Das malende Waisenkind - Reinhard Skandera - E-Book
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Das malende Waisenkind E-Book

Reinhard Skandera

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Beschreibung

Eine schöne Stimme verstummt für immer – Der Tod eines Liederverkäufers in Paris Kollegen finden den bekanntesten Liederverkäufer in Paris des Jahres 1730 scheinbar schlafend in einem Pausenwagen. Doch er ist tot, erwürgt am hellen Tag, ohne dass es jemandem auf der belebten Brücke aufgefallen wäre. Die Ermittlungen führen den Privatermittler und seine Assistentin, die den Fall im Auftrag der neu gegründeten Polizeieinheit „Mord“ untersuchen, bis in die Kaserne der Musketiere. Der Autor führt die Leser an die originalen Schauplätze der Zeit, in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein historischer Kriminalroman für anspruchsvolle Fans des historischen Krimis.

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Crime and History - Verbrecherjagd im Paris des Rokoko

 

 

 

 

 

 

Das malende Waisenkind

 

von

 

Reinhard Skandera

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Kolodzik

 

Covergestaltung

Rainer Kolodzik

 

©Copyright Reinhard Skandera

All Rights reserved

 

1. Auflage 12.2022

 

Impressum

Reinhard Skandera

Im Oberried 1161194 Niddatal

 

 

 

 

 

 

 

1. Kapitel

 

Paris im Jahre 1743, die Stadt liefert sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit London um den Titel der größten Stadt Europas. Immer mehr arme, vor allem auch junge Menschen strömten in die Metropole, um dem Schicksal der Armut zu entfliehen. Die Stadt glich einem brodelnden Kessel, der täglich irgendwo überkochte und der Polizei beziehungsweise den Ermittlern Samuel de Beauroglie und Raphaela Hors la Loi Arbeit bescherte. Privat befanden sich Samuel und Raphaela seit dem Fall der ermordeten Mädchen in der Rue des Marmousets in einer schwierigen Phase. Trotz des Schwurs nach dem Tod der geliebten Ehefrau Maria, nie mehr eine Beziehung zu einer Frau einzugehen, lebten Raphaela und er seit einiger Zeit wie Mann und Frau zusammen. Sie waren in gegenseitiger Liebe verbunden, dennoch stellte sich inzwischen eine Distanz ein, die täglich ein wenig größer wurde. Samuels Gewissen meldete sich ungefragt, es erinnerte ihn an den Schwur. Raphaela spürte das, sie fühlte sich schuldig, ihn zu dem Bruch animiert zu haben. Sie wollten einander nicht wehtun, sodass eine Sprachlosigkeit aufkam, die der Beziehung nicht guttat.

Raphaela entschloss sich vorübergehend aus Samuels Haus in der Rue des Fossoneurs auszuziehen. Sie bezog eine kleine Wohnung in der Rue du Four, die von Samuel nicht mehr als zehn Gehminuten entfernt lag, in der Nähe des Jahrmarkttheaters Foire Saint Germain. Die Mahlzeiten nahmen sie weiterhin zusammen mit den Mönchen von Saint Sulpice im Kloster ein. Auch die Zusammenarbeit bei der Klärung von Mordfällen im Auftrag des Polizeiinspektors Henri Leclerc führten sie unverändert fort.

Auch Samuels Freund Henri Leclerc sorgte sich um die Beziehung zu Clotilde Polinnaq, allerdings aus völlig unterschiedlichen Gründen. Seine Probleme existierten real, waren nicht hausgemacht. Zwischen Henri und Clotilde herrschte eine perfekte Harmonie, wie man sie selten antrifft. Henri hatte Clotildes Kinder angenommen wie eigene, was die Kleinen mit aufrichtiger Zuneigung honorierten.

Clotildes Ehemann Paul Polinnaq, im Rahmen der Morde an drei jungen Mädchen durch den Marquis Boulanden zu zwei Jahren Kerker wegen Mithilfe verurteilt, wollte Clotilde zurück.

Rechtlich betrachtet stellte er einen völlig legitimen Anspruch, den ihm im Falle einer Klage jedes Gericht zubilligte. Unmittelbar nach Beendigung der Haft vor drei Wochen Weg führte ihn sein Weg zu Gericht, wo er Klage gegen Henri Leclerc und Clotilde einreichte wegen gemeinschaftlich begangenem Ehebruch. Ein Delikt, das nach französischem Recht mit Kerker bestraft wurde.

Eine Scheidung schied ohnehin aus, da das Gesetz sie nicht zuließ, außer in Fällen von schwerer Gewalt, die jedoch in dem Fall nicht vorlag. Ihnen blieb keine andere Wahl, als sich räumlich zu trennen. Clotilde und die beiden Kinder brachte Henri in einer 2 - Zimmer Wohnung auf der Brücke Pont Neuf unter.

Im Zusammenhang mit der Beziehung zu Clotilde beorderte der Polizeichef de la Reynie Henri zu einem Gespräch unter vier Augen. Er befahl ihm bis zu dem Urteil, das mit hoher Wahrscheinlichkeit Paul recht gäbe, jeglichen Kontakt zu Clotilde zu meiden. Paul Polinnaq hatte herausgefunden, dass Clotilde auf Pont Neuf wohnte und belagerte das Haus permanent. Sobald sie, die sich nicht vor dem Ehemann fürchtete, da sie wusste, dass in ihm ein Feigling steckte, das Haus verließ, versuchte er in Kontakt mit ihr zu kommen.

Die Brücke Pont Neuf bildete einen wichtigen Knotenpunkt der Stadt Paris. Von ihr erreichte man die Île de la Cité mit dem Place Dauphin, den Palais inklusive La Chapelle sowie das Krankenhaus Hotel Dieu und Notre Dame. Auf der Brücke herrschte bis auf die Zeit in der Nacht zwischen ein Uhr bis fünf Uhr in der Früh ein unwahrscheinlicher Verkehr. Da die Straße durch die zu beiden Seiten der Brücke gebauten Häuser zu einem Engpass wurde, kam es ständig zu Blockaden. Den gesamten Tag lang brüllten sich die aus entgegenkommenden Richtungen fahrenden Kutscher in ohrenbetäubender Lautstärke an. In den meisten Erdgeschossen betrieben Händler ihr Geschäft. Bäcker, Fleisch- und Fischhändler sowie Haushaltswarenverkäufer, mobile Getränkebuden und andere Gewerbetreibende wetteiferten um die Gunst der Pariser und Pariserinnen.

Eine besondere Gruppe bildeten die Liederverkäufer, von denen sich einige, aber nicht alle, großer Beliebtheit erfreuten. Die armen Teufel, die auf diese Art und Weise versuchten, ihr Brot zu verdienen, die Kunst des Gesangs jedoch nur in einem bescheidenen Umfang beherrschten, wurden mit Gemüse und Obst beworfen, das sie hastig aufsammelten. Die Könner der Gilde hingegen lebten gut von den Münzen, die die Zuschauer in ihre Körbe warfen. Nicht jeder, der gerne zuhörte, konnte es sich leisten, für das Vergnügen zu bezahlen. Die Zuschauertraube, die sich um die Sänger bildete, bestand also aus zahlendem und schwarz hörendem Publikum, was die guten Sänger nicht besonders störte, da sie genug einnahmen. Anders sah es bei den Zahlenden aus, die den Schwarzhörern das Vergnügen nicht gönnten. So ist er eben der Mensch, wofür er bezahlt hat, das darf keiner kostenlos konsumieren, andernfalls wird der Zahler unerträglich. Sie mobilisierten Polizisten, die dafür sorgten, dass bald nur noch die Menschen sich um die Sänger scharten, die Münzen in den Korb geworfen hatten. Da diese Gruppe Einfluss besaß, setzen sie ihr Prinzip durch. Das wird hier erzählt, da es im weiteren Verlauf der Geschichte noch von Bedeutung sein wird.

Jesse Abraham, der Vierte im Bunde der Gruppe der Ermittler, wollen wir nicht vergessen. Der Statistiker innerhalb der Pariser Polizei bereicherte die mühsame Jagd nach Verbrechern durch seine strategischen Fähigkeiten. Die anderen sorgten sich um ihn, da er, der von Beginn an den Thesen der Aufklärer offen gegenüber stand, sich in der letzten Zeit radikalisierte. Er blieb nicht allein, denn Adel und Klerus hatten den Grad der Auspressung der übrigen Bevölkerung noch einmal verstärkt, sodass der Widerstand gegen ihre Herrschaft konkretere Formen immer größer wurde.

 

Heimlich in der Nacht schlich Henri Leclerc in Clotildes Wohnung auf Pont Neuf. Er musste äußerst vorsichtig vorgehen, denn wenn Paul Polinnaq ihm nachweisen konnte, dass er seine Ehefrau traf, drohte Henri der Kerker. Aus diesem Grund kamen nur Besuche in der Nacht infrage, außerdem verkleidete sich Henri, um nicht erkannte zu werden. Sie hatten sich seit über einer Woche nicht gesehen, entsprechend stürmisch fiel die Begrüßung aus. Henri hatte sich schon vor einiger Zeit verabschiedet, als Clotildes Nickerchen jäh durch ein Schwanken des Hauses unterbrochen wurde, als sei es von einer unsichtbaren Kraft geschüttelt worden. Clotilde sammelte in großer Eile die Kinder ein und eilte aus dem Haus auf die Brücke. In der Zwischenzeit wackelte das Haus noch einmal heftig und hielt nur mit Mühe und Not seinen Platz auf der Brücke, wo sich auch zahlreiche Nachbarn eingefunden hatten. Eifrige Bürger informierten die Polizei, die sogleich nach dem Beauftragten der Stadt für die Häuser auf den Pariser Brücken schicken ließen. Antoine Diekmann, ein Elsässer, dünn wie ein Spargel und sicher einen Meter und neunzig groß, entstieg würdevoll einem Einspänner und sah sich das Dilemma an. Als Sofortmaßnahme legte er das Haus, in dem Clotilde wohnte und das Nachbarhaus still. Das bedeutete Clotilde und alle anderen Bewohner der beiden Häuser mussten sich für die Nacht eine neue Bleibe suchen. Henri, inzwischen auf Pont Neuf eingetroffen, stand vor einem Dilemma, denn ihm blieb nur die Lösung, die Geliebte und ihre Kinder im Haus der Mutter unterzubringen, die sich davon keineswegs begeistert zeigte. Sie zog das Kinn hoch, worauf Henri ihr einen unmissverständlichen Blick zukommen ließ, sodass sie mühsam den Frieden bewahrte. Clotilde hingegen bemerkte:

„Verzeihen Sie Madame Leclerc, es ist nur für eine Nacht wegen der Kinder. Morgen verlassen wir Sie bereits wieder.“ Nach dem Mittagessen wollte sich Henri ein wenig mit Clotilde hinlegen, als ein reitender Bote heftig an der Pforte klopfte.

„Monsieur Leclerc, Sie müssen sofort kommen, auf Pont Neuf geschah vor einer Stunde ein Mord. Samuel und Raphaela werden ebenfalls in diesen Minuten informiert. Der Mord wurde am hellen Tag begangen, die Brücke bevölkern in der Zeit Scharen von Menschen.“ Den Boten nahm das Geschehen offensichtlich stark mit, denn er bemerkte kopfschüttelnd:

„Wer besitzt genug Dreistigkeit, einen Mord inmitten von hunderten von Menschen zu begehen?“ Fünfzehn Minuten später stand Henri auf Pont Neuf und wurde von einem Polizisten über das Opfer aufgeklärt.

„Sehen Sie selbst Monsieur. Der Liederverkäufer Simon Martin, er pflegte einen Wagen mitzuführen, der einem Kasten glich, in den er sich zurückzog, wenn ihn die Müdigkeit übermannte. Als er schon lange nicht mehr gesehen wart, schauten Gewerbetreibende aus der Umgebung nach, sie fanden ihn erdrosselt in dem Gefährt, so wurde es uns jedenfalls erzählt.“

Bevor wir uns wieder dem schrecklichen Verbrechen widmen, muss noch erwähnt werden, dass Clotildes Umzug in das Haus von Madame Leclerc nicht unentdeckt blieb, sondern Paul Polinnaq, der Clotilde ständig folgte, hatte den Umzug beobachtet. Er überlegte sich den nächsten Schachzug genau und fragte sich, wer unter den Inspektoren der Pariser Polizei sein Bemühen, Henri Leclerc zu diskreditieren, am ehesten unterstützte. Kein Zweifel, Henris Erzfeind Victor Delacroix, empfinge Paul gerne, um gegen Henri vorzugehen.

 

Zurück zu dem Mord auf Pont Neuf. Der Bekannteste unter den Liedverkäufern, die auf Pont Neuf ihre Liedblätter anboten, war der ermordete Simon Martin, ein ganz ungewöhnlicher Mann. Auch deshalb, weil kein Mensch einem dünnen Kerlchen, der gerade einen Meter und sechzig Körpergröße aufwies, die überaus kräftige Bassstimme zugetraut hätte, mit der er seinem Publikum Balladen vortrug. Er galt als eine der Attraktion auf der Brücke, viele, die das unbeschreibliche Chaos auf Pont Neuf ansonsten lieber mieden, kamen, um ihn einmal singen zu hören. Manchmal, wenn er der Aufmerksamkeit der Zuhörer überdrüssig wurde, legte er eine Pause in dem bereits erwähnten Kastenwagen ein. In dem Gefährt, gezogen von einem alten Poitou - Esel, der niemals den Schritt beschleunigte oder verlangsamte, fuhr er morgens von der Wohnung im Faubourg Saint Antoine zur Arbeit auf Pont Neuf. Mit seinen Liedern versorgte er seit der Gründung die Familie, inzwischen neben ihm bestehend aus Frau und sechs Kinder, sodass sie noch nie Not litten. Nach außen wirkte Simon sanftmütig und friedlich, Menschen, die ihn besser kannten, wussten um die andere Seite, die zu Explosionen und Unbedachtheit neigte. Der Platz, an dem er den Wagen abgestellt hatte, lag ein wenig abseits von der eigentlichen Brücke auf dem Quai des Morfondus gegenüber der Statue Henri IV., die auf halber Länge von Pont Neuf auf einem separaten Fundament im Fluss errichtet worden war. Der Platz vor der Statue stellte so etwas wie das Zentrum der Brücke dar.

Simon lag noch tot in dem Wagen, als Henri Leclerc sowie Samuel und Raphaela zeitgleich eintrafen. Vier Polizisten hatten Neugierige daran gehindert, einen Blick auf den Toten zu werfen.

Da im Inneren der Karre mit Häuschen nur zwei neben dem Ermordeten Platz fanden, blieb Raphaela draußen und schaute sich in der Umgebung um. Der dünne Strick, mit dem man den armen Simon erwürgt hatte, lag noch um seinen Hals.

Nichts in dem Wagen deutete auf einen Kampf hin. Der Getötete saß auf der gepolsterten Bank, die Beine hatte er von sich gestreckt, mit geschlossenen Augen. Er schien zu schlafen.

„Was denkst du Henri? Für mich sieht es aus, als ob der Mörder ihn schlafend vorfand und den armen Kerl in Sekundenschnelle erdrosselte.“

„Auch ich sehe einen eiskalt ausgeführten Mord vor mir, der außer dem Strick auf den ersten Blick keinerlei Besonderheiten aufweist und nicht den Hauch einer Spur hinterlässt. Wir stehen vor einer schweren Aufgabe, denn im Gegensatz zu dem ermordeten Perückenmacher Camus in unserem letzten Fall erfreute sich Simon großer Beliebtheit bei den Parisern und Pariserinnen. An der Todesursache besteht kein Zweifel, dennoch lasse ich den Leichnam von dem Gerichtsarzt untersuchen.“ Henri ordnete Simons Überführung in den Kältekeller im zweiten Untergeschoss des Rathauses an, während Samuel Ausschau nach Raphaela hielt.

Oberhalb des ersten Brückenbogens in Richtung rechtes Seine Ufer neben der Statue Henri IV. stand ein mit Planen überdeckter Wagen, dessen zur Brücke zeigende Seite eine Verkaufstheke hatte. Sie verkauften allerlei Keramik für den Haushalt. Raphaela sprach vor dem Geschäft mit einer Dame, die sicher deutlich mehr als hundert Kilo auf die Waage brachte. Henri begleitete den Leichnam und hatte Samuel gebeten, die Ehefrau zu informieren. Raphaela stellte Samuel der Dame vor.

„Hallo Samuel, darf ich dir Madame Pauline de Tizac vorstellen? Als Witwe ernährt sie seit zwei Jahren die Familie durch den Verkauf von Keramikartikeln, die sie selbst herstellt und brennt. Pauline kannte Simon sehr gut, da er die Gesangsvorführung direkt vor der Statue veranstaltete, sie somit allen seinen Vorführungen kostenfrei folgen konnte. In der Zeit, in der Simon ums Leben kam, erforderte die Kundschaft ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie kam den gesamten Tag nicht dazu, aufzublicken und Luft zu holen. Die Leute kauften, als sei es der letzte Tag, an dem sie ihre Keramik anbot. Bis zum frühen Nachmittag hörte sie Simon singen, irgendwann zwischen zwei und vier Uhr verstummte der Gesang auf einmal. Ist das richtig Madame de Tizac?“

„Mehr kann ich dazu nicht sagen, Monsieur. Ich schickte sofort jemandem zur Polizei, als einer der beiden Männer, die nach Simon gesehen hatten, laut über die Brücke schrie, dass der Liederverkäufer tot in dem Karren lag.“ Samuel, der zwar von den Liederverkäufern auf Pont Neuf gehört hatte, wusste nicht genau, wie das Gewerbe funktionierte. Pauline de Tizac erklärte es ihm.

„Das ist doch ganz einfach, Monsieur. Die Liederverkäufer bieten Notenblätter mit dem Liedtext zu einem variablen Preis an. Die Kunst liegt darin, dass der Liederverkäufer erkennt, wie gut das Lied den Kunden gefallen hat. Je mehr das Lied die Zuhörer begeistert, umso so höher kann er den Preis für das Notenblatt festlegen. Zu diesem Zweck singen die Liederverkäufer das jeweilige Lied vor. Simon verkaufte mit großem Abstand am meisten Blätter, da er eine außergewöhnliche Bassstimme besaß und die Fähigkeit, die Lieder in einer besonderen Form vorzutragen, die die Zuhörer anrührte. Manch einer mag auch Mitleid mit dem kleinen Burschen gehabt haben, der eine große Familie ernähren musste. Ich traue ehrlich um einen aufrechten Menschen, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.“ Samuel hakte nach.

„Pauline, offensichtlich pflegtest du eine enge Freundschaft zu Simon. Wir wissen jedoch beide, dass niemand, der ein Gewerbe auf den Brücken betreibt, gänzlich ohne Feinde durchs Leben kommt. Sicher gibt es Personen auf der Brücke, die ihn nicht schätzten.“

„Nein, Simon hatte keine Feinde. Sie sprechen die Konkurrenzsituation auf den Brücken an, die tatsächlich viel schärfer ist als im übrigen Paris. Das trifft auch auf die Liederverkäufer zu, von denen es allein auf Pont Neuf ungefähr ein Dutzend gibt. Simon verdiente sicherlich das Doppelte als der Liederverkäufer mit den zweitmeisten Einkünften, deshalb holten ihn an jedem Abend zwei Burschen ab, deren Körper auch als Kleiderschränke durchgegangen wären. Wer könnte Neid in dem Falle völlig ausschließen, nicht umsonst nimmt er einen Platz in der Liste der sieben Todsünden ein. Offen zutage trat er jedenfalls nicht. Die Liederverkäufer gingen respektvoll miteinander um, da Menschen von eher sanftem Gemüt dem Gewerbe nachgehen. Außer Simon kenne ich niemanden aus der Gilde, die die Genehmigung besitzen, auf Pont Neuf zu singen, wirklich gut. Ich vermute, sie werden die Ehefrau Brunhilde besuchen müssen, fragen Sie sie nach Feinden. Die beiden pflegten eine außerordentlich harmonische Beziehung, soweit mir bekannt ist.“

Das Haus des ermordeten Liederverkäufers in der Rue des Tournelles im Faubourg Saint Antoine hätte auch einer betuchten Adelsfamilie gut zu Gesicht gestanden. Um den Palais herum war ein großer Garten im Stile englischer Landschaftgärten angelegt, der manchem Fußgänger veranlasste zu verweilen, um einen längeren Blick darauf zu werfen. Raphaela fragte ihren Partner erstaunt:

„Ein solches Haus kann man nicht allein mit dem Verkauf von Liederblättern verdienen, oder? Chapeau, das hätte ich nicht für möglich gehalten.“

Raphaelas Überraschung nahm noch zu, als nicht etwa Brunhilde Martin die Tür öffnete, sondern eine junge Bedienstete, die nach dem Empfang zunächst verschwand, um nach einer Minute zurückzukehren und sie in den Salon des Hauses zu bitten. Raphaela sah Samuel fragend an, der nur mit den Schultern zuckte. Brunhilde trat ein.

„Guten Tag, ich bin Brunhilde Martin, was verschafft mir die Ehre ihres Besuches?“ Sie wusste nicht, wen sie vor sich hatte, was Samuel spürte.

„Verehrte Madame Martin, ich heiße Samuel de Beauroglie und das ist Raphaela Hors la Loi, meine Assistentin. Wir arbeiten im Auftrag der Pariser Polizei und besuchen Sie im Namen des Polizeiinspektors Henri Leclerc.“ Brunhildes bis dahin freundliche Miene verdüsterte sich, als ahne sie den Grund für Samuels Besuch.

„Verehrte Madame, es tut mir unendlich leid, ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr Ehemann Simon heute auf Pont Neuf zu Tode kam. Da Simon höchstwahrscheinlich ermordet wurde, beauftragte der Pariser Polizeichef de la Reynie Madame Hors la Loi und mich mit der Aufklärung des Falles.“ Raphaela sah Brunhildes Reaktion voraus und sprang sofort zu ihr, um einen Sturz auf den Fußboden zu verhindern. Sie legten die geschockte Ehefrau auf eine Chaiselongue. Das Dienstmädchen, das ihnen geöffnet hatte, eilte ebenfalls herbei, da sie Brunhildes Schrei gehört hatte. Raphaela fragte das Mädchen:

„Mademoiselle, wo sind die Kinder?“

„Sie spielen im Obergeschoss. Was ist mit Madame?“

„Bitte sorgen Sie dafür, dass die Kinder oben bleiben, bis Madame wieder zu sich gekommen ist. Wir mussten ihr die traurige Nachricht von der Ermordung des Ehegatten mitteilen.“ Das Mädchen schlug die Hände vor das Gesicht, und begann zu schluchzen. Sie wurde gebraucht, sodass Samuel sie harsch ansprach, ohne es so zu meinen.

„Gehen Sie zu den Kindern, sofort, das ist jetzt deine Aufgabe.“ Sie rang nach Fassung, erlangte sie zurück und eilte zu den sechs Kindern der Familie Martin.

Brunhilde kam langsam wieder zu sich, aber es dauerte eine Weile, ehe sie begriff, warum die beiden Gästen sich in ihrem Hause aufhielten.

„Wie? Wer? Ich glaube ihnen nicht.“ Samuel überließ Raphaela das Wort.

„Liebe Madame Martin. Leider ist es wahr, Simon wurde in seinem Karren erdrosselt. Den Täter kennen wir noch nicht, wollen ihn jedoch so schnell wie möglich finden, deshalb verzeihen Sie mir, dass ich in diesem Augenblick die Frage stelle. Kennen Sie jemanden, der Simon das angetan haben könnte.“

 

Brunhilde, eine starke Frau, die Simon seit der Eheschließung geführt hatte, zwang sich, ihre Verzweiflung einen Moment lang zu überwinden.

„Für den Mord an meinem Ehemann kommt nur einer infrage. Der Liederverkäufer Jean Damlaque, ein verfluchter Protestant, der voller Neid auf Simons Erfolg schaute. Von allen Liederverkäufern auf Pont Neuf verdient er am wenigsten, weil Gott ihm nicht den Hauch eines Talents auf den Lebensweg mitgab. Ein Einzelgänger, der sich von der Gilde fernhielt.“ Brunhildes Stimme brach, sie konnte nicht weitersprechen.

Das Dienstmädchen hatte nach ihren Eltern schicken lassen. Sie stammte aus einer Familie von Zimmerleuten, deren Oberhaupt gleichzeitig auch den Vorsitz der einflussreichsten Gilde in der Stadt, der Zunft der Zimmerleute, innehatte. Vor einigen Jahren hatte der Vater außerdem den Weinhandel Halle au Vin gegründet und große Flächen für die Lagerung von Holz in der Nähe der Hôpital de la Salpêtrière gekauft. Samuel führte auch mit ihm ein ausführliches Gespräch und versicherte, dass sie alles Menschenmögliche unternähmen, um Simons Mörder zu finden. Der Oktobertag neigte sich bereits der Dunkelheit entgegen, dennoch ritten die beiden Ermittler zurück zu Pont Neuf, um mit Jean Damlaque zu sprechen.

Sie brachten in Erfahrung, dass Jean Damlaque für gewöhnlich über dem letzten Brückenbogen vor der linken Uferseite seine Liedblätter anpreist. Er versprach sich von dem Standort einen guten Verkauf, weil an dieser Stelle der Brücke der berühmte Tortenzauberer von Paris, André Roublard, einen seiner zahlreichen Stände mit Backwaren betrieb. Die Erfindung der Pistazien Windbeutel mit Himbeerherz verhalfen ihm einst zu Ruhm und Geld. Samuel zählte zu den Freunden des Bäckers, der an dem Tag höchstpersönlich in dem Stand verkaufte.

„André, du begibst dich heute in die Niederungen des Brückenverkaufs? Du siehst mich überrascht.“

„Ach Samuel, jetzt verstell dich nicht, du weißt, wie gerne ich selbst im direkten Kontakt zu den Kunden stehe. Auf den Brücken pulsiert das Leben, sodass es trotz der chaotischen Verkehrsverhältnisse immer ein Vergnügen ist, hier Zeit zu verbringen. Aber was führt dich und Raphaela - sei geküsst süße Raphaela - zu uns Brückenmenschen? Ein neuer Mord?“

„Ja André, ein neuer Mord. Nachbarn auf der Brücke fanden den Liederverkäufer Simon Martin heute am frühen Nachmittag erdrosselt in seinem Wagen. In dem Zusammenhang suchen wir einen gewissen Jean Damlaque, kennst du ihn?“

„Simon? Oh nein, das stimmt mich traurig. Ich mochte ihn, weil er immer bescheiden und freundlich auftrat. Jean Damlaque sagtest du? Er tut mir leid, da die Profession, die er sich für seinen Lebensunterhalt ausgesucht hat, überhaupt nicht zu ihm passt. Er kann einfach nicht singen, der arme Kerl.“

„Die Witwe glaubt, dass er aus Neid Simon umgebracht hatte. Was hältst du von dem Burschen?“

„Schwer zu sagen, da er so gut wie nicht spricht, sondern kurz grüßt, mehr nicht. Deshalb kann ich beim besten Willen nicht viel zu ihm sagen, außer das er das Gewerbe eines Liederverkäufers aufgeben sollte. Von Simons Tod profitiert er ganz sicher nicht, andere Liederverkäufer ja, aber nicht Jean. Er wird niemals in die Fußstapfen von Simon treten.“

„Weißt du, wo Jean wohnt?

„Er lebt auf einem Hausboot, das am Quai d’Orsai unmittelbar an Pont Royal liegt. Ihr trefft ihn jedoch sicher morgen auch hier auf Pont Neuf an.“

„Danke André.“

André spendierte den Rest der Pistazien Windbeutel, die noch nicht verkauft wurden. Samuel und Raphaela schenkten sie den Mönchen, die darum knobelten, da die Menge nicht für alle reichte. Das Abendessen ließ die beiden Ermittler die schwierige Aufgabe, die vor ihnen lag, für einige Augenblicke vergessen. Die unvergleichliche Küche des Klosters servierte Coq au Vin. Anschließend kehrten sie in ihre Wohnungen zurück, Samuel in der Rue des Fossoneurs, Raphaela in der Rue du Four.

 

Als Raphaela am nächsten Tag Jean Damlaque vor Andrés Bäckerei auf der Brücke erblickte, schaute sie Samuel, der schmunzelte, entgeistert an. Offensichtlich versuchte der Liederverkäufer das mangelnde Talent in der Kunst des Singens durch eine außerordentliche auffällige Erscheinung zu kompensieren. Jean Damlaque trug goldene Culotte, dazu violette Strümpfe sowie hochhackige Schnallenschuhe in derselben Farbe. Auf dem Kopf eine Allongeperücke, die ein dreieckiger Hut ebenfalls in der Farbe der Strümpfe und Schuhe bedeckte. Über dem weißen Rüschenhemd trug er einen roten Rock aus Samt. Das Ensemble vermutete man eher auf einem Ball als auf einer Brücke, auf der täglich Chaos herrschte. André Roublard, der aus purer Neugierde an diesem Morgen ebenfalls auf Pont Neuf weilte, stellte den Ermittlern Jean vor. Samuel, der bisweilen ein wenig mundfaul war, dafür aber umso präziser zuhörte, überließ es Raphaela, das Gespräch zu beginnen.

„Guten Morgen Jean, Raphaela Hors la Loi und Samuel de Beauroglie, wir sind mit der Aufklärung des Mordes an deinem Kollegen Simon Martin beauftragt.“ Damlaque horchte auf, fand aber schnell Worte für Simons Tod.

„Seine Ermordung erfüllt mich mit großer Trauer, denn ich schaute zu ihm auf, da er unsere Gilde auf der Brücke anführte.“

Dann schwieg er, sodass Raphaela sich entschloss, ihn aus der Reserve zu locken. Allerdings nicht sofort, sie tastete sich vorsichtig heran.

„Wart ihr Freunde?“

„Nicht direkt Freunde, gute Kollegen, würde ich sagen. Wir pflegten keinen engeren Kontakt, das heißt, ich besuchte ihn noch nie zu Hause und er mich ebenfalls nicht.“

„Man sagt, dass sein Erfolg bei dir Neid auslöste.“

„Wer sagt das. Sagen Sie es mir, sofort, raus mit der Sprache. Ich werde die Person zur Rede stellen, wegen übler Nachrede. Ich spüre keinen Neid auf Simons Erfolg, weil ich ihn eines Tages überholt hätte.“ Samuel zweifelte nicht daran, dass Jean selbst an das glaubte, was er sagte; nach allem, was sie über sein Talent gehört hatten, litt der junge Mann an einer hoffnungslosen Selbstüberschätzung. Für Raphaela kam der Moment, in dem sie Jean mit der Aussage der Witwe konfrontierte.

„Simons Frau ist zu hundert Prozent davon überzeugt, dass nur du ihren Ehemann umgebracht haben kannst.“

Sie hatten mit heftigen Dementis gerechnet, aber Jean überraschte die Ermittler, der statt nervös zu reagieren, die Ruhe in Person blieb.

„Wie kommt die Frau dazu, so etwas zu behaupten? Ich verstehe das nicht, warum sagt sie das?“

„Sie glaubt, das du ihm seinen Erfolg auf der Brücke und vor allem auch im Leben neidest. Er hatte eine wunderbare Familie und ein Palais, der sich mit den prachtvollsten Wohnhäusern messen kann. Du besitzt nichts, außer einem alten Hausboot auf der Seine und lebst allein.“ Jean schaute die schöne Roma an, nicht wütend, eher ein wenig traurig, bevor er antwortete:

„Ich habe ihn nicht umgebracht.

---ENDE DER LESEPROBE---