Totentanz in der Salpetrière - Reinhard Skandera - E-Book
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Totentanz in der Salpetrière E-Book

Reinhard Skandera

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Beschreibung

Der Direktor der Salpetrière, tot, in der Fäkaliengrube Am Morgen nach dem alljährlichen Tanzfest in der Salpetrière finden Mitarbeiter den Leiter der Einrichtung in der Grube der Einrichtung. Schnell wird klar, dass er ermordet wurde. Wie gewöhnlich werden die „Tout Folle“ verdächtigt, die Tat begangen zu haben. Samuel und Raphaela stellen jedoch fest, dass die Hintergründe des Mordes in anderen gesellschaftlichen Schichten zu finden sind. Das Buch ist ein Fest für Liebhaber des besonderen historischen Krimis. Grusel ist garantiert.

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Crime and History - Verbrecherjagd im Paris des Rokoko

 

 

 

 

 

 

Totentanz in der Salpêtrière

von

Reinhard Skandera
 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Kolodzik

 

Covergestaltung

Rainer Kolodzik

 

©Copyright Reinhard Skandera

All Rights reserved

 

1. Auflage 02.2023

 

Impressum

Reinhard Skandera

Im Oberried 11

61194 Niddatal

 

 

 

 

 

1. Kapitel

 

Einmal in drei Monaten veranstaltete die Leitung des Hôpital de la Salpêtrière, dem größten Krankenhaus der Welt im Jahre 1740 einen Kostümball für die Patienten der psychiatrischen Abteilung. Ausgewählte Insassen anderer Wohnbereiche, wobei die Auswahl der Begünstigten völlig im dunklen blieb, durften ebenfalls teilnehmen. Dazu natürlich auch die erweiterte Leitung der Einrichtung und alle Angestellten. Das Hôpital de la Salpêtrière in Paris, einst gegründet als Heim für geistig behinderte Menschen, diente inzwischen den Oberen der Stadt dazu, alle Personen, die sie nicht auf den Straßen sehen wollten, in dem Krankenhaus unterzubringen, genauer gesagt gefangen zu halten. Etwa ein Prozent der Einwohner lebten dort, also ungefähr sechstausend Bürger, Männer, Frauen und Kinder. Mittellose Alte, Demente ebenso wie Prostituierte und Kleinkrimelle und die geistig Behinderten. Der Teufel schaute jeden Tag vorbei im Hôpital de la Salpêtrière und hatte immer seine Freude.

 

Den ersten Ball des Jahres 1740 veranstaltete der neue Leiter der Anstalt, er hatte den Dienst am Neujahrstag angetreten, in der letzten Woche des Monats März. Archimbald Becker gehörte einer angesehenen bürgerlichen Familie an, die seit drei Generationen in Paris lebte. Mit fünfzehn floh er vor dem tyrannischen Vater, der ihn brutal schlug, um seinen starken Willen zur Selbstbestimmung zu brechen. In London fand er eine Anstellung in einem der "Workhouses“ in denen man geistige behinderte Menschen unterbrachte. Gewalttätige Aufseher ketteten die armen Seelen an und machten mit ihnen, was immer sie wollten. Ärzte gab es nicht, sodass allein die mächtige Aufsicht über das Leben der Patienten bestimmten. Diese "neuesten“ Erkenntnisse brachte Archimbald bei seiner Rückkehr mit nach Paris. Er erhielt Gelegenheit, dem Governor der Stadt die Erfahrungen aus England zu schildern. Den beeindruckten die Schilderungen nachhaltig, sodass er ihm die Leitung der Salpêtrière übertrug, um die schlimmen Zustände, die dort herrschten, zu verbessern.

Archimbald war nicht zu übersehen, wenn er irgendwo auftrat, da er mehr als zwei Meter groß war und gut 150 Kilogramm Gewicht auf die Waage brachte. Eine imposante Erscheinung, ausgestattet mit einem dröhnenden Bass, der in den Gebäuden des Krankenhauses sein Kommen frühzeitig ankündigte. Auch wenn die Witze, die er gerne erzählte, in der Regel schlecht waren, lachte er lauthals über sie, sodass alle anderen ebenfalls lachten, wenn auch nicht über die Witze, sondern über ihn. Was er gerade dachte, war für den Zuhörer schwer zu verstehen, denn er beherrschte die Kunst, die Gefühle vor anderen zu verbergen, meisterhaft. Die kleinen, kaum erkennbaren Augen gaben auch nichts preis. Manchmal trug er eine Allongeperücke über den widerspenstigen natürlichen Haaren. Wenn er in dieser Aufmachung die psychiatrische Abteilung besuchte, scheuerten sich die angeketteten Patientinnen wund, denn sie bogen sich vor lachen.

Seinen ersten Gedanken, die Kostümbälle abzuschaffen, musste Becker fallen lassen, da er ansonsten eine Revolte der Patienten ausgelöst hätte. Der Ball fand statt, wie immer in dem großen Speisesaal der Salpêtrière. Nach der Feier im Sommer des Jahres 1739 war es der Erste, denn im Herbst verbot die Stadtverwaltung ihn, da bei dem Sommerball zwei weibliche Patienten aus der Psychiatrie verschwanden und nicht wieder auftauchten. Vermutet wurde ein Verbrechen.

Die Bemühungen der Polizei, ihr Verschwinden aufzuklären, erbrachten nicht das erhoffte Ergebnis. Der Polizeiinspektor Henri Leclerc hatte seine besten Ermittler, die Privatdetektive Samuel de Beauroglie und Raphaela Hors la Loi nicht eingeschaltet, weil die Leichen der verschwundenen Patientinnen nicht gefunden wurden. Deshalb behandelte die Polizei den Fall nicht als Schwerverbrechen.

 

Am letzten Samstag im März 1740 war es endlich so weit. Am Nachmittag um vier Uhr öffneten die Wachen die Türen des Speisesaals. Der Polizeichef de la Reynie entsandte eine Staffel der Guet Royal - Pariser Ordnungspolizei-, um den geordneten Verlauf des Balls zu garantieren. Man hatte aus dem chaotischen Ablauf des Sommerballs im Vorjahr gelernt, jedenfalls glaubte man das. Vor vielen Jahren war die Feier ausschließlich den geistig Behinderten vorbehalten, da sie im Gegensatz zu den anderen "Patienten“ angekettet wurden. Der Ball sollte ihnen für wenige Stunden freie Bewegung schenken.

Inzwischen dienten sie mehr als Alibi für ein Ereignis, dass auch zahlreiche Herren der feinen Pariser Gesellschaft besuchten. Da die Agenten des Königs die Straßen beinahe vollständig von den Prostituierten "gesäubert“ hatten, war der "Totentanz“, so nannte man in der Stadt die Veranstaltung, eine Gelegenheit dem Verbot ein Schnippchen zu schlagen. Die Bezeichnung stammte noch aus dem 17. Jahrhundert, als es während des Balls regelmäßig zu Morden unter den Teilnehmern kam. Archimbald Beckers Vorschlag, dem Ereignis einen anderen Namen zu geben, wurde von der übrigen Leitung der Salpêtrière abgelehnt.

Die Tradition, die Gruppe der "Tout-Folle“ zuerst in den Saal einmarschieren zu lassen, pflegten die Angestellten unverändert. Sie bildeten ein Spalier, durch das die glücklichen Männer, Frauen und Kinder lachend den Festsaal stürmten. Soweit es ihnen unter den Bedingungen in der Salpêtrière möglich war, hatten sie sich kostümiert. Allerdings wäre es ein Irrglaube zu glauben, dass alle geistig behindert waren. Es gab zu der Zeit noch keine Ärzte, die den Zustand verminderter Leitung des Gehirns diagnostizierten, sondern die Häscher der Stadtverwaltung legten fest, wer in die entsprechende Abteilung in der Salpêtrière eingewiesen wurde. Sie waren im hohen Maße korrupt, sodass sie Personen unterbrachten, die völlig normal waren; missgünstige Mitmenschen hatten die Beauftragten der Stadt jedoch bestochen, sodass sie sich plötzlich bei den Tout-Folle wiederfanden. Unter ihnen auch eine Frau, die vor ihrer Einlieferung mit einem Zimmermann glücklich verheiratet lebte. Als Handwerker einer gut organisierten Zunft verdiente der Ehemann genug, um Weib und Kinder zu versorgen. Magali Richard verließ das kleine Haus im Vorort Saint Marcel nur selten. Bei den Einkäufen auf dem nahe gelegenen Markt begleitete sie der Gatte Claude stets.

Dem Schicksal gefiel das Glück der Familie Richard nicht mehr, es vergoss einen Tropfen Gift in den See der Glückseligkeit. Der Mann, für den Claude arbeitete, mochte ihn und genau wie seine Frau auch Magali Richard. Sie lud Magali ein, mit ihr und einem Begleiter, den Claudes Chef zu ihrer Sicherheit ausgesucht hatte, das Café Procope zu besuchen. Das Angebot elektrisierte Magali, denn wie viele andere Frauen und Männer, die nicht zu den Privilegierten in der Stadt gehörten, träumte sie davon, einmal das berühmte Café kennenzulernen. Claude verbot ihr den Besuch des Cafés, was zum Eingreifen des Inhabers der Zimmerei führte, sodass er schließlich nachgab.

Magali kehrte nach dem Besuch des Procope glücklich nach Hause zurück. Zum ersten Mal hatte sie Speiseeis gegessen, das im gesamten Europa nur das Café Procope anbot. Am kommenden Tag ging das tägliche Leben der Familie weiter. Jedoch nur solange, bis ein feiner Herr im mittleren Alter an die Pforte des Hauses der Familie klopfte. Magali öffnete die Tür und stand Gaspard Duc de Clêmétre-Konnere gegenüber, einem reichen Adligen, der in Paris einen zweifelhaften Ruf genoss. Magali wusste davon jedoch nichts.

Gaspard war der Typ Mann, der das, was er wollte, immer bekam, wenn es sein musste, auch mit Gewalt. Er war auf Magali aufmerksam geworden, als sie mit der Freundin das Procope besuchte. Magali war eine außergewöhnlich schöne Frau, die stets die Blicke der Männer auf sich zog. Sie wusste das zwar, verbat sich jedoch jeden Flirt, da ihr Glück mit Claude und den Kindern vollkommen war. Ihr blondes Haar glänzte wie Gold, die grünen Augen richteten sich aufmerksam auf den Duc. Die Nase, die manchem zu groß schien, war es, die auf den Duc einen besonderen Reiz ausübte.

„Was kann ich für Sie tun, mein Herr.“

„Werte Madame, verzeihen Sie den Überfall, aber mir bleibt keine andere Wahl, als die Sie aufzusuchen. Mein Name ist Gaspard Duc de Clêmétre-Konnere, darf ich um Einlass bitten?“ Auf die meisten Menschen übte der Duc eine angsteinflößende Wirkung aus. Das pechschwarze krause Haar bildete einen Kranz um das furchterregende Gesicht. Trotz Rasur überzogen dunkle Bartreste Kiefer und Kinn, eine schiefe, große, krumme Nase zog die Blicke auf sich. Die dunkelbraunen Augen befanden sich in tiefen Höhlen, sodass sie nichts über den Mann aussagten. Instinktiv spürte Magali, dass der Besuch des Herren nichts Gutes bedeutete. Sie strafte sich und antwortete:

„Nein, Monsieur, das dürfen Sie nicht. Teilen Sie bitte in kurzen Worten mit, um was es geht.“

„Da es ein wenig heikel ist, hätte ich es vorgezogen hereinzukommen, aber wie Sie wünschen. Es geht um Sie und um mich. Ich biete ihnen an, meine Mätresse zu werden. Ihr bisheriges Leben behalten Sie bei, erübrigen jedoch einige Tage in jedem Monat, an denen Sie mir gehören. Selbstverständlich entlohne ich Sie für ihre Begleitung angemessen. Im Voraus zahle ich ihnen jeden Monat 150 Louis d’or - Claude verdiente 50 Louis d’or pro Monat - wenn das zu wenig ist auch mehr. Ich hoffe, sie damit adäquat für ihre Dienste zu entlohnen.“ Obwohl Magali von derartigen Offerten betuchter Herren bereits gehört hatte, der Duc also etwas tat, was in seinen Kreisen nichts komplett Außergewöhnliches bedeutete, zögerte sie nicht eine Sekunde.

„Monsieur, die korrekte Anrede wäre „Verehrter Duc“ gewesen, nehmen Sie abschließend zur Kenntnis, dass ich ihr Geld nicht will. Ich habe meinem Mann vor Gott geschworen, dass ich ihm treu bin. Der Adel genießt in Frankreich viele Privilegien, er darf sich hingegen die Frauen noch nicht aussuchen, wie es ihm gefällt.“ Gaspard beherrschte sich und gab noch nicht auf.

„Madame, mir liegt es fern, ihre Ehre zu beschmutzen. Sie sollten jedoch wissen, dass es Gespräche mit dem Erzbischof von Paris gegeben hat, der für Geschäfte, wie ich ihnen eines vorgeschlagen habe, Absolution erteilte. Sie begingen also keine Sünde.“ Magali traten die Tränen in die Augen, sie erreichte das Ende ihrer mentalen Kraft.

„Gehen Sie. Gehen Sie und kehren Sie nie wieder. Sollten Sie in Erwägung ziehen, diesen Besuch zu wiederholen, werde ich meinen Ehemann informieren. Wie ich ihn kenne, wird er aus der Sache eine Frage der Ehre machen.“

Wie schon erwähnt gehörte Gaspard zu der Sorte Männer, die stets bekamen, was sie wollten. Stellte sich jemand gegen sie, wurde der- oder diejenige gnadenlos bekämpft. Tief gekränkt stieg er in seine Kutsche und verließ die Rue des hauts Fossés Saint Marcel mit schlimmen Rachegedanken.

Gleich am kommenden Tag nahm er Kontakt zu einem der Männer auf, die im Auftrag der Stadt die Straßen säuberten und versprach im 300 Louis d’or, wenn er Magali Richard in der "Verrücktenabteilung“ der Salpêtrière unterbrächte.

Beim "Totentanz“ im Frühjahr 1740 gehörte Magali zu der ersten Gruppe, die den geschmückten Festsaal betreten durfte. Das Feiern stand für sie an diesem Tag jedoch nicht im Mittelpunkt. Sie hegte andere Pläne.

 

Magali hatte Claude nichts von dem Besuch des noblen Gaspard erzählt, da sie sein überschäumendes Temperament kannte. Sie befürchtete, dass er den Herrn aufsuchen würde und ihm eine ordentliche Tracht Prügel verabreichte. Zwar hatte sie das vor Wut verzerrte Gesichts des Duc erschreckt, sie ging jedoch davon aus, dass er sich bereits ein neues Opfer gesucht hatte. Sie kannte Frauen, die den materiell großzügigen Angeboten solcher Edelmänner nicht widerstanden hatten. Natürlich berichteten alle, dass sie ihre Entscheidung nicht bereuten.

Magalis Mutter lebte im Altenheim des Klosters Saint Martin, das im Zentrum des Vorortes lag. Claude begleitete sich bei ihren Besuchen, war jedoch an einem Mittwoch im Mai 1739 verhindert, da der Chef ihn dringend brauchte. Der Mann, dem Gaspard eine hohe Belohnung versprochen hatte, beobachtete sie bereits seit Monaten und hatte auf eine solche Gelegenheit gewartet. Er gehörte zu den vielen gewissenlosen Kerlen in Paris, die im Auftrag des Adels oder der Kirche schmutzige Dienste erledigen. Magalis Weg war kein weiter. Von der Straße, auf der sie wohnte, bog sie in die Rue des Gobelins, benannt nach den Werken zu der sie hinführte, und benötigte nur wenige Minuten bis zum Kloster. Trotz des regen Verkehrs ergriff sie der Häscher blitzschnell und zerrte sie in seine Kutsche. Sie wehrte sich nach Kräften, trat und biss um sich, sodass der Mann laut aufschrie. Passanten hörten die Schreie, konnten jedoch nicht eingreifen, da der Zweispänner in rasanter Fahrt den Ort verließ. Die körperliche Überlegenheit führte dazu, dass Magali den Kampf verlor. Er schlug ihr mehrmals brutal mit der Faust in das Gesicht.

An der Salpêtrière fuhr er nicht am Portal des Haupteingangs vor, sondern lenkte die Pferde zu einem Nebeneingang. Er befahl dem Pförtner, Archimbald Becker zu holen. Becker kassierte seinen Anteil und ließ Magali von zwei Pflegern in die Abteilung Tout-Folle bringen.

Der verzweifelte Ehemann suchte sie vergeblich im gesamten Vorort. Er befragte Nachbarn und Freunde, niemand konnte ihm jedoch einen Hinweis zu dem Verschwinden seiner Frau geben. Die Polizei riet ihm, in der Salpêtrière nachzufragen, da es vorkam, dass auch unbescholtene Bürger von den Ordnungsdienern eingeliefert wurden. Archimbald Becker hatte jedoch der Pforte strikte Anweisung gegeben, die Unterbringung einer Magali Richard zu verneinen.

Die Schläge gegen den Kopf hatten Magali in eine Ohnmacht versetzt, sodass sie von der Einlieferung nichts mitbekam. Erst als sie nach drei Tagen erwachte, registrierte sie, wo sie war. Die Erinnerung an die Entführung kehrte zurück. Sie benötigte nur Sekunden, um zu begreifen, wer ihr das angetan hatte. Niemand außer diesem unverschämten Duc Gaspard kam für sie infrage. In der Zeit entwickelte sie einen unbändigen Hass gegen ihn und schwor sich:

„Dafür wird er bezahlen, wann auch immer. Ich werde nicht ruhen, bevor er seine gerechte Bestrafung erhalten hat. Das schwöre ich bei Gott.“

 

Nachdem die Tout-Folle den Saal betreten hatten, strömten die anderen Teilnehmer in den Raum. Ungefähr dreihundert Personen fanden an den Tischen in dem riesengroßen Festsaal Platz. Gierig wartete man auf das Essen, das an dem Tag von den Köchen der Katholischen Kirche zubereitet wurde. Bei diesem Ball wurde zum ersten Mal ein geändertes Menü serviert. In dem Punkt hatte sich Becker durchgesetzt.

Zuerst wurde eine mit Weißbrot und Käse überbackene Zwiebelsuppe, die mit einem Weißwein angereichert wurde, serviert. Die Grundlage der Suppe bildete eine Gemüsebrühe. Die warme Vorspeise hatten auf Bitte von Archimbald die Köche festgelegt. Sie entschieden sich für feine Pasteten, gefüllt mit Kalbsbries oder Geflügelragout. Die Teilnehmer durften zwischen Weiß- und Rotwein wählen. Becker hatte jedoch strikte Anweisung an die Serviererinnen gegeben, pro Person nicht mehr als zwei Gläser auszuschenken. Die vollständige Einhaltung dieser Richtlinie erwies sich hingegen als unmöglich. Den Hauptgang hatte Archimbald höchstpersönlich festgelegt. Da Boeuf Bourgignon sein absolutes Lieblingsgericht war, ordnete er es folgerichtig als Plat Principal an. Die Wahl fand die Zustimmung der Mehrheit der Gäste. Das Dessert löste allgemeine Jubelstürme aus. Die Millefeuille schmeckten köstlich. Nach dem Essen traten einige Sänger auf, die Chansons vortrugen, die kritische Texte beinhalteten, was die vom üppigen Mahl ermüdeten Gäste jedoch nicht interessierte.

Das galt nicht für Magali, die im Gegenteil hellwach war. Unter den Gästen aus der Stadt hatte sie den Duc Gaspard Clêmétre-Konnere erblickt. Sie gab zwei anderen Frauen aus der Gruppe der Tout-Folle das Zeichen, dass sie sich mit ihnen treffen wollte, draußen auf dem Donnerbalken. Einzeln meldeten sie sich bei der Aufsicht ab. Auf dem "Pinkelbalken“ saßen sie nebeneinander. Auch Magalis Freundinnen gehörten nicht zu der bedauernswerten Gruppe der echten Tout-Folle. Aus fadenscheinigen Gründen, die beiden hatten sich auf einem Markt eine Schlägerei um ein Huhn geliefert, wiesen die Ordnungsbehörden sie in die Salpêtrière ein. Magali schaute nach links und rechts, um sicher zugehen, dass sie nicht belauscht wurden.

„Der Widerling ist hier unter den Gästen.“ Gautzeline Roux, eine fünfundvierzigjährige Marktfrau, etwa einen Meter und fünfundfünfzig groß, kugelrund, brauchte manchmal etwas länger, um zu verstehen.

„Wer? Welchen der zahlreichen Schweinehunde, die aus der Stadt gekommen sind und hier ein billiges Vergnügen erhoffen, meinst du?“

„Gautzeline, bist du mal wieder „bas du Plafond“? Ich meine den aufgeblasenen Pfau, der mich in die Salpêtrière gebracht hat.“ Die Dritte im Bunde, Suzanne Laurent, schnitt Gautzeline das Wort ab. Vor der Einweisung betrieb sie ein einfaches Restaurant im Vorort Saint Antoine. Als es zu der Schlägerei mit Gautzeline kam, kaufte sie gerade für das Abendessen ein. Sie, keine Frau der Worte, sondern eher der Tat, verlor keine Zeit.

„Wenn das Arschloch scheißen geht, drängen wir ihn mit vereinten Kräften vom Balken in die Grube. Dort wird er das bekommen, was er verdient, ungesunde beziehungsweise keine Luft.“ Gautzeline erschrak.

„Bist du verrückt geworden, du dummes Weib. Solche Männer gehen nie allein zum Balken. Ich denke, er lässt sich von mindestens zwei Aufpassern begleiten.“ Suzanne empörte sich.

„Geschwätz. Wir nähern uns unauffällig und ehe die Dummköpfe merken, was wir vorhaben, liegt er in der Scheißegrube. Ich glaube nicht, dass die Freunde hinterher springen, um den armen Duc zu retten.“ Magali, die aufmerksam zugehört hatte, legte den Freundinnen je eine Hand auf die nackten Oberschenkel.

„Ihr Lieben, ihr habt beide Recht. Auch ich will mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, um mich an ihm zu rächen. Alles in mir verlangt nach Genugtuung. Diesen Totentanz soll der Duc Gaspard Clêmétre-Konnere nicht überleben. Aber liebe Suzanne, wir dürfen die Chance nicht durch übereiltes Verhalten verschenken. Wir leihen uns Masken von den Prostituierten. Anschließend beobachten wir Clêmétre-Konnere unauffällig und schlagen zum richtigen Zeitpunkt zu. Wenn es uns gelingt, ihn in die Grube zu drücken, finden sie ihn vielleicht nie, denn sie werden wahrscheinlich das Loch nicht leeren, sondern irgendwo ein anderes graben.“ Die Prostituierten gaben ihnen gerne drei Masken, denn sie hatten ein Lager angelegt, aus dem sie sich bedienten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Kapitel

 

Gaspard Duc Clêmétre-Konnere besuchte den Ball mit einem Dutzend Freunden. Sie versprachen sich einen lustigen Abend und natürlich sollte die Nacht nicht ohne ein erotisches Abenteuer zu Ende gehen. Es war nicht der erste Besuch der Clique beim Totentanz. Im Sommer des Jahres 1739 hatte Gaspards Cousin Alexandré vorgeschlagen, den Ball zu besuchen. Alexandré repräsentierte das Gegenteil von Gaspard, der stets eiskalt und überlegt vorging. Alexandré war ein cholerischer Typ, der leicht aus der Kontrolle geriet. In diesen Phasen handelte er völlig unberechenbar. So auch beim Sommerball 1739. Er forderte von zwei Prostituierten derart abartige Praktiken, dass sie Reißaus nahmen. Er verfolgte sich jedoch und brachte sie um. Das Ganze geschah in den Feldern rund um die Salpêtrière. Mit Gaspards Hilfe brachten sie die Leichen in der Dunkelheit in die Wälder oberhalb des Stadtteils Saint Marcel. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dort gefunden wurden, tendierte gegen null. Die Tiere des Waldes ließen nichts von ihnen übrig.

Gaspard schrie inmitten der Clique ein "Á votre santé“ nach dem anderen in den Raum. Er selbst lachte anschließend am lautesten und in einer Art und Weise, die die Tout-Folle in Alarmzustand versetzte. Die "Anhänger“, die er um sich geschart hatte, hofierten ihn dadurch, dass sie alles, was er sagte, besser gesagt schrie, begeistert aufnahmen. Wer in dem Kreis "überleben“ wollte, musste die uneingeschränkte Alleinherrschaft des Duc anerkennen.

Suzanne Laurent näherte sich der fröhlichen Gruppe. Sie trug eine Maske, die sie sich von den Prostituierten geborgt hatte; das Kleid, für das sie sich entschieden hatte, war tief ausgeschnitten, sodass der üppige Busen fast aus ihm herausquoll. Gaspard reagierte sofort, sprang von seinem Stuhl auf und legte den rechten Arm um Suzanne. Die entzog sich ihm resolut. Er griff härter zu, woraufhin Suzanne, die einen Schmerz in der Hüfte verspürte, kurz aufschrie. Einer der Soldaten, die als Ordnungspersonal eingeteilt worden waren, hörte den spitzen Schrei und eilte herbei. Der junge Mann, sein Name war Rousel, nahm die Aufgabe, die man ihm übertragen hatte, sehr ernst.

Gut einen Kopf größer als Gaspard, ausgestattet mit urwüchsiger Kraft, entfernte er dessen Arm von Suzanne und ermahnte den Duc.

„Monsieur, ich verwarne Sie, heute wird es keine Übergriffe auf die Frauen geben, haben Sie verstanden.“ Gaspards Begleiter verstummten. Einige dachten, der arme Junge wäre er nur auf seinem Posten geblieben. Magali, ebenfalls maskiert, die näher gekommen war, erkannte die wutverzerrte Fratze wieder. Gaspard ging mit Rousel ein Stück zur Seite, damit niemand hörte, was er zu ihm sagte:

„Mein Junge, das hättest du nicht tun sollen. Jetzt muss ich dich töten. Schade, wo du doch ein solch hübscher Bursche bist.“ Gaspard entfernte sich schnell und verbarg sich im Kreis der Freunde, die den Ort mit ihm in ihren Reihen schleunigst verließen. Sie verschwanden durch einen Hinterausgang aus dem Gebäude und sammelten sich im Garten der Salpêtriére. Nur einer sprach. Die anderen hörten konzentriert zu und nickten. Am Ende der Unterweisung kehrte die Gruppe in den Tanzsaal zurück.

 

 

Rousel, der Gaspard die Stirn geboten hatte, stammte aus einer Region in der Provinz Cascogne, in der ausgedehnte Wälder die Landschaft prägten. Er wuchs auf einem Bauernhof auf, der Viehzucht und Holzwirtschaft betrieb. Er liebte die Heimat und hätte sie niemals verlassen, wenn es nicht zu einem Streit mit dem Vater gekommen wäre. Der Naturbursche mochte es nicht, stundenlang zu grübeln, sondern bildete sich eine Meinung, von der ihn keiner mehr abbringen konnte. Bei dem Streit ging es darum, auf welche Rinderrasse sich der Hof konzentrieren sollte. Rousel plädierte für Aubrac Rindern, der Vater für die Rasse Charolais. Beide pflegten ihren Dickkopf, also gab es keinen Kompromiss, so kann man den Ausgang des Konflikts beschreiben. Rousel verließ den Hof und die Heimat und ging nach Paris in die große Stadt. Bei der Ordnungspolizei fand er eine Anstellung, da sie starke junge Kerle dringend suchten. Und stark war Rousel, sehr sogar und unerschrocken. Ein Typ wie Gaspard konnte ihm keine Angst einflößen.

Wobei etwas Vorsicht angebracht gewesen wäre, denn ein Mann wie Gaspard ging "über Leichen“.

Gautzeline Roux suchte Rousels Nähe nach dem Vorfall mit Gaspard, um zu erfahren, was er zu Rousel gesagt hatte. In der ihm eigenen Offenheit antwortete er ihr:

„Er hat gesagt, dass er mich töten muss.“ Gautzeline zog ihn in eine ruhige Ecke des Raumes, wo sie reden konnten, ohne befürchten zu müssen, dass jemand mithörte.

„Mein Name ist Gautzeline Roux. Man hat mich und meine beiden Freundinnen in die Abteilung der "Tout-Folle“ gesteckt, obwohl wir völlig normal sind. Wie heißt du?“

„Rousel. Bitte machen Sie sich keine Sorgen um mich, Madame. Die Drohung des Duc schreckt mich nicht. Ich habe gelernt, mich zu verteidigen.“

„Das sollte sie aber mein Junge. Du hast nicht die geringste Ahnung, mit wem du dich einlässt. Das ist ein eiskalter Verbrecher, der Kontakte zu den dunkelsten Elementen in der Stadt pflegt. Ich rate dir dringend, sei vorsichtig. Der meint, was er sagt.“ Rousel wurde still. Er dachte über Gautzelines Worte nach. Sie spürte das und wagte einen Vorstoß.

„Der feine Duc hat meine Freundin Magali in die Salpêtrière gebracht, da sie sich seinen unmoralischen Angeboten widersetzte. Wir sind zu dritt. Magali, Suzanne und ich alle in derselben misslichen Lage. Als wir den Duc heute unter den Gästen entdeckten, trafen wir die Entscheidung, dem Leben des Gaspard Duc Clêmétre-Konnere am heutigen Tag ein Ende zu bereiten.

---ENDE DER LESEPROBE---