Das Mädchen mit dem Kupferhelm - Karin Bucha - E-Book

Das Mädchen mit dem Kupferhelm E-Book

Karin Bucha

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Beschreibung

Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. ! Rotkopf!« Ruckartig verhält Gig den Schritt. Ihr eben noch strahlend heiteres Gesichtchen verfinstert sich. Noch zögert sie. Soll sie sich umdrehen, soll sie sich gegen die Schmähung wehren? Dann wirft sie das Haupt mit dem kupferroten Haar in den Nacken. Warum empört sich alles in ihr, wenn man sie wegen ihres Haares, das wirklich wie eine feurige Lohe das durchsichtig zarte Antlitz umrahmt, verspottet? Längst müßte sie sich daran gewöhnt haben, daß sie, wo eben sie auftaucht, wegen ihres leuchtenden Haares ge­hänselt wird. Sie weiß selbst nicht, wie sehr sie mit ihrer aparten Schönheit von der Jugend des abseits der Großstadt gelegenen Dorfes absticht. Sie weiß überhaupt nicht, daß sie schön ist, eigenartig, faszinierend schön. Es ist wirklich eine unbändige Fülle kupferroten Haares, das ihr schwer bis auf die Schultern fällt, und ein ovales, regelmäßig geschnittenes blasses Gesichtchen einhüllt. Zwei grüngraue Augen beherrschen dieses jetzt so zornige Antlitz und der sonst so weiche, schwellende Mund preßt sich wütend zusammen. »Rotkopf! Rotkopf!« Von allen Seiten ertönt der Ruf. Er scheint über die schmale Hecke zu kommen, die die Wiese von zwei Seiten einsäumt. Hinter den Bäumen hervor, die ihre Äste weitverzweigt über den Garten strecken. Ja, selbst vom Hause her kommt er, dem sie nunmehr voller Hast zustrebt. Die kleinen Hände hat sie zu Fäusten geballt. Atemlos kommt sie in der Diele des Hauses an und stürzt der alten Haushälterin fast in die Arme.

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Leseprobe: Eine Bucht in Florida

Tessa will ein paar ruhige Tage im Florida-Urlaub verbringen. Der gut aussehende Typ, der sie in der Hotelbar anspricht, wird ihr schnell sympathisch, sie verliebt sich in ihn. Es handelt sich um Hollywoodschauspieler Johnny, der während Dreharbeiten vor Ort ist. Tessa erkennt ihn zunächst nicht und flüchtet sofort zurück nach München, als sie herausfindet, wer er ist. Sie geht davon aus, dass sie für ihn nur eine nette Abwechslung bei der Arbeit war. Und schließlich wartet da ja auch noch Bernd, ihr Verlobter. Vergessen kann sie Johnny trotzdem nicht ...

Karin Bucha Classic – 10 –

Das Mädchen mit dem Kupferhelm

Karin Bucha

! Rotkopf!«

Ruckartig verhält Gig den Schritt. Ihr eben noch strahlend heiteres Gesichtchen verfinstert sich. Noch zögert sie. Soll sie sich umdrehen, soll sie sich gegen die Schmähung wehren?

Dann wirft sie das Haupt mit dem kupferroten Haar in den Nacken. Warum empört sich alles in ihr, wenn man sie wegen ihres Haares, das wirklich wie eine feurige Lohe das durchsichtig zarte Antlitz umrahmt, verspottet? Längst müßte sie sich daran gewöhnt haben, daß sie, wo eben sie auftaucht, wegen ihres leuchtenden Haares ge­hänselt wird.

Sie weiß selbst nicht, wie sehr sie mit ihrer aparten Schönheit von der Jugend des abseits der Großstadt gelegenen Dorfes absticht. Sie weiß überhaupt nicht, daß sie schön ist, eigenartig, faszinierend schön. Es ist wirklich eine unbändige Fülle kupferroten Haares, das ihr schwer bis auf die Schultern fällt, und ein ovales, regelmäßig geschnittenes blasses Gesichtchen einhüllt. Zwei grüngraue Augen beherrschen dieses jetzt so zornige Antlitz und der sonst so weiche, schwellende Mund preßt sich wütend zusammen.

»Rotkopf! Rotkopf!«

Von allen Seiten ertönt der Ruf. Er scheint über die schmale Hecke zu kommen, die die Wiese von zwei Seiten einsäumt. Hinter den Bäumen hervor, die ihre Äste weitverzweigt über den Garten strecken.

Ja, selbst vom Hause her kommt er, dem sie nunmehr voller Hast zustrebt. Die kleinen Hände hat sie zu Fäusten geballt. Atemlos kommt sie in der Diele des Hauses an und stürzt der alten Haushälterin fast in die Arme.

»Oh, wie sind sie gemein«, sprudelt Gig unter Tränen hervor. »Sie sollen mich noch kennenlernen. Ich werde sie verdreschen, daß sie ewig daran denken sollen.«

»Aber Kind, Kind.« Begütigend nimmt die alte Letty das am ganzen Körper bebende Mädchen in die Arme. »Laß die Menschen schwatzen, was sie schwatzen wollen. Sie können dir das Wasser doch nicht reichen. Komm, Kind, beruhige dich.« Sie streicht Gig das wirre Haar aus der zornig geröteten Stirn. »Gleich wird gegessen. Dein Vater ist schon im Eßzimmer. Wasch und kämm dich, und komm dann sofort runter.«

Sekundenlang steht Gig bestürzt vor der Haushälterin. »Vater ist schon da?«

»Ja, ja«, drängt Letty und schiebt das Mädchen der breiten Treppe mit dem kunstvoll geschnitzten Geländer zu. »Spute dich, sonst –«

Das »sonst« hört Gig schon nicht mehr. Sie fürchtet den Zorn des Vaters beinahe noch mehr als den Spott der Dorfjugend über ihr Haar.

In ihrem entzückend eingerichteten Zimmer, dem Traum aller jungen Mädchen, läßt sie sich vor dem dreiteiligen, bis zum Erdboden reichenden Spiegel auf dem mit buntem Chintz bezogenen Hocker nieder.

Hier ist alles hell, licht und sonnig, angefangen von dem bunten, weichen Teppich, den gemütlichen Sesseln, bis zu den Vorhängen, die das riesige Fenster schmücken.

Gig seufzt und bringt ihr jetzt wieder erschreckend blasses Gesicht dem Spiegel ganz nahe. Jeden Zug darin studiert sie. Dann macht sie ihrem Spiegelbild eine lange Nase.

»Bah, ich bin und bleibe eine Vogelscheuche«, flüstert sie vor sich hin. »Auch Letty kann daran nichts ändern. Papa mag mich sowieso nicht leiden und nur wegen dieser Haarfarbe.«

Papa! Sie springt auf, säubert sich im Bad, streift hastig ein sauberes Kleid über und versucht, mit der Fülle kupferroten Haares fertig zu werden.

Warum ausgerechnet sie solches Haar haben muß? Könnte sie nicht so semmelblond wie die meisten der Dorfkinder sein, oder braun – oder schwarz?

Brennend steigt es ihr in die Augen. Was wissen die Großen, wie sehr sie unter dem Spott der anderen schon gelitten hat?

Rotkopf! Dieses Wort wird sie wohl ihr ganzes Leben lang begleiten.

Sie hat schon ihre Sorgen, die erst vierzehnjährige Georgia Halden, mit der langaufgeschossenen Gestalt, den eckigen, unausgeglichenen Bewegungen und dem fein modellierten Kopf.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, läuft sie die Treppe hinunter und stößt vor der Tür des Eßzimmers mit Letty zusammen.

»Letty«, flüstert sie atemlos, »was für Laune hat Papa?«

»Geh man ruhig rein, Gig«, fordert Letty das verängstigte Mädchen auf. »Gute Laune hat er heute, der Herr Ferdinand Halden.«

Zaghaft betritt Gig den Raum, der Wohlhabenheit und Tradition ausströmt. »Tag, Papa«, grüßt sie und setzt sich schnell auf ihren Platz.

»Tag, Füchslein«, erwidert Ferdi­nand Halden und lacht dröhnend, als er Gigs Zusammenzucken bemerkt. »Bist doch nun einmal ein Füchslein. Oder ist dir Rotkopf lieber?«

Aus einem vom Wein geröteten Gesicht beobachten sie dunkle brennende Augen, deren Blick ihr einen Schauer über den Rücken rinnen lassen. Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber dann würde sie es noch schlimmer machen.

Sie stochert lustlos auf ihrem Teller herum, so daß John, der Butler, ihr beim Tellerwechseln zuraunt: »Sie haben wieder nichts gegessen.«

An der Nachspeise nippt sie nur. Jeder Bissen würgt im Halse, während Ferdinand Halden unaufhörlich plaudert. Allerdings fast nur über Dinge, die für Gig unverständlich sind.

Er spricht über Geschäfte, von denen sie keine Ahnung hat, denn Ferdi­nand Halden, Herr auf Haldenhof, scheint den sechsten Sinn zu haben.

Er hat sein Geld überall hineingesteckt, in Schnapsbrennereien, in die Industrie, in Webereien und Chemische Betriebe.

Gigs Augen irren immer wieder hinüber zu dem Platz, den sonst Miß Linda Bentley einnimmt und der heute leer bleibt.

Schließlich kann sie die brennende Frage nicht länger zurückhalten: »Wo ist Miß Linda, Papa?«

Er nimmt einen tiefen Schluck aus dem funkelnden Pokal, setzt ihn bedächtig auf das Damasttuch und lehnt sich bequem in seinem Sessel mit der hohen geschnitzten Lehne zurück. »Fort!«

Gigs Augen werden groß. »Fort?« wiederholt sie und spürt ihr Herz bis zum Halse herauf klopfen. »Wohin ist sie denn gegangen?«

Um seinen vollen Mund zuckt es spöttisch. »Entlassen habe ich sie..«

»Nein!«

Mit einem Ruck steht Gig auf. Fassungslos starrt sie ihren Vater an.

»Das kann doch nicht möglich sein, Papa. Du treibst sicherlich nur einen deiner üblichen Scherze mit mir. – Papa!« schreit Gig entsetzt. »Das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein.« Schluchzen steigt in ihr empor. Sie schluckt tapfer. Nein, vor diesen spöttischen Augen darf sie einfach nicht weinen. »Warum hast du Linda fortgeschickt?«

»Warum?« Er betrachtet sie mit abschätzenden, amüsierten Blicken. »Eigentlich ist das meine Angelegenheit. Aber wenn du es durchaus wissen willst. Du bist alt genug, um außer Haus unterrichtet zu werden. Ich habe dich bereits in der Schweiz bei Ma­dame Bonnier angemeldet. In vierzehn Tagen bringe ich dich zu ihr. Letty wird dafür sorgen, daß du entsprechend ausgestattet wirst.«

Linda fort! Ihre innigstgeliebte Linda nicht mehr auf Haldenhof! Deshalb also wurde sie fortgeschickt, damit Linda das Haus verlassen konnte. Nicht einmal die Zeit zum Abschiednehmen hat man ihr gelassen.

In diesem Augenblick fühlt Gig einen so starken, alle Hemmungen durchbrechenden Haß in sich aufsteigen, daß sie plötzlich mit geballten Fäusten vor ihrem Vater steht.

»Alles nimmst du mir, woran mein Herz hängt. Zuerst schickst du Miß Linda fort, und nun muß ich Haldenhof verlassen. Ich hasse dich!« schreit sie so außer sich, daß Letty herbeigestürzt kommt und versucht, das zitternde Mädchen mit sich fortzuziehen. Doch Gig reißt sich los und geht abermals mit geballten Händen auf den Vater los. »Ja, ich hasse dich. Manchmal zweifle ich überhaupt, ob du mein Vater bist…«

»Gig, Liebling!« Letty zieht das am ganzen Körper bebende Mädchen mit sich, das sich nun nicht mehr weigert, das sich an die alte Frau klammert und bitterlich weint.

Gehorsam läßt sich Gig in ihr Zimmer bringen, auskleiden und ins Bett bringen. Sie weint und weint, alles, was mit ihr geschieht, ist ihr gleichgültig.

»Laß mich doch sterben, lieber Gott«, wimmert sie in die Kissen, und Letty, die gute Seele, hockt auf dem Bettrand und streicht zärtlich über den schmalen Rücken Gigs.

»So leicht stirbt man nicht, Kind«, versucht Letty das Kind zu trösten. »Das hat deine Mutter auch gespürt –«

»Meine Mutter –?« Gig hat den Kopf emporgerissen. Totblaß ist sie. Die Augen sind dick verquollen. »Meine Mutter –?« wiederholt sie. »War sie auch unglücklich? So wie ich?«

Verlegen irrt Lettys Blick ab. »Unglücklich nicht direkt, nur –«

Da packt Gig sie an den Schultern. Ganz dicht bringt sie die grüngrauen Augen dem runzligen Gesicht der alten Haushälterin. »Was verschweigst du mir, Letty? War meine Mutter unglücklich?«

»Ich weiß es nicht.« Letty macht sich aus Gigs Griff frei und schüttelt mißbilligend den Kopf. »Frage nicht so viel, Kind. Das verstehst du alles nicht. Du bist viel zu jung, später…«

Damit läßt sie Gig allein, von deren grübelndem Blick verfolgt. Wie seltsam die gute alte Letty war, die schon bei Mama Dienst getan hat. Gig legt sich zurück in das Kissen, die Augen groß zur Decke emporgerichtet. Sie denkt über Lettys Worte nach und kommt immer mehr zu der Überzeugung, daß sie mehr weiß, als sie ihr gesagt hat.

Dann kehren ihre Gedanken zu ihrem Vater zurück. Wie sie ihn haßt, diesen selbstgefälligen Mann, der die Menschen je nach Lust und Laune behandelt. Der mit den Schwächen der ihm Untergebenen seine Späße treibt, dessen dröhnendes Lachen aus allen Ecken des Haldenhofes wie ein Echo donnert.

Alle unterjocht er, und, merkwürdig, alle bleiben bei ihm. Sie versteht nichts davon. Aber das weiß sie, daß man ihn einen schönen Mann nennt, der voller Charme und Witz sein kann, geradezu »unwiderstehlich«, wie sie einmal ein Gespräch zwischen zwei Stubenmädchen mit anhören mußte.

Wie ein drohendes Gespenst steht die Zukunft vor ihr. Vierzehn armselige Tage stehen ihr noch zur Verfügung, vierzehn Tage bleiben ihr, um von ihrem geliebten Haldenhof Abschied zu nehmen. Und Linda hat man zuerst von ihrer Seite gerissen. Linda, die ihr junges Leben sonnig gemacht hat, soweit es in ihrer Macht stand und sofern ihr Vater nicht in seiner derben Art dazwischenfunkte.

Und die gute alte Letty wird sie auch nicht mehr in Schutz nehmen können vor den Zornesausbrüchen des Vaters.

Aber das ist ja nicht mehr nötig. Weit fort kommt sie, in die Schweiz. Vater selbst will sie wegbringen. Es muß ihm viel daran gelegen sein, daß er sich um sie so viel Mühe macht.

Unter solchen Erwägungen schläft das junge Menschenkind endlich ein.

Als Letty sich besorgt über ihr Bett neigt, sieht sie in ein noch im Schlaf schmerzvoll verzogenes Gesichtchen, auf einen herbgeschlossenen Mund. Dabei schaut das Kind schön wie ein Engel aus, denkt die treue Alte, die einzige wohl, die dem Herrn vom Haldenhof die Zähne zeigt. Man traut es den verarbeiteten Händen nicht zu, wie sanft und zärtlich sie über die blassen Wangen Gigs streicheln können. Bewundernd ruht ihr Blick auf den feingezeichneten Brauen, auf den dichten, gebogenen Wimpern, die sich dunkel und geheimnisvoll wie ein Schleier heben, wenn Gig die Augen langsam öffnet.

Beruhigt verläßt Letty das kostbar ausgestattete Zimmer Gigs, das doch schon so viele Tränen gesehen und viel Kummer und Herzeleid seiner jungen Besitzerin erlebt hat.

*

Nach vierzehn Tagen steht Gig, von unzähligen Gepäckstücken umgeben, in der prachtvoll ausgestatteten Halle.

»Leb wohl, Gig, Liebling«, flüstert Letty und hält das Mädchen fest an ihr Herz gepreßt. Noch darf sie sich gehen lassen, noch ist Ferdinand Halden nicht sichtbar. Nur die Pferde scharren unruhig vor dem Portal.

Gig weint lautlos vor sich hin, die Arme innig um die treue Alte geschlungen. »Ich vergesse dich nicht und meinen geliebten Haldenhof auch nicht. Und wenn ich es nicht aushalten kann, dann laufe ich einfach davon«, droht sie. Sie raunt es Letty leise, unter Schluchzen, ins Ohr.

»Das darfst du nicht, Kind. Dein Vater würde sehr böse werden«, sagt Letty, erschrocken über den tiefen Ernst.

Wie ertappte Sünder fahren sie auseinander, als Haldens schwere Schritte auf der Galerie erklingen.

»Ekelhaft, diese Sentimentalität«, herrscht er die beiden an.

Gig preßt die Lippen zusammen, und Letty wirft dem Herrn vom Haldenhof einen wütenden Blick zu.

»Man wird doch wohl noch Abschied von dem Kind nehmen können«, brummelt sie.

»Wie oft soll ich dir noch sagen, daß Gig kein Kind mehr ist«, herrscht er die Alte an. »Tränen, wenn ich das schon sehe. Verdammte Wehleidigkeit. Steh nicht herum, trag die Koffer zum Wagen.«

Wortlos dreht sich Letty um und verläßt die Halle. Von der Treppe her, die in das Souterrain führt, bleibt sie noch einmal kurz stehen. Nie wird sie den jammervollen Anblick ihres Lieblings vergessen, wie er verloren zwischen Koffern und Gepäckstücken steht, in dem dunklen Mantel und dem kleinen Mützchen, das wie ein Witz auf der Fülle kupferfarbenen Haares thront.

Aufschluchzend verschwindet sie, und Betty, das Zimmermädchen, trägt das Gepäck zum Wagen.

»Heul nicht«, fährt Halden seine Tochter im Wagen an. »Du tust wahrhaftig, als würdest du umgebracht.«

Gig schweigt trotzig, aber unaufhörlich rollen die Tränen über die Wangen. Wie durch einen Nebelschleier sieht sie die Wiesen, den Wald, die Koppeln, auf denen die Pferde weiden, an denen sie mit ganzem Herzen hängt.

Ihr ist zumute, als würde sie einen Abschied fürs ganze Leben von ihrem geliebten Haldenhof nehmen.

Keinen Blick wagt sie zu dem Vater hin, aber sie beantwortet auch keine seiner Fragen.

Haldens Wangenmuskeln spielen. Er ist wütend über seine trotzige Tochter, wagt aber angesichts des Kutschers nicht, Gig anzufahren.

Während der langen Bahnfahrt bleibt Gig still und drückt sich scheu in ihre Ecke.

Halden sieht sich einer Situation gegenüber, der er schlecht Herr wird. Noch nie hat er eine so lange Strecke Wegs mit seiner Tochter zurückgelegt.

Er beobachtet, wie die vornehmen Mitreisenden Gig mit ihren Blicken förmlich abtasten. Immer bleiben ihre Augen auf dem kupferfarbenen Haar haften.

Er versucht, sie mit Kleinigkeiten zu erfreuen, kauft Konfekt und Zeitschriften. Legt ihr Obst und Schokolade in den Schoß.

Gig sagt ihr leises »Danke«, legt aber alles sofort beiseite.

Darüber gerät Halden in Wut. Brüsk erhebt er sich, setzt sich in den Speisewagen und kehrt nach langer Zeit, die Gig verschlafen hat, in das Abteil zurück. Er hat Kognak getrunken, lärmt im Abteil herum, und Gig schämt sich noch mehr.

Endlich sind sie in Lausanne angekommen. Ein Wagen steht für sie am Bahnhof. Halden kann nicht schnell genug seine Mission beenden. Es treibt ihn fort.

»Mach mir keine Schande«, sagt er zum Abschied und reicht Gig die Hand, in die sie zögernd ihre kühlen Finger legt, denn sie ist vor Erregung eiskalt. Dabei sieht sie ihn furchtsam mit ihren grüngrauen Augen an, die ihm unbequem sind.

So hat ihn einst auch die über alles geliebte Frau angesehen, und er hat darüber gelacht, ohne daß ihm auch nur einmal der Gedanke gekommen wäre, sie könnte sich innerlich gewandelt haben und ihr heißes Herz einem anderen schenken.

Er ist wütend darüber, daß er durch Gig immer wieder an die Vergangenheit erinnert wird. Er will es nicht!

»Denk daran, daß du eine Halden bist«, setzt er mit rauher Stimme hinzu, und dann verläßt er das vornehme Pensionat der Madame Bonnier.

Gig aber weint sich an diesem ersten Abend in der fremden Umgebung in den Schlaf.

Niemals wird sie Kontakt mit ihren Kameradinnen bekommen! Niemals! Sie hat bei der Vorstellung wohl die abschätzenden Blicke gespürt, die alle ihrem kupferroten Haar galten. Niemals wird sie auch nur mit einem dieser blonden, braunen und schwarzhaarigen Mädchen Freundschaft schließen können. Auch hier wird sie sich ausgestoßen vorkommen. Bald wird man sie wieder hänseln und »Rotkopf« nennen.

Als eine der Erzieherinnen, die an diesem Abend Dienst hat und die Zimmer der Mädchen kontrollieren muß, auch leise bei Gig Halden eintritt, findet sie den neuen Zögling tief schlafend vor. Zusammengerollt wie ein Kätzchen, das Gesicht in die Kissen gepreßt. Nur das Haar ergießt sich wie eine rote Flut über das Weiß der Bezüge.

Merkwürdig, etwas rührend Hilfloses geht von dem jungen Mädchen aus. Ihr ist, als habe es sich in den Schlaf geweint.

Die Frau lächelt verstehend. Wann hätte sich einmal eines der hinzugekommenen Mädchen am ersten Abend nicht in den Schlaf geweint? Beruhigt, alles in Ordnung findend, vollendet sie ihren Rundgang.

*

Das Haus Madame Bonniers ist weit über die Grenzen hinaus berühmt und bekannt.

Aus allen Kreisen, natürlich nur den allerbesten, kamen sie zu ihr. Töchter der Hochfinanz, der Industriekapitäne, von berühmten Stars und in Kunst und Wissenschaft bekannter Männer.

Sie besitzt viel Liebe zu den jungen Geschöpfen, diese Madame Bonnier, deren Alter schwer zu schätzen ist, da sie sich eine erstaunliche Jugendlichkeit erhalten hat. Und noch etwas rühmt man ihr nach – ihren Humor.

Gig Halden hat sich, ohne aufzufallen, in den Rahmen des Hauses eingefügt. Sie ist still, bescheiden und sehr zurückhaltend, doch sobald nur eines der Mädchen den Versuch einer freundschaftlichen Annäherung macht, panzert sie sich mit einer Eiseskälte, die ihr als Hochmut ausgelegt wird.

Auch Madame Bonnier findet keinen rechten Kontakt zu dem seltsamen Mädchen, das selbst unter der fröhlichen, ewig zu Scherzen und Dummheiten aufgelegten Schar einsam lebt.

Dabei ahnt keiner, wie sehr Gig unter dieser Einsamkeit leidet. Keiner weiß, da sie ein Einzelzimmer bewohnt, wie oft sie sich vor Sehnsucht nach dem geliebten Haldenhof in den Schlaf weint.

Sie sieht blaß, manchmal direkt elend aus. Da sie eines der fleißigsten, begabtesten und lernbegierigsten Mädchen ist, schiebt Madame das erbarmungswürdige Aussehen Gigs auf das zu angestrengte Arbeiten.

Sogar den Hausarzt hat sie schon zu Gig geschickt. Er hat ihr aber melden müssen, daß Gig körperlich zwar sehr zart, aber doch kerngesund sei.

»Sie scheint eine Last mit sich herumzuschleppen«, meint er überlegend. »Eine Art seelische Belastung. Sagten Sie nicht, daß Gig sich von den anderen auffällig absondert?«

Madame Bonnier ist einesteils erleichtert, auf der anderen Seite beunruhigt. »Vielleicht kann sie sich nur nicht eingewöhnen?« gibt sie zu bedenken, und als der Arzt die Schultern hebt, winkt sie beruhigt ab. »Nun ja, warten wir es ab. Gig wäre die einzige, die es hier nicht ausgehalten hätte.«

Doch im stillen sagt sich die lebens­erfahrene Frau, daß damit das Problem um die stille Gig nicht gelöst ist, und sie betrachtet und beobachtet Gig mit sehr aufmerksamen Augen.

Gig lernt wie besessen, um die Sehnsucht nach dem Haldenhof, die wie eine unvernarbte Wunde in ihr brennt, zu betäuben.

Sie fängt um sich her Gespräche auf, die sich um die kommenden Ferien drehen, und der erste Hoffnungsschimmer fällt in das Dunkel ihrer Einsamkeit.

Auch sie wird heimkehren auf den Haldenhof, wenn auch nur für kurze Zeit. Sie wird Wiedersehen mit allem feiern, was ihr seit Kindheit an vertraut ist. Sie wird auch ihre geliebte Letty wiedersehen. Ach, für diesen einen Tag lebt sie.

Und dann kommt die große, grenzenlose Enttäuschung.

»Gig!« Die dunkellockige Viky Dreysen steckt den Kopf zur Tür herein. »Du sollst zu Madame Bonnier kommen.«

Die Tür knallt wieder zu, und Gig erhebt sich von ihrem Schreibtisch.

Wenig später steht sie vor Madame Bonnier und grüßt höflich.

»Nimm Platz, Gig«, fordert die Frau das Mädchen auf, und Gig nimmt die äußerste Kante des Sessels ein.

Die Hände im Schoß zusammengelegt, blickt sie erwartungsvoll auf Madame. Diese schiebt erregt Papiere auf ihrem Schreibtisch hin und her, als wolle sie Zeit gewinnen. Zunächst meidet sie den Blick der klaren grüngrauen Augen, der mitunter sehr unbequem sein kann.

Gig läßt keinen Blick von Madame. Plötzlich schießt eine riesengroße Freude in ihr empor. Sollte sie Post bekommen haben? Sollte Papa wirklich einmal an sie geschrieben haben? Oh, mein Gott! Jetzt wird er mir mitteilen, wann ich heimkommen darf!

Ihre Erregung schlägt in Ungeduld um. Weshalb zögert Madame so lange? Sie rafft all ihren Mut zusammen und unterbricht die Stille.

»Habe ich Post bekommen, Madame Bonnier?« würgt sie heiser hervor.

Madames Hände kommen endlich zur Ruhe, obwohl sie das, was sie suchte, längst gefunden hat. »Hm – ja«, erwidert sie, und richtet ihre Augen auf Gig. »Eigentlich nein!«

»Nein?« Gig springt auf. »Ich verstehe nicht.«

Madame zwingt viel Ruhe in ihre Stimme. »Setz dich wieder, Gig. Ich habe Post bekommen, von deinem Vater. Ich muß schon sagen –«

Gigs Gesicht verändert sich schlagartig. Die übergroßen Augen beginnen zu leuchten. »Sicher hat er Ihnen mitgeteilt, daß ich endlich meinen Haldenhof wiedersehen darf. Ich freu’ mich ja so sehr, Madame, so sehr.«

Sie verstummt, und glühende Röte bedeckt ihre sonst so blassen Wangen. Ihr ist, als habe sie Madame Bonnier Einblick in ihr Inneres gestattet. Sie schämt sich dieses Freudenausbruches und nimmt betreten ihren Platz wieder ein.

Madame kommt auf sie zu und setzt sich zu ihr auf die Sessellehne. Die Hand, die sie um Gig legt, zittert leicht, und Gig spürt es. Groß, erwartungsvoll schlägt sie die Augen zu Madame empor.

Also doch – denkt Madame Bonnier –, das Mädchen leidet an Heimweh. Noch viel schwerer fällt ihr nun ihre Mission, die zu erfüllen ihr Ferdinand Halden aufgezwungen hat.

»Gig«, sagt sie sanft und drückt das Mädchen etwas an sich. »Ich muß dir eine große Enttäuschung bereiten. Dein Vater steht vor seiner Wiederverheiratung und will nicht, daß du gerade jetzt heimkommst.«

»Papa – heiratet?«

Madame Bonnier kann nur nicken.

Leichenblässe bedeckt Gigs so schmalgewordenes Gesichtchen. Aus den weitaufgerissenen Augen ist jeder Glanz gewichen.

Plötzlich springt sie empor. Beide Hände preßt sie an den Mund. »Nein!« flüstert sie und immer wieder: »Nein.«

Auf ihrem geliebten Haldenhof zieht eine fremde Frau ein, und sie will man nicht sehen? Man schiebt sie einfach ab?

»Mein Gott!« stammelt sie, und die ganze Verzweiflung eines einsamen Herzens liegt in diesem Ausruf, der Madame sehr erschüttert und der sie ahnen läßt, warum das junge Menschenkind so verschlossen und abgesondert von aller Fröhlichkeit gelebt hat.

»Gig!« ruft sie entsetzt, aber da liegt die schmale Gestalt schon am Boden. Das Gesicht leuchtet vor Blässe.

Madame erfaßt ein tiefer Schreck. Sie ist völlig hilflos, und in ihrer Sorge rennt sie zum Fenster, unter dem Hänsel, der Gärtner, den Rasen mäht.

Hänsel, das Faktotum des Hauses, jahrelang erprobt, hält es mit der Ruhe. Sein Wahlspruch scheint zu sein: Komme ich heute nicht – dann komme ich morgen! Aber er ist gewissenhaft, treu und zuverlässig. Dinge, die Madame sehr zu schätzen weiß.

Jetzt reißt sie das Fenster auf und schreit ihm zu: »Hänsel, schnell, schnell, kommen Sie in mein Zimmer! Aber es eilt!«

»Ja, ja, ich komme schon«, brummt er zurück, was Madame aber gar nicht hört. Sie kniet schon wieder neben dem ohnmächtigen Mädchen. Hänsel ist verschwiegen, und es braucht keiner im Hause zu wissen, was sich in ihrem Zimmer abgespielt hat.

Endlos dünkt es sie, bis sich endlich die untersetzte Gestalt Hänsels ins Zimmer schiebt.

»Schnell, schnell«, kommandiert sie, »helfen Sie mir, das Kind in sein Zimmer zu tragen.«

Hänsel besieht sich ein paar Sekunden die schmale, hingestreckte Gestalt. Das ist doch die Kleine, die immer mit einem Buch vor seinem Rosen-Rondell sitzt, das Mädchen mit den großen traurigen Augen.

Mit einer Handbewegung schiebt er Madame Bonnier, die er selten so erregt gesehen hat, beiseite.

»Lassen Sie man, Madame, die halbe Portion trage ich ohne Hilfe. Ach, du lieber Gott, das ist ja nur eine Handvoll Mensch. Wohin soll ich denn die Kleine tragen?«

»In ihr Zimmer natürlich – oder dachten Sie in Ihr Treibhaus?«

Madame ist außer sich und sehr besorgt. Sie eilt vor Hänsel her, ängstlich bedacht, daß er auch mit seiner Last, die ihm so leicht dünkt, fertig wird, und reißt die Tür zu Gigs Zimmer auf.

Behutsam, als sei Gig eine Kostbarkeit, läßt der alte Hänsel das junge Mädchen auf die Couch gleiten.

»Was fehlt ihr denn? Vielleicht sollte ich den Arzt rufen?« gibt er zu bedenken, doch Madame winkt herrisch ab.

»Unsinn, Hänsel, hier kann kein Arzt helfen. Holen Sie aus meinem Schlafzimmer den großen Flakon vom Toilettentisch. Gleich kommt die Kleine wieder zu sich. Und machen Sie kein unnötiges Aufsehen, hören Sie?«

»Ich verstehe schon, Madame.« Hänsel wirft noch einen mitleidigen Blick auf das schmale, farblose Gesicht, bewundert die Haarflut, die sich aus dem häßlichen Knoten befreit hat, und schlurft davon.

Für seine Verhältnisse kommt er sehr rasch zurück, und Madame be­müht sich um Gig, bis sie endlich die Augen aufschlägt.

Sie muß sich erst besinnen. Es war so wunderbar, in dieses Nichts zu versinken. Nichts mehr denken müssen, nur Ruhe, Ruhe…

»Gott sei Dank«, flüstert Madame und tupft behutsam über Gigs hohe Stirn. »Du hast mir einen schönen Schreck eingejagt. Bleib liegen, mein Kind.«

Gig öffnet den Mund, ohne daß ihr ein Wort entschlüpft. Sie muß sich erst besinnen. Da war Madames Zimmer, ein warmes Plätzchen, hell in den Farben und Fröhlichkeit ausströmend, und dort, ja, dort wurde ihr eröffnet, daß man sie auf dem Haldenhof nicht haben will.

Dabei hat sie die ganze Zeit nur für diesen Augenblick gelebt, hat sich deshalb willig in die Ordnung des Hauses gefügt. Einmal wird sie ja den Haldenhof wiedersehen dürfen und mit allem, was ihr bekannt und vertraut, was sie von Herzen liebt, Wiedersehen feiern.

Und nun ist alles zerschlagen. Papa hat nicht einmal an sie, sondern an Madame geschrieben.

»Was soll denn nun mit mir werden?« klingt ihre Stimme zögernd in das Stillschweigen.