Die Schwalben von Montecassino - Helena Janeczek - E-Book

Die Schwalben von Montecassino E-Book

Helena Janeczek

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Beschreibung

Vier blutige Monate lang dauerte es 1944, die von den Deutschen besetzte Abtei auf dem Berg zu erobern. Dafür opferten sich Menschen aus aller Welt: Briten und Amerikaner, Inder, Nepalesen, Maghrebiner, Maori. Und Polen, eine ganze polnische Armee aus Ex-Gulag-Insassen, die für Freiheit von Hitler und Stalin kämpften. Unter ihnen 1000 Juden, so wie Irka, die aus dem Getto floh, nur um in Sibirien zu landen. Oder auch Milek, ein jüdisch-polnischer Veteran ... 2007 fahren zwei junge Männer nach Montecassino, um die Vergangenheit ihrer Familien besser zu verstehen. Kunstvoll verwebt Helena Janeczek Orte, Geschichten, Epochen, Schicksale – u. a. das ihrer eigenen Tante – zu einem kunstvollen, berührenden Epos des »italienischen Stalingrad«. »Helena Janeczek hat ein unglaublich starkes Buch geschrieben. Darin wird Montecassino zum Krieg von uns allen, zu dem Ort, von dem wir alle kommen.« Roberto Saviano, La Repubblica

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Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

»Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo del Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.«

»Die Übersetzung dieses Buches wurde durch einen Übersetzungszuschuss des Italienischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit ermöglicht.«

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Le rondini di Montecassino bei Guanda Editore, Parma

© 2010 Ugo Guanda Editore, S.p.A., Parma

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2022

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: David Seymour-Chim / Magnum / Agentur Focus / http://www.davidseymour.com

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

VOR DER SCHLACHT

Mailand, Piazzale Dateo – Segrate, Herbst 2007

Mein Vater war …

ERSTE SCHLACHT

12. Januar – 12. Februar 1944

Sergeant John »Jacko« Wilkins, 36. Division »Texas«

San Marcos, Texas, 15. Juni 1939 – Cassino, 20. Januar 1944

Sergeant John …

ZWEITE UND DRITTE SCHLACHT

15. Februar – 24. März 1944

Charles Maui Hira, 28. Bataillon der Maori, und sein Enkel Rapata Sullivan

Hopuhopu, Waikato, Neuseeland, Oktober 1939 – Wellington 1946

Auckland, Neuseeland, 15. Mai 2004 – Cassino, 18. – 21. Mai 2004

Gebet des Priesters

Charles Maui Hira …

Unter dem Auge der Abtei

Gegen zwei Uhr nachts …

From New Zealand

VOR UND NACH DER LETZTEN SCHLACHT

Vor und nach der letzten Schlacht

Edoardo Bielinski und Anand Gupta

Roma – Cassino, August 2009

Irena Levick und die Brüder Szer

Polen 1939 – Palästina 1943

Rischon LeZion, Israel, Oktober 2009

Jiddisches Lied

Die Vermissten auf dem Friedhof suchen

Zu Besuch bei Irka

Zwei Jungen, getrennt durch eine Abtei

Irka im Gulag

Die Schwalben der Abtei

LETZTE SCHLACHT

11.–18. Mai 1944

Gefreiter Samuel Steinwurzel, 52. Wilno Infanteriebataillon, 5. Kresowa Infanterie Division, II. polnisches Korps

Mailand, September – Oktober 2009

Lwiw, September 1939 – Mailand, Januar 1965

»Samuel Steinwurzel, 1943.«

Danke

Quellen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Für meinen Vater und für meinen Sohn

VOR DER SCHLACHT

Mailand, Piazzale Dateo – Segrate, Herbst 2007

»Alles, was in jedem Moment überall geschieht, ist die Vergangenheit.«

GUSTAV LANDAUER, anarchistischer Philosoph, Kulturminister der bayerischen Republik, 1919 von rechten Freischärlern erschlagen.

»Der Krieg ist der Vater aller Dinge.«

HERAKLIT

Mein Vater war in Montecassino, er hat unter General Anders im Zweiten polnischen Korps gekämpft. Auf seinem Weg die Adria hinauf nach Bologna wurde er in Recanati verwundet. Während seiner Genesung auf einem Bauernhof lernte er ein Mädchen aus den Marken kennen. Meine Mutter, den Grund, weshalb er in Italien blieb.

Italien, der Grund, weshalb ich nach über sechzig Jahren meinen Nachnamen mehrmals ins Telefon buchstabieren muss. Der Taxifahrer, der das nicht überhören konnte, erkundigt sich, ob ich zufällig aus Polen sei wie er.

»Wussten Sie, dass polnische Soldaten, die eine Italienerin heirateten, ihr Anrecht auf Staatsbürgerschaft verspielten, mit dem die Engländer sie als treue Mitstreiter im Kampf gegen die Nazis belohnten?«, frage ich, während am Ende der Straße bereits die Überführung auftaucht, die die Stadtgrenze von Mailand markiert.

Nein, das wusste er nicht.

Die Exilpolen sind mit ihren Frauen bis in die entlegensten Winkel der Erde emigriert, von Argentinien bis Australien, erzähle ich ihm. In Italien sind nach dem Krieg nur wenige geblieben, nur rund zweihundert – von den tausend am Fuß der Benediktinerabtei Begrabenen einmal abgesehen. Ein halbes Jahrhundert lang hat diese Handvoll Überlebender den Friedhof gepflegt, die Erinnerung an die Schlacht weitergegeben, die Beziehung zu Polen lebendig gehalten.

»Waren Sie einmal dort? Kennt man in Polen noch Czerwone Maki na Montecassino?«

Der Tag hat schlecht begonnen, Zugverspätung, Taxi, um es pünktlich zu schaffen, Diskussion mit dem Telefonanbieter, doch gerade scheint er sich zum Besseren zu wenden. Als wir die Via Corelli erreichen, lasse ich mich zu dem Lied vom roten Mohn in Montecassino hinreißen, und der Taxifahrer fällt beim Refrain mit ein.

»Do widzenia!«, verabschiede ich mich, gebe mehr Trinkgeld als sonst und mache mich leise summend auf den Weg ins Büro.

So hätte dieser Herbstmorgen laufen können, wäre mir das alles eingefallen. Aber ich habe dem Taxifahrer nie erzählt, dass mein Vater in Montecassino gekämpft hat. Ich habe ihm bloß gesagt, er stamme aus Polen und keine Ahnung was sonst noch, um seinen Fragenhunger zu stillen: »Woher kommt Ihr Vater? Seit wann leben Sie in Italien? Haben Sie noch Verwandte in Polen? Wo genau? Sehen Sie sich ab und zu? Warum sprechen Sie kein Polnisch?«

Ich stolperte hinter glaubhaften Antworten her, zahlte meine spontane Aufrichtigkeit mit der Plumpheit improvisierter Lügen. Ich hatte mir eine italienische Mutter gegeben, um meine spärlichen Polnischkenntnisse zu rechtfertigen, jedoch nicht mit den anderen Fragen gerechnet. Ich kam ins Schleudern, antwortete mit Halbwahrheiten und begriff, dass einem unter Zugzwang nichts Brauchbares einfällt und dass spontane Lügen hässlich sind. Dem Mann, der sie mir aus der Nase gezogen hatte, fiel das womöglich nicht auf, aber mir schon. Ich sah das schwindelerregende Gefälle zwischen dem, was ich erzählte, und dem, was ich verschwieg, und wie zerbrechlich der verbale Schutzschild war, den ich vor mir aufgespannt hatte, ohne ihn wirklich zu brauchen.

Ein einziges Wort hätte genügt – Montecassino –, und schon hätte er mich in Uniform und Waffen gesehen. Es hätte genügt, das Lied vom roten Mohn tatsächlich zu kennen, statt es nur in einem Film über die polnische Eroberung der zerstörten Abtei gehört zu haben, gesungen von der Tenorstimme Adam Astons, der bereits vor dem Krieg ein echter Star gewesen war und in Filmschmonzetten verewigt ist, in denen der Held zu den schmachtenden Klängen eines Tangos, angestimmt von einem befrackten Herrn im Kreis einer Zigeunerkapelle, die Hand der Heldin ergreift. Es hätte genügt zu wissen, dass Aston im wahren Leben Adolf Loewinsohn geheißen hatte und ein in Warschau geborener Jude war, den es 1939 in ein Theater nach Lwiw verschlagen hatte, ehe er die Sowjetunion 1942 mit General Anders’ Truppen verließ. Doch seine größte patriotische Tat war dieses Lied gewesen, aufgenommen 1944 in Rom, in Gedenken an seine im blühenden Mohn gefallenen Kameraden.

Auch mein Vater hatte eine schöne Stimme und war polnischer Jude: genau wie meine Mutter, meine Großeltern, meine Onkel und Tanten und alle meine Verwandten, die tatsächlich in Polen geblieben sind, wenn auch als Tote. Das war es, was ich dem neugierigen Taxifahrer nicht unter die Nase reiben wollte, erst recht nicht, als ich erfuhr, wo er herkam.

Kielce: die Geburtsstadt des Schriftstellers Gustaw Herling, ehemaliger Häftling im sowjetischen Gulag, ehemaliger Soldat des Zweiten Armeekorps, Überlebender von Montecassino. Diese Assoziation hätte ich mit dem Taxifahrer teilen können, aber der Name der Stadt beschwor etwas ganz anderes in mir herauf.

Kielce: Schauplatz des ersten großen Pogroms der Nachkriegszeit, Massaker an rund vierzig überlebenden Juden, woraufhin meine Eltern beschlossen, Polen für immer den Rücken zu kehren.

Wie der berühmte Sänger Adam Aston trug auch mein Vater einen anderen als seinen Geburtsnamen. Allerdings nicht als Künstlernamen, sondern weil er ihn zum Überleben brauchte.

Hätte er ihn abgelegt und seinen jüdischen Namen wieder angenommen, der Pole aus Kielce hätte mir in seinem Taxi keine Fragen gestellt.

Aber der falsche Name meines Vaters ist mein Nachname. Mit ihm bin ich geboren und aufgewachsen, tausendmal habe ich seine Herkunft erklärt, und häufig werde ich für eine Einwanderin, eine Pflegekraft, gar eine Nutte gehalten, weil ich in Italien heute einen slawischen Namen trage. Wie kann ich etwas für falsch halten, das mir seinen Stempel aufgedrückt hat? Wie kann es dieser Name sein, dem mein Vater sein Leben und ich meines verdanke? Was ist eine Täuschung, wenn sie wahrhaftig wird, wenn sie den Lauf der Geschichte zu ändern vermag, die Wirklichkeit formt und sich gleichfalls durch sie verändert? Zu was wird die Lüge, wenn sie sich als Rettung erweist?

Und welche Geschichten, frage ich mich schließlich, kann ich wiederum erzählen? Auf welche Legende kann ich zurückgreifen, bin ich doch der lebende Beweis, dass zwischen Wahrem und Falschem, zwischen Wirklichkeit und Fiktion eine brüchige Grenze verläuft, die Leben und Tod voneinander trennt? Was kann ich erzählen, wohl wissend, dass sich hinter jeder durch falsche Papiere geretteten Existenz ein schwindelerregender Abgrund wahrer Namen, vergessener Namen, verlorener Namen, verschwundener Namen auftut: ausgerottete Familien, Bürger aller Nationen, von den Bomben in schwarze Stümpfe verwandelt, bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Leiber, Leichen, die nie von den Schlachtfeldern getragen wurden, unbekannte Soldaten.

Ich, Helena Janeczek, geboren in München, seit über zwanzig Jahren wohnhaft in Italien, mit polnischen Wurzeln, weil meine jüdischen Eltern aus Polen kamen, und erst recht, weil ich einen slawischen Namen trage, habe, ohne bewusst danach zu suchen, eines schönen Herbsttages einen Ort gefunden: Einen Winkel der Welt, der am Ende sehr viel mehr war als eine Ausflucht, um einen Rattenschwanz plumper Lügen durch eine Geschichte zu ersetzen, die so sagenhaft klingt, dass sie bei ihren Zuhörern sämtliche Fragen erstickt.

Im Mittelpunkt steht eine Abtei: das erste Kloster des Abendlandes, viermal zerstört. Nur wenige Schritte darunter der polnische Friedhof. Weiter unten im Tal, gleich hinter Cassino, der des Commonwealth. Die Deutschen sind in Caira begraben, die Amerikaner in Anzio, die Franzosen in Venafro, die Italiener in Mignano Monte Lungo. Soldaten, die während des Italienfeldzugs und vor allem in der Schlacht um Montecassino gefallen sind, zu der man die vier alliierten Offensiven zwischen Januar und Mai 1944 zusammenfasst. Die Abtei wurde wiederaufgebaut und die Fundamente eines römischen Tempels sichtbar gelassen, den die Bomben ans Licht gebracht hatten; der Felssporn, auf dem sie sich erhebt, ist von dichtem Grün bewachsen, das die letzten Reste des Krieges zudeckt. Nur sind es viel mehr Tote als die auf den umliegenden Ehrenstätten Begrabenen: über dreißigtausend. Dreißigtausend von Millionen. Millionen Männer, aus den fernsten Winkeln angesogen und in den Trichter eines bergumsäumten Tales gespuckt.

Unter ihnen war ein Cousin meiner Mutter: Dolek Szer. Vermutlich hat auch ein guter Freund der Familie dort gekämpft: Emilio Steinwurzel. Beide waren im Zweiten polnischen Korps. Doch kann man höchstens von einem Taxifahrer aus Kielce erwarten zu wissen, dass die Polen an der Befreiung Italiens beteiligt waren. Ebenso wenig macht man sich die Mühe, die Kanadier und Neuseeländer zu erwähnen, wenn von den Angloamerikanern oder schlicht den »Amerikanern« die Rede ist. Sogar die Italiener sind vergessen, die im Krieg der Alliierten bei den regulären Truppen kämpften statt im Widerstand. Wen wundert es da, dass sich kaum jemand an die Inder, Nepalesen, Maori, Algerier, Hawaii-Japaner, Brasilianer, Senegaler, an die mit der Jüdischen Brigade aus Palästina gekommenen Juden und an all die anderen Soldaten aus der ganzen Welt erinnert, die in Italien landeten. Die in Italien kämpften und häufig dort starben, weil der Strudel, der sie verschlang, nicht einfach Krieg, sondern Zweiter Weltkrieg hieß.

Zweiter Weltkrieg: Dort, datierbar durch einen falschen Pass, liegen meine Wurzeln. Zweiter Weltkrieg: einzig und unteilbar. Einziger Mahlstrom, der fast jeden Fleck der Erde erfasst, jedes Tier und jede Landschaft, der die Menschen durcheinanderwirbelt und zugleich eint und trennt. Zu groß, um ihn ganz zu erfassen, zu fern seine Protagonisten, um sie ohne das Vehikel der Fiktion zu erreichen. Und dennoch sind ihre Leben und ihre vom Vergessen zerfressenen Tode zu wahr, um sich nicht möglichst dicht an die Quellen zu halten, die ihre Bahnen beschreiben und ihren Weg von Kontinent zu Kontinent, von der Vergangenheit in die Gegenwart belegen.

Mein Vater hat nie in Montecassino gekämpft, er ist nie ein Soldat von General Anders gewesen. Doch vielleicht ist durch den Trichter aus Bergen, Tälern und Flüssen in der Ciociaria etwas von mir hindurchgegangen: ein Stück meiner selbst, verloren und wiedergefunden an einem geografischen Punkt, an einem Ort, der uns alle mit einschließt.

ERSTE SCHLACHT

12. Januar – 12. Februar 1944

Sergeant John »Jacko« Wilkins, 36. Division »Texas«

San Marcos, Texas, 15. Juni 1939 – Cassino, 20. Januar 1944

Oh, die gelbe Rose von Texas ist das einzige Mädchen, das ich liebe,

Ihre Augen sind blauer als die texanischen Himmel,

Ihr Herz ist so groß wie Texas, und wohin ich auch gehe,

Werde ich mich ewig an sie erinnern, weil ich sie so sehr liebe.

Zahlreiche Rosen blühen entlang des Wegs,

Aber mein Herz ist in Amarillo, und dort werde ich bleiben,

Mit der gelben Rose von Texas, also muss ich schnell dorthin,

Denn ich war ihre erste Liebe und will die letzte sein.

Die Augen von Texas sind über euch, den lieben langen Tag,

Die Augen von Texas sind über euch, ihr entkommt ihnen nicht,

Glaubt nicht, ihr könntet ihnen des Nachts entfliehen oder am frühen Morgen,

Die Augen von Texas sind so lang über euch, wie Gabriels Horn ertönt.

The Yellow Rose of Texas, Volks- und Marschlied der Konföderierten Staaten von Amerika

Sergeant John »Jacko« Wilkins – und jemanden wie ihn hat es gegeben – war der fünfte Sohn bescheidener Rancher aus San Marcos, Texas, die von der Weltwirtschaftskrise getroffen wurden. Er war kaum älter als neunzehn, als er von zu Hause fortging. Nicht wegen des Hungers, denn die Wilkins hatten nie ernstlich darunter gelitten, sondern all der Entbehrungen wegen, die ihm eine staubige, schmachvolle Kindheit beschert hatten. Inzwischen liefen die Dinge besser, doch vier Jungs waren dennoch zu viele, um mit fünfzig Longhorns über die Runden zu kommen, und die Übernahme der Farm stand dem Erstgeborenen Henry jr. zu. Als Jacko der Familie mitteilte, er wolle sich zur Nationalgarde melden, zeigten sich denn auch alle einmütig stolz. Der Ruhm, aber vor allem der Schmerz, von Fort Alamo bis zum Bürgerkrieg, gehörten der Vergangenheit an, die 1918 an der Marne gefallenen Landsleute waren fern, und »Frankreich« war ein Wort, um Parfums oder Seidenstrümpfe zu verkaufen, die sich niemand leisten konnte. Jetzt war die Nation groß, geeint und gestärkt, und »dem Heimatland zu dienen« bedeutete vor allem, Brände zu bekämpfen, die die Weidegründe bedrohten. Dass diese Brände durch Dürre oder menschliche Gier entfacht wurden, die zumeist unsichtbar und unauslöschlich blieb, stand auf einem anderen Blatt. Um jeden Acre texanischen Boden zu kämpfen blieb dennoch unerlässlich.

Henry jr. brachte Jacko mit dem grünen Truck bis nach Austin, seine Mutter umarmte ihn, und um sich die Rührung nicht anmerken zu lassen, ging sie einen Extra-Proviant an Trockenfleisch und Eingemachtem holen. Sein Vater sagte: »God bless you, son«. Es war das Jahr 1939.

Als John »Jacko« Wilkins zu Thanksgiving nach Hause kam, erzählte er, er habe ein Mädchen kennengelernt, Sally, und nach kurzem Zögern zog er eine Fotografie hervor, auf der sie freimütig lächelnd die obere Reihe ihrer nicht ganz geraden Zähne zeigte. Am unteren Rand des einer Westernlandschaft nachempfundenen Hintergrunds stand die Signatur des Fotografen aus San Antonio. Sally trug ein Blumenkleid, und ihre Beine steckten in einem Paar Cowboystiefel. Jacko wirkte daneben recht steif und linkisch in seiner Uniform. Aufrecht wie eine Säule und doch beinahe abwesend stand er da, woraus seine Mutter schloss, dass die Sache ernst war. Leider konnte Jacko zu Weihnachten nicht nach Hause kommen, weder allein noch mit seiner Verlobten, und am Erntedanktag des folgenden Jahres war es zu spät. Am 25. November 1940 wurde die gesamte texanische Nationalgarde zur 36. Division der Armee der Vereinigten Staaten.

Es lag in der Luft. Es lag in der Luft, seit die Hauptstadt der Seidenstrümpfe und Parfums im Juni gefallen war und der Blitz über London niederging, es lag in der Luft, seit Präsident Roosevelt nach dem Sommer das Gesetz zur ersten Wehrpflicht in Friedenszeiten verabschiedete, das Männer von einundzwanzig bis fünfunddreißig Jahren einbezog. Doch in San Marcos hielt man lieber an dem Gedanken fest, der Sohn und Bruder hätte weiterhin texanischen Boden zu verteidigen.

Zu Weihnachten wurden Jacko Wilkins und die 36. Division nach Camp Bowie, Texas, verlegt. Am Tag ihrer Ankunft, dem 14. Dezember 1940, tobte der heftigste Eissturm, den es in der Region je gegeben hatte. Einige deuteten ihn als unheilvolles Zeichen, die meisten aber, darunter Wilkins, nahmen das Wüten der Elemente als militärische Herausforderung. Es folgten monatelange Manöver und Übungen kreuz und quer durch die Nation, in Louisiana und in Carolina, in Camp Landing, Florida, in Camp Edwards, Massachusetts, und unweit von dort, wo die Pilgerväter an Land gegangen waren, in Martha’s Vineyard. Aus Monaten wurden vom Takt der Urlaube bestimmte Jahre, die Urlaube ein Sichaufteilen zwischen zu Hause und Sally, die Aufenthalte in San Marcos immer kürzer, nachdem alle zusammengekommen waren, um die Hochzeit zu feiern.

Kurz bevor er sich am 2. April 1943 im Hafen von New York einschiffte, schrieb Jacko an die Familie.

Ich bin stolz und glücklich, dass ich die gesamten Vereinigten Staaten kennenlernen durfte. Ich habe den Ozean gesehen, ich habe Palmen und Pinien gesehen, ich habe Tage mit Jungs verbracht, deren Ausdrucksweise mir so fremd und schwer verständlich war, wie es die meine für sie gewesen sein muss, ich habe mich an den Gedanken gewöhnt, dass viele von ihnen Schwarze sind. Dieses Land ist von einer Größe, die Ihr Euch nicht einmal vorstellen könnt, es ist in der Welt fraglos ohnegleichen und so stark und im Recht, dass wir bald mit dem Sieg in der Tasche heimkehren werden. Macht Euch um mich keine Sorgen, seid getrost, dass ich meine Pflicht erfülle, und das von ganzem Herzen.

Während der Atlantiküberquerung litt Jacko mehr als einmal an Seekrankheit und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Nach der Ankunft im algerischen Arzew, wo die Vorbereitungsübungen für die Landung in Europa begannen, kollabierten zahlreiche Kameraden unter der Hitze und klagten über Durchfall, doch Wilkins blieb standhaft, schluckte Staub und benetzte die aufgesprungenen Lippen mit Speichel. Im marokkanischen Rabat wurde er befördert. Jacko konnte von Kindheit an schießen, auch krankes Vieh hatte er getötet, doch sein Talent mit der Pistole hatte sich bei der Nationalgarde gezeigt, als er eine Klapperschlange mit dem ersten Schuss in den Kopf getroffen hatte. Ein hervorragender Schütze, zäh und diszipliniert, von positivem Wesen und der Mission mit patriotischem Eifer verschrieben. Amerika hatte sich ein riesiges Kriegsheer geschmiedet, doch in diesem mächtigen, schlammgrünen Strom war jeder kostbar, der zu führen und zu befehlen verstand.

Große Neuigkeit: Ich wurde befördert. Ich habe noch keinen Kraut gesehen und bin schon Sergeant! Major Stratford hat zu mir gesagt, »Sieh zu, dass du dich als würdig erweist, Junge«, aber ich habe es als Kompliment genommen. Zum Feiern sind wir in die Stadt gegangen, in ein Bauchtanzlokal. Hier kommt auf zwanzig Männer nur eine Frau, ausnahmslos von Kopf bis Fuß verhüllt, häufig sieht man nur ihre Augen, manchmal auch tätowierte Muster über den Brauen. Das sind Stammesbräuche, und mit den Männern, so wurde uns gesagt, legt man sich besser nicht an. Trotzdem kann ich die Jungs verstehen. Plötzlich hatten sie diese zwischen Busen und Nabel nackten Frauen vor sich, die aufreizend mit Bauch und Hüften wackelten, und konnten einfach nicht mehr an sich halten. Natürlich hatten wir auch getrunken. Die Jungs steckten ihnen Dollars in den Büstenhalter oder in die Hosen: Das ist hier so üblich. Dann wollten sie mich in ein Bordell abschleppen, aber ich weigerte mich. Ich hoffe, es stört Dich nicht, dass ich Dir diese Dinge schreibe. Ich will damit nur sagen, dass ich in dem Moment an Dich gedacht habe und Du mir entsetzlich gefehlt hast. Du kannst Dir nicht vorstellen, welche Sehnsucht und Einsamkeit einen manchmal überkommt. Zum Beispiel abends auf dem Feldbett, wenn man knochenmüde ist, aber nicht einschlafen kann. Du kannst dir nicht vorstellen, in welcher Welt ich gelandet bin: arm, alt, dreckig, Menschen, die in dieser unverständlichen kehligen Sprache krakeelen, bettelnde Kinder, die einen wie Fliegen umschwirren, sengende Sonne und Staub. Inzwischen hoffe ich nur, dass sie uns bald zum Kampf in den echten Krieg schicken, damit all die hässlichen Gedanken ein Ende haben. Ich liebe Dich, Sally, das war es, was ich Dir sagen wollte.

Doch der marokkanische Sommer wollte nicht enden. Im August konnte Jacko die Augen nicht mehr davor verschließen, dass seine Kameraden sich einer nach dem anderen mit kleinen Jungen verdrückten, häufig mit denselben, Faid, Cherif und Mohammed, und er hielt sie sich mit zahllosen Zigaretten im Tausch für Datteln auf Abstand. Voll fassungsloser Wut sprach er mit Sallys Foto aus San Antonio darüber – »Sie versuchen hier, tüchtige Soldaten aus uns zu machen, Sally«, sagte er, »und machen uns zu Schwuchteln« –, und manchmal masturbierte er sich verzweifelt in den Schlaf.

Als sie am 9. September 1943 dem Krieg entgegenfuhren, glitten sie in einer so sternklaren Nacht über ein so spiegelglattes Meer, dass die Soldaten, als General Eisenhowers Stimme aus den Lautsprechern schallte und die Kapitulation der Italiener verkündete, wie auf einem Kreuzfahrtschiff zu tanzen anfingen. Am Strand von Paestum, wo sie vor Morgengrauen anlandeten, war vom Feind nichts zu sehen, doch beim Vorrücken im ersten Tageslicht traf man auf seine entkörperte Gegenwart: Stacheldraht auf den Dünen, Minen, dann ein paar Jagdbomber, das Feuer der versteckten Panzer, die sie erwarteten, deutsche Mörser und Maschinengewehre auf den mittelalterlichen Türmen der Stadt. Mit beißendem Qualm in den Augen erhaschten sie einen Blick auf den griechischen Tempel, dem Gott jenes Meeres geweiht, das sie ausgespien hatte, ohne sich zu wundern, dass er unversehrt geblieben war. Endlich nahmen sie Paestum ein, erschöpft und verstört, gekämpft zu haben. Wer von ihnen abermals in diese Gegend kommen sollte – ob schon nach einigen Monaten oder erst ein halbes Jahrhundert später –, sollte beim Anblick des Poseidontempels wieder dieselbe Verblüffung empfinden, Markstein des unbewussten Moments, in dem sich die Erkenntnis, ein Überlebender zu sein, auf ewig eingeschrieben hatte. Doch damals konnte Sergeant Wilkins nichts weiter tun, als rennen und den Blick nach vorn zu richten, ohne die Gefallenen zu sehen, ohne dem Schauder nachzugeben, sobald er mit seinen Kampfstiefeln gegen einen von ihnen stieß und die grausige Weichheit eines menschlichen Körpers spürte. Er machte seinem Trupp ein Zeichen, lud und schoss. Zwei Tage später erfolgte vom Boden und aus der Luft der gnadenlose Gegenangriff. Während eines der Rückeroberungsgefechte um Altavilla Silentina wurde Jacko von einer Maschinengewehrsalve an der Brust verwundet, während seine Jungs sich gerade noch rechtzeitig auf den Boden werfen und tags darauf zurückerobern konnten, was von der Gemeinde noch übrig war. Während seiner Genesung hörte Wilkins Geschichten aus Neapel, wo Krieg und Armut jedwede Ordnung zunichtegemacht hatten, und mochten ihm diese Schilderungen übertrieben erscheinen, wie es solche Geschichten bisweilen sind, um einen Bettlägerigen ein wenig aufzumuntern, musste er doch den Berichten glauben, die ihn über die Geschehnisse an der Front auf dem Laufenden hielten. Zwei seiner Männer waren beim Angriff auf das Dörfchen San Pietro gefallen. Einer hatte sein Leben auf den Hängen des Monte Lungo gelassen, ein weiterer war von einer Mine der Volturno-Linie zerfetzt worden. Es war die Feiertagszeit zwischen Halloween und Weihnachten.

Jacko empfand es als seine Pflicht, den Angehörigen und Verlobten persönlich zu schreiben, was ihn in eine haltlose Wehmut stürzte. Aber es half ihm, die Langeweile in Schach zu halten, die zermürbend und zugleich von rastloser Spannung durchsetzt war und im gänzlichen Gegensatz zu den Gefechten stand, von denen er ausgeschlossen war. In Gedanken kehrte er zu dem Augenblick zurück, in dem sein soeben begonnener Krieg um Haaresbreite zu Ende gewesen wäre, nicht mehr als eine wirre Erinnerung, doch im Grunde gab es nicht viel zu begreifen. Was er begriff, war, dass die Verwundung ihn gerettet hatte, und er schwankte zwischen Schuldgefühl und Gottesdankbarkeit. Er versuchte, sich an Letztere zu halten, wappnete sich mit Geduld und übte sich in Vergessen und Zuversicht. Bis eines Tages einer seiner Jungs aus Indiana auftauchte und ihm aufgelöst erzählte, er habe sich während des Ausgangs die Syphilis bei einer neapolitanischen Prostituierten aus dem Viertel Pallonetto geholt, schön sei sie, wunderschön, aber – und er stammelte schluchzend wie ein Kind – sie sei ein Mann, und jetzt schäme er sich so sehr, dass er ebenso gut sterben könnte. Sergeant Wilkins beschwichtigte ihn, so gut er konnte, und ertappte sich dennoch bei dem zornigen Verlangen, diesen beschissenen Krieg zu führen, ihn zu gewinnen und heimzukehren, ihn zu führen und zu siegen, die Ziele und das große Hitlersche Übel, das man ihm eingebläut hatte, klar vor Augen, ohne jemals innezuhalten oder sich von dieser von Elend und Wahnsinn zerfressenen Welt anstecken zu lassen.

Im Januar verließ John Wilkins mit einem Verstärkungskonvoi das Lager im Schatten des Hauptquartiers der Alliierten, das im Königspalast von Caserta untergebracht war. Sie sollten die amerikanischen Stellungen im Nordosten kurz hinter der Grenze zu Latium erreichen, seit auch das letzte Gebirgsbollwerk, der Monte Trocchio, eingenommen und überwunden worden war. Es regnete. Es regnete fast immer, und auf den Gebirgsstraßen verwandelte sich das Wasser in klebrigen Schneeregen und schließlich in Schnee. Es war sehr viel kälter, als man es von einem Land namens Italien erwartet hätte, sehr viel kälter als in Texas, und zahlreiche Lastwagen blieben im Schlamm stecken, vor allem bergan. Doch Jacko konnte es kaum abwarten, endlich sein Regiment zu erreichen, das 141. Der 36. Division »Texas«, und seine innere Haltung entsprach seiner körperlichen Verfassung, die inzwischen gänzlich wiederhergestellt war. Er war ausgeruht, gut genährt, rasiert, flachste lautstark mit seinen Kameraden. Doch etwas von dem, was er sah, sammelte sich auf dem Grund seiner blauen Augen: Dörfer in Schutt und Asche, verheerte Olivenhaine, Kinder ohne Schuhe oder mit Lumpen an den Füßen neben ihren Müttern, die die Kleinsten auf dem Arm trugen und undefinierbare Bündel auf dem Kopf balancierten. Es war unklar, wohin diese Leute unterwegs waren, woher sie kamen, doch sie wanderten die Straße mit den monotonen Schritten eines Menschen entlang, der noch einen weiten Weg vor sich hat.

Italien war kalt, eng und vor allem dunkel, restlos dunkel: die Augen, Haare und Gesichter, die zerschlissenen Kleider und geschwärzten Felder, die geduckten, grauen Häuser, die niedrigen, grauen Himmel, die winterliche Finsternis. Und die nackten Füße der Kinder, die Füße dieser Kinder im Regen, die mit gleichgültigem Platschen im Schlamm versanken, ein Geräusch, das ihn, so ahnte Jacko, bis nach Hause begleiten würde. Womöglich würde er den nächtlichen Anblick der Toten, während er rannte und kämpfte, hinter sich lassen können, aber nicht diese Füße, die ihn überholten, während der Konvoi mühsam vorankroch, und wenn sie näher kamen, vertrieb er sie mit Schokolade oder Kaugummi oder einer Zigarette und sagte, »toma, amigo«. Erst dann wurden sie für einen kurzen Moment von großen, beklommenen Augen verdrängt, ehe eine verdreckte Hand nach den Gaben griff, etwas wie »senchiù« über die rissigen Lippen kam und die Füße davonflitzten und den Schlamm höher spritzen ließen als zuvor. Dann lachten alle. Jedes Mal blickte sich Sergeant Wilkins nach jemandem um, um die Bemerkung loszuwerden, diese Kinder seien noch viel übler dran als die ärmsten Kinder der campesinos bei ihnen daheim, und jedes Mal fiel ihm ein, dass er unter den Soldaten, die auf diesem Laster saßen, der einzige Texaner war. Wer weiß, ob die anderen, die zur Division »Texas« unterwegs waren, sein Spanisch drollig gefunden hatten.

Am Tag, als sie das Lager erreichten, wurde Wilkins von einer Erleuchtung durchzuckt und er konnte sich selbst von außen sehen. Er war der Held eines Comics, den er seit seiner Zeit bei der Nationalgarde liebte, Flash Gordon, der auf einem fremden Planeten gelandet war, während die übrig gebliebenen Männer seines Trupps – außer den vier Gefallenen waren zwei im Kampf schwer verwundet worden – sich äußerlich dem eroberten Land angeglichen hatten: lange Bärte, Augenringe, die Gesichter verschattet von der Mangelernährung, der Witterung, dem dünnen Schleier Dreck oder Ruß oder sonst etwas, den selbst die Ruhetage nicht hatten fortwischen können. Bald würde auch er so werden, es war seine Pflicht. Es war sogar ein Privileg, vom Planeten Amerika bis zu diesem entscheidenden Punkt gekommen zu sein, um die Gustav-Linie zu durchbrechen, die letzte Verteidigungslinie, die ihrem Vormarsch auf Rom noch im Weg stand. Doch nachts fand er keinen Schlaf. In drei Monaten waren die Gesichter der Kameraden, die seit der Landung in Salerno an seiner Seite gewesen waren, um Jahre gealtert. Jacko versuchte sich einzureden, dass Billy Morrison, Stanley Laughlin, Richard Gonzales und Jeff McVey zu Männern geworden waren, wie es im Krieg unvermeidlich war, doch auf seiner Brust spürte er die Hand lasten, mit der er ihnen zur Begrüßung auf die Schultern geklopft hatte, und sie fühlte sich fremd und gezeichnet an. Zum Glück schlief er ein, ehe ihm bewusst wurde, dass dieses Gefühl Angst war.

Der nächste Morgen war eisig, aber klar, und laut Vorhersage sollte sich das Wetter in den folgenden Tagen nicht ändern. Nach einem Frühstück mit Kaffee und Eipulver wurden Wilkins und seine Truppe zur Erkundung auf den Monte Trocchio geschickt. Die Sicht war hervorragend, die Deutschen waren dort unten, füllten das Liri-Tal zu ihren Füßen, doch der Blick wanderte immer wieder zu dem Gebäude auf dem Berggipfel, der vor ihnen aufragte. Die Abtei von Montecassino erhob sich auf dem Felsen, ihre wuchtige Silhouette war so vollkommen, so schön, klar und makellos, dass sie der festen Burg glich, als die Gott »The Lord is My Rock and My Fortress« besungen wird. Die Deutschen hatten sich ins Zeug gelegt, um sie zu schützen, und eine Sicherheitszone um die Wiege des abendländischen Mönchtums gezogen, deren Fundamente der heilige Benedikt im Jahr 526 gelegt hatte, als auf dem neuen Kontinent noch nicht einmal die Wikinger angelandet waren. Der Offizier, der sie über die strategische und kulturelle Bedeutung der Abtei aufklärte, hatte sachlich geklungen, doch Jacko meinte in seiner Stimme einen unwilligen Unterton wahrzunehmen. Oder vielleicht war er es, der eine gänzlich neue Feindseligkeit gegen einen Feind verspürte, der in kurzer Zeit so vielen jungen Männern das Leben genommen hatte und nun alles daransetzte, diese Steine unversehrt zu lassen.

Doch zum Grübeln war keine Zeit. Man musste ins Tal zurück und sich für die entscheidende Stunde bereit machen. Seit einigen Tagen hatte die alliierte Offensive begonnen, im Nordwesten hatten die Franzosen in den Bergen angegriffen, im Südwesten versuchten die Briten, den Garigliano zu überqueren, doch bislang hatten diese Bemühungen keine durchschlagenden Erfolge gezeitigt, und man harrte auf das Eingreifen der Amerikaner. Ihnen, der 36. Division »Texas«, wurde die Ehre und die Bürde zuteil, die Gustav-Linie zu durchbrechen.

Aufklärungstrupps wurden vorangeschickt, die heil und gesund zurückkehrten. Daraufhin zogen die Pioniere los, um das Gelände zu entminen, Stacheldraht zu entfernen, die Strecke neu zu berechnen und die entminten Wege mit weißem Band zu kennzeichnen. Am Abend des 19. Januar bekamen die Soldaten des 141. und des 143. Regiments Steak zum Abendessen, für jeden ein Beefsteak, das immerhin in seiner Absicht an die Steaks erinnerte, die man in Texas aß, doch verblüfft stellte Jacko fest, dass seine an Konserven und Pulvernahrung gewöhnten Soldaten stumm vor sich hin kauten.

»Die haben wohl rein gar nichts mit denen zu tun, die deine Frau dir brät«, wandte er sich scherzhaft an Gonzales, der neben ihm saß und aus der Nähe von Houston stammte.

»Nein, Sir«, antwortete der und senkte den Kopf wieder über seinen Teller.

»Schluckst du mit jedem Bissen auch ein wenig Heimweh hinunter? Wir wollen alle bald nach Hause zurück, stimmt’s, Rick?«

»Sicher, Sir, aber ich weiß nicht, ob uns das gelingt, denn jedes Mal, wenn sie uns diesen Fraß vorsetzen, schicken sie uns am nächsten Tag ins Gefecht, und jedes Mal kommt irgendwer nicht zurück.«

»Na, wenigstens lassen sie uns mit vollem Bauch krepieren!« Jeff McVey begleitete seinen Zwischenruf mit einem Lachen und blickte Verständnis suchend zu seinem Vorgesetzten hinüber.

»Ich sage dir was, Jeff: Wenn wir hier das blutige Fleisch unseres heimischen Viehs zwischen die Kiemen kriegten, hätten wir die Krauts schon zum Teufel gejagt!«

Mit diesem Scherz von Sergeant Wilkins wurde das letzte Abendmahl beendet.

Am folgenden Tag brachen sie auf Anweisung des Oberbefehlshabers, General Clark, nach Einbruch der Dunkelheit auf. Man musste zum Fluss Rapido gelangen, die Pioniere eine Brücke bauen lassen, sie überqueren und am anderen Ufer in zwei Marschsäulen von unten und oben auf Sant’Angelo in Theodice vorrücken, in dessen Trümmern sich der Feind verschanzt hatte. Das Terrain entlang des Flusses war fruchtbar, jedoch weich und sumpfig, die Deutschen hatten einen Damm gebaut, um die Auen zu fluten, ein Vorankommen mit motorisierten Fahrzeugen und selbst mit einem Panzer war unmöglich. Somit war es allein an ihnen, den fünftausend Soldaten der 141. und 143., sich mitsamt der vier Handgranaten, hundertsechsunddreißig Schuss Munition, Trinkflaschen, Kochgeschirr, Rationen sowie Booten oder Schlauchbooten zur Flussüberquerung auf dem Rücken durch den Schlamm zu kämpfen. Gebeugt unter ihrer Last, marschierten sie in stummem Gänsemarsch voran und folgten dem weißen Band, das, von den Amphibienfahrzeugen überrollt, im Morast versank. Hätten sie einen Gedanken darauf verwenden können, oder wären sie Deutsche gewesen, wäre ihnen vielleicht der kleine Junge in den Sinn gekommen, der, ausgesetzt im tiefen Wald, Brotkrumen hatte fallen lassen, um den Rückweg zu finden. Doch die Vögel flatterten herbei und fraßen sie auf, und Hänsel und Gretel verliefen sich und kamen an das Pfefferkuchenhäuschen. In der vom Flussnebel verdichteten Finsternis kamen sie vom Weg ab und gerieten in vermintes Gelände, ein Kamerad wurde in die Luft gesprengt, und die Explosion dieser ersten Mine verriet dem Feind, dass sie anrückten und wo sie sich befanden. Die Deutschen eröffneten schweres Feuer mit Mörsern und Granaten, sie schossen aus Kasematten, die sie in Erwartung des Feindes vor geraumer Zeit errichtet hatten, sie hatten sich in den Schützengräben verkrochen, sie waren überall, in der Luft und unter der Erde. John Wilkins sah Billy Morrison fallen, ohne haltmachen und sich klar werden zu können, ob ihn eine Mine oder irgendetwas anderes erwischt hatte, das von jenseits des Flusses gekommen war, denn nun nahmen ihn die Nebelwerfer unter Beschuss, die man in Screaming Mimis umgetauft hatte, ein Backfischname, der ihr eindringliches Heulen beschwor. Auch Billy Morrison schrie, er atmete also noch, das genügte. Sie drängten vorwärts, rannten, duckten sich, stolperten, schlitterten über den durchnässten oder vereisten Grund, stürzten, rappelten sich hoch, krochen, bewegten sich kriechend voran. Sie verloren die ausgeweideten Boote Stück um Stück, sie verloren Mann um Mann, sobald sie haltmachten, um das feindliche Feuer zu erwidern, das unausgesetzt fortdauerte und nicht einmal ansatzweise nachließ. Sie erreichten den Fluss an einem Punkt, an dem die Böschung steil abfiel, hatten Mühe, in die Wasserfahrzeuge zu springen, die bereits ganz schlaff waren wegen der Einschusslöcher sämtlicher deutscher Maschinengewehre, deren Salven nun in das aufgewühlte Wasser prasselten, einige Schlauchboote kenterten, einige Soldaten begannen, in diesem Fluss zu ertrinken, der eigentlich Gari hieß, jedoch eisig und angeschwollen und »rapido« war, wie der Name besagt, mit dem er sich auf ewig in das amerikanische Gedächtnis einbrennen sollte. Richard Gonzales war von einem Granatsplitter getötet worden, der ihn am Hals getroffen und die Schulter durchschlagen hatte, mit hängendem Kiefer war der Kopf aus dem Schlauchboot gekippt, das durch das Körpergewicht Schlagseite bekam. Stanley Laughlin landete im Fluss, versuchte vergeblich, mit der Ausrüstung am Leib zu schwimmen. Sergeant Wilkins brüllte ihm zu, er solle sich festhalten, und musste mit ansehen, wie er von der Strömung fortgerissen wurde, wie er Rucksack und Gewehr von sich warf, verzweifelt um sein Leben kraulte, und Schluss. Sergeant Wilkins musste an anderes denken, den im Boot verbliebenen Jungs weitere Befehle zubrüllen. Sergeant Wilkins war der Erste, der einen Fuß auf das andere Ufer setzte, die Waffe auf das verminte Dunkel gerichtet, derweil Jeff McVey auf allen vieren das Schlauchboot festhielt. Sergeant Wilkins wurde frontal getroffen, stürzte rückwärts ins Wasser. Sergeant Wilkins verschwand in der Nacht des 20. Januar 1944 im Fluss Rapido.

Die Soldaten, die den Fluss nicht überquert hatten, und die Handvoll, die es geschafft hatten, schwimmend zum anderen Ufer zurückzukehren, das nun mit Leichen überhäuft war, zwischen denen man sich einen Weg bahnen oder hinter denen man sich verschanzen musste, wurden neu eingeteilt. Am 22. Januar wurde ein zweiter Angriff befohlen. Als auch dieser auf beinahe identische Weise scheiterte, gewährten die Deutschen eine Waffenruhe, um die Gefallenen zu bergen. John »Jacko« Wilkins’ Leichnam wurde nicht gefunden. Mit den Toten, Verwundeten und Vermissten beliefen sich die Verluste auf 1681 Mann, so die offiziellen Zahlen, persönlich verlautbart von General Clark, diesem »goddamn’ Yankee«, der sie, die Jungs aus Texas, in den Tod geschickt hatte, damit der Rest seiner 5. Armee zeitgleich in Anzio landen konnte, und es zählte nicht, dass es noch ein paar von ihnen in der 36. Division gab. Es war, als wären sie alle dort gewesen, am verfluchten Rapido, als wäre die verdammte Gustav-Linie zur verdammten Mason-Dixon-Linie geworden, und als wären sie, die Jungs aus Illinois, Maine und New Jersey und das ganze Kanonenfutter aus den Südstaaten, samt und sonders im Süden gelandet, während im Norden, wo man mit dem Sieg rechnete, niemand sonst war als ihr gottverdammter Oberbefehlshaber. Während er sich, getauft von dem rot gefärbten Wasser, das ihm am Körper gefror, zur Ausgangslinie schleppte, begann der einfache Soldat Jeff McVey, der als Einziger mit dem Leben davonkam und die folgenden Schlachten in Italien und Frankreich mit dem Verlangen überstand, ihn dafür bezahlen zu lassen, General Clark in breitestem Texanisch zu verfluchen.

Somit sei beschlossen, dass die Männer des Vereins der 36. Division, die sich in Brownwood, Texas, versammelt haben, beim Kongress der Vereinigten Staaten eine Petition einreichen, um eine Untersuchung zum Fiasko am Fluss Rapido einzuleiten und die notwendigen Schritte zur Korrektur eines Militärsystems zu unternehmen, das es einem unfähigen und unerfahrenen Offizier mit hoher Befehlsgewalt wie General Mark W. Clark erlaubt, die jungen Leben dieses Landes zu zerstören, und um zu verhindern, dass zukünftige Soldaten auf derart sinnlose Weise geopfert werden.

Genau zwei Jahre später, am 20. Januar 1946, gehörte McVey zu den Veteranen, die dieses entscheidende Dokument unterzeichneten. Während er mit ihnen ein auf dem Mesquite Grill zubereitetes Steak zu Abend aß, dachte Jeff an Wilkins und an die anderen Jungs, die am Fluss gestorben waren, erfüllt von dem inständigen, zornigen Wunsch eines Verratenen, diese in ihrem Gedenken verzehrte Mahlzeit möge die Urteilsforderung gegen den verdammten Yankee Mark Wayne Clark bestärken.

Doch das Gericht der Vereinigten Staaten sprach den General frei.

ZWEITE UND DRITTE SCHLACHT

15. Februar – 24. März 1944

Charles Maui Hira, 28. Bataillon der Maori, und sein Enkel Rapata Sullivan

Hopuhopu, Waikato, Neuseeland, Oktober 1939 – Wellington 1946

Auckland, Neuseeland, 15. Mai 2004 – Cassino, 18. – 21. Mai 2004

Der Ruf der Wüste

damit ich am Punkt 209 stehen

Und der Ruf von Punkt 209

und euch Lebewohl sagen kann.

Haben uns aus der Ferne hier versammelt

Haere ra, Haere ra, Haere ra

Im sechsten Monat des Maori-Kalenders

In der sechsten Jahreszeit

Im sechsten Himmel

Hiob sagte: Nichts brachten wir

Das äußerlich sichtbare Zeichen einer

mit uns in diese Welt,

inneren geistigen Gnade

nichts nehmen wir mit uns fort.

Das himmlische Kanu des

Der Herr hat gegeben, der Herr hat

28. Maori-Bataillons

genommen.

Haere ra, Haere ra, Haere ra

Das ist die Macht Gottes.

Lebewohl, Lebewohl, Lebewohl.

Ich sehe euch noch: ihr Kinder

Lebt wohl, ihr, die ihr eure Leben

des Kriegsgottes Tumatauenga

Für eure Brüder hingegeben habt

Euer Volk beweint euch noch,

Die heiligen Berge Griechenlands

Euer Volk grämt sich noch immer

Kretas, Ägyptens und Italiens werden

über euch.

fortan auf ewig über euch wachen

Ihr seid gefallen: Wir fragen warum

Mein Herz glaubt, dass ihr

Aber werden auf ewig euren Verlust

den Weg geebnet habt

beweinen.

Haere ra, Haere ra, Haere ra

Gebet des Priesters Wiremu Te Tau Huata am Punkt 209, Enge von Tebaga, Tunesien

Charles Maui Hira hatte kaum das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet – das Mindestalter, um sich beim 28. Bataillon zu melden –, und war noch nicht darüber hinaus, als er am 1. Mai 1940 im Hafen von Wellington auf die Aquitania eingeschifft wurde. Bei seiner Ankunft in Montecassino war er fast genauso alt wie sein Enkel Rapata, der viele Jahre später an seiner statt zum Gate des Fluges Auckland-Dubai unterwegs war, auf der ersten Etappe einer Reise, für die der neuseeländische Soldat Charles vier Jahre gebraucht hatte. Vier Jahre: davon die ersten Monate an Bord eines Schiffes, einem Ziel entgegen, das inmitten der Ozeane unerreichbar schien, zumal lange unklar blieb, wohin sie überhaupt unterwegs waren. Sicher war nur, dass sie in den Krieg zogen.

Rapata Ihipa Sullivan hatte sich nie aus Neuseeland fortbewegt, und so dachte er am Flugsteig wieder an seinen Großvater und versuchte sich einzureden, dass die siebenundzwanzig Stunden in der Luft, die ihn erwarteten, sofern alles glattlief, nichts dagegen waren. Damit versuchte er, der Flugangst und der Müdigkeit Herr zu werden. Er hatte schlecht geschlafen, in aller Hast gepackt, und wäre jetzt lieber nicht dort gewesen. Doch Charles Maui Hira hatte diesen Flug – den besten überhaupt, ein Emirates-Flug mit nur einer Zwischenlandung – bereits vor Monaten gebucht und für diese Reise sein Leben lang Geld beiseitegelegt.

Es war nicht fair, dass sein Großvater einfach so abgetreten war, ganz plötzlich, wie ein Kühlschrank oder wie sein mehrmals repariertes Radio. Es war nicht fair, dass er ausgerechnet in dem Moment hatte sterben müssen, als er nach Italien zurückkehren wollte. Den Orden, den Rapata fest in der Faust hielt, während er auf den Start der Maschine wartete und unbehaglich in einem der arabischen Flugzeugsitze saß, angeblich die breitesten und bequemsten überhaupt, hätte Charles Maui Hira sich zur Feier des sechzigsten Jahrestages der Schlacht an die Brust heften sollen. Stattdessen hatte er ihn das letzte Mal im Sarg getragen: zwei Tage lang, ehe der Deckel geschlossen wurde und irgendjemand, der das Recht besaß, ihn zu berühren, ihn abgenommen und Rapata überreicht hatte.

Sein Vater war am Ende des letzten Bestattungstages eingetroffen und zu Rapata ins Marae gekommen, in dem Charles Maui Hiras Leichnam aufgebahrt lag. In Auckland sei viel Verkehr gewesen, hatte er gesagt, und er hätte eine weitere Ewigkeit gebraucht, um sich zur Versammlungs- und Gebetsstätte durchzukämpfen, vor der sich das ganze Dorf drängelte. »Sogar ein paar Morehu waren dort«, bemerkte er, »mit einer Menge Blech an der Brust.« Rapata hatte die Veteranen ebenfalls gesehen. Es kannte keinen von ihnen, doch die Uniformen und ihre vom Alter eher verhutzelten, denn aus dem Leim gegangenen Silhouetten hatten ihm verraten, wer diese Alten waren. Rapata hatte seinem Vater nicht geantwortet, dankbar, dass für die Kiri Mate das Sprechen Tapu war. Während der gesamten Dauer des Beisetzungsrituals war es verboten zu sprechen, den Leichnam zu berühren, zu essen: Doch galt dieses Verbot nur für die direkten Verwandten. Allen anderen war es gestattet, zu lachen und Witze zu machen, es war sogar willkommen, was also konnte man von seinem Vater anderes erwarten, als dass er sich über den Toten und seine Kameraden lustig machte? Immerhin war er überhaupt gekommen. Rapata sah zu seiner in Trauer gekleideten Mutter neben der Totenbahre hinüber, seine Mutter mit dem Kawakawa-Kranz auf dem Kopf, die, seit sie im Marae waren, so viel geweint hatte, dass sie ihren Ex-Mann nun mit roten, ernsten, trockenen Augen musterte. Sein Vater war zum Totenmahl geblieben und hatte sich während der Wache der po whakangahau betrunken, doch am Morgen, als sie vom Friedhof zu Charles Maui Hiras Haus gezogen waren, um es mit Gaben und Gebeten zu reinigen, war er verschwunden gewesen. Seitdem hatte Rapata ihn nicht wiedergesehen. Es war ihm schleierhaft, wie sein Vater von seiner Italienreise erfahren hatte, und noch immer schimpfte er sich einen Trottel, seinen Anruf überhaupt entgegengenommen zu haben.

Das Geld, das war das Problem, das Geld des Großvaters, das Rapata für die Reise ausgab, dabei wäre es doch an der Regierung, es lockerzumachen, und an ihm, es zu behalten, es zu verprassen, es für Nutten auszugeben, sich eine Harley zu kaufen, sich sogar für einen Master in Wirtschaft einzuschreiben oder, wenn er beim besten Willen nicht wüsste, was er damit anfangen solle, einen Teil davon seinem Vater zu geben, der ein Mann voller Mana war, eines wahren Maori würdig, nicht wie der Alte, der sich, weil er ein halbes Jahrhundert zuvor am anderen Ende der Welt der Sache der Krone gedient hatte, noch immer für einen Helden hielt.

»Vergiss es«, erwiderte Rapata mit bitterem Lachen.

»Du bist ein Schwachkopf«, sagte sein Vater, und Rapata konnte hören, wie er sich an seine angeblichen Freunde wandte, die feine Entourage aus Kleinkriminellen und echten Verbrechern, und mit polternder Trinkerstimme wiederholte: »Mein Sohn ist ein Schwachkopf, ein Arschkriecher der Pakeha wie sein Großvater, ein halber Mensch, ein Kupapa.« Und er konnte sie lachen hören, konnte hören, wie sie den beschissenen Pub, in dem sie sich jeden Abend trafen, mit ihrem fetten, kriecherischen Lachen füllten.

»Okay, Papa, du hast deine Show vor deinen Freunden gehabt, jetzt reicht’s«, sagte er und legte auf.

Seit sein Vater fortgegangen war, und erst recht, seit er aufgehört hatte, für Rapata ein Vorbild zu sein – trotz der legendären Jugend als Verheißung der All Blacks und der militanten Jahre in der Bewegung für die Rechte der Maori, derer er sich, obwohl sich all das lange vor Rapatas Geburt abgespielt hatte, noch immer rühmte und unablässig davon sprach – war Charles Maui Hira zu seiner wichtigsten Bezugsperson geworden. Genau das war es, was sein Vater, sobald ihm wieder einfiel, einen Sohn zu haben, nicht verknusen konnte: dass Rapata diesen Mann, der in Tweedsakkos und mit pomadisiertem Haar in seinem Heimatdorf am Waikato geblieben war, ihm vorgezogen hatte, der aufgebrochen war, um die Stadt zu erobern, und stolz seine Mokos auf Rücken, Brust, Beinen und Gesäß zur Schau trug. Und genau das konnte Rapata ihm nicht verzeihen: die Erkenntnis, dass alles, was authentisch, mannhaft, als Ausdruck des Mana eines Kriegers erschien wie diese mit seinem kräftigen Körper verschmolzenen Tätowierungen, in Wirklichkeit falsch und gegenstandslos war wie eine Seifenblase, wie der endlose Schwachsinn, den sein Vater vom Stapel ließ, um Leute zu beeindrucken, die ihn nicht kannten, was womöglich sein einziges Talent, seine einzige wirkliche Begabung war.

Kupapa. Die Schmähung existierte, seit die Maori sich an die Pakeha verkauft hatten, um gegen andere Maori zu kämpfen, doch unter den Stämmen des Waikato, die 1863 die Invasion der Kolonialsoldaten zwei Jahre lang abgewehrt hatten, waren keine Diener der Weißen gewesen, und fast ebenso war es 1916 gewesen, als die Königin Te Puea Herangi verfügte, die Menschen ihrer Iwi sollten nicht für jene in den Krieg ziehen, die sie ihrer angestammten Erde beraubt hatten. Die Waikato gehorchten ihrer Herrscherin, bis die Pakeha sie per Gesetzesdekret dazu zwangen, und wer sich widersetzte, wurde gewaltsam in die Schützengräben Flanderns oder an die Dardanellen geschickt. Doch 1939 weichte Te Puea das Verbot auf, und es stand jedem frei, sich dem 28. Bataillon als Freiwilliger anzuschließen. Manche brachen aus Armut auf, manche, um ihr Heil in der Flucht zu suchen oder um die Welt zu sehen. Aus den Iwi des Waikato meldeten sich nur sehr wenige, weil sie sich dem Gründungsideal des Maori-Bataillons verschrieben fühlten. Für Sir Apirana Ngata, den Abgeordneten der Labour-Partei, war es nicht leicht gewesen, die Bildung einer reinen Maori-Einheit durch das Parlament zu bringen, die an der Seite der Pakeha kämpfen, ihr Blut mit dem der Pakeha mischen und einen Tribut leisten sollten, der sich mit der Anerkennung als ebenbürtige Neuseeländer aufwiegen ließ. Es galt den »Preis der Staatsbürgerschaft« zu zahlen, wie Sir Ngata es genannt hatte: Mit dieser Absicht hatte sich Charles Maui Hira als Freiwilliger gemeldet, und genau deshalb wurde er in seinem Dorf häufiger als jeder andere Kupapa genannt.

Sosehr er seinen Vater auch verachtete, schmerzte dieses Wort Rapata wie ein Brandmal, viel heftiger als damals das Moko, das er sich als Achtzehnjähriger auf den Arm hatte stechen lassen, oder als die Bemerkung seines Großvaters, der es an seinem noch jungenhaften Körper beäugte: »Na schön, Rapi, wie ich sehe, ist das heutzutage wieder üblich. Aber denk dran, selbst in alten Zeiten waren die mutigsten Krieger jene, die sich auf ihr inneres Mana verließen und es nicht nötig hatten, es mit einer Rüstung aus Tinte vorzutäuschen. Wir waren Krieger, das musste sogar Marschall Rommel zugeben, und keiner von uns war tätowiert.«

»Na schön«, hatte Rapata enttäuscht geknurrt, obwohl er wusste, dass er mit der Reaktion hatte rechnen müssen, »aber du könntest wenigstens zugeben, dass ihr kein Moko mehr trugt, weil die Pakeha euch eingetrichtert hatten, das wäre etwas für Wilde und Primitive, und ihr wolltet nicht mehr als Wilde und Primitive gelten, ihr wolltet sein wie die Pakeha.«

»Da magst du recht haben. Aber wir haben gekämpft.«

Charles Maui Hira hatte sein Leben lang beweisen wollen, dass sie Krieger gewesen waren, keine Kupapa, keine Kollaborateure. Jetzt, über dem Pazifik schwebend, begann Rapata sich zu fragen, ob Charles seinen Enkel auch deshalb mit solcher Hingabe aufgezogen hatte: Weil er jemanden seines Blutes brauchte, der ihm die Absolution erteilte, jemanden, der an den Gräbern der im Kampf gegen die Pakeha gefallenen Vorfahren für ihn bürgte, jemanden, der seine toten Kameraden besuchte, jemanden, an den er den Staffelstab weiterreichen konnte. Ein Flugticket zu bezahlen, anstatt es sich vom Staat schenken zu lassen, reicht offenkundig nicht aus. Der Preis der Staatsbürgerschaft war höher, es war der Preis des nicht in Blut dargebrachten Opfers, eine Schuld, die sämtliche Entbehrungen, Entsagungen und Ersparnisse der Nachkriegsjahre nicht hatten begleichen können.

Es mochte am Umstand des Fliegens liegen – an der klimatisierten Luft, dem Sicherheitsgurt, der ihn an den Sitz fesselte, dem arabischen Sitznachbarn, der die »Financial Times« las und ihm beim Umblättern jedes Mal in die Quere kam –, doch während er Richtung Italien flog, spürte Rapata, wie sich in ihm eine Leere auftat und der Verlust seines Großvaters ihn wie noch nie in die Tiefe zog. Bei der Beisetzung hatten ihn die Wut auf seinen Vater und die Gegenwart all der Morehu in Uniform geschützt, die Charles Maui Hira so in Erinnerung bewahrten, wie er erinnert werden wollte, dazu die Anteilnahme der Menschen, die Rapata seit seiner Kindheit kannte, die Geborgenheit des Marae, in dem er Hochzeiten, Feiern und Festessen erlebt hatte und in dem ihm selbst der Geruch des Holzes urvertraut war.

Einen Moment lang schloss er die Augen, kniff die Lider zusammen. Dann wandte er den Blick aus dem Fenster, hinter dem es außer Himmel nichts zu sehen gab.

Ehe Rapata Sullivan in dieser himmelblauen Leere gelandet war, hatte er Charles Maui Hiras Schmerz nie wahrgenommen. Nicht, weil sein Großvater die Schattenseiten der Kriegsjahre vor ihm verborgen gehalten hätte, sondern weil er sie ihm als nebensächlich beschrieben hatte, als erträglich angesichts der ruhmvollen Vergangenheit, als Kontrast, der die Taten des 28. Bataillons noch glanzvoller machte. Außerdem war er noch ein Kind gewesen. Was hätte er damals schon begreifen können, wo er doch auch jetzt noch ein halber Junge war, genauso alt wie sein Großvater, als er in Montecassino gekämpft hatte?

»Wir haben die Welt gesehen, Rapi«, hörte er ihn wieder sagen, »wir haben auf dem Olymp gekämpft, bei den Thermopylen, auf Kreta, in Ägypten. Weißt du, wer auf Kreta wohnte? Der Minotaurus, ein Ungeheuer, halb Stier, halb Mensch, der Jungen und Mädchen fraß, die der König der Insel ihm, um ihn gefügig zu halten, in einer Art Palast namens Labyrinth darbrachte. Bis eines Tages ein Jüngling auftauchte, der listiger und mutiger war, und das Ungeheuer tötete.«

»Und wie hat er ihn getötet, Koro? Mit einem Gewehr?«

»Nein, damals gab es noch keine Gewehre, das war vor langer Zeit, viele hundert Jahre bevor die Maori von den Nachbarinseln nach Aotearoa gelangten. Keine Ahnung, mit einem Dolch, einem Schwert.«

»War das, bevor solche Pyramiden in Ägypten gebaut wurden wie die auf dem Foto in deiner Küche?«

»Schon möglich, Rapi, das habe ich mich nie gefragt. Aber alle legten großen Wert darauf, uns Wilden vom anderen Ende der Welt zu erklären, dass es uralte Bauwerke seien, und überaus kostbar – die Wiege der Zivilisation. Aber ehrlich gesagt, gefiel mir der Palast auf Kreta besser, darin gab es eine große, mit blauen Delfinen bemalte Wand. Bei deren Anblick fühlte ich mich sofort zu Hause und bekam sogar ein bisschen Heimweh.«

»Der Palast von dem Ungeheuer, Koro?«

»Nein, der des Königs, der den Minotaurus beherrschte.«

»Aber der war böse! Ist doch wurst, ob er einen schönen Palast hatte, er war böse!«

»Ich glaube, es war nicht jener König, der die Delfine malen ließ, sondern einer seiner Nachfolger. Jahrhunderte später vielleicht. Und weißt du, Rapi, womöglich waren diese Geschichten nicht ganz wahr: ein bisschen wie unsere, an die wir glaubten, ehe die Pakeha uns Jesus brachten.«

»Wie Tumatauenga, der, um Platz und Licht zu haben, Rangi und Papa auseinanderschieben und töten will, obwohl sie seine Eltern sind? Wie Maui? Erzählst du mir die Geschichte von Maui, Koro?«

»Ein anderes Mal. Ich habe dir ja schon erzählt, dass wir unsere erste Kampfhandlung auf dem Olymp hatten, von dem die alten Griechen glaubten, dort wohnten ihre Götter: der Gott des Himmels, der Gott des Krieges, des Feuers, sogar der des Meeres. Und sie glaubten auch, dass, wenn sie in die Schlacht zogen, die Götter von dort oben zuschauten und zugunsten der einen oder der anderen eingriffen. Doch bei unserem Aufstieg trafen wir nur auf Minen und Stacheldraht und Deutsche.«

»Und habt ihr viele umgebracht?«

»Nein, nicht besonders viele. Das war nur der Anfang, Rapata. Diese Geschichten erzählte uns Major Dyer abends im Lager, er war der einzige Pakeha unter unseren Kommandeuren. Nach dem Krieg wurde er Lehrer, ganz offensichtlich bedeuteten Geschichten ihm viel. Doch wir waren zu müde und zu aufgeregt, endlich an der Front zu sein. Wir stellten dumme, alberne Fragen, und das ärgerte ihn. Wie kann es sein, Herr Major, dass diese Pakeha aus alten Zeiten ihre Götter allesamt auf dem Gipfel eines nicht einmal besonders hohen Berges zusammenpferchten? Uns kam das lächerlich oder zumindest seltsam vor. Wir waren ein recht undisziplinierter Haufen, aber gut eingespielt: Für die Moral einer Kompanie ist das sehr wichtig, und Major Dyer wusste das zu schätzen. Ich weiß noch, da war ein Junge, der sich mit höchstens sechzehn Jahren freiwillig gemeldet hatte und den man wie üblich als Einundzwanzigjährigen hatte durchgehen lassen, der fragte: ›Glaubten die alten Griechen auch, sie stammten von Tumatauenga ab, oder wie hieß deren Kriegsgott?‹ Major Dyer antwortete: ›Nein‹, doch dann dachte er nach. ›Ich weiß nicht, ob die Griechen eine genaue Vorstellung hatten, von wem sie abstammten‹, sagte er schließlich. ›Und wir sollen Wilde sein, Herr Major?‹, rief jemand, der in der Dunkelheit unerkannt blieb. Der Kommandeur war noch ganz in Gedanken und ging nicht darauf ein. ›Doch ich kann euch sagen, dass auch sie den Krieg für den Vater aller Dinge hielten.‹ Ich weiß nicht, ob ihm außer mir noch jemand zuhörte, und vielleicht hätte ich diese Worte ebenfalls vergessen, wenn Major Dyer sie nicht auf Kreta wiederholt hätte, wo die Deutschen mit Fallschirmen auf uns niederregneten. Obwohl wir der Invasion mit aller Kraft trotzten, wurden wir zum Rückzug gezwungen und erlitten schwere Verluste. Damals sagte der Major noch einmal, dass der Krieg für die Griechen, die sich untereinander ›Sterbliche‹ nannten, der Vater aller Dinge sei. Es war das erste Mal, dass ein Kamerad direkt neben mir starb.«

»Wie ist er gestorben, Großpapa? Hat er Blut gespuckt?«

»Lass gut sein, Junge, solche Dinge sind nichts für dich. Für heute ist es genug, geh schlafen.«

Wie hatte er, fragte sich Rapata, auch als er schon größer war, nicht bemerken können, dass der Großvater seine Erzählungen immer im Schatten enden ließ und sich gleich darauf zurückzog. Dass selbst die glorreichsten Erinnerungen von diesem Schatten verdunkelt waren? Wie hatte er nicht wahrnehmen können, dass es Dinge gab, die er seinem Enkel zwar gesagt, über die er aber nie gesprochen hatte? Die Gefangenschaft beispielsweise, dabei hatte Rapata doch in der Schule gelernt, dass die im Lager E535 in Milowitz internierten Kiwis eine Zeitung herausgaben, die »Tiki Times«, derer sich Neuseeland noch heute rühmte. Alles war von Schatten umflort: der Minotaurus, der die Kinder verschlang, die wie launische Befehlshaber gegnerischer Heere auf dem Olymp versammelten Götter. Oder wenn er von den Thermopylen erzählte, bei denen die Spartaner das Vorrücken des riesigen persischen Heeres aufgehalten hatten, und bemerkte, die in Italien gefallenen Maori-Soldaten seien ebenfalls dreihundert gewesen. »So waren wir, Rapata, wir hielten viel fester zusammen als die Pakeha, wir gaben unser Leben füreinander, ohne darüber nachzudenken, und wer uns als Vorhut für den Angriff von Montecassino auswählte, wusste das.«

Schwachsinn, dachte Rapata, den Blick im himmelblauen Nichts verloren, mit einem Nachdruck, der ihn selbst verblüffte. Die Wahrheit lautete, dass sie in Montecassino umsonst gekämpft und nicht einmal eine Niederlage erlitten hatten, die zu einem Sieg verholfen hätte. Die Wahrheit lautete, dass – so ein Zufall! – wer vorgeschickt worden war, um die zweite Offensive loszuschlagen? Vor allem die Maori und die Inder. Darunter nepalesische Gurkhas, laut Charles Maui Hira ebenfalls äußerst tapfere Männer. Dafür hatte das Empire jahrhundertelang über die halbe Welt geherrscht: um den tüchtigen eingeborenen Soldaten vorzuschicken und abschlachten zu lassen. Doch in den Dokumentarfilmen der BBC, die er sich im Netz angeschaut hatte, gab es kein einziges Interview mit einem farbigen Veteranen. Der Preis, den die Maori für die Staatsbürgerschaft gezahlt hatten, lag um sechzig Prozent höher als der der Pakeha. Und was hatten sie davon gehabt? Nichts als Gedenktafeln und Denkmäler, und dass man an jedem 25. April, am ANZAC Day, zum Gedenken an die Gefallenen sämtlicher Kriege in den Marae und Schulen über sie sprach. Und dass über die Hälfte derer, die beim neuseeländischen Militär landeten, noch immer Maori waren. Das haben wir davon, Koro: das Privileg, als Erste und in größerer Anzahl draufzugehen. Zum Wohl, Koro, kia ora, cheers!

Das Abendessen war serviert worden, und dem Beispiel seines arabischen Nachbarn folgend, hatte Rapata sich einen Gratis-Whiskey bringen lassen, dabei trank er, um seinem Vater eins auszuwischen und seinem Großvater Folge zu leisten, sonst nur ab und zu ein Bier. Doch jetzt, nachdem er eine Hähnchenbrust mit Würzreis und Karotten verschlungen hatte, hob er das Glas zu einem Toast und kippte es in einem Zug hinunter, sodass der ungewohnte Alkohol in der Kehle brannte und ihm in die Augen stieg.

Während der Reisevorbereitungen hatte Rapata sich verpflichtet gefühlt, sein Wissen aufzufrischen, doch jetzt drohte all das, was er in den in seinem Rucksack verstauten Büchern über das 28. Bataillon und Montecassino gelesen hatte, Charles Maui Hiras Erzählungen fortzuwischen.

Die Wahrheit lautete, dass Rapata Angst hatte: Angst, dass alles, was sein Großvater für ihn gewesen war, in Rauch aufginge, sobald er nach Montecassino käme.

Vielleicht sollte er seinem eigenen Willen folgen, statt die Reden und Gebete über sich ergehen zu lassen, und das restliche Geld darauf verwenden, nach den Überresten der Mine in Polen zu suchen, wo der Großvater in Gefangenschaft gewesen war und über die Rapata nicht mehr wusste, als dass die wertvollste Wechselwährung »papiroski« geheißen hatte. »Zigaretten«, hatte er ihm erklärt, jedoch nur um zu sagen, dass er das Wort bereits aus Libyen kannte, wo sie zusammen mit den Polen Rommels Afrikakorps bei der Belagerung von Tobruk geschlagen hatten.

Ja, vielleicht sollte Rapata sich für das Gegenteil dessen entscheiden, was Charles Maui Hira getan hätte. Er sollte den Schatten suchen, statt der offiziellen Verklärung beizuwohnen. Er sollte seine Erinnerung verraten, um ihn zu retten.

Vielleicht hatte sein Vater recht: Er, Rapata Ihipa Sullivan, war tatsächlich nur ein halber Mann, ein in zwei Hälften geteilter Mann, halb Sohn eines zuerst rebellischen und dann nur noch zornigen Vaters, der ihm maorische Namen angehängt hatte, obwohl er ihn am Stadtrand von Auckland großzog, und halb Sohn eines Großvaters, der ihn in seinem Heimatdorf aufwachsen ließ und zwang, zu lernen, sein Zimmer in Ordnung zu halten, ein möglichst sauberes Englisch zu sprechen, und ihn bei jedem Verstoß gegen die eherne großväterliche Disziplin mit unerschütterlicher Ruhe strafte.

Er musste ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein, als er an einem Schulmorgen mit seinen Freunden fischen gegangen war und sehr spät heimkam. »Wenn du so etwas noch einmal tust«, hatte Charles Maui Hira ihn empfangen, »wenn du wirklich glaubst, du könntest deine Pflicht durch Spaß ersetzen, bin ich gezwungen, dich zu deiner Mutter nach Auckland zu schicken.« Und sie hatten nicht mehr darüber gesprochen. Weder an jenem Abend noch danach.