Das Mädchen mit der Leica - Helena Janeczek - E-Book

Das Mädchen mit der Leica E-Book

Helena Janeczek

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Beschreibung

1997 tauchte in Mexiko ein alter Koffer auf- er enthielt drei Pappkartons mit Negativen. Das war die Stunde der Wieder-Entdeckung einer Fotografin, die sich Gerda Taro nannte. In Stuttgart geboren, floh sie vor den Nazis nach Paris. Dort begegnete sie Robert Capa, gemeinsam dokumentierten sie den Spanischen Bürgerkrieg. Sie bezahlte diesen Einsatz mit dem Leben. Zu ihrer Beerdigung in Paris kamen Zehntausende, Robert Capa, Louis Aragon und Pablo Neruda führten den Trauerzug an. Wer war diese ungewöhnliche junge Frau - die erste Kriegsfotografin weltweit? Helena Janeczek hat sie in diesem wunderbaren, preisgekrönten Roman nacherfunden und ihr ein bewegendes, weit über die sensationellen Fakten hinausreichendes, literarisches Denkmal gesetzt.

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Deutsch von Verena von KoskullDie Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel La ragazza con la Leica bei Ugo Guanda Editore, Mailand© 2017 Ugo Guanda Editore S.r.l., Via Gherardini 10, Milano, Gruppo Mauri Spagnol© für die deutschsprachige Ausgabe:Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin, München 2020Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: © Robert Capa © International Center of Photography / Magnum Photos / Agentur FocusSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Berlin Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Prolog

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Epilog

Danksagungen und Anmerkungen

Fotografische Angaben

Zitat

»Sie war einfach charmant … Das hübsche Mädchen, dem man, wie dem Schicksal, einfach nachlaufen musste.«

Georg Kuritzkesin einem Radiointerview 1987

Magst du auch tot und deine Hülle sterblich sein,das Altgold deines Haars,die frische Blüte deines Lächelns im Windund die federnde Anmut, mit der dulachend den Kugeln trotztest,um Kampfszenen zu bannen,all das, Gerda, gibt uns weiterhin Mut.

Luis Pérez Infante,Für Gerda Taro, gestorben an der Brunete-Front

Prolog

Paare, Fotografien, Koinzidenzen #1

 

 

Seit du dieses Foto gesehen hast, hat dich ihr Anblick verzaubert. Sie scheinen glücklich, sehr glücklich, und sie sind jung, wie es sich für Helden gehört. Ob sie schön sind oder nicht, kannst du nicht sagen, heldenhaft sehen sie jedenfalls nicht aus. Das liegt an dem Lachen, das ihre Augen verschließt und die Zähne entblößt, nicht fotogen, aber so unverstellt, dass es sie hinreißend macht. Er hat ein Pferdegebiss, das er bis zum Zahnfleisch zeigt. Bei ihr hebt sich der Eckzahn von der Zahnlücke dahinter ab, wenn auch mit der Anmut charmanter kleiner Schönheitsfehler. Das Licht schmiegt sich an das Weiß des gestreiften Hemdes und rinnt über den Hals der Frau. Ihre strahlende Haut, die Diagonale der Sehnen, die das auf die Rückenlehne gelegte Profil hervortreten lässt, und selbst die geschwungenen Armstützen verstärken die fröhliche Energie, die ihr einmütiges Lachen freisetzt.

Sie könnten auf einem Platz sein, doch die bequemen Armstühle lassen eher einen Park vermuten, der sich als Hintergrund in einem dichten Laubvorhang verliert. Du fragst dich, ob dieser Ausschnitt, den sie ganz für sich haben, dem Garten einer großbürgerlichen Villa entstammt, deren Bewohner über die Grenze geflohen sind, seit in Barcelona die Revolution gärt. Jetzt gehört dieses schattige Plätzchen unter Bäumen dem Volk: diesen beiden, die sich mit geschlossenen Augen anlachen.

Die Revolution ist ein Tag wie jeder andere, an dem man loszieht, um den Putsch aufzuhalten, der sie ersticken will, doch eine ausgelassene Waffenruhe lässt man sich nicht nehmen. Den mono azul wie ein Sommerkleid tragen, eine Krawatte unter die Latzhose binden, um für den anderen schön auszusehen. Da braucht es das klobige Gewehr nicht, das durch die Hände wer weiß wie vieler unglücklicher Soldaten gegangen ist, ehe es bei dem anarchistischen Milizionär landete, der den strahlenden Hals seiner Frau jetzt nicht streicheln darf.

Von dieser Einschränkung abgesehen, sind sie im Hier und Jetzt gänzlich frei. Sie haben bereits gewonnen. Wenn sie sich ihr Lachen bewahren und weiterhin so glücklich sind, scheint man nicht unbedingt wissen zu müssen, wie man diesem alten Schießprügel einen Schuss entlockt. Siegen wird, wer auf der richtigen Seite steht. Jetzt können sie die vom Laub gedämpfte Sonne genießen, die Gesellschaft des geliebten Menschen.

 

Die Welt muss es erfahren. Sie soll auf einen Blick sehen, dass es auf der einen Seite den jahrhundertealten Krieg gibt, die aus Marokko angelandeten Generäle mit den grausamen Söldnertruppen, und auf der anderen Seite Menschen, die das, was sie leben, verteidigen wollen und einander begehren.

In diesem frühen August des Jahres 1936 kommen sie in Scharen nach Barcelona, um sich dem ersten Volk Europas anzuschließen, das sich, ohne zu zögern, gegen den Faschismus bewaffnet hat. In der universellen Sprache der Bilder, die in der halben Welt an den Kiosken prangen, in den Partei- und Gewerkschaftsbüros hängen, von Zeitungsverkäufern geschwenkt und wiederverwendet werden, um Eier und Marktwaren darin einzuwickeln, und die selbst denen ins Auge springen, die Zeitungen weder kaufen noch lesen, erzählen sie von der Stadt in Aufruhr.

Brüderlich heißen die Barceloner die Fremden willkommen. Die herbeigeströmt sind, um an ihrer Seite zu kämpfen. Die sich an das allgegenwärtige Babel gewöhnen und Gefallen daran finden, mit compañero und compañera zu grüßen und sich mit Gesten, Lautmalereien und Taschenwörterbüchern zu behelfen. Zum steten Strom zur Freiwilligenmiliz gehören auch die Fotografen, die nicht auf Waffen und Training aus sind. Sie kommen für uns, sie sind wie wir, Genossen. Wer sie bei der Arbeit sieht, begreift und lässt sie gewähren.

 

Doch die beiden Milizionäre auf dem Foto sind von ihrem Lachen so überwältigt, dass sie nichts bemerken. Ihr Porträtist tritt ein Stück zur Seite, drückt abermals auf den Auslöser und droht sich mit der noch größeren Nahaufnahme des von seinem strahlenden, innigen Lächeln geeinten Paares zu verraten.

 

Das Foto scheint mit dem ersten fast identisch zu sein, doch nun wird sichtbar, dass es den Mann und die Frau vor lauter Verliebtheit nicht kümmert, was um sie herum geschieht. Der scherenhafte Schritt eines Passanten, der das Straßenpflaster im Hintergrund zerteilt, verrät, dass sie nicht in einem Park, sondern womöglich auf den Ramblas sind, wo sich die mobilmachende Stadt versammelt. Im Armstuhl neben ihnen sitzt eine weitere Frau.

Von ihr ist nicht mehr als eine Strähne krausen Haars und ein bekleideter Arm zu sehen. Wie gern wärst du an ihrer Stelle, um das, was die Bilder zwar erahnen lassen, sich aber deinem Blick entzieht, mit eigenen Augen zu sehen.

Der Fotograf, der die beiden Kameraden festgehalten hat, ist nicht allein. Es sind ein Mann und eine Frau, Seite an Seite stehen sie am rechten Straßenrand.

 

Dann stößt du auf das Foto einer Frau, die in genau so einem Armsessel sitzt, und hältst ein so unverschämtes Glück für kaum möglich. Bis du ganz oben rechts im Bild ein schmales Stück Profil des jungen Milizionärs entdeckst, der auf den anderen Bildern seine blonde Freundin anstrahlt.

 

Diese Arbeiterin mit einer Modezeitschrift in den dazu nicht passen wollenden Händen und einem Gewehr zwischen den Knien scheint wahrlich nicht der Typ zu sein, der sich vom Auftauchen eines Fotografenpaares, das um das schallende Lachen ihrer verliebten Kameraden wetteifert und anschließend auch sie verewigt, zu klatschhafter Neugier hinreißen lässt. Nein, sagst du dir, über Dinge, die sie nichts angehen, sieht eine wie sie hinweg. Zwar bleibt sie wachsam, denn immerhin hat man ihr eine Waffe gegeben, aber vor allem will sie den kurzen Moment des Friedens genießen.

 

Doch ein paar Tage später – so stellst du dir vor – kommt diese Milizionärin zum Exerzieren an den Strand und trifft die beiden Fotografen wieder. Er mit dieser zigeunerhaften Hemdsärmeligkeit, sie fast wie ein Mannequin, das der auf den Ramblas gelesenen Zeitschrift entstiegen sein könnte, allerdings mit einem klobigen Fotoapparat um den Hals, der ihr gegen die Hüften schlägt.

Jetzt ist die Frau neugierig: Wer sind die beiden? Wo kommen sie her? Haben sie eine Affäre, wie sie in diesem Klima aus Mobilisierung, Hochsommer und Freiheit zahlreich gedeihen, oder sind sie Mann und Frau?

Wohl etwas in der Art, denn eingespielt und routiniert werfen sie sich ein paar Worte in einer harten Sprache zu. Sie ist heiter und flink wie eine Katze, doch sehr bedacht, wenn sie die Kameradinnen anweist, wie sie ihre Waffen halten sollen. Die beiden legen sich mächtig ins Zeug, sind euphorisch und gut gelaunt und verteilen aus Dank und als Zeichen der Brüderlichkeit sogar Gauloises.

»Die habe ich schon mal gesehen«, bemerkt die Milizionärin, als die Fotografen davongehen und sich erregtes Getuschel erhebt, doch niemand beachtet sie. Alles Interessante weiß der Genosse Journalist, der die beiden hergebracht hat. Sie sind frisch aus Paris eingetroffen und haben bereits ihren Hals riskiert, als das zweimotorige Flugzeug in der Sierra notlanden musste. Ein hohes Tier von der französischen Presse hat sich dabei den Arm gebrochen, doch die beiden haben nicht einen Kratzer abbekommen, dem Himmel sei Dank. Er heißt Robert Capa und sagt, Barcelona sei wunderbar und erinnere ihn an seine Geburtsstadt Budapest, doch solange dort Admiral Horthy und sein reaktionäres Regime am Ruder seien, könne er nicht dorthin zurück. Seine Gefährtin Gerda Taro muss wohl alemana sein, eine von diesen jungen Emanzen, die nicht einmal vor Hitler kuschen.

»Weiß man schon, wann die Fotos erscheinen?«, bedrängen ihn die Milizionärinnen.

Der Journalist verspricht, sich zu erkundigen, allerdings nicht bei den Fotografen, die demnächst in die Kampfgebiete aufbrechen: Zuerst fahren sie an die Front von Aragón und dann runter nach Andalusien.

 

Ein Jahr nach diesen Aufnahmen hat es in Barcelona unter den vom Kreuzer Eugenio di Savoia zerbombten Häusern die ersten achtzehn Toten gegeben. Die Milizen wurden aufgelöst, die Milizionärin ist in die Fabrik zurückgekehrt. Vielleicht näht sie Uniformen für das Ejército Popular, in dem die Anarchisten widerspruchslos gehorchen müssen und Frauen keinen Platz mehr haben. Doch in den Werkshallen hört man auch weiterhin Radio, kommentiert die Nachrichten und macht sich Mut.

Du stellst dir vor, wie jemand aus einer Zeitung vom 27. Juli 1937 vorliest. Darin steht, Madrid leiste heldenhaft Widerstand, wenngleich der Feind mithilfe der deutschen und italienischen Luftwaffe auf Brunete vorgerückt sei, wo sich ein tragisches Unglück ereignet habe. Eine Fotografin habe ihr Leben gelassen, sie sei von weither gekommen, um den Kampf des spanischen Volkes zu verewigen, und ein solches Vorbild an Tapferkeit, dass General Enrique Líster an ihrem Sarg niedergekniet sei und der Dichter Rafael Alberti der Genossin Gerda Taro die feierlichsten Worte gewidmet habe.

»Ist das nicht die, die uns am Strand fotografiert hat?«, ruft eine Arbeiterin und lässt die Mädchen aufhorchen, die schwatzend am Eingang der Werkshalle stehen. Ja, genau die: In dem Artikel wird auch der ilustre fotógrafo húngaro Robert Capa que recibió en París la trágica noticia erwähnt.

Die Arbeiterinnen der Uniformfabrik sind betroffen, die Erinnerungen holen sie ein.

Die Sonne auf den Schultern, der Sand in den Schuhen, das Gelächter, wenn eine von ihnen unter dem Rückstoß der Waffe über die Strandlinie taumelte, der begeisterte Jubel, kaum traf eine andere das Ziel. Und dann diese Fremde, eine senyoreta mit zarten Händen – das sah man sofort –, die gepflegt in Paris hätte bleiben können, um Schauspielerinnen und hochelegante Mannequins abzulichten, doch stattdessen war sie hier, um sie bei ihren Schießübungen am Strand zu fotografieren. Sie bewunderte sie regelrecht und schien sie fast ein wenig zu beneiden. Und nun ist sie gefallen wie ein Soldat, während sie sich in der Fabrik krummarbeiten und kaum wissen, wo sie etwas zu Essen herbekommen sollen, aber immerhin noch am Leben sind. Das ist nicht fair. Die Faschisten sollen in der Hölle krepieren.

Die Frau, die mit der Modezeitschrift auf den Ramblas saß, ist von dieser Nachricht besonders erschüttert. Während der wieder angezündete Zigarettenstummel ihr die Finger einräuchert und die Nähmaschinen hinter ihrem Rücken rattern, wird sie von einer Rührung ergriffen, die mehr ist als tief empfundene Dankbarkeit für das Opfer einer kleinen Göre aus einem kalten Land. Glasklar steigt ein Bild in ihr auf, das sie, als sie ein Jahr zuvor von ihrer Lektüre aufblickte, nur flüchtig wahrgenommen hat: Ein dunkelhaariger Mann und eine junge blonde Frau mit Pagenschnitt fotografieren eine junge blonde Frau mit Pagenschnitt und einen dunkelhaarigen Mann, die glücklich lachen. Die Blondine knipst mit geneigtem Kopf, der Fotoapparat verdeckt ihre Stirn. Die Kamera des Dunkelhaarigen ist so klein, dass man seine Brauen sieht, die genauso buschig sind wie die des Milizionärs. Als sie mit dem Knipsen fertig sind, lachen auch sie, ausgelassen und einmütig. Sogar einem unbeteiligten Blick wie dem ihren kann nicht entgehen, dass die zwei sich in den anderen beiden wiedererkannt haben. Und ebenso verliebt sind wie sie.

 

 

Ein winziger Zufall hat es gewollt, dass die frisch in Barcelona eingetroffenen Fotografen einem Paar über den Weg liefen, dem sie ähnlich waren. Und womöglich ebenso zufällig konnte Gerda Taro dessen Lachen auf seinem Höhepunkt bannen, während Robert Capa ein paar Sekunden verlor, um vielleicht das Weitwinkel zu justieren. Hätte sie noch die Kamera benutzt, mit der er ihr das Fotografieren beigebracht hatte – die Leica –, hätten auch ihre Negative das rechteckige Format, anhand dessen sich das zweite Foto des Paares und das der Zeitschrift lesenden Frau Capa zuordnen lassen. Wenn Gerda sich keine günstige Mittelformat-Spiegelreflexkamera gekauft hätte – eine Reflex-Korelle –, hätte sie das Motiv nicht so perfekt im Bildquadrat zentrieren können.

 

Nach sechs Monaten reichten die gemeinsamen Einkünfte aus, damit er sich eine Contax zulegen und die Leica, die ihn durch seine Hungerleiderjahre begleitet hatte, dem Mädchen geben konnte, das ihn ermutigt hatte, diese Jahre hinter sich zu lassen. Sie waren mit leeren Taschen aus Paris aufgebrochen – ihr Abenteuer als Fotografin hatte gerade erst begonnen, und er war, obwohl zunehmend gefragt, ohne Auftrag –, besaßen jedoch die unerschöpfliche Zuversicht, dass sie sich einen Namen machen würden.

Mit nichts als einer Leica in Paris zu leben war tägliche Überlebenskunst. André Friedmann und Gerda Pohorylle waren zu dem Schluss gekommen, dass sich unter einem Pseudonym mehr Arbeit finden ließe. Sogar Robert Capas Geschichte hatten sie sich ausgedacht, der all das besaß, was ihnen fehlte: Reichtum, Erfolg und im Reisepass das unbefristete Visum eines Landes, das man wegen seiner von Kriegen und Diktaturen unbefleckten Macht verehrte. In einem Geheimbund vereint, dessen Startkapital ein falscher Name war, waren sie einander im Leben noch näher und noch verwegener in ihren Zukunftsträumen.

Dann war die Zeit der Märchen vorüber. Seit die Spanische Republik unter Beschuss stand, kam es nur darauf an, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und eine Wirklichkeit zu bannen, die aufrütteln, den Protest befeuern und die freie Welt zum Handeln zwingen sollte.

 

Doch wenn eine Fotografie auch von dem erzählt, der sie gemacht hat, spiegeln sich in den Schnappschüssen dieses Paares, in dem sich wiederzuerkennen so leicht war, unweigerlich ihre Urheber wider. In Taros Foto nehmen der Mann und die Frau den Raum zu gleichen Teilen ein, vereint in ihrem Lachen, das sich in der Luft entlädt und dessen überbordende Energie der harmonische Bildaufbau unterstreicht. Capas Foto stellt die Frau in den Mittelpunkt, es hebt ihre Sinnlichkeit hervor, als sie sich zu ihrem Freund beugt, gleichsam aus der Sicht seines strahlenden Blicks.

Als sie nebeneinander die Straße entlangschlenderten, erblickten sie diese beiden Milizionäre, die ihnen so ähnlich und so glücklich waren. Doch war es nicht das Spiel mit dem Spiegelbild, das sie dasselbe Motiv fotografieren ließ, damit einem von ihnen ein für die Zeitungen taugliches Bild glücken mochte. Es ist die Verheißung, die auf diesen von einem beseligten Lachen durchglühten Gesichtern und Körpern wahrhaftig wird, die für ein paar flüchtige Augenblicke gelebte Utopie, die diesen Mann und diese Frau von allem frei sein ließen. Frei zwar und in ihren Idealen und Gefühlen verbrüdert, aber nicht gleich. Robert Capa hat die Sehnsucht gebannt, sich einander rückhaltlos hinzugeben, Gerda Taro eine unbändige Freude, die sich Bahn bricht, um die Welt zu erobern.

Sie waren verschieden und komplementär an jenem Augusttag, der allem, was danach geschehen sollte, für immer enthoben ist. Absichtslos und offen wie dieses verewigte Lachen erzählen sie davon, mit diesen Selbstporträts, die sie ihren Kameraden im Kampf und in der Liebe in jenem kurzen Sommer der Anarchie in Barcelona gestohlen haben.

Erster Teil

Willy ChardackBuffalo, NY, 1960

Wer ist sie doch, die Sieg’rin aller Blicke,Die, Liebe lächelnd, leise Lüft’ umwallen …

Guido Cavalcanti

Ja soll denn etwas so Schönes nur einem gefallen?Die Sonne, die Sterne gehören doch auch allen.Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre,Ich glaub, ich gehöre nur mir ganz allein.

»Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre« (1930)

von Friedrich Hollaender und Robert Liebmann, gesungen von Marlene Dietrich

Doktor Chardack war früh auf. Er hat sich gewaschen und angezogen, eine Tasse Instantkaffee und die New York Times vom Wochenende mit ins Arbeitszimmer genommen und die Politik durchgeblättert, die er nun, da es im Wettlauf um das Weiße Haus enger wird, genauer verfolgen möchte. Schließlich legt er die Zeitung verkehrt herum beiseite, greift zu Papier und Stift und beginnt zu arbeiten.

Bis auf die vereinzelten Rufe von Schwalben und Krähen und das ferne Brummen eines Autos auf der Suche nach einer Tankstelle oder unterwegs nach irgendwohin ist kein Geräusch zu hören. Später werden auch die Nachbarn nach und nach in ihre Wagen steigen, um sich auf den Weg in die Kirche, zu Verwandten oder zu einem Restaurant mit Sunday’s Special Breakfast zu machen, doch Doktor Chardack ist von derlei Unternehmungen glücklicherweise nicht betroffen.

Es erstaunt ihn nicht, dass das Telefon klingelt, kaum dass er mit dem Schreiben seines Artikels begonnen hat, und eher aus Gewohnheit denn um zu verhindern, dass seine Frau verschlafen zum Apparat hastet, ruft er »Ist bestimmt für mich!« in die Wohnung.

»Dr. Chardack«, sagt er wie immer grußlos.

»Hold on, sir, call from Italy for you.«

»Willy«, sagt eine von der Interkontinentalverbindung wattige Stimme, »ich habe dich doch nicht geweckt?«

»Nein: absolut nicht!«

Er hat sofort gewusst, wer dran war. Es gab die alten Freunde noch, unauslöschlich wie die Narbe eines üblen Sturzes von einem Baum im Rosental, und wer noch am Leben war, konnte ein Lebenszeichen von sich geben.

»Georg: Ist was passiert? Gibt’s Probleme?«

In der Zeit, da man ihn noch Willy nannte, war er der Freund gewesen, den man um praktische Hilfe bat: hauptsächlich um Geld, denn davon hatte er immer mehr gehabt als die anderen. Deshalb lässt der Anrufer jetzt ein herzliches Lachen hören und sagt, er brauche nichts, aber passiert sei durchaus etwas, schließlich habe er sich dort im fernen Amerika ein starkes Stück geleistet, da musste er einfach zum Hörer greifen, statt ihm einen Brief zu schreiben.

»Herzlichen Glückwunsch! Großartig, was du da geschafft hast, bahnbrechend, könnte man sagen.«

»Danke«, erwidert er fast tonlos und mechanisch. Doktor Chardack ist kein Typ für Komplimente, Schlagfertigkeiten liegen ihm mehr, doch will ihm beim besten Willen keine einfallen.

Lachen war ihre Spezialität gewesen, damals. Nein, das wäre übertrieben, doch sie wussten die todernsten Debatten mit einem Schuss Ironie zu würzen, und Willy Chardack hatte seinen Freunden darin nie nachgestanden. Jetzt schätzten auch die Kollegen seinen trockenen Humor, den der teutonische Akzent (der des verrückten Wissenschaftlers) noch unterstrich, und es war ihm recht, für amerikanische Verhältnisse nicht als bärbeißiger Kauz zu gelten.

Während Doktor Chardack der fernen Stimme von Georg Kuritzkes lauscht, sieht er ihn en plein air im Kreis der ganzen Bagage oder doch eher in der strahlend heiteren Atmosphäre eines französischen Films, obwohl sie zu dem Zeitpunkt noch gar nicht in Paris waren. Aber das Rosental musste den Vergleich mit dem Bois de Boulogne nicht scheuen, und Leipzigs passages waren berühmt. Es gab die Industrie und den Handel, die Musik und das Verlagswesen, die auf jahrhundertealte Traditionen zurückblicken konnten, und diese bürgerliche Beständigkeit zog Neuankömmlinge aus der Provinz und aus dem Osten an, die die Stadt samt ihren Widersprüchen und Konflikten allmählich in eine echte Metropole verwandelten. Bis die Zusammenstöße und Streiks heftiger geworden waren und die Weltwirtschaftskrise die deutsche Katastrophe beschleunigt hatte. Die angespannten Mienen, die Willy zu Hause vorfand, wenn sein Vater sich über die Schlange der Leute erregte, die Arbeit suchten, ganz gleich welche, dabei konnte er kaum noch seine Lehrlinge und Lagerarbeiter halten, nachdem selbst die seit dem Mittelalter in Leipzig prosperierende Pelzbörse ins Stolpern geraten war.

Willy und seine Freunde, die sich nicht mit zahlungsunfähigen Kunden herumschlagen mussten, waren bereit, gegen alles zu kämpfen, selbst wenn sie aus betuchten Familien stammten. Sie waren so frei: frei, zu einem Ausflug aufzubrechen und im Zelt unter den Sternen zu schlafen, frei, den Mädchen den Hof zu machen, von denen es sehr hübsche und sogar hinreißende gab (Ruth Cerf hatte sich von einer Bohnenstange in eine majestätische Blondine verwandelt, und dann war da Gerda, die zauberhafteste, lebendigste und lustigste Person, die ihm im weiblichen Universum je begegnet war), frei zu lachen. Selbst als Hitlers Sieg unmittelbar bevorstand und man sich aufs Kofferpacken gefasst machen musste, war ihnen das Lachen nicht vergangen. Niemand hätte ihnen diese Ressource nehmen können, die sie einander gleich und einig machte, zumal in ihrer Lebenseinstellung, die den Nazis die Stirn bot. Doch wirklich gleich waren sie nicht, und Georg war das beste Beispiel dafür. Georg war brillant, und das in geradezu verschwenderischem Übermaß, ähnlich dem riesigen Hemdenvorrat (Hemden aus ägyptischer Baumwolle!), der sich, seit Willy in linken Kreisen verkehrte, im Hause Chardack nutzlos in den Schränken stapelte. Georg Kuritzkes war intelligent, schön, sportlich. Loyal und verlässlich. Ein Meister darin, Menschen zusammenzubringen, anzuleiten, zu organisieren. Ein lässiger Tänzer. Begeisterter Kenner der neuesten Musiktrends von jenseits des Großen Teichs. Mutig. Entschlossen. Witzig obendrein. Wie sollte ein Willy Chardack dagegen einen Stich bei den Mädchen machen? Schon lange bevor er dieses Spitznamens überdrüssig wurde, den Gerda Pohorylle mit ihrem leichten Stuttgarter Zungenschlag sogleich übernahm, hatte man ihn »Dackel« genannt. Es war aussichtslos. Doch weil Georg obendrein witzig war, war eine Zuneigung gewachsen, die sich jenseits aller Jugendhierarchien bewegte und offenbar noch immer bestand, das zeigte das Herzklopfen, das ihm sein Anruf bescherte. Ausgelöst von einem seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gehörten Lachen.

Georg hat ihm von seinem Bruder in Amerika berichtet, der verheiratet ist und in einem Haus mit Blick auf die Rocky Mountains lebt. Soma habe ihm einen Zeitungsausschnitt geschickt, der den toten Seitenarmen der italienischen Post habe entrinnen können und nach biblischen Zeiten eingetroffen sei, eine wirklich großartige Überraschung.

»Die geben dir bestimmt den Nobelpreis.«

»Ach was. Wir sind nur ein Ingenieur und zwei Ärzte eines Veteranenkrankenhauses, die im Schuppen neben einem Haus voller Jungspunde ihre Experimente machen. In Buffalo, nicht in Harvard. Die Pharmaindustrie war als Erste da, die haben uns mit Schulterklopfen und Versprechungen überschüttet, doch Gelder und Patentanfragen gab es bisher keine.«

»Verstehe. Aber ein Herz mit einem winzigen Motor auszustatten, mit dem man schwimmen, Fußball spielen und hinter dem Bus herrennen kann, ist eine verdammte Revolution. Das werden die schon noch kapieren.«

»Hoffentlich. Als du angerufen hast, dachte ich schon, es wäre das Krankenhaus oder ein entlassener Patient. ›Gibt’s ein Problem?‹ – inzwischen klinge ich wie ein Telefonfräulein – ›Ich verbinde‹. Aber klar, ich freue mich.«

»Das will ich meinen. Am Ende wirst du von uns der Einzige sein, der was verändert hat. Ich hab’s ja gesagt: Wenn jemand Revolution gemacht hat, dann du …«

Darauf hätte Doktor Chardack eine Antwort parat. Am liebsten würde er die Studenten erwähnen, die Amerika umkrempeln wollen, indem sie auf den für Neger verbotenen Bänken einfach sitzen bleiben, sodass Woolworth und die anderen Kaufhausketten ihre lunch counters im rassistischen Süden für farbige Kunden geöffnet haben. Am liebsten würde er ihren unerschütterlichen, friedlichen und von einem auf den Namen Martin Luther getauften Reverend angeführten Glauben mit dem eines englischen Tischlersohns vergleichen, der es dank der Ausbildung für Veteranen zum Elektroingenieur gebracht hat. »Es war die Vorsehung, die mir das entscheidende Versehen diktiert hat, Sie werden sehen, lieber Chardack, wir finden für alles eine Lösung«, pflegte Ingenieur Greatbatch zu sagen, wenn der Doktor zum hundertsten Mal in seinen Schuppen stürzte, um ihm mit einem neuen Problem zu kommen. Am liebsten würde er Georg sagen, dass ausgerechnet er, der Gottlose, mit jedem elektronischen Impuls eines kranken Herzens wiedergeboren wurde und dass ihn der einzige Gott erhört hat, dem er sich verschrieben hat: Äskulap.

»Mir reicht meine Arbeit«, sagt er.

Der andere lacht mit seinem weichen, kräftigen Timbre, es ist ein einverständiges Lachen, und dennoch nimmt Doktor Chardack einen feinen Riss in Georgs Stimme wahr und lässt ihn weiterreden.

»Am liebsten würde ich mich auch ausschließlich der medizinischen Forschung widmen, man langweilt sich nicht und tut etwas wirklich Sinnvolles. Doch leider sind spektakuläre Erfindungen auf meinem Gebiet höchst unwahrscheinlich. Könnten wir doch nach einem Schlaganfall auch so ein kleines Ding einbauen wie eures!«

Wieder nimmt Doktor Chardack ein blankes Körnchen Bedauern wahr. Doch mit einem Scherz weiß er dagegen anzugehen: »Mir das Herz, dir das Hirn! Bei den lebenswichtigen Organen machen wir halbe-halbe – wie die Supermächte mit der Welt und jetzt sogar mit dem All.«

»Hauptsache, man hat etwas zum Teilen, nicht wahr? Jetzt reichen sie dich von einem Kontinent zum nächsten weiter, und wehe, du meldest dich nicht, wenn du hier in der Gegend bist.«

Nun, da sie bei den Höflichkeiten angelangt sind, hat sich Doktor Chardacks Stimmung aufgehellt. Es ist schließlich keine Schande, dass ihnen von den gemeinsamen Zielen und Träumen – die Medizin, Gerda, der Antifaschismus – nur der Erstere geblieben ist.

Das Gespräch endet mit einem Adressenaustausch zwischen Doktor Chardack und Doktor Kuritzkes, der darüber nachdenkt, die FAO und die UNO insgesamt zu verlassen, auch wenn er die Vorstellung, dann nicht mehr überall willkommen zu sein, durchaus bedauerlich findet.

»Also, ich rechne mit dir, Willy, ich rechne damit, dass der ausgepumpte Muskel des alten Europa dir einen triumphalen Empfang bereitet …«

Einen Moment lang bleibt Doktor Chardack vor dem aufgelegten Apparat stehen und lauscht dem letzten und trotz des leisen Sarkasmus so einnehmenden Lachen seines Freundes nach. Doch kaum wird er sich des Auslösers gewahr – diese verkappten Anspielungen am Telefon –, zieht sich etwas in ihm zusammen.

Wieso war Georg nach Rom gegangen? Hatte er tatsächlich geglaubt, bei der FAO könnten sie den Hunger besiegen? Er war nie naiv oder verblendet gewesen, ganz im Gegenteil. Wer weiß, ob er nach Spanien aufgebrochen wäre, wäre nicht diese Verrückte aufgetaucht und hätte ihn dazu überredet, denn Gerda etwas abzuschlagen war völlig undenkbar. Sie war ernsthaft verrückt, noch verrückter als Capa, den beinahe der Schlag getroffen hatte, als er erfuhr, dass es ihr mit einem ausgedehnten Italienurlaub beim berühmten Georg nicht genug war. Nein, diese Wahnsinnige hatte auch noch die Fotos der republikanischen Milizen mit in die Wiege des Faschismus genommen! So ein Blödsinn, versetzte Gerda ungerührt, das sei ein billiger Vorwand, um ihr eine Szene zu machen, und wer ihrem Schlagabtausch im geselligen Radau eines Pariser Cafés beiwohnte, konnte sich ein bewunderndes Grinsen kaum verkneifen.

Jedenfalls hatte sich Georg Kuritzkes den Internationalen Brigaden angeschlossen und war, derweil Willy sich nach den Vereinigten Staaten einschiffte, in Marseille geblieben und der Résistance beigetreten. Doch ehe er in die Berge ging, hatte er sein Examen gemacht und sich nach der Befreiung mit einer Doktorarbeit spezialisiert, die ihm eine Forschungsstelle bei der UNESCO einbringen sollte.

Inzwischen macht Doktor Chardack einen weiten Bogen um die Politik, doch hält das die Politik nicht davon ab, in sein Terrain vorzudringen. Schwer zu verdauen, dass die USA aus heiliger Angst vor allem, was rot ist, Wissenschaftler von Georg Kuritzkes’ Kaliber nicht haben wollen. Allerdings ist nicht gesagt, dass Georg das bedauert. Mag sein, dass er auf Geheiß der UNO nach Italien zurückgegangen ist, doch wenn er sich nicht völlig verändert hat, fühlt er sich da unten noch wohl.

Dieser Gedanke verschafft ihm Erleichterung. Und als Doktor Chardack sich erneut über seine Unterlagen beugt, hat sich die vom Atlantik hereingezogene Bewölkung wieder aufgelöst.

Zufrieden darüber, mit der ersten Fassung des Artikels fertig zu sein, während im Erdgeschoss die Türen klappen (alle verlassen das Haus, zum Glück), ist ihm zu dieser Stunde des Tages nicht bewusst, wie fern ihm die Welt ist, in die es ihn verschlagen hat. Das wird ihm erst nach dem Mittagessen aufgehen, als er beschließt, die Patientenvisite vorzuziehen und dann in die südlichen Viertel zu fahren – Polonia, Kaisertown, Little Italy –, wo man Gebäck kaufen kann, das noch genauso schmeckt wie früher. Vielleicht sollte ihm so eine Idee häufiger kommen, auch wenn niemand in der Familie damit rechnet. Doch jede Art von vergeblicher Liebesmüh ist Doktor Chardack seit jeher zuwider. Einen Kuchen mit nach Hause zu bringen ist das eine, aber das abstrakte Bemühen, ein »echter Amerikaner«zu werden, etwas ganz anderes, zumal das, was er getan hat und noch immer tut, mehr als genug ist. Er nennt sich William, spricht seinen Nachnamen amerikanisch aus, hat zwei Jahre in Korea gedient, und die Transfusionspumpe, die er aus einer Granate gefertigt hatte, hat ihm zwei Medaillen eingebracht. Er ist stolz darauf, keine Frage, stolz auf die Jungs, die er retten konnte, genau wie auf die vielen amerikanischen Leben, die nun dank seines implantierbaren Herzschrittmachers gerettet sind. Mehr kann man von ihm nicht verlangen: Für ihn ist Amerika eine Nation, der er angehört, keine Religion, in der man wiedergeboren wird. Hin und wieder fehlen ihm die guten Dinge, die es in Europa gibt. So what?

Nachdem er sich also versichert hat, dass die Patienten stabil sind, beschließt er, das Auto am Veterans Hospital stehen zu lassen und bis zur Hertel Avenue zu laufen, wo es jede Menge italienischer und jüdischer Cafés und Restaurants gibt. Außerdem geht Doktor Chardack gern spazieren, sofern es das Wetter erlaubt, was eine ganz und gar unamerikanische Angewohnheit ist. Auch wenn die Straßen, auf denen er an diesem spätsommerlichen Sonntagnachmittag fast als Einziger zu Fuß unterwegs ist, obendrein in Schlips und Jackett (ein leichtes Jackett, das er über dem Kurzarmhemd aus Mischfaser trägt), die Straßen von North Buffalo sind: wie mit dem Lineal gezogen, mit akkurat gesetzten Bäumchen, die die Bezeichnung Avenue rechtfertigen sollen, und von getünchten, nur hie und da leicht verwitterten Holzhäusern gesäumt, rote, hellgelbe, grünliche, himmelblaue, cremefarbene, schneeweiße, manche mit einer amerikanischen Flagge geschmückt, größere und kleinere, Häuser mit breiten Grasteppichen vor der Tür (ohne Zaun!) und, wie er im Laufe der Jahre feststellen durfte, verblüffend tauglich, dem Schnee zu trotzen (der Kälte weniger), und die Wärme zu halten.

Lästig ist nur, wenn ihn jemand im Auto mitnehmen will. »Thanks, no!«, lautete seine übliche Antwort, die auf weitere Erklärungen verzichtete, bis er darauf kam, sein exzentrisches »just walking« als vorbeugendes Mittel gegen den Herzinfarkt zu verkaufen. »Oh really, doctor!«, antworteten die Nachbarn und klammerten sich leicht verschreckt an ihren Autoschlüssel. Doch jetzt sind nur ein paar tuschelnde kleine Mädchen unterwegs, dazu das eine oder andere Eichhörnchen, das, anders als seine armen, verängstigten europäischen Verwandten, völlig unerschrocken über den Gehsteig hüpft.

Eine Gegend zu durchwandern, die man hinreichend kennt und die einen wiederum gänzlich ignoriert, bringt die Gedanken auf Touren oder zermahlt sie mit jedem Schritt. Die ausgedehnten Stadtspaziergänge hatte sich Doktor Chardack nicht in Leipzig angewöhnt, sondern auf den Boulevards des fünfzehnten, siebten oder sechsten Arrondissements, die ihn häufig in die prachtvollen oder ärmlichen Viertel rechts der Seine brachten. Obwohl die Metro kaum etwas kostete, war sie die erste Ausgabe, die sich Ruth und Gerda verkniffen, denn mit finanzieller Unterstützung ihrer Familien konnten sie nicht rechnen. Rausgeschmissenes Geld, behaupteten sie, und außerdem mache zu Fuß gehen eine gute Figur. Das sollte ihre letzte Sorge sein, grinste der Dackel. Einen Kaffee ließen sich die Mädchen gern spendieren, eine U-Bahn-Fahrkarte nur in Ausnahmefällen. Wieso sich in einen fahrenden unterirdischen Käfig setzen, wenn man in Paris war? Bei dem Wort »Käfig« beließ Willy es bei seinem Einwand, es werde gleich regnen. Gerda hatte im Gefängnis gesessen und war wie durch ein Wunder freigekommen, auch ihre Flucht aus Deutschland hatte unter einem glücklichen Stern gestanden. »Wo musst du hin?«, fragte er. »Kennst du den Weg?« – »Danke, Dackel, ich schaffe das schon, aber wenn du nichts Besseres vorhast, kannst du mich ein Stück begleiten.« Vielleicht hätte er etwas Besseres vorgehabt (sich in der Bibliothek verschanzen und sie erst zur Schließung wieder verlassen), doch stattdessen schleppte er seine Medizinbücher bis weit hinter den Pont Saint-Michel und wieder zurück, bis ihm der Griff seiner Mappe schmerzhaft in die Finger schnitt.

Sie war nicht zu bremsen, und nach einem Monat hatte man den Eindruck, sie wäre in Paris geboren. An bestimmten Tagen konnte sie das Honorar abholen, das sie mit ihren Gelegenheitsarbeiten verdiente, was bedeutete, bis zur Opéra zu wandern und auf dem Rückweg Croissants und ein Körbchen Erdbeeren für Ruth zu kaufen, die inzwischen bestimmt schon wieder in ihrem gemeinsamen Zimmer war. »Die fällt mir noch in Ohnmacht, wenn ich ihr nicht was Süßes mitbringe; noch nicht volljährig und schon so eine Bohnenstange.« Oder sie musste zur Post in Montparnasse, um einen Brief an Georg aufzugeben, eigentlich täte es auch ein Briefkasten und vorher noch ein Tabakladen, und würde er ihr, wo sie schon einmal dort waren, auch ein paar Zigaretten kaufen? Manchmal, sie hatte die Briefmarken nach Italien schon angeleckt, während er noch auf das Restgeld wartete, konstatierte sie wie aus heiterem Himmel, wenn es Rauhaardackel nicht gebe, müsste man sie erfinden …

Dann hatte sie sich in den Kopf gesetzt, auf eigene Faust das baccalauréat zu machen, und Georg hatte mit Ermutigungen für Gerda ebenso wenig gespart wie mit der dringenden Bitte an Willy, ihr bei den wissenschaftlichen Fächern zu helfen, die sie nie in der Schule gehabt hatte. Als wollte sie ihn damit provozieren, ließ sie den Dackel meist zur École normale supérieure kommen, die noch schöner und ruhiger war als die Sorbonne, an der er sich eingeschrieben hatte. Wenn sie vor die Tür gesetzt wurden, hockten sie sich mit dem Periodensystem und der einfachen Physik-Formelsammlung, die Gerda aus ihrer Handtasche zog, auf eine Bank im Jardin du Luxembourg und hielten das an den Falzlinien beängstigend durchscheinende Blatt auf ihren Knien. In papierner, chemisch-physischer Vertraulichkeit saßen sie da, bis Gerda die Geduld verlor oder ihr kalt wurde. Wie viele Minuten der Tuchfühlung wären dem flanellenen Schenkel des Dackels gewährt, wie viele Blicke auf ihre Seidenstrümpfe, die unter dem Formelblatt hervorblitzten, auf ihre Füße, die im Takt der Wiederholungen wippten?

Wenn Willy morgens die Fensterläden öffnete, warf er einen forschenden Blick in die Wolken über dem Hotelhinterhof. Waren sie so dunkel, dass die Nachhilfe im Park ins Wasser zu fallen drohte, trübte sich seine Laune. Ein nicht allzu kalter und bedeckter Tag genügte ihm, doch wusste seine Meteorologie nie vorherzusagen, wie lange es dauern würde, bis Gerda sich von der Parkbank erhob. Unvermittelt sprang sie auf und wanderte an der grünen Wand gereihter Bäume entlang, die sich neben ihr riesig ausnahm. Ihr Gang war leicht, wiewohl leicht nervös, was jedoch dem Kies geschuldet sein mochte, der bei jedem Stöckelschritt unter ihren Absätzen knirschte. Der Dackel folgte, das Blatt in der Hand, um sie zu korrigieren. Gerda blieb stehen und drehte sich zu ihm um, sie wollte auf die richtige Formel kommen, auf die korrekte Reihenfolge der Elemente, ehe er bei ihr war. Vielleicht sollte ich langsamer gehen, überlegte Willy, ohne recht zu wissen, ob er ihr damit Zeit verschaffen oder ihren angestrengten Blick auskosten wollte. Womöglich bremste ihn sein Zögern bereits genug, denn Gerda schaffte es fast immer, dem Dackel ihre Antwort entgegenzuschleudern und ihn mit einem triumphierend aufblitzenden Lächeln zu belohnen. Doch manchmal, wenn die soeben aus dem Lycée Montaigne geströmten Schulklassen ihr entgegenkamen, ging Gerda einfach weiter, als würden die vom Unterrichtsschluss wiederbelebten kindlichen Gesichter mit den einheitlich kurzen Mänteln und gestriegelten Frisuren ihre Lernversuche lächerlich machen. Es reicht, lassen wir es gut sein, bedeutete ihr Davonstürmen zum Eingang der Rue Auguste Comte, durch den die Schüler des alten Pariser Gymnasiums hereindrängten. Willy legte einen Schritt zu, er wollte ihr klipp und klar sagen, dass diese Knirpse kein Grund seien, einfach hinzuschmeißen. Doch dann drosselte Gerda ihren Lauf, als sei auch ihr das klar geworden, und Willy, der ihr nachhastete, konnte immer deutlicher Gerdas Sopran hören, »Lutécium, hafnium, tantale, tungstène, rhénium, osmium, iridium, platine, orrr …« als deklamierte sie ein surrealistisches Gedicht. Die meisten Schüler verzogen noch nicht mal das Gesicht, wenn sie ihr Platz machten, doch in den Augen des einen oder anderen Jungen glomm ein Licht auf, das Willy Chardack nur zu gut kannte.

Niemals wird Doktor Chardack den in Gerdas komödiantisch übertriebenem Französisch rezitierten d-Block des Periodensystems vergessen, zu dem auch das Quecksilber gehört, aus dem die Batterie seines Schrittmachers besteht. Eigentlich ist die Quecksilberbatterie keine gute Idee, dieses Problem wird er mit Greatbatch lösen müssen, und der Doktor kann es gar nicht abwarten, diese Aufgabe anzugehen. Von Herausforderungen lässt sich Doktor Chardack nicht schrecken. Greatbatch musste ihn nie fragen, woher er den kühlen Kopf und den unerschütterlichen Glauben an ihre Erfindung nimmt; vielleicht weil er es für einen Teil der göttlichen Vorsehung hält, ausgerechnet in Buffalo einen Herzchirurgen gefunden zu haben, der fähig und gewillt ist, sich in seinem Schuppen die Nächte um die Ohren zu schlagen. In diesen Nächten ist es ganz natürlich, von seinem Lebensweg in der Alten Welt zu sprechen, hingegen hat Doktor Chardack die Nase voll von den Mittagessen in der Mensa und den dinner parties, bei denen Kollegen und Wildfremde ihm mit den ewig gleichen Fragen kommen.

»So you went to university here or back in Germany?«

»Well, in Europe, but not in Germany. In Paris.«

»Oh … in Paris!«

»Selbst in Paris duftet das Leichenschauhaus nicht nach Chanel No. 5«, hatte er einmal eine Tischgesellschaft erstarren lassen, ehe der Gastgeber loslachte, als hätte er einen Kollegenwitz gerissen, not bad, aber unpassend vor den Damen, die Paris so romantic fanden. Kaum hatten sich die Damen in die Küche verzogen, war der Hausherr noch einmal darauf zu sprechen gekommen. »Wir haben schon so einiges mitgemacht, was, Bill? Neben dem Tod gibt es nichts Demokratischeres als die ärztliche Arbeit, und wie ich sehe, wird sie uns überall auf die gleiche unschöne Weise beigebracht … Alright, noch ein Schlückchen gefällig?«

»Cheers«, hatte Doktor Chardack geantwortet und seine Antwort mit hinuntergeschluckt.

Das Problem waren tatsächlich die Lebenden gewesen. Gewisse Professoren mit dem Ruf, jeden durchrasseln zu lassen, der sich während der Prüfungen nicht bei einem falsch erlernten Begriff, sondern bei einem Wort oder einer Deklination verhaspelte. »Wir werden überrannt!«, plärrten die Plakate in den Straßen, und in den Hörsälen bildeten sich Gerinnsel von Studenten, die von überall dort gekommen waren, wo der grassierende Faschismus und Chauvinismus die Oberhand gewonnen hatten: hier die Italiener, dort hinten die Ungarn und Polen, dazu die kleineren Grüppchen der Rumänen und Portugiesen. Und mittendrin sie, die judéo-boches, die jüdischen Deutschen, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, weil sie inzwischen überaus zahlreich und deshalb gefürchtet waren und obendrein häufig zu den Besten gehörten.

Alles auswendig lernen, fünfhundert Seiten dicke Lehrbücher Wort für Wort bis zum Erbrechen pauken. Sich bis spät in die Nacht die Augen bei der Sparbeleuchtung der von ihren blass geblümten (und eigentlich recht romantischen) Lampenschirmen befreiten Tischleuchten verderben, vor Müdigkeit und klammer Kälte zittern, das Sodbrennen von den zu vielen cafés crème, die man über den Tag getrunken hatte, um nicht auf der Matratze des Hotelzimmers zusammenzubrechen.

»Bald wird sich ein Franzose nicht mehr von einem französischen Arzt behandeln lassen können«, meinten die Studenten, die sich zu mehr oder weniger katholischen Gruppierungen zusammengeschlossen hatten, dem gefährdeten Frankreich aber fraglos ergebener waren als Jesus Christus. Sie stießen den Satz hervor wie Bahnhofsansagen, bedachten ihren Banknachbarn mit abfälligem Schnauben und hielten mit ihrer Arroganz kaum hinter dem Berg.

Um sicherzugehen, dass man die Prüfungen bestand, musste man besser sein als die anderen. Man musste jede Frist einhalten. Sich beeilen. Hoffen, dass die ligues d’extrême droite die entsetzlichen Geschehnisse des 6. Februar ’34 nicht mit noch größerem Erfolg wiederholen würden (»auf Champagner verstehen sie sich, aber aufs Putschen noch nicht«, war der verächtlich beschwörende Kommentar eines Berliner Kommilitonen gewesen), dass die Regierung dem Druck aus den reaktionärsten Lagern nicht allzu sehr nachgäbe, dass die Linke die nächsten Wahlen gewänne. Andernfalls würde man sich neben allen anderen Einschränkungen auf eine Zulassungsbeschränkung gefasst machen müssen, um die französischen Universitäten wieder den Franzosen zu überlassen, und was würde sonst noch beschlossen werden, um den Immigranten das Leben unmöglich zu machen?

Zwei Jahre voller Unsicherheit. Nach dem Sieg der Volksfront, der bis zum Morgengrauen jenes 4. Mai 1936 gefeiert wurde, waren die nationalistischen oder schlicht antisemitischen Dozenten noch aasiger geworden, in der festen Überzeugung, Frankreich lasse sich nur mehr durch ihre exemplarischen Bemühungen retten: die Eindringlinge während des Studiums aufhalten, sie einen nach dem anderen, Prüfung für Prüfung, durchrasseln lassen.

Doch der Vorteil der Muttersprache und jedes Geburtsprivileg waren hinfällig, sobald man dans la morgue stand: nicht in der schauderhaften, berüchtigten längst vergangener Tage, aber allemal in einem Leichenschauhaus mit abgestandener, klammer, todeskalter Luft. Dort wurde jeder leichenblass, egal ob der verwöhnte Anwärter auf die väterliche Praxis, der von seiner Verwandtschaft mit Ersparnissen und banger Erwartung überhäufte petit bourgeois oder das Landei, das damit geprahlt hatte, seinen Hühnern eigenhändig den Hals umzudrehen. Im Grunde war es eine Frage statistischer Wahrscheinlichkeit: Das wissenschaftlich-makabre Ritual sagte nichts über das zukünftige Können eines Arztes aus, wie Willy seine Kommilitonen zu beschwichtigen versuchte.

Trotzdem war es ein Augenblick der Überprüfung und der Revanche gewesen, in dem kein Dozent die Tatsache leugnen konnte, die sich am Obduktionstisch zeigte: dass man es wirklich draufhatte. Man hatte es drauf und basta. Für Willy und seine Leipziger Freunde war dies das Einzige, worauf sie sich verlassen konnten, um nicht hilflos darauf hoffen zu müssen, dass sich der Griff eines ungewollten Schicksals lockerte. Sich damit abzufinden hätte bedeutet, den Schlägerbanden, die sie davongejagt hatten, das Feld zu überlassen, die Lügen über das »Schicksal der Völker und Rassen« und die hohlen Mythen dieser Leute zu bestätigen, die sich für die Nachfahren seit etwa einem Jahrtausend ausgestorbener Götter hielten. Das Schicksal war ein falscher Mythos, ein Trug, ein reaktionärer Vorwand. Doch auch in Paris mussten sie dieses Schicksal selbst in die Hand nehmen, und das mit allem, wozu sie fähig waren. Willy hatte, ohne zu zögern, zum Skalpell gegriffen. Und die Einzige von ihnen, die mit einem Beruf in der Tasche nach Paris gekommen war, hatte sich mit einer Schreibmaschine über Wasser gehalten. Bis sich ihre Finger mit den schwielig getippten Kuppen (doch vielleicht übertrieb Gerda) um den handfesten Körper eines Fotoapparates geschlossen hatten.

»Unsere Gerda spielt die Remington wie Horowitz den Steinway«, war in den Cafés zu hören, die jedem, der in einem winzigen Kämmerchen hauste oder sich noch immer mit einem Bett im Wohnheim bescheiden musste, als Wohnzimmer und gute Stube dienten. Dazu waren sie Tauschbörse und volatiler Schwarzmarkt für jeden, der Arbeit suchte oder anzubieten hatte. Gerda war durch ihre in einem Internat am Genfersee erworbenen ausgezeichneten Französischkenntnisse im Vorteil, auch wenn sie dadurch der Hauch eines Mädchens aus gutem Hause umwehte, das noch nie einen Finger gerührt hatte. Ihre ersten Arbeiten bekam sie denn auch nicht, weil die Auftraggeber sie für eine fähige Schreibkraft hielten, sondern aus reiner Sympathie. Umso größer war die Überraschung, wenn sie in Blitzesschnelle tadellose Arbeit ablieferte, und das ließ ihr Renommee ebenso blitzschnell wachsen. Der Steinway-Spruch konnte von jedem stammen, der »unserer Gerda« einen vite, vite zu tippenden Brief gegeben hatte. Aber nein, überlegt Doktor Chardack, ohne das Fahrrad zu bemerken, das ihn fast über den Haufen fährt, er stammte von Fred und Lilo Stein, die Gerda und ihre Remington in ihrer Wohnung aufgenommen und ständig in Aktion gesehen hatten.

Willy hatte Zweifel, ob der Einzug bei den Steins die beste Lösung für »unsere Gerda« war. »Wie läuft es so im Exil von Montmartre?«, erkundigte er sich hin und wieder. »Gut, bestens«, erwiderte sie und schwärmte von ihrem neuen Zimmer, das sie mit ihrer Freundin Lotte teilte, einer Journalistin, die wie sie hinter jeder noch so kleinen Gelegenheitsarbeit herrannte und somit eine perfekte Mitbewohnerin abgab. Gerda versäumte nie, sich in Lobeshymnen auf ihre wunderbaren Vermieter zu ergehen, die sich, nachdem ihr Mitmieter, ein französischer Fotograf, sie versetzt hatte, mit dieser Untervermietung behelfen mussten. Die anderen Untermieter, die ihr Geld mit einer für Gerda und Lotte unvorstellbaren Pünktlichkeit zahlten, drohten allerdings damit, keine Puseratze mehr herauszurücken, sollte zu einer bestimmten Uhrzeit nicht Ruhe herrschen. Um die Abgabefristen einzuhalten, blieb den Mädchen jedoch keine Wahl: Kaum war Lottes kakofonisches Gehämmer – ihr journalistisches slegato – verstummt, legte Gerda mit ihren flotten Märschen los, dem unentwegten Klingeln und Rollen der zurückgeschobenen Walze, das durch die geschlossene Tür tönte. Die Hausherren hatten die übrigen Bewohner mit einem kleinen Schlummertrunk (»un petit cognac c’est mieux pour dormir qu’une tisane …«) und den gebotenen Entschuldigungen (Fred wollte einen Mietnachlass anbieten, doch Lilo hatte ihn sofort davon abgehalten) besänftigt und hatten die Remington auf den Esstisch in den hintersten Winkel der Wohnung verbannt, wo nur sie, wenn sie nebenan auf dem Sofa lagen, das Tastengeklapper in voller Lautstärke ertragen mussten. Sie behaupteten, sie hätten sich daran gewöhnt, und Gerdas Rhythmus klinge wie das wilde Getrommel von Gene Krupa in Benny Goodmans Swing oder gar wie Schostakowitsch und Chatschaturjan, wie dynamische, revolutionäre Kunst. »Unsere Gerda spielt die Remington wie einen Steinway«, schlossen sie, und sie lachte, ganz im Einklang mit dieser Würdigung als Solistin.

Obwohl Gerda ihn jedes Mal freudig begrüßte, sobald er mit einer guten Flasche in Montmartre auftauchte, hatte Willy sie in jener Zeit ein wenig aus den Augen verloren. Die sympathischen, unkomplizierten Steins luden ihn häufiger ein, doch hatte sich keine Gelegenheit ergeben, die Freundschaft zu vertiefen.

Jahre später, am 6. Mai 1941, jenem schicksalhaften Datum der Schiffspassage, die sie von Marseille in die Vereinigten Staaten bringen sollte, hatte er Fred und Lilo wiedergetroffen. Angespannt wie die Seile, die sein Leben mit einer Mole des besetzten Frankreichs vertäuten, war Willy an Bord gegangen. Er behielt alles im Auge, doch insgeheim hatte er nichts anderes im Blick als die Gangway, das Losmachen der Leinen und, endlich, das Verschwinden der Küstenlinie. Auf dem Weg unter Deck hatte Fred ihn wiedererkannt. »Wie schön, dich wiederzusehen«, hatten sie einander begrüßt und ihre ungläubige Erleichterung und Beklommenheit in diese Höflichkeitsfloskel gesteckt. Im Lauf der Reise waren sie einander nähergekommen, die Steins waren in Plauderlaune, und Willy war froh, ihnen zuhören zu können. Sie malten sich ihr neues Leben in Amerika aus und erzählten bereitwillig von Gerda, von der schönen Zeit mit ihr und wie natürlich sie gewesen sei. Sie war das Bindeglied ihrer Freundschaft und ein Thema, das von den Sorgen, die man zumindest für den Monat auf hoher See hinter sich lassen konnte, unberührt blieb. Ja, sie tot und begraben in Paris zu wissen bewahrte einen vor der Frage, wo sie war und was ihr noch zustoßen könnte …

Doktor Chardack blickt sich um und wird gewahr, wie ungeheuerlich dieser Gedanke in der friedlichen, üppig grünen Kulisse dieses Vorortes erscheint, in dem die größte Sorge die raccoons sind, die nachts im Müll wühlen. Angeblich ist es schon vorgekommen, dass der in die Abfalltonne geschlüpfte Eindringling einer Anwohnerin direkt in die Augen sah, ehe er mit leicht entnervtem Blinzeln Reißaus nahm. Anekdoten, die ein geborener Europäer nicht wirklich ernst nehmen konnte und die dennoch eine Randnotiz in der Buffalo News wert waren, und bestimmt wäre Gerda davon hellauf begeistert gewesen, auch wenn sie sich gefragt hätte, wie man an einem Ort leben konnte, an dem es keine aufregenderen Begegnungen gab als die mit einem, wie sagte man noch gleich, ach ja, Waschbären.

Gerda war jedenfalls entscheidend gewesen, um die Fahrt über den Atlantik erträglich zu machen. Dank Freds und Lilos Erinnerungen hatte er bis dahin ungeahnte Dinge erfahren. Beispielsweise, dass Fred von Gerdas Schreibmaschinenkünsten derart fasziniert war, dass er sie dabei fotografiert hatte: die geschmeidigen Finger auf den Tasten, das von Lächeln, Entschlossenheit, Konzentration, Bravour und Rauchschleiern umspielte Gesicht, in dem sich das bewährte Zusammenspiel zwischen Schreibmaschine und Fotoapparat erahnen ließ.

Während des Exils in Montmartre war Willy überzeugt, Gerdas Entflammtheit für die Fotografie sei nur oberflächlich, eine flüchtige Neugier für einen neuen Zeitvertreib. Sie brauchte Spaß wie die Luft zum Atmen, und André Friedmann, der schon seit einiger Zeit um sie herumscharwenzelte, brachte sie zweifellos zum Lachen. Ansonsten gab es keinen Grund, sich auf ihn einzulassen. Welche Ambitionen oder Chancen konnte dieser liebenswerte Schwätzer aus Budapest mit dem Strubbelkopf und dem lächerlichen Französisch schon haben, der wie Hunderte andere versuchte, seine Fotos bei den Zeitungen unterzubringen? Er wollte sich wichtigtun, sein Hungerleidertum als Lebensart verkaufen, doch für diese Botschaft war Gerda unempfänglich, und nach einer Weile hatte der Bursche, der beileibe nicht auf den Kopf gefallen war, es aufgegeben, ihr schönzutun, und sich mit dem freundschaftlich frotzelnden Umgang begnügt, den sie ihm zugestand. Die Fotografie und der Fotograf blieben ein Zeitvertreib und ein Schlüssel zu einem größeren Bekanntenkreis (darunter Cartier-Bresson mit seinen eleganten Allüren, die seine reiche Herkunft verrieten), bis Gerda zu den Steins zog.

Doktor Chardack ist es noch immer unbegreiflich, wie Friedmann, beziehungsweise Capa, es zu einem so bekannten Namen gebracht hatte, dass er selbst einem italoamerikanischen Mädchen aus New Jersey etwas sagte (»Robert Capa? You never told me!«, hatte seine Frau ausgerufen und ihn hinter dem Lenkrad blass werden sehen, als die Rundfunknachrichten Capas Tod in Indochina bekannt gegeben hatten). Er hätte eher auf Fred Stein gesetzt, der schon in Paris ein Renommee gehabt hatte und in New York gut im Geschäft war; Capas überwältigender Erfolg aber stand auf einem ganz anderen Blatt.

Stein stammte aus Dresden, hatte in Leipzig Examen gemacht und wurde in Paris wegen seines antifaschistischen Engagements sowie als Fotograf geschätzt. Als Autodidakt hatte er sich die Anerkennung seiner Kollegen erobert und es sogar zu einem Atelier in Montmartre gebracht. Gerda imponierte das, ihr imponierte die Verwandlung dieses zuerst von Hitler und dann von den Franzosen an seiner Berufsausübung gehinderten Juristen, die der Entwicklergestank in dem zur Dunkelkammer umfunktionierten Bad jeden Tag aufs Neue bewies. Hätte das vornehme Frankreich nicht selbst für bescheidene Wohnverhältnisse getrennte Toiletten vorgesehen, hätten sich die Bedürfnisse der Bewohner nur schwerlich mit den Ansprüchen einer Dunkelkammer vereinbaren lassen. Die Badewanne war von den auf einem Wäscheständer zum Trocknen aufgehängten Fotos in Beschlag genommen, worüber seine Freundin, so vermutete Willy, gewiss nicht sonderlich glücklich war.

Als Gerda noch mit Ruth Cerf im Hotel wohnte, hatte sie ihn eines Tages um einen dringenden Gefallen gebeten. Die Sache war banal und zugleich ein wenig heikel und hatte mit Wanzen zu tun. Nachdem sie der wahren Ursache ihres vermeintlich allergischen Hautausschlages auf die Spur gekommen waren, hatten sich die Mädchen in die Desinfektion ihres Zimmers gestürzt, angefangen bei der Hochburg der Parasitenkolonie, der schändlichen Matratze. Das Problem schien gelöst zu sein. Doch jetzt brauchte es ein ordentlich heißes Bad, aus dem man mit rosigem Gesicht und schrumpeligen Neugeborenenfingern wieder auftauchen konnte, befreit von dem Ekelfilm, der sich trotz zweimal täglichem Schrubben am verrosteten Waschbecken hartnäckig auf der Haut zu halten schien. Doch Geld für ein heißes Bad hatten sie keines, außerdem war das hoteleigene Badezimmer fast noch widerlicher als die ganze Herberge. Auf Willys verdutzten Blick hin hatte Gerda eifrig ihren Plan erläutert.

»Du denkst dir was aus, um deinen Concierge abzulenken, und wir huschen nach oben. Der Rest ist ein Kinderspiel, wir passen auch auf und kommen einzeln wieder raus. Mehr musst du gar nicht tun, nur den Badezimmerschlüssel darfst du nicht vergessen.«

Willy hatte kurz erwogen, sie in eine öffentliche Badeanstalt zu schicken, doch die einzige in der Nähe, das Bains d’Odessa, hatte einen üblen Ruf. Obwohl zu befürchten stand, der Concierge oder die Zimmermädchen könnten ihn für einen Aufreißer halten (gleich zwei auf einmal!), hatte er klein beigegeben, doch alles war glattgegangen. In der Nacht hatte er allerdings noch immer Herzklopfen und schwitzte, und um seiner Erregung Herr zu werden, hatte er sich schließlich der erbärmlichsten, der mechanischen, Methode bedient. Die Vorstellung, dass sich die Mädchen nur wenige Schritte den Flur hinunter ausgezogen hatten. Und dann der noch größere Überraschungscoup (oder coup de foudre), der ihn aus heiterem Himmel getroffen hatte: Gerda war zurückgekommen, jedoch nicht, um ihre Handtasche zu holen, sondern um eine Dose Nivea-Creme daraus hervorzuziehen und sich mit einem »Wenn du willst, kannst du dich umdrehen« (sogleich hatte er sich mit dem Gesicht zum Schrank gedreht) aus den Kleidern zu schälen und einzucremen. »Es dauert einen Moment, bis sie eingezogen ist.« – »Macht nichts, ich warte«, hatte er geantwortet. »Na schön, aber es ist mir unangenehm, dich so lange in der Ecke stehen zu lassen …«

Als sie verkündet hatte, sie sei fertig, musste sie sich freilich noch die Beine eincremen, weitere Minuten warten, die Strümpfe überstreifen und den Rock hinunterschieben. Sich jetzt umzudrehen, hatte etwas Komisches. Er konnte nur hoffen, dass er nicht schon rot geworden war, ehe Gerda ihm ein Küsschen gab, ein »Danke, Dackel« durch die halb zugezogene Tür hauchte und verschwand.

Auch dieser Episode wegen hatte er nicht viel auf das allzu geregelte Leben in Montmartre gegeben, und das dauerhaft blockierte Badezimmer der Steins schien der Inbegriff dieser beschränkten Freiheit zu sein.

Ende der Leseprobe