen befasst, die sie interessierten. Das Verfassen von Bewerbungsschreiben hingegen war einfach nur mühselig.

Ratlos drehte sie das Radio auf. „Time to say goodbye“ schmetterten zwei kräftige, süße Stimmen im Duett. Sie stellte das Radio leiser und starrte auf die Stellenanzeige, bis die schwarzen Buchstaben ineinander zu verschwimmen begannen und einen Grauton bekamen. So sehr sie auch ihr Hirn zermarterte, ihr wollte einfach kein Grund einfallen, warum ein juristischer Fachbuchverlag ausgerechnet eine Frau einstellen sollte, die eine Magisterarbeit über mittelhochdeutsche Literatur geschrieben hatte.

Als sie bereits Lust verspürte, die Zeitung einfach vom Tisch zu fegen, läutete das Telefon. Erleichtert über die Ablenkung hob sie ab.

„Was machst du gerade?“, fragte Klaus schnell. Im Hintergrund waren Stimmen zu hören, und er klang, als hätte er nicht viel Zeit zum Reden.

„Kaffee trinken, Stellenanzeigen lesen und wegen der glänzenden Berufsaussichten für Geisteswissenschaftler in Ekstase geraten“, erwiderte sie und nahm einen letzten Schluck aus ihrer Tasse.

„Dann kannst du dich ja zum Mittagessen mit mir treffen“, meinte Klaus unbeeindruckt. „In einer Stunde in der Pizzeria vor meiner Firma.“

Marina hatte eigentlich vorgehabt, den ganzen Tag ihren Bewerbungen zu widmen, doch der strahlende Sonnenschein vor dem Fenster lockte verführerisch. Vielleicht würde etwas frische Luft ihr guttun.

„Okay, ich komme“, stimmte sie spontan zu.

Klaus murmelte noch etwas, dann hatte er auch schon aufgelegt. In den letzten Wochen hatte er ständig Stress im Büro, kam meistens spät nach Hause und daher sah Marina ihn auch wesentlich seltener als früher. Es gab ihr manchmal zu denken, dass sie ihn nicht besonders vermisste, doch hatte sie im Augenblick genug andere Sorgen im Kopf.

Um ihr Gewissen zu beruhigen, überflog sie nochmals die Stellenanzeigen und kreuzte das Gesuch nach einer Kellnerin in einem ihr bekannten Studentencafé an. Sie brauchte Geld, das war eine ebenso unschöne wie unleugbare Tatsache, und hier konnte sie wenigstens die stets geforderte Berufserfahrung vorweisen. ‚Unsere kellnernde Frau Magister‘, hörte sie im Geiste ihren Vater sagen und grinste. Schließlich stach ihr noch die Anzeige eines Nachhilfeinstituts ins Auge. Dort wurde zwar um Schüler geworben, aber ganz ohne Lehrer ging es auch nicht. Sie könnte einfach anrufen und nachfragen, ob welche gesucht wurden, überlegte sie, verschob dies aber auf den Nachmittag. Ganz hatte sie ihre Scheu, spontan zum Telefon zu greifen und sich irgendwo vorzustellen, noch nicht überwunden.

Nun war es erst einmal an der Zeit, endlich zu duschen und sich anzuziehen, denn sie saß immer noch in Pyjamahosen da. Lotterleben, hätte ihre Oma gesagt, dabei aber nachsichtig gelächelt.

Marina zog ein gestreiftes T-Shirt-Kleid aus dem Schrank und schlüpfte in ihre roten Sommerballerinas. An den Spitzen waren sie bereits abgewetzt, aber im Moment konnte sie sich kein neues Paar leisten. Trotzdem musste sie versuchen, einigermaßen vorzeigbar auszusehen, denn Klaus hätte vielleicht ein paar Kollegen dabei, eventuell auch seinen Chef, der gleichzeitig sein Onkel war. Sie kämmte ihr Haar sorgfältig durch und band es zu einem Pferdeschwanz, trug dann dezent Schminke auf. Zufrieden grinste sie ihr Spiegelbild an. So könnte sie sich durchaus auch bei einem Bewerbungsgespräch sehen lassen, vorausgesetzt, sie wurde jemals zu einem eingeladen. Nach kurzem Zögern streifte sie auch den silbernen, gravierten Armreif, ein Geschenk ihrer Großmutter, über ihr Handgelenk, packte ihren kleinen Rucksack und machte sich auf den Weg.

Als sie vor der Pizzeria von ihrem Fahrrad stieg, wartete Klaus bereits. Er saß allein unter dem Sonnenschirm, ganz ohne Chef und Kollegen, was Marina erleichterte. Es war nun schon ein halbes Jahr her, dass sie ihr Studium abgeschlossen hatte, und die Frage, wo sie jetzt arbeitete, wurde immer häufiger gestellt und begann langsam lästig zu werden.

„Schön, dich mal in einem schicken Kleid zu sehen“, sagte Klaus zur Begrüßung. Marina schluckte. Sie bevorzugte meist bequeme, weit geschnittene Hosen oder lange Blumenröcke, doch bisher hatte Klaus sich nie beschwert, keine klassisch elegant gekleidete Freundin zu haben.

„Wenn du Lust hast, können wir nachher noch bei meinem Onkel vorbeischauen. So machst du einen guten Eindruck“, fügte er hinzu. Marina setzte sich schweigend und griff nach der Speisekarte. Sie hatte Hunger, denn ihr Frühstück hatte aus einem Knäckebrot mit Frischkäse bestanden. Die Preise der Pizzen dämpften allerdings sehr schnell das Knurren in ihrem Magen.

„Schon gut, ich lade dich ein“, wurde sie von Klaus beruhigt und schämte sich, so schnell durchschaut worden zu sein. Er tätschelte kurz ihre Hand. Beiläufig, wie man einen Hund krault, dachte sie. Wie lange war es her, dass ein Kribbeln durch ihren Körper gefahren war, wenn Klaus sie berührt hatte? Sie wusste, dass es diese Zeit gegeben hatte, konnte sich aber kaum noch daran erinnern.

„Ich nehme eine Pizza Margherita und ein Wasser“, beschloss Marina, denn das war die billigste aller möglichen Bestellungen.

Klaus lächelte sie an. „Ich habe gute Nachrichten.“ Nun drückte er ihre Finger energisch zusammen.

Marina verspürte den leisen Drang, ihm ihre Hand zu entziehen, und schämte sich sogleich dafür.

„Mein Onkel sucht eine neue Sekretärin, die gut Englisch kann. Er will demnächst mit einer Londoner Firma zusammenarbeiten, da braucht er jemanden, der die Telefonate entgegennimmt und seine Briefe Korrektur liest. Es gab schon ein paar Bewerberinnen, aber mit denen war er nicht zufrieden. Da habe ich … na ja … an dich gedacht.“

Marinas erster Gedanke war, dass sie endlich ein vernünftiges Angebot bekam, auch wenn es nicht unbedingt den Vorstellungen entsprach, die sie sich zu Beginn ihres Studiums gemacht hatte. Allerdings hatte sie schon in den ersten Semestern genug Vorträge über die miserablen Berufsaussichten für Germanisten gehört, um ihre Träume erst einmal hübsch eingepackt in einer Schublade zu verstauen. Bei dieser Sekretärinnenstelle würde sie wenigstens ihr Englisch einsetzen können, also wäre ihre Ausbildung nicht ganz umsonst gewesen. Außerdem konnte sie so jene Berufserfahrung bekommen, die überall verlangt wurde, um sich überhaupt bewerben zu dürfen. Klaus’ Onkel hatte eine Firma, die Küchengeräte herstellte, erinnerte sie sich. Das interessierte sie zwar nicht besonders, streng genommen überhaupt nicht, aber im Geiste sah sie die vorwurfsvollen Blicke der Berufsberater des Arbeitsamtes, die über ihr Studienfach seufzend den Kopf geschüttelt hatten. Wie konnte man in der heutigen Zeit etwas so Brotloses wie Germanistik studieren? Es wäre arrogant und völlig wider alle Vernunft, auf ein so unerwartet gutes Angebot anders als höchst erfreut zu reagieren.

Warum spürte sie nur Enge in ihrer Kehle? Als würde jemand ihr die Luft abwürgen?

„Ich weiß nicht, ob … er ist immerhin dein Onkel.“

„Ja und? Mein Cousin Peter hat seiner Frau auch einen guten Job in seiner Firma besorgt. Mal ehrlich, Marina, du willst doch nicht ewig in deiner winzigen Wohnung sitzen bleiben. Wenn du endlich etwas verdienst, dann könnten wir vielleicht einen Kredit aufnehmen für eine Immobilie.“

Marina schüttelte verwirrt den Kopf. So weit hatte sie noch nie gedacht. „Ich habe mich gerade auf eine Sekretärinnenstelle beworben“, log sie, um auszuweichen. „Bei einem Verlag.“

Klaus zog staunend die Augenbrauen hoch.

„Wie viel würdest du da verdienen?“

„Ich weiß es noch nicht“, antwortete sie verblüfft. „Ich habe ja gerade erst die Bewerbung geschrieben.“

Nun, da sie davon sprach, würde sie es tatsächlich tun müssen. Es war erstaunlich, wie das Schicksal einem manchmal Entscheidungen abnahm.

„Also mein Onkel, der würde dich überdurchschnittlich bezahlen. Dafür kann ich sorgen.“ Klaus musterte sie erwartungsvoll, wartete vermutlich auf Lob oder Dank oder beides. Marina brachte ein müdes Nicken zustande. Es war, als würde sie plötzlich in eine neue Richtung gezerrt werden, ohne jemals gefragt worden zu sein, ob sie dort überhaupt hinwollte.

„Es ist sehr nett von dir, mir das vorzuschlagen“, begann sie nach einer Weile des Überlegens. „Aber wie gesagt, ich habe noch ein paar andere Bewerbungen laufen und möchte erst einmal abwarten, was aus denen wird.“

Wenn sie jetzt gemeinsam mit Klaus zu seinem Onkel spazierte und der ihr die Stelle anbot, konnte sie schlecht später absagen, ohne Klaus völlig zu blamieren. Es war eben dies, was ihr an der ganzen Sache missfiel, erkannte sie.

„Na komm schon, Marina. Ich weiß, du hast ein paar Verlage wegen Praktika im Lektorat angeschrieben, aber die Bewerbungsunterlagen kamen doch schon längst zurück. Außerdem, hast du eine Ahnung, was eine Praktikantin verdient?“

Nun kribbelte der Ärger in Marinas Magen und eine spitze Bemerkung glitt auf ihre Zunge, doch wurde sie von dem Kellner, der gerade mit dem Essen erschien, daran gehindert, sie auszusprechen. Die Pizza duftete vorzüglich. Anstatt den üblichen Streit mit Klaus zu beginnen, griff Marina also zu Messer und Gabel. Eine Weile aßen sie schweigend. Ihr fiel ein, dass ihre Beziehung in letzter Zeit vor allem dann funktionierte, wenn sie nicht miteinander redeten.

„Wirklich ein erstklassiges Lokal. Mein Onkel hat es mir empfohlen“, störte Klaus die stumme Idylle und spießte ein Stück Fleisch auf seine Gabel. Marina nickte wieder einmal und vermied es, auf die exorbitanten Preise hinzuweisen. In Klaus’ Leben herrschten einfach andere Maßstäbe, seitdem er als Ingenieur arbeitete. Diese konnten aber auch bald schon für sie gelten. Warum fiel es ihr so schwer, sich darüber zu freuen?

„Ich glaube, ich habe noch Zeit für einen Kaffee“, meinte Klaus mit einem Blick auf die Uhr. Wieder wurde Marina von der Nadel des schlechten Gewissens gestochen. Er freute sich offenbar viel mehr über die Möglichkeit, noch eine Weile zusammensitzen zu können, als sie.

„Also, was soll ich meinem Onkel ausrichten?“, fragte er, als er den Kellner nochmals herbeiwinkte. „Oder kommst du gleich mit?“

„Ich sagte doch bereits, dass ich es mir noch überlegen will“, erwiderte Marina. „Und abwarten, was sich sonst noch so ergibt. Bisher haben noch nicht alle Verlage abgesagt.“

Bei denen, die sich nicht gemeldet hatten, ging sie aber nicht ernsthaft davon aus, überhaupt noch von ihnen zu hören. Ihre Freundin Ulrike erinnerte sie gern an die Ratschläge aus dem Bewerbungstraining: Man musste zum Telefon greifen und nachfragen, wenn nach drei Wochen noch keine Reaktion gekommen war. Aber Marina konnte sich einfach nicht dazu überwinden. Es kam ihr vor, als müsse sie auf Knien rutschend um eine Stelle betteln.

Jetzt wurde ihr eine auf dem Präsentierteller angeboten.

„Ich weiß wirklich nicht, worauf du wartest“, meinte Klaus leicht gereizt. „Wenn irgendein Verlag Interesse an deiner Mitarbeit hätte …“

„… dann hätte er sich schon längst gemeldet. Vielen Dank für den Hinweis.“ Sie starrte lustlos auf den flauschigen Milchschaum ihres Cappuccinos. Klaus wusste immer, wie er ihr erfolgreich den Tag verderben konnte. Allerdings hatte er nichts weiter als die Wahrheit gesagt.

„Es ist nicht wirklich die Arbeit, die ich mir vorstelle“, sprach sie aus, was ihr wirklich auf dem Herzen lag.

„Du hast dich doch gerade um eine Sekretärinnenstelle beworben“, sagte Klaus.

„In einem Verlag“, beharrte sie. Glücklicherweise hatte sie nicht erwähnt, dass es um juristische Fachbücher ging.

Nun seufzte er geradezu dramatisch und warf einen weiteren ungeduldigen Blick auf die Uhr.

„Was macht es denn für einen Unterschied, wo du als Sekretärin arbeitest? Mein Onkel würde dich garantiert besser bezahlen.“

Er schien ihren Unmut zu erahnen, bevor sie ihn in Worte gefasst hatte, und streichelte tröstend ihre Hände. Wider Erwarten tat das plötzlich wohl.

„Es wäre doch nur für eine Weile. Bis ich richtig gut verdiene“, sagte er sanft. „Dann kannst du zu Hause bleiben und tun, was dir gefällt.“

Der Tisch schepperte, als Marina wie von einem gefährlichen Insekt gestochen aufsprang. „Ach so, ich soll als dein Luxusweibchen im Einfamilienhaus hocken, während du mich gnädig ernährst! Falls das ein Heiratsantrag sein sollte, so war er der dämlichste der Menschheitsgeschichte!“

Sie hörte, wie er ihren Namen rief, während sie zu ihrem Fahrrad rannte. Der Umstand, dass sie ihn die Rechnung zahlen ließ, milderte die Wirkung ihres Abgangs, aber das war ihr im Moment egal. Sie trat energisch in die Pedale, sah Fußgänger empört zur Seite springen und strampelte zu der Zwanzig-Quadratmeter-Wohnung mit Kochnische, für die ihr Vater weiterhin die Miete zahlte. Falls sie die Stelle als Kellnerin bekam, würde sie es vielleicht selbst tun können. Aber viel mehr auch nicht.

Seltsamerweise hatte das Treffen mit Klaus ihre Energie beflügelt, denn zu Hause angekommen, tippte sie die Bewerbung an den juristischen Fachbuchverlag recht zügig herunter, packte sie gemeinsam mit Foto und Zeugniskopien in eine Mappe und tütete sie ein. Vermutlich wäre es besser, den Brief gleich zur Post zu bringen. Sie erinnerte sich noch zu gut an das Malheur von letzter Woche, als sie eine Kanne Tee über drei bereits sendebereite Bewerbungen ausgeschüttet hatte. Leider musste in ihrer winzigen Wohnung der Schreibtisch auch als Esstisch dienen, was solche Unfälle nicht unwahrscheinlich machte. Der aus dem Büro ihres Vaters ausrangierte Computer war wirklich ein Segen, da sie nicht alles nochmals hatte abtippen müssen, aber Arbeit machte es trotzdem, eine neue Mappe zusammenzustellen. Als sie gerade zur Post aufbrechen wollte, fiel ihr noch die Anzeige des Nachhilfeinstituts ein. Vielleicht würde sie ja zwei Bewerbungen gleichzeitig abschicken können, dachte sie und griff zum Telefonhörer.

Das Gespräch fiel kurz aus. Nachdem Marina sich vorgestellt und ihr Anliegen vorgetragen hatte, wurde sie von einer älteren Männerstimme gefragt, ob sie schon Erfahrung im Unterrichten hätte. Sie verneinte wahrheitsgemäß und wurde sogleich abgewiesen. Dann blieb sie eine Weile sitzen und kämpfte gegen eine merkwürdige Mischung aus Zorn und Trübsal an, die sie insgesamt träge machte. Welcher Idiot hatte die Prämisse aufgestellt, dass Ehrlichkeit am Längsten währte? Warum hatte sie sich nicht ein paar Nachhilfeschüler ausdenken können, als ihr wieder einmal die übliche Frage gestellt worden war? So etwas hätte ja kaum überprüft werden können.

Mit einem Seufzer stand sie auf, um wenigstens die erste und so weit einzige Bewerbung des Tages abzuschicken. Auf dem Rückweg vom Postamt beschloss sie, sich einen Eisbecher in einem Straßencafé zu gönnen. Sie hatte ihr Soll erfüllt, mehrere Zeitungen durchforstet und eine entfernt passende Stelle gefunden, die sie wahrscheinlich ohnehin nicht bekommen würde. Das musste gefeiert werden.

Als sie zahlte, stellte sie fest, dass sie nur noch einen einzigen Fünfzig-Mark-Schein besaß. Ihr Konto war schon überzogen und es wurde immer peinlicher, auf der Bank um weiteren Kredit zu betteln. Auch ihren Vater mochte sie nicht wieder um Unterstützung bitten, obwohl er meist großzügig war. Die Kellnerinnenstelle also. Sobald sie zu Hause war, würde sie anrufen. Oder sollte sie einfach hinfahren und sich gleich vorstellen, damit sie schon am nächsten Tag anfangen konnte? Es war ein inzwischen völlig ungewohntes Gefühl, sich für eine Stelle zu interessieren, bei der sie auch davon ausging, sie zu bekommen.

Sobald sie die Wohnung betreten hatte, klingelte das Telefon.

„Hast du dich wieder beruhigt?“, fragte Klaus.

Sie bejahte, denn sie hatte keine Lust, ihm von dem missglückten Anruf beim Nachhilfeinstitut zu erzählen.

„Gut. Können wir uns dann heute Abend sehen? Du hast das gerade eben völlig missverstanden. Ich möchte es dir erklären.“

„Nein.“

Die Antwort war Marina herausgerutscht, bevor sie nachgedacht hatte. Sie erschrak über ihre eigene Unfreundlichkeit, aber sie fühlte sich an diesem Tag einfach nicht in der Lage, Klaus’ erbarmungslos pragmatische Weltsicht noch einmal zu ertragen.

„Ich bin leider schon verabredet“, fügte sie sogleich hinzu, um die Heftigkeit der Zurückweisung etwas zu dämpfen. „Mit Ullie. Morgen vielleicht.“

„Morgen komme ich wahrscheinlich spät aus dem Büro“, erwiderte Klaus nun merklich kühler. „Mal sehen. Ich rufe dich an.“

Eine Stimme erklang im Hintergrund und es knackste, als er auflegte. Marina staunte über den Mantel von Trauer, der sich auf ihre Schultern legte. War dies am Ende ihr letztes Gespräch mit Klaus gewesen? Unwahrscheinlich, beruhigte sie sich. Falls er sich nicht mehr meldete, konnte sie immer noch selbst anrufen und sich entschuldigen.

Nun rief sie erst einmal bei dem Studentencafé an und erfuhr, dass der Besitzer heute nicht da war. Sie könne morgen Nachmittag vorbeikommen und sich vorstellen, denn eine Kellnerin wurde weiterhin gesucht. Da es nichts mehr zu tun gab, machte sie es sich mit einem Buch auf dem Sofa gemütlich, das ihr auch als Bett diente. Als es draußen zu dämmern begann, fand sie den kleinen Raum allmählich beengend. Wohnungen in der Größe von Hasenställen verleiteten ihre Bewohner zu häufigem Ausgehen – im Grunde keine schlimme Sache, doch im Augenblick fehlte ihr dazu das nötige Geld. Sie erwog, einen Abendspaziergang zu machen oder sich mit ihrem Buch in ein Café zu setzen. Ein Glas Wein würde sie sich noch erlauben, dann wieder heimkehren. Ein erneutes Klingeln des Telefons hinderte sie daran, sofort in ihre Ballerinas zu schlüpfen. Eine Weile starrte sie auf das knallrote Gerät mit der altmodischen Wählscheibe, dann griff sie nach dem Hörer.

„Klasse, das Vöglein ist nicht ausgeflogen!“, wurde sie von Ulrikes energiegeladener Stimme förmlich überrannt. „Ich habe ein Attentat auf dich vor. Wir müssen uns sehen, am besten gleich.“

Marina grinste. „Ich würde gern“, antwortete sie, denn Ulrikes Anruf hatte ihre Laune mit einem Mal wieder in Schwung gebracht. „Aber für einen Absturzabend in der Kneipe fehlt mir momentan das Geld.“

Das war das Erfrischende an Ulrike. Man konnte einfach ehrlich sein. In Klaus’ Kreisen wurde nicht offen über Geldnöte gesprochen.

„Kein Problem. Komm zu mir. Ich habe eine Flasche erstklassigen Rotwein von Aldi, natürlich sündteuer. Ich habe lange sparen müssen, um die zwei Mark zusammenzukriegen. Dazu gibt es ein unvergleichliches Gourmetdinner.“

„Lass mich raten! Spaghetti mit Ketchup und Champignons aus der Dose?“

„Wie hast du das nur wieder erraten?“

„Weil du das immer kochst.“

„Falsch! Manchmal gibt es auch Tiefkühlpizza. Aber das ist natürlich sehr aufwendig.“

„Beides unwiderstehlich. Ich bin in einer halben Stunde da.“

Fröhlich summend zog Marina sich eine Jeansjacke an und rannte die Stufen zum Fahrradkeller hinab.

Ulrike lebte in einer Wohngemeinschaft mit zwei Jungs, die beide Sozialpädagogik studierten. Einer davon war schwul, der andere hatte ständig neue Freundinnen, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen, und an diesem Abend war keiner von ihnen da. Marina wurde in die große Küche gewunken, wo bereits das Wasser für die Spaghetti köchelte.

„Das Essen ist gleich fertig. Setz dich schon mal und mach den Wein auf.“

Marina gehorchte und füllte beide Gläser großzügig.

„Wollen wir anstoßen?“

„Geduld, Geduld. Ich habe wichtige Dinge zu erzählen.“

Ulrike warf die gekochten Nudeln in ein Sieb und ließ sie abtropfen. Dann wurden sie auf zwei Teller verteilt.

„Die Champignons sind in der Schüssel links und der Ketchup steht rechts daneben“, sagte sie, als sie das Essen vor Marina hinstellte. Ihr sonst sehr blasses Gesicht hatte vom Kochen etwas Farbe bekommen. Wie meistens steckte ihre rundliche Figur in einer schlabberigen Latzhose.

„Also, was hast du zu feiern?“, fragte Marina ungeduldig.

Ulrike hob einladend ihr Weinglas. „Seit heute bin ich wissenschaftliche Assistentin bei Professor Maiwald. Er hat mir nahegelegt, zu promovieren und dafür ein Stipendium zu beantragen. Mit seinem Empfehlungsschreiben habe ich gute Chancen, es auch zu bekommen.“

Marina erstarrte. Ein merkwürdiges, bisher unbekanntes Gefühl bemächtigte sich ihrer und löste einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge aus.

„Na, was ist? Freust du dich nicht für mich?“ Ulrike sah verwirrt aus.

„Doch. Natürlich“, sagte Marina, konnte aber hören, wie wenig überzeugend ihre Stimme klang. „Du kannst dich auch für mich freuen“, fügte sie nach ein paar Atemzügen hinzu. „Ich werde wahrscheinlich bald Sekretärin, vorausgesetzt natürlich, ich kriege den Job. Ansonsten bleibe ich erst einmal Kellnerin. Na, was glotzt du so? Bin ich dann kein Umgang mehr für dich?“

„Ich verstehe nicht ganz, was dieses Benehmen plötzlich soll“, meinte Ulrike ratlos.

„Na ja, ist doch klar. Meine Magisterarbeit war nicht so toll wie deine. Also bleibst du weiter an der Uni und ich gehe tippen oder kellnern. Ein jeder nach seinen Fähigkeiten.“ Marina erschrak selbst darüber, wie bissig sie klang. Zuerst hatte Klaus ihre schlechte Laune abbekommen. Jetzt war es Ulrike. Wenn sie so weitermachte, hatte sie bald schon nicht nur keine Arbeit, sondern auch keine Freunde mehr.

Ulrike drehte stirnrunzelnd das Weinglas in ihrer Hand und schwieg eine Weile.

„Kannst du dich nicht mehr erinnern, wie du geredet hast, als du deine Magisterarbeit geschrieben hast?“, fragte sie dann leise. „Dass dir dieses Überinterpretieren von Literatur allmählich reicht? Wie gern du es endlich mal wieder genießen würdest, einfach ein Buch zu lesen, ohne irgendwelche schlauen Theorien dazu aufstellen zu müssen?“

Marina ließ den Kopf sinken. Sie hatte in der Tat so gesprochen, vor allem, wenn sie nach ein paar Gläsern Wein in Fahrt geraten war.

„Schon klar. Deshalb habe ich dann wohl meine Magisterarbeit versaut“, gab sie kleinlaut zu.

„Ach Quatsch! Du hast einen Zweier, da hast du doch nichts versaut. Aber für eine wissenschaftliche Laufbahn, na ja, hättest du vielleicht etwas mehr Enthusiasmus gebraucht.“

„Ich hab’s ja bereits kapiert“, sagte Marina und nahm noch einen tiefen Schluck Wein. „Aber damals wusste ich noch nicht, dass meine Zukunft darin bestehen soll, Geschäftsbriefe zu schreiben.“

Sie sah, wie ihre Freundin das Gesicht verzog.

„Also wer redet hier jetzt schlecht über Sekretärinnen?“, fragte Ulrike. „Meine jüngere Schwester ist eine. Sie war froh, mit der Schule fertig zu sein, und macht ihren Job gern. Genau das scheint mir nämlich das Problem bei dir: Man sollte sich nicht auf eine Stelle bewerben, die man sowieso nicht will. Also wenn du mir im Bewerbungsgespräch mit so einer Miene gegenübersitzen würdest, dann würde ich dich garantiert nicht einstellen.“

„Ich mich wahrscheinlich auch nicht“, erwiderte Marina, während sie in ihr Weinglas grinste. „Also wird erst einmal weiter gekellnert.“

Ulrike seufzte leise. „Warum überlegst du dir nicht einfach, was du wirklich machen möchtest? Stell eine Liste von Jobs zusammen, die dich wenigstens ein bisschen interessieren.“

„Klasse Rat“, meinte Marina mit neu erwachter Bissigkeit. „So schlau war ich auch schon. Aber was nützt es mir, auf eine Liste zu schreiben, dass ich gern Verlagslektorin oder Sprachdozentin wäre, wenn mich dann keiner einstellt? Überall soll man Berufserfahrung mitbringen, aber wie bekommt man die, wenn man gleich am Empfang abgewimmelt wird?“

Sie griff nach der Weinflasche, um sich nochmals einzuschenken.

„Schau doch mal aufs Schwarze Brett an der Uni bei den Germanisten“, sagte Ulrike. „Da habe ich erst heute etwas gesehen. Irgendeine Sprachenschule suchte Dozenten. Aber beeil dich, sonst haben die schon ihr Telefon abgestellt, weil es ununterbrochen klingelt.“

Marina stimmte erleichtert in ihr Lachen ein. Der Wein hatte ihr gutgetan.

„Vielleicht sollte ich mir die Adresse aufschreiben und versuchen, durchs Fenster hereinzuklettern, damit ich ihnen einfach meine Unterlagen auf den Tisch knallen kann. Im Bewerbungstraining sagten sie uns immer, wir müssten Initiative zeigen.“

„Tolle Idee. Die sind bestimmt beeindruckt.“

Auch Ulrike musste der Wein bereits zu Kopf gestiegen sein und Marina entspannte sich. In manchen Situationen half Herumalbern viel besser als endlose Ratschläge.

„Mein Cousin, der Psychologie studiert hat, jammert auch herum, falls es dich tröstet“, sagte Ulrike, nachdem sie ihr eigenes Glas erneut aufgefüllt hatte. „Der hat sich sogar als Telefonist in einer Bank beworben und ist zu einem Assessment-Center eingeladen worden. Den ganzen Tag gab es Testfragen und Gespräche, alles unter Druck, ein paar Leute sind heulend hinausgerannt. Er hat es mit Tierversuchen verglichen. Am Ende wollten sie ihn sogar nehmen, aber er hat abgelehnt.“

„Der Knabe hat Stil“, meinte Marina anerkennend. „Auf deinen Cousin!“

Sie stießen mit dem letzten Rest Wein nochmals an. Nun, da ihr Geist sanft umnebelt war, schienen Marina die fünfzig Mark in ihrem Portemonnaie recht viel, und sie bot sich freiwillig an, eine weitere Flasche an der Tankstelle zu holen.

Sie erwachte, als ihr Nachbar laute Technomusik aufdrehte und die Wand zwischen ihnen von rhythmischem Hämmern zu bersten drohte. Der Wecker auf ihrem Nachttisch teilte ihr mit, dass es bereits zehn Uhr morgens war. Sie streckte sich gähnend. Ein leichtes Pochen an ihren Schläfen erinnerte sie daran, wie viel Wein sie am Vorabend getrunken hatte. Danach war das Radfahren nicht einfach gewesen, aber sie hatte es geschafft, mit leichtem Schlängeln unversehrt nach Hause zu kommen. Insgesamt hatte der Abend ihr gutgetan, denn sie verspürte mehr Tatendrang als in den letzten Tagen. Wenn sie noch ein paar Monate kellnern musste, um sich am Leben zu halten, würde die Welt davon nicht untergehen.

Sie warf die Kaffeemaschine an und inspizierte ihren Kühlschrank, wo eine letzte Scheibe Vollkornbrot zwischen zwei Joghurtbechern lag. Zwei Fächer tiefer entdeckte sie noch ein Glas selbst gemachter Marmelade ihrer Oma, hinter dem sich ein allerletzter Rest bereits leicht ranziger Butter verbarg. Immerhin hatte sie schon mal ein Frühstück.

Zwei Tassen Kaffee halfen, den letzten Rest an Kopfschmerz zu verjagen. Frisch geduscht zog sie einen jener bunten, weit schwingenden Röcke aus dem Schrank, die sie gern trug, obwohl Klaus sie kürzlich als „hippiemäßig“ bekrittelt hatte, streifte ein T-Shirt über und schlüpfte wieder in die Ballerinas. Es war an der Zeit, sich jenen Aushang am Schwarzen Brett anzusehen, von dem Ulrike gesprochen hatte.

Als Marina die vertrauten Korridore des Universitätsgebäudes betrat, legte sich wieder eine Decke aus Schwermut auf ihre Schultern. Vier Jahre lang war dieser Ort ein Fixpunkt in ihrem Leben gewesen; jetzt fühlte sie sich in eine Welt hinausgestoßen, wo sie durch ein Vakuum schwamm, erfolglos auf der Suche nach ein wenig Halt. Sie sah junge Gesichter an sich vorbeieilen, verbissen, aufgeregt, gelangweilt oder in angeregte Gespräche vertieft, und beneidete sie darum, noch hierherzugehören.

Auf dem Schwarzen Brett wurden die Veranstaltungen für das nächste Semester angekündigt; daneben hingen Wohnungsangebote, und ein paar Marketingfirmen suchten Mitarbeiter für Umfragen. Marina lief aufmerksam auf und ab und überflog die geplanten Vorlesungen und Seminare. „Das Bild der Frau bei Schiller und Goethe im Vergleich“ hätte sie durchaus interessiert, und die Anglisten begannen, sich endlich auch mit Fragen des Kolonialismus zu befassen. Wieder verspürte sie den Stich des Neids in ihrer Brust. Für Ulrike waren die Türen zu diesen Veranstaltungen noch nicht geschlossen, aber sie selbst hatte dort nichts mehr verloren. Sie riss sich zusammen und beschloss, ihre Aufmerksamkeit ganz auf das eigentliche Ziel ihrer Fahrt hierher zu lenken. Es brauchte noch ein paar Sekunden aufmerksamen Schauens, dann entdeckte sie endlich den Aushang, von dem Ulrike gesprochen hatte: „Kleine Sprachenschule sucht Dozenten für Deutsch, Englisch und Französisch.“ Alle Zettelchen mit der Telefonnummer hatte man bereits abgerissen, und jemand musste auch die Angabe der Adresse entfernt haben. Marina verzog das Gesicht, beschloss aber, sich nicht unnötig zu ärgern, denn die Stelle war sicher schon längst vergeben. Gerade wollte sie sich umdrehen, um den Heimweg anzutreten, als ihr ein weiteres Blatt Papier ins Auge stach.

„Prager Sprachinstitut braucht dringend deutsche Muttersprachler“ stand dort in leicht verblasster, kursiver Schrift auf rosa Hintergrund. Ein unscharfes Foto von der Kulisse einer Burg über einem breiten Fluss war neben den Text geklebt worden – ein etwas bemühter Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen. Marina blieb eine Weile stehen. Der Zettel musste neu sein, sonst hätte Ulrike ihn sicher erwähnt. Sie erwog, ihn einfach abzureißen und mitzunehmen, aber es widerstrebte ihr, sich auf diese Weise die besten Aussichten auf eine Stelle zu sichern. So kramte sie ihren Taschenkalender heraus, wühlte in den Tiefen des Rucksacks nach einem Stift. Die Adresse des Sprachinstituts schien aus einer seltsamen Abfolge von Konsonanten zu bestehen. Marina beschloss, sich erst einmal nur die Nummer zu notieren.

Nachdenklich strampelte sie wieder heimwärts. Prag lag in der Tschechoslowakei, nein, jetzt hieß es Tschechische Republik. Es hatte eine Trennung gegeben, die aber nicht so blutig abgelaufen war wie im ehemaligen Jugoslawien.

Marina erinnerte sich an Urlaube in der Nähe von Dubrovnik, von denen der erste über zehn Jahre zurücklag. Damals hatte ihre Mutter noch gelebt und hatte neben ihr an einem felsigen Strand vor einem strahlend blauen Meer gesessen. Später war sie noch einige Male allein mit ihrem Vater dort gewesen. Feigen, die man von Bäumen pflücken konnte, gutbürgerliche Küche mit Fleischspießen und Männer, die ihr hinterhergepfiffen hatten, das waren Marinas Erinnerungen an Osteuropa. Prag lag aber nicht am Meer, hatte vermutlich kein so sonniges Klima und eigentlich bestand es in ihrem Kopf vor allem aus Franz Kafka, den sie stets unerträglich depressiv gefunden hatte. In den letzten Jahren wurde mehr Havel gelesen, der in diesem Land nun Präsident geworden war. Milan Kundera fiel ihr noch ein. Sie war mit Ulrike schnell übereingekommen, dass er ein zwar sehr kluger Mann, aber auch ein ziemlicher Chauvinist war.

Auf dem Heimweg nutzte sie ihre verbleibenden finanziellen Reserven, um ihren Kühlschrank etwas aufzufüllen, briet sich ein Schinkenomelette und blieb schließlich vor dem Telefon sitzen. Ein Ferngespräch war nicht billig. Sie hatte ihrem Vater in den letzten Monaten ohnehin sehr hohe Telefonrechnungen zugemutet, denn das ständige, erfolglose Schreiben von Bewerbungen verleitete dazu, sich mit Freundinnen über die Ungerechtigkeit dieser Welt austauschen zu müssen. Aber sie brauchte ja nicht lang mit diesen Leuten zu reden; sie wollte eigentlich nur wissen, ob die Stelle für sie infrage kam. Oder genauer genommen sie für die Stelle. Das war bisher ihr größeres Problem gewesen.

Sie wählte die gekritzelte Nummer und wartete, bis ein scheppernder Klingelton kam. Ihr Herz schlug ruhig, die Aufregung kauerte bislang noch in ihrem Hinterkopf. Der Klingelton wiederholte sich in regelmäßigen Abständen, was ihn fast einschläfernd machte. Also war keiner im Büro. An einem Mittwoch kurz nach zwölf, was nicht gerade für eine professionelle Einrichtung sprach. Marina wollte gerade wieder auflegen, als plötzlich eine helle Frauenstimme in einer unverständlichen Sprache zu reden begann.

„Sprechen Sie Deutsch?“, unterbrach Marina.

„Schlecht. Leider. Englisch?“

Es klang gleichzeitig weich und doch zackig, einfach aufgrund des rasanten Sprechtempos.

Marina stellte sich auf Englisch vor und erwähnte den Aushang in der Regensburger Universität. Zunächst folgte nur Schweigen, dann beriet die Frau sich mit jemandem im Hintergrund.

„Sie Deutsche? Haben studiert und wollen hier arbeiten?“ Es klang ungläubig.

„Deshalb rufe ich an“, erwiderte Marina.

„Ja dann.“ Die Frauenstimme überschlug sich fast in einem glücklichen, ausgelassenen Lachen. „Dann kommen Sie einfach her.“

Marina war zu verblüfft, um etwas zu sagen.

„Haben Sie schon einmal unterrichtet?“, fragte die Frau nun etwas sachlicher. Marina war fast erleichtert darüber, denn nun bewegte sie sich wieder auf vertrautem Terrain. Sie tat ein paar Atemzüge und suchte nach einer unverfänglichen Lüge, beschloss aber am Ende, es darauf ankommen zu lassen.

„Nein. Leider nicht. Aber ich würde es gern tun.“

„Ach, dann kein Problem. Wir helfen Ihnen. Geben Tipps.“

Marina meinte, sich in einen merkwürdigen Traum verirrt zu haben. Vielleicht war das alles auch nur ein schlechter Scherz für irgendeine Fernsehsendung über Arbeitssuchende, und ihr Telefongespräch wurde zu diesem Zweck abgehört. Man wollte sehen, wie viele Leute tatsächlich glauben würden, allein ihr Studienabschluss könnte ihnen eine angemessene Stelle verschaffen.

„Sie meinen, Sie würden mich einfach so einstellen? Ohne irgendwelche …“

Tierversuche hätte sie fast gesagt, doch zum Glück fiel ihr der englische Begriff dafür nicht gleich ein.

„Ja, ja, sicher, wir stellen Sie ein. Kommen Sie einfach her. Mit Zeugnissen.“

Es ging so schnell, dass Marina fast schwindelig wurde.

„Sie meinen, ich brauche Ihnen nur meine Zeugnisse zu zeigen und dann bekomme ich eine Stelle an Ihrer Sprachenschule?“

„Ja. Das habe ich schon gesagt.“ Die Frau begann etwas ungeduldig zu klingen, als zweifle sie an Marinas Begriffsvermögen. „Wir können Ihnen leider nicht die Reise bezahlen“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

„Oh. Das ist kein Problem. Wann soll ich denn kommen?“

„Vor September. Dann geht die Schule los. Geben Sie mir Ihre Adresse und ich schicke Ihnen Informationen.“

Als das Gespräch beendet war, starrte Marina eine Weile reglos aus dem Fenster. Es klang, als hätte sie ganz plötzlich eine Arbeit gefunden. In einem Land, das zwar unmittelbar neben dem ihren lag, aber von dem sie so gut wie nichts wusste. Auf das Staunen folgte ein Moment der Euphorie, bis schließlich die Angst Oberhand nahm. Was würde ihre Familie sagen, wenn sie einfach so ins Ausland verschwand? An das Gespräch mit Klaus wagte sie gar nicht erst zu denken.

Sie musste sich ja nicht gleich entscheiden, beschloss sie. Erst einmal würde sie abwarten, ob tatsächlich Infomaterial käme. Danach konnte sie hinfahren, um sich die Schule anzusehen, doch würde sie von den dreißig Mark, die noch in ihrem Portemonnaie steckten, keine Zugfahrkarte zahlen können. Sie seufzte und sah auf die Uhr.

Es war an der Zeit, sich in dem Studentencafé als Kellnerin vorzustellen.

2. Kapitel

Coburg, Oktober 1932

Julia nahm das dämmerige Licht hinter ihrem Fenster wahr und schloss wieder die Augen. Wenn sie sich tiefer und tiefer ins Dunkel fallen ließ, kamen die Klänge zurück, um ihren Geist schweben und tanzen zu lassen. Sie hörte das Springen und Gleiten der Töne, die sich trotz all ihrer Eigenart in eine Harmonie fügten, eine Weile dahinrasten, dann wieder sanft glitten. In ihrer Welt gab es keine Unstimmigkeit, keine Leere, jeder Aufruhr erfüllte einen Zweck, da alles aufeinander abgestimmt war.

Als sie ihren Vater im unteren Stockwerk schreien hörte, steckte sie den Kopf unter ihr Kissen, damit die Musik nicht verstummte. Ihre Finger bewegten sich in der freien Luft, um die Saiten der imaginären Geige zu ertasten. Die andere Hand, die den Bogen halten sollte, ließ sie frei schweben. Sie war sich sicher, nun die richtigen Töne treffen zu können, wenn sie endlich eine Geige in der Hand hielt. Leider wurden auch die bösen, disharmonischen Geräusche immer lauter. Jemand schlug gegen ihre Zimmertür. Julia presste sich noch tiefer in die Matratze, konnte aber nicht verhindern, dass die Tür geöffnet wurde.

„Mensch, Jule! Du hast vergessen, die Tische für die Gäste zu decken. Vater ist völlig außer sich und macht Mutter nieder, weil sie nicht streng genug mit dir ist.“

Es war ihr Bruder Walther. Julia verspürte Erleichterung, aber auch Unbehagen, da er wieder einmal ihr die Schuld an einem Streit zwischen ihren Eltern gab. Seufzend kroch sie aus der Geborgenheit des Bettes.

„Wir haben doch im Moment kaum Gäste“, versuchte sie sich zu verteidigen. Am gestrigen Abend war der Speiseraum fast leer gewesen, bis auf einen alten Witwer, dessen Tochter in der Nähe wohnte. Er hatte sie besucht, aber der Aufenthalt war wohl unerfreulich verlaufen, wenn er sich freiwillig in eine Pension zurückzog. Julia hatte seine Trauer als grauen Schleier gespürt, der über ihm hing, konnte sich aber nicht an sein Gesicht erinnern. Er hatte auch kaum etwas gegessen, nur mehrere Gläser Bier getrunken.

„Spätabends traf noch eine Familie ein, die ziemlich reich scheint. Sie haben sogar ein Automobil, das ihnen unterwegs kaputtgegangen ist.“ Walther baute sich über ihr auf. „Nun mach schon, zieh dich an und geh nach unten, um zu helfen. Ich laufe inzwischen zur nächsten Werkstatt. Das habe ich versprochen.“

Julia gehorchte widerstrebend, wickelte sich in ihren Morgenmantel und ging ins Bad. Nach einer schnellen Wäsche zog sie ihr blaues Kleid an, denn darin mochte ihr Vater sie am liebsten. Sie flocht ihr Haar zu Zöpfen, lief die Stufen hinab und versuchte dabei, noch eine Weile die Melodien in ihren Ohren klingen zu lassen, um sich für die bevorstehende Konfrontation mit ihrem Vater zu wappnen.

Am Ende war es gar nicht so schlimm. Der Vater saß bereits am Tisch mit den neuen Gästen, um sie zu unterhalten. Der Witwer hatte sich in die hinterste Ecke verkrochen, wohl in dem Bewusstsein, dass sich auch hier kaum jemand mehr um ihn scherte. Julia trug mit einem bemühten Lächeln ein Tablett mit Kaffee, Brötchen und Marmelade herein.

„Gleich kommen noch Eier und Käse“, begrüßte sie die Gäste. Sie nahm sich aber vor, zuerst dem Witwer sein Frühstück zu bringen.

„Meine Tochter Jule“, wurde sie von ihrem Vater vorgestellt. Fünf Gesichter wandten sich ihr zu, aber es war nur eines, das in ihr Bewusstsein drang. Ein junger, dunkelhaariger Mann starrte sie auf jene Weise an, die sie von den männlichen Gästen kannte, aber nicht mochte. Sie fühlte sich wie ein kostbarer Gegenstand bewundert, den zu besitzen erstrebenswert wäre. Julia presste ihre Lippen aufeinander, als sie ihm Kaffee einschenkte.

„Sie haben eine bemerkenswert hübsche Tochter, Herr Kronach.“

Es war nicht der junge Mann, der gesprochen hatte, sondern sein Vater. Den hatte Julia zunächst ganz sympathisch gefunden, da er grau und distinguiert aussah, doch nun, da sie spürte, wie ihre Wangen zu brennen begannen, wünschte sie ihn auf einen anderen Planeten. Warum ließen derart dumme Bemerkungen sie immer wieder rot anlaufen, obwohl sie sie schon oft genug gehört hatte? Das gewohnte, verhasste Gelächter erklang auch schon in ihren Ohren.

„Noch etwas schüchtern, die kleine Rose. Das legt sich sicher bald. So einer müssen die Burschen doch auf Schritt und Tritt hinterherlaufen.“

Julia stand noch eine Weile mit glühendem Kopf da, beschämt über diese Reaktion ihres Körpers, aber auch wütend auf jenen älteren Herrn, der sie ausgelöst hatte.

„Eine solche Frau ist zu schade für gewöhnliche Kerle und das weiß sie auch. Sie braucht einen tapferen, stolzen Mann, der sie schätzt und auf Händen trägt.“

Diese Worte hatte der junge Mann vorgetragen und das mit einem fast dramatischen Ernst. Julia spürte seinen bohrenden Blick.

„Mein Arthur hat manchmal sehr eigene Ansichten“, sagte sein Vater mit einem verlegenen Lachen. „Er liest wahrscheinlich zu viele Romane.“

„Das stimmt nicht“, erwiderte der junge Mann sofort. „Ich hasse dieses sentimentale Gewäsch, das in den meisten Büchern steht.“

Ein Moment betretenen Schweigens trat ein, den Julia für ihren Rückzug nutzte.

„Ich muss wieder in der Küche helfen.“

Als sie den Speisesaal verlassen hatte, atmete sie erleichtert auf. Bisher war die Aufmerksamkeit von Männern ihr einfach nur lästig gewesen, doch von diesem neuen Gast fühlte sie sich auf eine Art bedrängt, die ihr Angst machte, sie aber auch aufwühlte.

Am frühen Nachmittag konnte sie endlich zu Fräulein Rosenberg aufbrechen, da das Mittagessen serviert worden war und keine neuen Gäste eingetroffen waren. Sie verabschiedete sich rasch von ihrer Mutter und lief dann die Straße hinab zu jenem kleinen Haus mit bunt blühendem Garten. Toby, der flauschige Hund, bellte bereits, noch bevor sie den Türklopfer betätigt hatte. Es war eines der seltenen lauten Geräusche, die sie mochte.

„Komm herein, Jule.“ Fräulein Rosenbergs faltiges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

„Ich habe geübt“, sagte Julia stolz, als sie das größte, sonnenbeschienene Zimmer in dem kleinen Haus betrat.

„Ich weiß, Kind. Aber ohne eigene Geige ist es schwer.“

Noch vor zwei Wochen hatte Julia eine Geige gehabt, ein billiges, gebraucht gekauftes Instrument, das einen Sturz auf den Boden nicht überlebt hatte. Es war ihre eigene Schuld gewesen, denn sie war mit der Geige in der Hand gestolpert, was sie sich immer noch nicht verziehen hatte.

„Ich kann auch ohne Geige üben“, erwiderte sie trotzig. „Ich sehe manchmal Dinge, die andere Menschen nicht wahrnehmen. Und wenn ich mir eine Geige vorstelle, dann ist es fast so, als könnte ich sie in den Händen halten.“

Niemandem außer ihrer alten Lehrerin hatte sie dies jemals gesagt, denn sie wollte nicht für närrisch gehalten werden. Aber Fräulein Rosenberg war vorsichtig in ihrem Urteil und legte nicht immer die gesellschaftlich vorgegebenen Maßstäbe an.

„Dann spiel mir jetzt vor“, sagte sie und hielt ihr das einzige Instrument entgegen, das sie besaß. Julia wusste, dass die alte Dame ihr schon längst eine Geige geschenkt hätte, wenn sie es sich hätte leisten können.

Sie spielte den Russischen Tanz aus Tschaikowskis Nussknacker, später eine Sonate von Schubert, denn das waren ihre derzeitigen Lieblingsstücke. Fräulein Rosenberg saß indessen auf ihrem Sofa, lauschte mit einer Kaffeetasse in der Hand und kraulte Toby zwischen den Ohren.

„Du bist sehr gut. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass du nicht einmal ein eigenes Instrument hast“, bemerkte sie schließlich. Julia wusste nicht, ob sie sich freuen oder besorgt sein sollte, denn für gewöhnlich hatte ihre Lehrerin stets ein paar Kritikpunkte vorzutragen, die ihr dabei helfen konnten, sich zu verbessern. Diese Worte enthielten ein klares Urteil, dem gleichzeitig etwas Endgültiges anhaftete. Sie erkannte einen hellgrauen Schleier aus Erschöpfung und Melancholie, der die alte Dame umgab.

„Es gibt nicht mehr viel, das ich dir noch beibringen könnte“, sagte sie und stellte ihre Kaffeetasse ab. „Mein Gehör wird langsam schwach und meine Augen lassen nach. Du gehörst jetzt auf ein Konservatorium.“

Julias Herz hüpfte vor Glück. Nichts wäre ihr lieber als ein Ort, wo sie sich von morgens bis abends der Musik widmen konnte, anstatt in der Küche über Kochtöpfen zu schwitzen und Gäste zu bedienen.

„Aber ich habe nur die Realschule abgeschlossen“, sagte sie leise und wartete auf das Urteil von Fräulein Rosenberg, die das allerdings wissen musste.

„Ich denke, bei deiner Begabung wäre das kein Hindernis. Ich könnte dir ein Empfehlungsschreiben mitgeben. In meiner Jugend gab ich manchmal Konzerte und vielleicht erinnert der eine oder andere Lehrer sich noch an mich. Das eigentliche Problem …“ Sie verstummte für einen Moment. Julia sah, wie der Schleier um sie herum ein wenig dunkler wurde. „Das eigentliche Problem ist eher finanzieller Natur. So eine Ausbildung ist nicht billig. Meinst du, deine Eltern könnten es zahlen?“

Julias Freude brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus im Wind.

„Sie könnten es vielleicht, wenn auch mit Schwierigkeiten“, meinte sie nach einigem Überlegen. „Die Pension läuft nicht schlecht und meine Mutter hat kürzlich etwas Geld geerbt, das auf der Bank liegt. Nur fürchte ich, dass …, dass sie es für Unsinn halten, mich auf irgendeine höhere Schule zu schicken.“

Bereits der Vorschlag ihrer Klassenlehrerin, dass Julia Kronach begabt genug für das Gymnasium wäre, war von ihrem Vater energisch zur Seite gefegt worden, nur hatte sie das weniger geschmerzt. Sie träumte nicht davon, Lehrerin oder Ärztin zu werden wie manche studierten Frauen. Zu der Zukunft, die sie wollte, gehörte nur eine Geige.

„Ich könnte versuchen, mit ihm zu reden“, schlug Fräulein Rosenberg vor. „Glaubst du, das nützt etwas, oder mache ich dadurch alles noch schlimmer?“

Julia dachte kurz nach. Die Reaktionen ihres Vaters waren schwer einzuschätzen. Nur darauf, dass sein Urteil vehement ausfallen und er keinen Widerspruch dulden würde, konnte man sich verlassen. Einerseits zog er gern über moderne Weiber in Hosen her, die ihren Platz in der Welt nicht kannten und Familienmännern die Arbeitsplätze wegnahmen. Andererseits wusste sie, dass ihr Vater durchaus Respekt vor studierten Leuten hatte, falls diese sich seinen Moralvorstellungen entsprechend benahmen. Fräulein Rosenberg in ihrem klassischen Kostüm und der dezenten Perlenkette war der Inbegriff dessen, was allgemein als Dame bezeichnet wurde. Julia konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater sie anders als mit ausgesuchter Höflichkeit behandeln würde, doch bedeutete dies noch lange nicht, dass er auch auf sie hörte.

„Es wäre sehr nett, wenn Sie es versuchen würden“, sagte sie schließlich. „Immerhin hat er mir ein paar Jahre lang den Geigenunterricht bei Ihnen bezahlt.“

Dieser Gedanke gab Julia Hoffnung. Ihr Vater war stolz darauf gewesen, ihr eine Ausbildung finanzieren zu können, die zu einer Dame passte, was sich nur wenige seiner Freunde für ihre Kinder leisten konnten.

„Einen Teil der Kosten könnte vielleicht ich übernehmen“, bot Fräulein Rosenberg nun an. „Ich habe keine eigenen Kinder, denen ich etwas vererben könnte. Doch sind meine Ersparnisse nicht besonders groß und jetzt kann ich auch nicht mehr unterrichten … Es wird nicht ohne die Unterstützung deiner Eltern gehen, Julchen.“

Julia nickte, denn das wusste sie bereits. Sie war gerührt von der Hilfsbereitschaft ihrer Geigenlehrerin, konnte dies aber schwer in Worte kleiden, denn es fiel ihr selbst bei vertrauten Menschen nicht leicht, über ihre Empfindungen zu sprechen. Sie hoffte, dass Fräulein Rosenberg ihre Gefühle spürte, so wie sie selbst es bei anderen vermochte.

„Ich werde morgen mit deinem Vater reden“, beschloss die alte Dame und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. „Um welche Zeit wäre es denn günstig?“

„Am Nachmittag. So etwa um diese Uhrzeit.“

„Gut, dann werde ich kommen. Ich muss ihm auch mitteilen, dass der Unterricht diesen Monat endet, weil ich mich zur Ruhe setze. Und zum Abschied …“

Sie stand auf und ging ein paar Schritte auf Julia zu. Der graue Schleier war so hell geworden, dass Julia ihn kaum noch sehen konnte, doch bemerkte sie, wie langsam die alte Dame sich bewegte, als litte sie an Gliederschmerzen.

„Zum Abschied sollst du meine Geige bekommen, denn ich selbst brauche sie ja nun nicht mehr.“

Nun starrte Julia nur noch stumm, wusste nicht, ob dies ein Schlaftraum war oder einer jener Wachträume, die sie kannte, seit sie sich erinnern konnte.

„Bitte behalte sie, Julchen. Bei dir weiß ich wenigstens, dass du sie schätzen wirst und nicht gleich verkaufst, wenn du Geld brauchst.“

Julias Finger streichelten das glatte, warme Holz, das noch vom Spiel zu vibrieren schien. Sie befühlte die Härte der straff gespannten Saiten, die sich in ihre Fingerkuppen pressten, als wollten sie ein Teil ihres Körpers werden. Wärme erfüllte sie, tiefe Zärtlichkeit, als hielte sie ein atmendes Wesen im Arm.

„Ich danke Ihnen“, murmelte sie ehrfürchtig, denn nun war es einfach nicht möglich, stumm zu bleiben. Tränen der Freude füllten ihre Augen. Fast hatte sie Angst, mit diesem kostbaren, von Meisterhand gefertigten Instrument nach Hause zu gehen. Was war, wenn sie wieder stolperte?

„Nimm den Geigenkasten“, sagte Fräulein Rosenberg und bestätigte dadurch Julias Vermutung, dass sie Gefühle anderer Menschen spüren konnte.

„Ja, natürlich. Das ist sehr nett von Ihnen.“

Bevor sie weiter verzweifelt nach angemessenen Worten suchen konnte, um ihre Dankbarkeit auszudrücken, wurde sie von Fräulein Rosenberg und dem Hund Toby zur Ausgangstür begleitet.

„Ich werde Sie besuchen. So oft es geht“, versprach Julia schließlich zum Abschied. Sie bemerkte ein Leuchten in den klugen, braunen Augen ihrer Lehrerin und begriff, dass sie das Richtige gesagt hatte. Die alte Dame hatte ihr Leben hauptsächlich der Musik gewidmet und fürchtete nun einen einsamen Tod.

Auf dem Heimweg überlegte sie, wie oft sie noch nach Coburg käme, wenn sie irgendwann Violinkonzerte gab. Aber sie würde Mittel und Wege finden, ihr Versprechen zu halten, denn das war sie Fräulein Rosenberg schuldig. Nun mussten nur noch ihre Eltern überzeugt werden, ihr das Konservatorium zu bezahlen. Die Vorstellung, dass ihr Leben einen anderen Weg einschlagen könnte als diesen, verbannte Julia aus ihrem Denken.

Beim Abendessen war der Witwer verschwunden. Die Familie mit dem kaputten Automobil hingegen saß noch an ihrem Tisch, doch waren zum Glück andere Gäste eingetroffen, denen Julia das Essen servieren konnte. Den aufdringlich starrenden jungen Mann überließ sie ihrer Mutter, die auch lange fragend am Tisch stehen blieb, denn so wohlhabende Leute gab es selten in der Pension und sie hatten natürlich ein Recht, all ihre Wünsche sofort erfüllt zu bekommen. Zu ihrem Leidwesen wurde Julia noch in die nächste Konditorei geschickt, um der Gattin des Automobilbesitzers ein Stück Schokoladentorte zu besorgen. Die Frau bedankte sich allerdings so freundlich dafür, dass es Julia glücklich machte, zumal sie ein helles, angenehmes Strahlen an ihrer Person wahrnahm. Sie brachte den Rest ihrer Pflichten schnell hinter sich, damit sie auf ihrem Zimmer endlich wieder Geige spielen konnte. Als sie den Speisesaal verließ, spürte sie einen brennenden Blick in ihrem Rücken, doch war sie zu sehr mit freudigen Gedanken an ihre Geige beschäftigt, um weiter darüber nachzudenken.

Der nächste Vormittag bis zum verabredeten Treffen mit Fräulein Rosenberg schleppte sich quälend langsam dahin, und Julia war fast dankbar, dass die Pension weiterhin recht viele Gäste hatte, die für Arbeit sorgten. Zum weiteren Üben auf der Geige fehlte ihr nun die nötige innere Ruhe. Während sie das Mittagessen servierte, fiel ihr auf, dass Walther neben dem Tisch stand und sich angeregt mit dem Sohn des Automobilbesitzers unterhielt. Offenbar ging es um die technischen Feinheiten eben jenes Fahrzeugs, das weiterhin seinen Dienst versagte, aber von dem ihr Bruder außerordentlich angetan war. Sie musste innerlich grinsen, denn für gewöhnlich rümpfte Walther über jedes Zeichen von Luxus die Nase. Gleichzeitig fragte sie sich, warum diese Familie weiterhin in der Pension lebte, denn schon an ihrer Kleidung war zu erkennen, dass sie sich eine wesentlich teurere Unterkunft hätten leisten können.

Pünktlich um drei Uhr nachmittags klingelte es an der Tür. Julia, die gerade das Geschirr in der Küche abspülte, hätte um ein Haar einen Teller fallen lassen. Rasch wischte sie ihre Hände an der Schürze ab und eilte auf den Gang hinaus, wo ihre Mutter bereits die Eingangstür geöffnet hatte. Ein kurzer Wortwechsel fand statt, während Julia sich in den Speiseraum verzog, um nicht neugierig zu wirken. Sie hörte, wie ihre Mutter nach dem Vater rief, und vor Aufregung wurde ihr fast übel. Bald darauf schwang die Tür zum Speiseraum auf und sie erblickte die breite, bärtige Gestalt ihres Vaters, hinter der Fräulein Rosenberg fast verschwand.

„Was machst du hier, Jule? Hast du nichts zu tun?“, begrüßte er sie schroff. Sie murmelte eine Entschuldigung und huschte an ihm vorbei, um wieder in die Küche zu flüchten. Die war weiterhin leer; zum Glück, denn Julia hätte sich nicht in der Lage gefühlt, mit jemandem eine vernünftige Unterhaltung zu führen. Sie sank auf einen Schemel in einer Ecke und presste die Hände fest zusammen. In diesem Moment wurde über ihr Schicksal entschieden und sie konnte nichts weiter tun, als zu warten. Es rauschte in ihren Ohren. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Als die Tür endlich aufging, zuckte sie zusammen.

„Wieso hockst du denn hier herum und träumst vor dich hin? Das Geschirr ist noch nicht sauber“, tadelte ihre Mutter eher resigniert als wirklich aufgebracht.

„Ich mache es ja gleich“, erwiderte Julia seufzend und stellte sich wieder an den Spültisch. „Ist der Besuch noch da?“

Sie war sich sicher, dass die Mutter hören musste, wie ihr das Herz in der Brust hämmerte.

„Nein. Es war übrigens deine Geigenlehrerin, aber dein Vater hat nur kurz mit ihr gesprochen.“

„Und?“

Das Bierglas zitterte in Julias Händen. Sie musste es wieder ins Spülbecken legen, damit es ihr nicht entglitt.

„Was und?“ Die Mutter ergriff ein Handtuch, um abzutrocknen. „Es kann nichts besonders Wichtiges gewesen sein, denn er hat mir nichts gesagt. Wenn du es genau wissen willst, kannst du ja beim Abendessen fragen.“

„So lange kann ich nicht warten!“

Sie sah das missbilligende Staunen in den Augen ihrer Mutter und begriff, dass sie geschrien hatte.

„Es tut mir leid, aber ich muss dringend mit ihm reden“, fügte sie etwas ruhiger hinzu. „Wo ist er jetzt?“

„Er versucht gerade mit Walther in Zimmer drei einen Tisch zu reparieren. Aber du spülst gefälligst erst das Geschirr zu Ende.“

Julia fluchte mit zusammengepressten Zähnen, denn es türmten sich noch etliche Teller, Schüsseln und Töpfe vor ihr auf, aber sie ahnte, dass es klüger war, jetzt keinen Streit zu beginnen.

Ihr Vater lag mit einem Hammer in der Hand unter dem Tisch und brüllte seinen Sohn an, der ihm offenbar irgendeinen falschen Gegenstand gereicht hatte. Julia musste mühsam ihren Widerwillen gegen den Lärm überwinden. Eine Spannung lag in der Luft, deren grelles Licht in ihren Augen schmerzte, und unter anderen Umständen wäre sie auf der Stelle wieder verschwunden. Walther nahm den lauten Tadel recht gelassen hin und streckte einfach die Hand mit einem anderen Nagel aus.

„Es tut mir sehr leid, dass ich störe“, murmelte Julia. Es war der falsche Moment, das wusste sie, und blieb ratlos im Zimmer stehen.

„Hol uns doch ein Bier, Jule!“, rief Walther hilfsbereit. Sie atmete erleichtert auf, denn sie wusste, dass die Laune ihres Vaters sich dadurch schlagartig bessern konnte.

Als sie zurückkam, war der Tisch bereits stabil genug, um zwei Bierflaschen zu tragen. Ihr Vater wischte sich die Hände an der Hose ab und nahm einen tiefen Schluck. Walther tat es ihm gleich, wenn auch etwas zurückhaltender. Julia setzte sich auf einen Stuhl und legte die Hände in den Schoß.

„Was wollte Fräulein Rosenberg?“, fragte sie so beiläufig wie möglich.

„Nichts Besonderes. Dein Geigenunterricht hört auf, aber das macht ja nichts. Deine Geige war doch sowieso kaputt. Dann brauchst du jetzt keine neue.“

Dass sie gestern wieder hatte üben können, musste er entweder überhört oder vergessen haben.

„Hat sie … hat sie denn sonst nichts gesagt?“

Julias Stimme klang heiser und sie bemerkte den erstaunten Blick ihres Bruders. Den Vater kümmerte es nicht; er zog gelassen seine Zigaretten aus der Hosentasche.

„Nur irgendwelchen Unsinn, dass du auf so eine höhere Musikschule gehen solltest. Aber du bist keine Professorentochter, die später für die Gäste ihres Mannes musizieren soll. Wir brauchen dich hier, als Hilfe. Und dein späterer Mann wird ganz andere Wünsche haben, als dass du ihm auf der Geige vorspielst.“

Ein Wutschrei ballte sich in Julias Kehle zusammen und sie brauchte all ihre Willenskraft, um ihn zu unterdrücken.

„Aber ihr habt ihr doch bisher den Geigenunterricht bezahlt“, hörte sie Walther sagen.

„Ja klar.“ Der Vater wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Mund ab. „Das war eine Idee eurer Mutter. Sie meinte, es würde einen guten Eindruck auf unsere Gäste machen, wenn die Jule musizieren kann. Aber das kann sie doch inzwischen. Und vorspielen will sie ohnehin nicht.“

Julia musste schlucken. Ihre Schüchternheit wäre in der Tat ein Problem, wenn sie irgendwann Konzerte gab. Aber dort würde eine andere Atmosphäre herrschen als im Speiseraum der Gäste und sie hätte sicher nicht das Gefühl, wie ein Gegenstand gemustert zu werden, dessen äußere Reize wichtiger waren als alle Musik.

„Ich möchte Violinistin werden“, sagte sie. Walther warf ihr einen warnenden Blick zu, aber er kam zu spät. Der Vater hatte bereits fassungslos die Augen aufgerissen.

„Du möchtest … was?“

„Ich will Geigenkonzerte geben. In Konzertsälen. Davon möchte ich leben, also einen Mann bräuchte ich dann nicht. Fräulein Rosenberg hat auch keinen.“

Sie atmete tief durch. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie offen ausgesprochen, was ihr auf dem Herzen lag. Das schallende Gelächter, mit dem ihr Vater darauf antwortete, schmerzte mehr, als alle Schläge es vermocht hätten.

„Meine Güte, hat diese vereinsamte alte Jungfer dir solche Flausen in den Kopf gesetzt? Dann muss ich Gott dafür danken, dass der Unterricht endlich aufhört. Geh in die Küche und hilf deiner Mutter. Von der lernst du wenigstens etwas Nützliches.“

„Was lerne ich denn? Geschirr abspülen, Böden wischen und Essen kochen! Das nützt mir gar nichts, denn ich will …“

Sie spürte die Ohrfeige nur als einen Schwall von Energie, der sie rückwärts stieß. Ihr Körper war wie betäubt.

„Vater, das ist doch kein Grund für einen Streit“, mischte Walther sich wieder ein. „Wenn die alte Lehrerin aufhört, können wir eine neue für Jule finden. Lass sie doch Geige spielen, wenn sie unbedingt will.“

Der Vater rieb sich die Hände, leicht verlegen, wie oft nach seinen Wutausbrüchen.

„Vielleicht gibt es ja irgendwo eine Musikgruppe, bei der sie manchmal mitmachen kann“, sagte er an seinen Sohn gewandt. „Das wäre nicht so teuer.“