Das Mädchen, das Geschichten fängt - Victoria Schwab - E-Book

Das Mädchen, das Geschichten fängt E-Book

Victoria Schwab

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Beschreibung

Wenn ein Mensch stirbt, wird seine Lebensgeschichte in einer Art Bibliothek abgelegt. Manchmal jedoch erwachen die Geschichten und versuchen in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Dann kommt Mac ins Spiel, denn sie ist eine Hüterin und ihre Aufgabe ist es, die entlaufenen Geschichten zurückzubringen. Doch plötzlich häufen sich diese Vorfälle, und die Grenzen zwischen Leben und Tod drohen zu verschwimmen. Mac beschleicht der schreckliche Verdacht, dass jemand die Lebensgeschichten manipuliert. Gemeinsam mit dem Hüter Wes versucht Mac, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

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Seitenzahl: 483

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VICTORIA SCHWAB

ROMAN

Aus dem Amerikanischenvon Julia Walther

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE ARCHIVED

Deutsche Erstausgabe 08/2014

Redaktion: Babette Mock

Copyright © 2013 by Victoria Schwab

Copyright © 2014 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Eisele Grafikdesign, München

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-13085-5

www.heyne-fantastisch.de

www.twitter.com/HeyneFantasySF

@HeyneFantasySF

Für Bob Ledbetter,dessen Chronik ich zu gerne lesen würde.Und für Shelley McBurney,die alles, was sie berührt, und jeden,dem sie begegnet, verändert.

»Steh nicht weinend an meinem Grab.

Ich bin nicht dort; ich schlafe nicht.«

MARY ELIZABETH FRYE

Die Narrows erinnern mich an heiße Augustnächte im Süden.

Sie erinnern mich an alte Felsen und Orte, zu denen das Licht nicht vordringt.

Sie erinnern mich an Rauch – abgestandenen Rauch, der sich festgesetzt hat – und an Stürme und feuchte Erde.

Aber vor allem, Granpa, erinnern sie mich an dich. Wann immer ich den Korridor betrete und die schwüle Luft einatme, bin ich wieder neun Jahre alt, und es ist Sommer.

Mein kleiner Bruder Ben liegt neben dem Ventilator auf dem Bauch und zeichnet mit blauem Buntstift Monster, während ich von der hinteren Veranda aus die Sterne betrachte, die in der feuchten Nacht alle etwas verschwommen leuchten. Du stehst neben mir mit deiner Zigarette und einer Stimme voller Rauch, drehst deinen abgewetzten Ring am Finger hin und her und erzählst mit ruhiger Stimme und deinem Louisiana-Singsang Geschichten über das Archiv und die Narrows und die Außenwelt, als würden wir uns übers Wetter, übers Frühstück, über nichts Besonderes unterhalten.

Nebenher öffnest du deine Manschettenknöpfe und krempelst die Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie viele Narben du hast. Angefangen bei den drei Linien, die in deinen Unterarm eingeritzt sind, bis hin zu Dutzenden weiteren, schneiden sie ein Muster in deine Haut, wie Risse in altem Leder. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann du das letzte Mal etwas mit kurzen Ärmeln getragen hast. Mir fällt keine Gelegenheit ein.

Der rostige alte Schlüssel hängt wie immer an seinem Band um deinen Hals, und irgendwie spiegelt sich das Licht darin, obwohl die Nacht rabenschwarz ist. Du spielst an einem Stückchen Papier herum, rollst es auf, streichst es wieder glatt, um es betrachten zu können, als sollte darauf etwas geschrieben stehen. Doch es ist leer, also rollst du es wieder auf, bis es die Größe und Form einer Zigarette hat, und klemmst es dir hinters Ohr. Dann fängst du an, während des Redens Linien in den Staub auf dem Verandageländer zu malen. Du konntest noch nie gut stillhalten.

Ben kommt an die Hintertür und stellt eine Frage. Ich wünschte, ich könnte mich an den genauen Wortlaut erinnern. Ich wünschte, ich könnte mich an den Klang seiner Stimme erinnern. Aber ich kann es nicht. Ich weiß noch, wie du gelacht hast und mit den Fingern über die drei Striche im Staub gewischt und damit das Muster zerstört hast. Nachdem Ben wieder nach drinnen verschwunden ist, sagst du zu mir, ich soll die Augen schließen. Du legst mir etwas Schweres, Glattes in die Hand und sagst, ich soll genau hinhören, um den Erinnerungsfaden zu finden, um danach zu greifen und dir zu sagen, was ich sehe, aber ich sehe nichts. Du sagst, ich soll mich mehr anstrengen, mich konzentrieren, nach innen schauen, aber ich kann es nicht.

Den Sommer darauf wird es anders sein, da werde ich das Summen hören und beim Blick nach innen etwas sehen. Du wirst stolz und traurig und müde zugleich sein, und den Sommer darauf wirst du mir einen Ring schenken, genau wie deiner, nur neuer. Und im nächsten Sommer wirst du tot sein, und ich werde neben deinem Schlüssel auch deine Geheimnisse besitzen.

Aber dieser Sommer ist noch ganz einfach.

In diesem Sommer bin ich neun und du quicklebendig, und es bleibt uns noch Zeit. Wenn ich dir in diesem Sommer sage, dass ich nichts sehen kann, dann zuckst du bloß mit den Schultern, zündest dir eine neue Zigarette an und erzählst deine Geschichten weiter.

Geschichten über endlose Hallen, unsichtbare Türen und Orte, wo die Toten wie Bücher in den Regalen aufbewahrt werden. Jedes Mal, wenn du eine Geschichte zu Ende erzählt hast, muss ich sie noch einmal für dich wiederholen, als hättest du Angst, ich könnte sie vergessen.

Ich vergesse nie etwas.

1

Nichts an diesem Neuanfang ist wirklich neu.

Ich lehne mich ans Auto und blicke am Coronado hinauf, einem ehemaligen Hotel, das zu Wohneinheiten umgebaut worden war und das meine Eltern »ganz bezaubernd« finden. Es starrt mit großen, traurigen Augen zurück. Die ganze Fahrt über habe ich an meinem Ring herumgespielt, bin mit dem Daumen über die drei Linien gefahren, die in seine Oberfläche eingraviert sind, als wäre das silberne Band ein Rosenkranz oder ein Amulett. Ich habe gebetet, dass uns irgendein einfacher, aufgeräumter, neuer Ort erwarten würde. Und nun das hier.

Ich kann den Staub schon von der anderen Straßenseite aus sehen.

»Ist das nicht himmlisch?«, quietscht meine Mutter.

»Es ist … alt.«

So alt, dass sich die Steine abgesenkt haben und die dadurch entstandenen tiefen Risse der gesamten Fassade ein müdes Aussehen verleihen. Vor meinen Augen löst sich irgendwo ein faustgroßer Steinbrocken und kullert seitlich am Gebäude hinunter.

Ein Blick nach oben offenbart ein Dach, das mit Wasserspeiern gespickt ist. Nicht bloß an den Ecken, wo man sie erwarten würde, sondern in unregelmäßigen Abständen entlang der Kante, wie ein Haufen Krähen. Meine Augen wandern über verschnörkelte Fenster sechs Stockwerke hinunter zum brüchigen steinernen Vordach, das den Eingang überspannt.

Mom eilt voran, bleibt aber mitten auf der Straße stehen, um die »altmodischen« Pflastersteine zu bewundern, die der Straße angeblich so viel »Charakter« verleihen.

»Liebling«, ruft mein Vater, der ihr folgt. »Steh nicht auf der Straße herum!«

Eigentlich sollten wir zu viert sein: Mom, Dad, Ben und ich. Sind wir aber nicht. Granpa, mein Großvater, ist schon vier Jahre tot, aber es ist noch kein Jahr her, seit Ben gestorben ist. Ein Jahr der Worte, die keiner aussprechen kann, weil sie allesamt Bilder wecken, die keiner ertragen kann. Die albernsten Dinge machen einen völlig fertig. Ein T-Shirt, das hinter der Waschmaschine auftaucht. Ein staubiger Baseballhandschuh, der in der Garage unter einen Schrank gerutscht war und vergessen wurde, bis jemand zufällig etwas fallen lässt, ihn beim Bücken entdeckt und plötzlich schluchzend auf dem Betonboden hockt.

Doch nachdem wir ein Jahr lang auf Zehenspitzen durch unser Leben geschlichen sind und dabei versucht haben, keine Erinnerungen wie Landminen auszulösen, haben meine Eltern beschlossen aufzugeben. Sie nennen es Veränderung. Einen Neustart. Behaupten, es wäre das, was die Familie jetzt braucht.

Ich nenne es Weglaufen.

»Mackenzie, kommst du?«

Ich folge meinen Eltern auf die andere Straßenseite. Der Asphalt glüht in der heißen Julisonne. Unter dem Vordach gibt es eine Drehtür, flankiert von zwei normalen Türen. Ein paar Menschen – die meisten von ihnen älter – haben es sich in der Nähe der Türen oder auf einer Terrasse daneben bequem gemacht.

Bevor Ben gestorben ist, hatte Mom immer mal wieder verrückte Ideen. Sie wollte Zoowärterin werden, Anwältin, Köchin. Aber es waren nur Ideen. Nach seinem Tod wurde mehr daraus. Statt nur zu träumen, fing sie an zu handeln. Mit aller Macht. Wenn man sie nach Ben fragt, tut sie so, als hätte sie einen nicht gehört, aber wird sie auf ihr jüngstes Lieblingsprojekt angesprochen – was auch immer das gerade sein mag –, wird sie stundenlang reden und dabei so viel Energie versprühen, dass man den gesamten Raum damit versorgen könnte. Moms Energie ist jedoch ebenso unbeständig wie intensiv. Sie hat angefangen, Berufe zu wechseln, wie Bens Lieblingsessen wechselt – gewechselt hat –, eine Woche Käse, die Woche darauf Apfelmus … Allein im vergangenen Jahr hat Mom sieben verschiedene Jobs durchprobiert. Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass sie nicht gleich versucht hat, ihr ganzes Leben einzutauschen, wo sie schon mal dabei war. Dad und ich hätten eines Tages aufwachen und eine Nachricht in ihrer fast unleserlichen Handschrift vorfinden können. Aber sie ist immer noch da.

Ein weiterer Stein löst sich seitlich am Gebäude.

Vielleicht hat sie hier jetzt genug zu tun.

Die leer stehenden Räumlichkeiten im Erdgeschoss des Coronados, direkt hinter der Terrasse und unter Markisen versteckt, sind das künftige Zuhause der neuesten Schnapsidee meiner Mutter – sie nennt es ihr »Traumprojekt«: Bishop’s Café. Sie behauptet ja, das wäre der einzige Grund für unseren Umzug, und es hätte überhaupt gar nichts mit Ben zu tun hat (nur dass sie dabei seinen Namen nicht ausspricht).

Wir steigen die Stufen zur Drehtür hinauf, wobei mein Vater mir die Hand auf die Schulter legt. Sofort erfüllen lautes Rauschen und bebende Bässe meinen Kopf. Ich zucke zusammen, versuche aber, seine Hand nicht abzuschütteln. Die Toten sind still, genau wie Gegenstände, wenn sie Eindrücke enthalten, bis man durch sie hindurchgreift. Die Berührung der Lebenden aber ist laut. Lebende Menschen wurden noch nicht erfasst und sortiert – was bedeutet, dass sie aus einem Wust an Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen bestehen, die alle miteinander verworren sind und nur durch den silbernen Ring an meinem Finger gedämpft werden. Der Ring hilft dabei, die Bilder abzublocken, aber gegen den Lärm kann er nicht viel ausrichten.

Ich versuche, mir eine Schallmauer zwischen Dads Hand und meiner Schulter vorzustellen, wie Granpa es mir beigebracht hat. Eine zweite Barriere, aber es funktioniert nicht. Das Geräusch ist immer noch da, übereinander gelagerte Töne und statisches Rauschen, wie ein falsch eingestelltes Radio, und nach einigen Sekunden mache ich einen großen Schritt nach vorn, wodurch Dads Hand wegrutscht und die Stille zurückkehrt. Ich lasse meine Schultern kreisen, um wieder locker zu werden.

»Und, was hältst du davon, Mac?«, fragt er. Ich blicke am Gebäudekoloss hinauf.

Am liebsten würde ich meine Mutter schütteln, bis sie eine neue Idee ausspuckt, die uns irgendwo anders hinführt.

Aber ich weiß, das kann ich nicht sagen, nicht zu Dad. Die Haut unter seinen Augen ist fast blau, und im Lauf des letzten Jahres ist er, der ohnehin schlank war, immer dünner geworden. Während Mom eine ganze Stadt mit Strom versorgen könnte, ist Dads Licht fast erloschen.

»Ich glaube …« – ich ringe mir ein Lächeln ab –, »… es könnte ein Abenteuer werden.«

Ich bin zehn, fast elf, und ich trage meinen Hausschlüssel an einer Schnur um den Hals, um zu sein wie du.

Es heißt, ich hätte deine grauen Augen und deine Haarfarbe geerbt – bevor aus Rotbraun Weiß wurde –, aber solche Details sind mir egal. Jeder hat Augen und Haare. Ich will die Dinge, die den meisten Menschen nicht auffallen. Den Ring und den Schlüssel und deine Angewohnheit, alles im Innern zu tragen.

Wir fahren Richtung Norden, damit ich rechtzeitig zu meinem Geburtstag zu Hause bin, obwohl ich lieber bei dir bleiben würde, als Kerzen auszupusten. Ben schläft hinten auf dem Rücksitz, und die ganze Heimfahrt über erzählst du mir Geschichten über diese drei Orte.

Die Außenwelt, über die du nicht viele Worte verlierst, denn sie ist alles um uns herum, die normale Welt, die einzige, von der die meisten Menschen je wissen.

Die Narrows, ein beklemmender Ort, der nur aus fleckigen Gängen und fernem Flüstern besteht, aus Türen und Dunkelheit so klebrig wie Ruß.

Und das Archiv, eine Bibliothek der Toten, riesig und warm, Holz und Stein und buntes Glas, und über allem ein Gefühl des Friedens.

Beim Reden hältst du mit einer Hand das Lenkrad fest, während die andere mit dem Schlüssel an deinem Hals spielt.

»Das Einzige, was die drei Orte gemeinsam haben«, sagst du, »sind Türen. Türen, die hineinführen, und solche, die hinausführen. Und Türen brauchen Schlüssel.«

Ich beobachte, wie du mit dem Daumen über die Zacken an deinem fährst. Als ich versuche, dich heimlich nachzuahmen, entdeckst du die Kordel um meinem Hals und willst wissen, was das ist. Ich zeige dir meinen albernen Hausschlüssel. Auf einmal erfüllt diese seltsame Stille das Auto, als würde die ganze Welt die Luft anhalten, und dann lächelst du.

Du sagst, ich könnte mein Geburtstagsgeschenk schon vorab haben, obwohl du weißt, wie wichtig es Mom ist, die Dinge richtig zu tun, und du ziehst eine kleine, nicht eingepackte Schachtel aus der Tasche. Darin liegt ein silberner Ring, in den die drei Striche, das Archivsymbol, eingraviert sind, genau wie bei deinem.

Ich weiß nicht, wofür er ist, noch nicht – ein Schutzschild, ein Schalldämpfer, ein Puffer gegen die Welt und ihre Erinnerungen, gegen Menschen und ihre unaufgeräumten Gedanken –, aber ich bin so aufgeregt, dass ich verspreche, ihn immer zu tragen. Dann fährt das Auto über eine Bodenwelle, und der Ring kullert mir unter den Sitz. Du lachst, aber ich überrede dich anzuhalten, damit ich ihn holen kann. Weil er zu groß ist, muss ich ihn am Daumen tragen. Ich würde schon noch hineinwachsen, sagst du.

Wir schleppen unsere Koffer durch die Drehtür in die Eingangshalle. Mom jauchzt vor Freude, und ich verziehe gequält das Gesicht.

Das riesige Foyer gleicht einem jener Fotos, wo man herausfinden muss, was nicht stimmt. Auf den ersten Blick wirkt alles prachtvoll: Marmor und Stuckverzierungen und Goldakzente. Doch auf den zweiten Blick ist der Marmor von Staub überzogen, der Stuck hat Risse, und das Blattgold rieselt auf den Teppich herab. Sonnenstrahlen fallen durch die Fenster – hell, trotz des alterstrüben Glases –, aber der Geruch erinnert an Stoff, den man zu lange im Schrank gelagert hat. Dieser Ort muss einst atemberaubend gewesen sein, daran besteht kein Zweifel. Was ist seither passiert?

An einem der vorderen Fenster stehen zwei Leute, die sich unterhalten und den Staubschleier um sie herum gar nicht zu bemerken scheinen.

Direkt gegenüber führt eine gewaltige Marmortreppe hinauf in den ersten Stock. Der cremefarbene Stein würde wahrscheinlich glänzen, wenn jemand ihn lange genug polieren würde. Die Seiten des Treppenaufgangs sind tapeziert, und selbst aus der Entfernung bleibt mein Blick an einer Art Kräuseln im Fleur-de-Lis-Muster hängen. Von hier aus sieht es beinahe aus wie ein Riss. Ich bezweifle, dass es sonst irgendjemandem auffallen würde, nicht an einem Ort wie diesem, aber mir stechen solche Dinge ins Auge. Als ich gerade auf das Kräuseln zusteuere, ruft jemand meinen Namen. Ich drehe mich um und sehe meine Eltern um eine Ecke verschwinden. Schnell folge ich ihnen mit meinem schweren Gepäck.

Vor drei Aufzugtüren direkt neben der Eingangshalle hole ich sie ein.

Die schmiedeeisernen Käfige sehen aus, als könnten sie höchstens zwei Personen gefahrlos befördern. Wir quetschen uns trotzdem zu dritt in einen von ihnen, zusammen mit vier Koffern. Ich flüstere etwas, das halb Gebet, halb Fluch ist, ziehe das rostige Gitter zu und drücke den Knopf für den zweiten Stock.

Der Aufzug erwacht stöhnend zum Leben. Möglicherweise gibt es auch Aufzugmusik, aber über den Lärm dieser Maschine ist sie nicht zu hören. Im Schneckentempo kriechen wir, gepolstert durch unser Gepäck, am ersten Stock vorbei. Auf halber Strecke zwischen erstem und zweitem Stock legt der Aufzug eine Denkpause ein, ehe er sich ächzend weiter nach oben bewegt. Im zweiten Stock gibt er ein Todesröcheln von sich, woraufhin ich schnell sein Gittermaul aufschiebe und uns befreie.

Von jetzt an werde ich die Treppe nehmen, verkünde ich.

Mom versucht, die Gepäckbarriere zu überwinden. »Es hat aber doch einen gewissen …«

»Charme?«, beende ich bissig ihren Satz, aber sie ignoriert meinen Seitenhieb. Sie macht einen großen Schritt über die Koffer hinweg, wobei sie allerdings beinahe stürzt, weil sich ihr Absatz in einer Schlaufe verfängt.

»Das Gebäude hat Charakter«, ergänzt mein Vater und fängt sie auf.

Als ich mich umdrehe, um den Flur in Augenschein zu nehmen, wird mir ganz elend: An den Wänden reiht sich eine Tür an die andere. Nicht nur normale, wie man sie erwarten würde, sondern noch ein Dutzend weitere – stillgelegt, überstrichen und mit Tapete überklebt, kaum mehr als Umrisse und Furchen.

»Ist das nicht faszinierend?«, meint meine Mutter strahlend. »Die zusätzlichen Türen stammen noch aus der Zeit, als das Coronado ein Hotel war, bevor Wände rausgeschlagen und Zimmer zusammengelegt wurden, um Wohnungen zu schaffen. Die Türen haben sie gelassen und einfach nur drüber tapeziert.«

»Faszinierend«, wiederhole ich. Und unheimlich. Wie eine hell erleuchtete Version der Narrows.

Wir erreichen schließlich das Apartment ganz am Ende, dessen Tür ein verschnörkeltes 2F ziert. Dad schließt auf und öffnet schwungvoll die Tür. Die Wohnung ist genauso abgewetzt wie alles andere. Heruntergewohnt. Dieser Ort trägt Spuren, aber keine davon stammt von uns. Selbst nachdem aus unserem alten Haus alle Möbel ausgeräumt und der ganze Kram zusammengepackt war, blieben all diese Spuren übrig: die Macke in der Wand von dem Buch, das ich geworfen hatte, der Fleck an der Küchendecke von Moms fehlgeschlagenem Mixerexperiment, die blauen Kritzeleien von Ben in den Zimmerecken. Mir wird eng in der Brust. An diesem Ort wird Ben nie eine Spur hinterlassen.

Mom mach Ohhh und Ahhh, während Dad schweigend durch die Räume wandert und ich immer noch zögere, über die Schwelle zu treten, da spüre ich es.

Das Kratzen von Buchstaben. Ein Name, der sich auf das Stück Archivpapier in meiner Tasche schreibt. Ich ziehe den Zettel heraus – er ist ungefähr so groß wie eine Quittung und seltsam steif –, auf dem nun in fein säuberlicher Kursivschrift der Name der Chronik steht:

Emma Claring, 7.

»Mac«, ruft Dad. »Kommst du?«

Ich trete noch einen Schritt zurück in den Gang.

»Hab meine Tasche im Auto vergessen«, behaupte ich. »Bin gleich wieder da.«

Ein Schatten huscht über Dads Gesicht, aber er nickt bloß und dreht sich weg. Die Tür schließt sich mit einem Klicken. Seufzend wende ich mich dem Flur zu.

Ich muss diese Chronik finden.

Dazu muss ich in die Narrows.

Und dafür brauche ich eine Tür.

2

Ich bin elf, und du sitzt mir gegenüber am Tisch. Deine Stimme ist leiser als das Klappern der Teller in der Küche. Deine Kleider schlackern immer mehr um deinen Körper – Hemden, Hosen, sogar dein Ring. Ich habe Mom und Dad darüber reden hören, dass du bald sterben wirst – nicht auf die schnelle Umkippart, von jetzt auf nachher weg, aber trotzdem. Mit halb zusammengekniffenen Augen versuche ich, die Krankheit zu sehen, die an dir nagt, dich mir klaut, Bissen für Bissen.

Du erzählst mir wieder vom Archiv, etwas über die Art und Weise, wie es sich verändert und wächst, aber ich höre nicht richtig zu. Ich drehe den Silberring an meinem Finger. Inzwischen brauche ich ihn: Erinnerungs- und Gefühlsfetzen dringen zu mir durch, wenn jemand mich berührt. Noch sind sie nicht schrill oder brutal, sondern nur irgendwie unangenehm. Als ich dir davon erzählt habe, hast du gesagt, es würde schlimmer werden, und dabei recht bekümmert dreingesehen. Du meintest, es wäre genetisch bedingt, dieses Potenzial, aber es zeigt sich erst, wenn der Vorgänger seine Wahl trifft. Und du hast mich gewählt. Ich hoffe, du bereust es nicht. Mir tut es nicht leid. Mir tut nur leid, dass du immer schwächer zu werden scheinst, während ich stärker werde.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragst du, obwohl meine Unaufmerksamkeit offensichtlich ist.

»Ich will nicht, dass du stirbst.« Meine Aussage überrascht uns beide, und einen Moment lang scheint die Zeit still zu stehen, während deine Augen in meine blicken. Dann fängst du an, auf deinem Stuhl hin und her zu rutschen, und ich glaube zu hören, wie deine Knochen knacken.

»Wovor hast du denn Angst, Kenzie?«, willst du wissen.

Du hast gesagt, du würdest mir deine Aufgabe übertragen, und nun frage ich mich, ob es dir deshalb immer schlechter geht. Ob du deshalb verblasst. »Davor, dich zu verlieren.«

»Nichts geht je verloren. Niemals.«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass du mich nur trösten willst, und rechne fast schon damit, dass du als Nächstes irgendwas sagst wie: Ich werde in deinem Herzen weiterleben. Aber so etwas würde dir nie über die Lippen kommen.

»Glaubst du, ich erzähle dir diese Geschichten, weil ich so gern dem Klang meiner eigenen Stimme lausche? Ich meine das ernst, was ich sage. Nichts geht verloren. Dafür sorgt das Archiv.«

Holz und Stein und buntes Glas, und über allem ein Gefühl des Friedens …

»Gehen wir dorthin, wenn wir sterben? Ins Archiv?«

»Du nicht, also nicht wirklich, aber deine Chronik.« Dann benutzt du deine »Pass Gut Auf«-Stimme, die dafür sorgt, dass die Wörter an mir kleben bleiben und mich nie mehr loslassen. »Du weißt, was eine Chronik ist?«

»Die Geschichte der Vergangenheit.«

»Ja, aber das ist noch nicht alles, Kenzie. Die Art von Chronik, von der ich hier spreche, ist …« Du ziehst eine Zigarette heraus, rollst sie zwischen den Fingern hin und her. »Die kannst du dir etwa so vorstellen wie einen Geist, auch wenn sie das nicht wirklich ist. Chroniken sind Aufzeichnungen.«

»Von was?«

»Von uns. Von jedem Menschen. Stell dir eine Akte über dein gesamtes Leben vor, über jeden Moment, jedes Erlebnis. Alles. Und jetzt stell dir vor, dass diese Daten statt in einer Mappe oder einem Buch in einem Körper aufbewahrt werden.«

»Wie sehen die Menschen dann aus?«

»So wie sie aussahen, als sie gestorben sind. Also, bevor sie gestorben sind. Keine tödlichen Wunden oder aufgeblähten Leichen. Das fände das Archiv nicht sehr geschmackvoll. Außerdem ist der Körper bloß eine Hülle für das Leben im Innern.«

»Wie ein Buchumschlag?«

»Genau.« Du klemmst dir die Zigarette zwischen die Lippen, obwohl du weißt, dass du sie hier im Haus besser nicht anzünden solltest. »Der Umschlag erzählt dir etwas über ein Buch. Ein Körper erzählt dir etwas über eine Chronik.«

Ich beiße mir auf die Lippe. »Also … wenn du stirbst, dann wird eine Kopie deines Lebens im Archiv abgelegt?«

»Genau.«

Ich runzele die Stirn.

»Was ist denn?«

»Wenn wir in der Außenwelt leben und das Archiv der Ort ist, an den unsere Chroniken gehen, wozu sind dann die Narrows nötig?«

Du lächelst grimmig. »Die Narrows sind ein Puffer zwischen beiden. Manchmal wacht eine Chronik auf. Manchmal entkommen Chroniken, schlüpfen durch die Risse im Archiv und landen in den Narrows. Wenn das passiert, dann ist es die Aufgabe des Wächters, sie zurückzuschicken.«

»Was ist ein Wächter?«

»Das, was ich bin.« Du zeigst auf den Ring an deiner Hand. »Was du sein wirst«, fügst du hinzu und zeigst auf meinen eigenen Ring.

Ich muss vor Freude lächeln. Du hast mich ausgewählt. »Ich bin froh, dass ich bin wie du.«

Du drückst meine Hand und machst ein Geräusch irgendwo zwischen einem Husten und einem Lachen. Dann sagst du: »Das ist gut, denn du hast nicht wirklich eine Wahl.«

Türen zu den Narrows gibt es überall.

Die meisten waren früher mal richtige Türen, aber das Problem ist, dass sich Gebäude verändern – Wände werden herausgeschlagen, neue Wände eingezogen –, aber diese Türen verändern sich nicht mehr, sobald sie einmal eingerichtet wurden. Was von ihnen übrig bleibt, sind Risse, wie sie den meisten Menschen gar nicht auffallen würden: minimale Störfelder, wo die zwei Welten, die Narrows und die Außenwelt, aufeinanderprallen. Wenn man weiß, wonach man Ausschau halten muss, ist es relativ leicht.

Aber selbst mit geschultem Blick kann es eine Weile dauern, bis man eine Narrows-Tür findet. In meiner alten Wohngegend musste ich zwei Tage lang suchen, bis ich die nächste entdeckt hatte. Wie sich herausstellte, befand sie sich in der Gasse hinterm Metzgerladen.

Jetzt fällt mir wieder das Kräuseln in der Fleur-de-Lis-Tapete unten in der Eingangshalle ein, und ich lächele.

Auf dem Weg zur Treppe – es gibt zwei, eine auf der Südseite an meinem Ende des Flures, und hinten, an den Metallkäfigen vorbei, die Nordtreppe – lässt mich plötzlich etwas innehalten.

Ein winziger Riss, ein senkrechter Schatten auf der verstaubten gelben Tapete. Ich gehe auf die Stelle zu, bis ich direkt vor der Wand stehe, und warte, bis meine Augen sich an den Spalt gewöhnt haben. Zuerst bin ich mir ganz sicher, dass er existiert, doch dann lässt das siegessichere Gefühl ein wenig nach: zwei Türen so dicht beieinander? Vielleicht war der Riss im Foyer ja wirklich bloß ein Riss.

Dieser hier ist auf jeden Fall mehr als das. Er verläuft zwischen den Apartments 2D und 2C, und zwar an einer Stelle, wo es keine überklebten Türen gibt, sondern nur ein schmuddeliges Stück Wand mit einem Meer-Gemälde in einem alten weißen Rahmen. Sobald ich meinen Ring vom Finger ziehe, ist es, als würde jemand einen Vorhang beiseiteziehen: Jetzt sehe ich es genau in der Mitte der Nahtstelle: ein Schlüsselloch.

Der Ring funktioniert wie eine Art Filter. Er schützt mich – so gut er es vermag – vor den Lebenden, und unterdrückt meine Fähigkeit, die Eindrücke zu lesen, die sie auf den Dingen hinterlassen. Er macht mich aber auch blind für die Narrows. Ich kann die Türen nicht richtig erkennen, ganz zu schweigen davon, hindurchzugehen.

Ich ziehe das Band mit Granpas Schlüssel über den Kopf und streiche mit dem Daumen über die Zacken, so wie er es immer getan hat. Als Glücksritual. Granpa hat immer den Schlüssel gerieben, sich bekreuzigt, seine Fingerspitzen geküsst und damit die Wand berührt – lauter solche Dinge. Er sagte, er könnte ein bisschen extra Glück brauchen.

Ich stecke den Schlüssel ins Schlüsselloch und sehe zu, wie er in der Wand verschwindet. Zuerst ist das leise Geräusch von Metall an Metall zu hören, dann taucht die Narrows-Tür auf wie eine Leiche im Wasser, bis sie sich von hinten an die gelbe Tapete drückt. Zuletzt erscheint ein schmaler Lichtschein um den Rahmen herum, der signalisiert, dass der Durchgang bereit ist.

In den Narrows gibt es keinen Himmel, aber es fühlt sich trotzdem immer so an, als wäre es Nacht, riecht, als wäre es Nacht. Nacht in einer Stadt nach dem Regen. Außerdem weht ein Windhauch durch die Gänge, nicht stark, aber unablässig, der die stickige Luft durch die Flure trägt, als würde man sich in einem Belüftungsschacht befinden.

Ich wusste, wie die Narrows aussehen, lange bevor ich sie zu Gesicht bekam. Ich hatte dieses Bild in meinem Kopf, das Granpa Jahr um Jahr gemalt hatte: Schließ die Augen, und stell dir eine dunkle Gasse vor, gerade breit genug, dass man die Arme ausstrecken und mit den Fingerspitzen auf beiden Seiten die rauen Wände berühren kann. Du blickst auf und siehst … nichts, nur die Wände, die sich endlos in die Höhe ziehen und in Schwärze verschwinden. Das einzige Licht stammt von den Türen, die in die Wände eingelassen sind und deren Umrisse sanft aufleuchten. Auch durch die Schlüssellöcher fallen Lichtstrahlen ins Dunkel, die wie Fäden in der staubigen Luft gespannt sind. Genug Licht, um etwas zu erkennen, aber nicht genug Licht, um gut zu sehen.

Es schnürt mir den Hals zu, eine Ur-Angst, ein Stechen, als ich über die Schwelle trete, die Tür hinter mir schließe und die Stimmen höre. Keine echten, richtigen Stimmen, sondern ein Gemurmel aus Flüstern und Worten, die durch die Distanz in die Länge gezogen werden. Sie könnten mehrere Gänge oder ganze Reviere entfernt sein. Geräusche hallen hier in den Narrows weit, schlängeln sich durch die Korridore, prallen von den Wänden ab und finden einen aus meilenweiter Entfernung, geistergleich und diffus. Sie können einen in die Irre führen.

Die Flure bilden ein Geflecht wie Spinnweben oder ein U-Bahn-Netz mit immer neuen Verzweigungen und Kreuzungen, wobei die Wände von nichts als den Türen unterbrochen werden. Genug Türen für einen ganzen Wohnblock, nur wenige Meter voneinander entfernt, auf engem Raum zusammengepfercht. Die meisten von ihnen sind abgeschlossen. Alle sind markiert.

Kodiert. Jeder Wächter hat sein eigenes System, um eine gute Tür von einer schlechten zu unterscheiden. Ich kann die Anzahl an Kreuzen und Strichen und Kreisen und Punkten nicht zählen, die an jede Tür gekritzelt und wieder weggerieben wurden. Jetzt ziehe ich selbst ein dünnes Stück Kreide aus der Tasche – es ist schon komisch, welche Dinge man lernt, immer bei sich zu haben – und schreibe damit schnell eine römische I auf die Tür, durch die ich eben gekommen bin, direkt übers Schlüsselloch (die Türen hier haben keine Klinken, deshalb kann man sie ohne Schlüssel nicht mal ausprobieren). Die Zahl strahlt hell und weiß über mehreren Dutzend anderen, halb verschmierten Zeichen.

Dann drehe ich mich um und betrachte den Gang mit seinen vielen Türen. Die meisten von ihnen sind verschlossen – nicht aktiv, nannte Granpa das. Das sind Türen, die zurück in die Außenwelt führen, zu verschiedenen Zimmern in verschiedenen Häusern, deaktiviert, weil sie zu Orten gehören, wo momentan kein Wächter stationiert ist. Aber die Narrows sind eine Pufferzone, ein Zwischenbereich, der mit Ausgängen nur so gespickt ist. Manche Türen führen ins Archiv und aus ihm heraus. Andere zur Retoure, was keine eigene Welt ist, obwohl sie es genauso gut sein könnte. Ein Ort, den Wächter nicht betreten dürfen. Und jetzt gerade, mit einer Chronik auf meiner Liste, ist es der Zugang zur Retoure, den ich finden muss.

Ich teste die Tür rechts neben Tür I und stelle überrascht fest, dass sie unverschlossen ist und ins Foyer des Coronados führt. Also war es doch nicht nur eine Falte in der Tapete! Gut zu wissen. Eine alte Dame schlendert vorbei, die mich aber gar nicht beachtet. Rasch ziehe ich die Tür wieder zu und male eine II über das Schlüsselloch.

Dann trete ich einen Schritt zurück und betrachte die beiden nummerierten Türen nebeneinander – meine Ausgänge –, ehe ich weiter den Gang entlanggehe und jedes einzelne Schloss überprüfe. Keine der anderen Türen bewegt sich, deshalb markiere ich sie alle mit einem X. Auf einmal ertönt dieses Geräusch, einen Hauch lauter als die anderen, ein dumpfes Tapp, tapp, tapp wie gedämpfte Schritte, aber nur ein Idiot jagt einer Chronik hinterher, bevor er einen Ort gefunden hat, an dem er sie abliefern kann, also beschleunige ich meine Schritte und probiere zwei weitere Türen aus, bevor eine endlich nachgibt.

Sie führt in einen Raum aus Licht, blendend weiß und ohne sichtbare Begrenzungen. Rasch schließe ich die Tür wieder und blinzele die kleinen weißen Punkte weg, bevor ich einen Kreis übers Schloss zeichne und ihn weiß ausmale. Retoure. Die Tür daneben probiere ich gar nicht erst aus, sondern markiere sie gleich mit einem Kreis, diesmal leer. Das Archiv. Das Schöne an den Archivtüren ist, dass sie sich immer rechts neben der Retoure befinden, deshalb hat man auf einen Schlag immer gleich beide gefunden.

Jetzt ist es an der Zeit, Emma aufzuspüren.

Ich schüttele zur Lockerung kurz die Hände aus und lege dann die Finger an die Wand. Der Silberring steckt sicher verstaut in meiner Tasche. Chroniken müssen genau wie Menschen eine Oberfläche berühren, um dort einen Eindruck zu hinterlassen. Deshalb besteht der Fußboden in den Narrows aus demselben Beton wie die Wände. Auf diese Weise kann ich den gesamten Flurabschnitt mit einer einzigen Berührung lesen. Falls Emma hier durchgegangen ist, werde ich es erkennen.

Die Oberfläche der Wand summt unter meinen Händen. Ich schließe die Augen und drücke fester. Granpa sagte immer, im Innern der Wand würde ein Faden verlaufen, und man müsse durch sie hindurchgreifen, bis man diesen Faden ertastet, und ihn dann nicht mehr loslassen. Das Summen wandert durch meine Finger hinauf und macht sie taub, während ich mich konzentriere. Ich kneife die Augen noch fester zusammen und taste so lange, bis ich den Faden an meiner Handfläche kitzeln spüre. Rasch greife ich zu, und meine Hände werden vollends taub. Auf der Innenseite meiner Augenlider bewegt sich die Dunkelheit, flackert, dann nehmen die Narrows wieder Gestalt an, auch wenn es sich um eine unscharfe Version der Gegenwart handelt, eine verzerrte. Ich sehe mich selbst dort stehen, wie ich die Wand berühre, und dirigiere die Erinnerung rückwärts.

Sie läuft wie eine ruckelnde Filmrolle, spult von der Gegenwart zurück in die Vergangenheit und flackert dabei vor meinen geschlossenen Augen. Emma Clarings Name tauchte vor etwa einer Stunde auf der Liste auf, als ihre Flucht bemerkt wurde, also sollte ich nicht allzu weit zurückgehen müssen. Nachdem ich die Erinnerungen der letzten zwei Stunden zurückgespult und immer noch keine Spur von ihr gefunden habe, löse ich mich von der Wand und öffne die Augen. Die Vergangenheit der Narrows verschwindet und wird durch die nur wenig hellere, aber deutlich klarere Gegenwart ersetzt. Nun mache ich mich auf den Weg zur nächsten Korridorabzweigung und versuche es dort erneut: Augen schließen, greifen, festhalten, Zeit vor- und zurückspulen, die letzten Stunden nach Anzeichen von …

Eine Chronik huscht durchs Bild. Ihre kleine Gestalt bewegt sich den Gang hinunter bis zu einer Ecke gleich vorne, wo sie nach links abbiegt. Ich blinzele und lasse die Wand los, woraufhin die Narrows sich wieder scharfstellen, während ich Emmas Chronik folgend um die Ecke biege und … vor einer Sackgasse stehe. Oder, um genau zu sein, vor einer Reviergrenze: einer glatten Wand, die mit einem leuchtenden Schlüsselloch markiert ist. Wächter haben nur Zutritt zu ihrem eigenen Revier, deshalb bedeutet der Lichtfleck nicht viel mehr als ein Stoppschild. Aber die Barriere hält Chroniken davon ab, allzu weit wegzulaufen. Und direkt vor der Grenzmauer befindet sich ein Mädchen.

Emma Claring kauert auf dem Boden, die Arme um die Knie geschlungen. Sie hat keine Schuhe an, nur Shorts mit Grasflecken und ein T-Shirt, und sie ist so klein, dass der Korridor um sie herum fast wie eine riesige Höhle wirkt.

»Wach auf, wach auf, wach auf.«

Zu diesen Worten schaukelt sie vor und zurück, und das tapp-tapp-tapp-Geräusch, das ich zuvor gehört habe, stammt von ihrem Körper, der dabei an die Wand stößt. Sie hat die Augen fest zugekniffen. Dann reißt sie sie weit auf, und Panik schleicht sich in ihre Stimme, weil die Narrows einfach nicht verschwinden wollen.

Offensichtlich ist sie dabei zu entgleiten.

»Wach auf«, fleht das Mädchen wieder.

»Emma.« Beim Klang meiner Stimme erschrickt sie.

Ein verängstigtes Augenpaar richtet sich in der Dunkelheit auf mich. Die Pupillen sind geweitet, das Schwarz hat die Farbe rings herum schon fast aufgefressen. Sie wimmert, erkennt mich aber noch nicht. Das ist gut. Wenn Chroniken schon weit entglitten sind, dann fangen sie an, in den Wächtern andere Menschen zu erkennen. Sie sehen dann, wen auch immer sie sehen wollen, oder wen sie brauchen, hassen, lieben, oder an wen sie sich erinnern, was sie nur noch mehr verwirrt. Es bringt sie dazu, noch schneller dem Wahnsinn zu verfallen.

Ich mache einen vorsichtigen Schritt auf Emma zu. Sie vergräbt das Gesicht in den Armen und flüstert weiter vor sich hin.

Also knie ich mich vor sie auf den Boden. »Ich bin hier, um dir zu helfen.«

Emma Claring blickt nicht auf. »Warum kann ich nicht aufwachen?«, wispert sie. Ihre Stimme kippt.

»Manche Träume«, sage ich, »sind schwieriger abzuschütteln.«

Sie hält mit dem Schaukeln inne, und ihr Kopf rollt zur Seite auf die Schulter.

»Aber weißt du, was das Tolle an Träumen ist?« Ich ahme den Tonfall meiner Mutter von früher nach. Besänftigend, geduldig. »Sobald du weißt, dass du in einem Traum bist, kannst du ihn beeinflussen. Du kannst ihn verändern. Du kannst einen Ausweg finden.«

Emma blickt über ihre verschränkten Arme hinweg mit glänzenden, großen Augen zu mir auf.

»Soll ich dir zeigen, wie?«, frage ich.

Sie nickt.

»Dann musst du jetzt die Augen schließen …« – das tut sie brav – »… und dir eine Tür vorstellen.« Ich sehe mich in diesem Stück Korridor um, in dem noch alle Türen unmarkiert sind, und wünsche mir, ich hätte mir vorher die Zeit genommen, einen weiteren Retoure-Zugang in der Nähe zu suchen. »Und jetzt möchte ich, dass du dir auf dieser Tür einen weißen Kreis vorstellst. Hinter dieser Tür liegt ein Raum voller Licht. Nichts als Licht. Kannst du es sehen?«

Das Mädchen nickt.

»Prima. Dann öffne jetzt deine Augen wieder.« Ich stehe auf. »Komm, wir finden deine Tür.«

»Aber es sind so viele«, flüstert sie.

Ich lächele. »Dann ist es ein Abenteuer.«

Sie greift nach meiner Hand. Instinktiv verkrampfe ich mich, obwohl ich weiß, dass ihre Berührung nichts weiter ist als das, eine Berührung, so ganz anders als die Woge aus Gedanken und Gefühlen, die mich überrollt, wenn ich die Haut eines lebenden Menschen streife. Sie mag voller Erinnerungen sein, aber ich kann sie nicht sehen. Nur die Bibliothekare im Archiv wissen, wie man die Toten liest.

Als Emma zu mir aufblickt, drücke ich kurz ihre Hand, ehe ich sie um die Ecke herum den Flur hinunterführe, wobei ich versuche, denselben Weg zurückzugehen, den ich gekommen bin. Wie wir so durch die Narrows spazieren, frage ich mich, was Emma wohl aufgeweckt hat. Die meisten der Namen auf meiner Liste sind Kinder und Teenager, ruhelos, aber nicht zwangsläufig böse – nur eben jene, die gestorben sind, bevor sie richtig gelebt haben. Was für ein Kind sie wohl war? Woran ist sie gestorben? Und dann höre ich in Gedanken Granpas Stimme, die mich vor der Neugier warnt. Ich weiß, es hat seine Gründe, weshalb die Wächter nicht lernen, wie man Chroniken liest. Für uns ist ihre Vergangenheit irrelevant.

Ich spüre, wie Emmas Hand nervös in meiner zuckt.

»Keine Sorge«, sage ich leise, als wir einen weiteren Gang mit unmarkierten Türen erreichen. »Wir werden sie schon finden.« Das hoffe ich zumindest. Ich hatte nicht gerade viel Zeit, mir den Grundriss dieses Reviers einzuprägen, aber als ich gerade beginne, ebenfalls unruhig zu werden, biegen wir um eine weitere Ecke, und da ist sie.

Emma reißt sich los und rennt auf die Tür zu. Sie streicht mit ihren kleinen Fingern über den Kreidekreis, sodass diese ganz weiß sind, als ich den Schlüssel ins Schloss stecke und drehe. Die Retoure-Tür schwingt auf und überschüttet uns beide mit gleißendem Licht. Emma schnappt nach Luft.

Einen Augenblick existiert nichts außer Licht. Genau wie ich es versprochen habe.

»Siehst du?« Ich lege ihr die Hand auf den Rücken und schiebe sie sanft vorwärts über die Schwelle.

Gerade als Emma sich umdreht, um nachzusehen, weshalb ich ihr nicht gefolgt bin, mache ich die Augen zu und schließe die Tür zwischen uns. Es folgt kein Weinen, kein Gegen-die-Tür-Hämmern, nur Totenstille auf der anderen Seite. Eine Weile stehe ich so da, den Schlüssel immer noch im Schloss, während so etwas wie ein Schuldgefühl in mir aufsteigt. Doch es vergeht auch rasch wieder. Ich rufe mir in Erinnerung, dass die Rückkehr ins Archiv ein Segen ist. In der Retoure werden die Chroniken wieder in Schlaf versetzt, und der Albtraum ihres gespenstischen Aufwachens findet ein Ende. Trotzdem hasse ich die Angst in den Augen der kleinen Kinder, wenn ich sie einschließe.

Manchmal frage ich mich, was genau in der Retoure passiert, wie die Chroniken als leblose Körper in die Archivregale zurückkehren. Einmal, bei einem Jungen, bin ich in der Tür stehen geblieben, um es zu sehen, habe vor der Schwelle zum unendlichen Weiß gewartet, sorgfältig darauf bedacht, es nicht zu betreten. Doch nichts passierte, nicht solange ich noch da war. Als ich schließlich die Tür schloss – nur eine Sekunde, einen Herzschlag lang, oder wie lange es eben dauert, den Schlüssel im Schloss zu drehen und dann wieder aufzuschließen – und sie wieder öffnete, war der Junge verschwunden.

Ich habe einmal die Bibliothekare gefragt, wie die Chroniken eigentlich entkommen. Patrick erzählte etwas von Türen, die sich öffnen und schließen. Lisa erklärte, das Archiv wäre eine riesige Maschine, und alle Maschinen hätten kleine Störungen, Aussetzer. Roland sagte, er hätte keine Ahnung.

Vermutlich ist es auch völlig egal, wie sie entkommen. Alles, was zählt, ist, dass sie es tun. Und wenn das passiert, muss man sie finden. Sie müssen zurückgebracht werden, damit die Akte wieder geschlossen werden kann.

Ich löse mich von der Tür und krame das Stück Archivpapier aus der Tasche, um zu kontrollieren, ob Emmas Name auch wirklich verschwunden ist. Alles, was von ihr geblieben ist, ist ein verschmierter Händeabdruck in der weißen Kreide.

Ich zeichne den Kreis nach und mache mich auf den Heimweg.

3

»Hast du das gefunden, was du aus dem Auto holen wolltest?«, erkundigt sich Dad, als ich hereinkomme.

Er erspart mir das Lügenmüssen, indem er mit den Autoschlüsseln klimpert, die ich dummerweise vergessen habe mitzunehmen. Was aber auch keinen Unterschied macht, denn am Dämmerlicht draußen vor dem Fenster und der Tatsache, dass das gesamte Zimmer hinter ihm mit Umzugskisten vollgestellt ist, erkenne ich, dass ich viel zu lange weg war. Im Stillen verfluche ich die Narrows und das Archiv. Ich habe schon versucht, eine Uhr zu tragen, aber es ist sinnlos. Egal ob mechanisch oder digital – sobald ich die Außenwelt verlasse, bleibt sie stehen.

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