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Reinhard Skandera

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Beschreibung

Eine Straße in Angst um die Töchter – Packender Thriller in Saint Marcel Panik unter den Bewohnern der Rue des Marmousets im Stadtteil Saint Marcel. Ein Mörder geht um in der Nachbarschaft, der aufgrund der Umstände nur aus ihren Reihen stammen kann. Verzweifelte Bewohner wollen den Täter schnell ermittelt haben und Rache üben. Doch nichts ist so wie es scheint. Der Mörder schlägt erneut zu und die Gewissheiten zerplatzen wie Seifenblasen. Die Ermittlungen führen die Polizei in ein geheimes Amüsierviertel, in dem ein Zwerg die Regie führt. Die Taten bringen die Ordnung in der gesamten Stadt ins Wanken. Ein außergewöhnlicher Kriminalroman für anspruchsvolle Leser.

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Crime and History - Verbrecherjagd im Paris des Rokoko

 

 

 

 

 

Rue des Marmousets

 

von

 

Reinhard Skandera

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Kolodzik

 

Covergestaltung

Rainer Kolodzik

 

©Copyright Reinhard Skandera

All Rights reserved

 

1. Auflage 06.2022

 

Impressum

Reinhard Skandera

Im Oberried 11

61194 Niddatal

1. Kapitel

 

Der Pariser Vorort Saint Marcel wurde schon in der Merowinger Zeit „Ort des Todes“ genannt. Im Sommer des Jahres 1741 schien es, dass die bösen Geister in das an dem Flüsschen Bièvre gelegene Fleckchen zurückkehrten. Das Böse suchte die Rue des Marmousets heim.

Die mit rustikalen Natursteinen gepflasterte Gasse verband die Rue de Bièvres mit der Rue des Trois Courones. Zwischen den dreistöckigen Holzbauten, die auf beiden Seiten emporragten, fühlte man sich wie in einer Schlucht. An der breitesten Stelle maß die Straßenbreite drei Meter. Die Rue des Marmousets kam nie zur Ruhe, weil sich permanent irgendetwas ereignete, das die Aufmerksamkeit der Bewohner fesselte. Außerdem verstopfte der Durchgangsverkehr die enge Straße regelmäßig. Konflikte, die lautstark ausgetragen wurden, entbrannten, da Wagenlenker, Reiter oder Fußgänger die Nerven verloren. Jeder schob jedem die Schuld an dem Chaos zu.

 

Auf der Straße wimmelte von Kindern, da in der Rue des Marmousets viele arme Familien mit zahlreichen Nachkommen lebten.

Dazu kam ein bestialischer Gestank, da neben dem Flüsschen Bièvre ein schmaler, offener Kanal verlief, in dem Exkremente der Bewohner geleitet wurden. Er mündete in einer großen Grube, in der die Fäkalien flossen. Zweimal in der Woche leerten Mitarbeiter der Stadt sie.

In der Bièvre schufteten die Gerber bis zum Umfallen. Ihre Chemikalien verunreinigten das Wasser, was die Kinder jedoch nicht daran hinderte, in dem verseuchten Fluss zu baden. Die Folge waren Erkrankungen, für die die Eltern keine Erklärung fanden. Die herbeigerufenen Mediziner vom Hopital de la Santé, das etwa einen Kilometer entfernt lag, zuckten nur mit den Schultern besser gesagt rieten zu Kräutertees. Die Schwestern des Klarissinnen-Klosters füllten die Lücke, die die inkompetenten Ärzte hinterließen.

 

 

 

Das Mutterhaus der Kordelträgerinnen, so nannte man sie wegen des Bandes, mit dem sie das Gewand zubanden, lag in der unmittelbaren Nachbarschaft der Rue des Marmousets.

Alle Häuser in der Rue des Marmousets gehörten einem Mann. Dem Marquis Gawain de Boulanden aus der Provinz Rhône-et-Loire. Der Familie gehörten große Ländereien im gesamten Frankreich, darüber hinaus betrieben sie die lukrative Holzwirtschaft. Sie zählten zweifellos zu den reichsten Geschlechtern im Königreich. Außerdem unterstützten sie den König regelmäßig durch ihre Finanzspritzen, die der dringend benötigte, um seine Kriege zu führen. Der Monarch revanchierte sich durch eine großzügige Zuteilung von Feldern und Wäldern.

Gawain, ein reisefreudiger Mensch, inspizierte die Wohnungen in der Rue des Marmousets mehrmals im Jahr. Während der Begutachtungen stolzierte der nur einen Meter und sechzig messende, ungewöhnlich schlanke Marquis gekleidet in Culottes, Rüschenhemd und einem samtenen Rock, durch die Straße wie ein Gockel. Schimpfend zeigte er kopfschüttelnd mit dem Stock auf die Fäkalien, die nicht den Weg in den Abflusskanal gefunden hatten.

Aus tief liegenden, dunklen Augen in dem kalkweißen Gesicht starrte er Mitglieder der Familien an, die sich für den Besuch aufgestellt hatten. Er sprach nicht mit ihnen, sondern nur mit dem Gehilfen, der ihn begleitete. Dieser teilte den Mietern anschließend die Anweisungen des Marquis mit. Um die Wahrheit zu sagen, muss darauf hingewiesen werden, dass er nicht zu den hellsten Köpfen im Lande gehörte. Deshalb mied er das direkte Gespräch. Mehrmals hatte man ihn in der Vergangenheit bei Inspektionen bloßgestellt, indem die Leute ihm Fragen stellten, die er nicht beantworten konnte. Wie die meisten dummen Menschen pflegte er eine besondere Affinität zum Materiellen. Seine größte Liebe galt den Goldmünzen in bester Qualität. Dieser Leidenschaft ordnete er alles andere unter.

Der Verwalter, Paul Polinnaq, trieb die Mieten bei den Bewohnern ein. Der Marquis zahlte gut, sodass Paul sich in der benachbarten Rue de la Reine ein Häuschen gekauft hatte, in dem er mit der Frau und den beiden Töchtern lebte. Gawain verlangte im Gegenzug absolute Loyalität und hohen Einsatz bei der Aufgabe. Den erforderte schon die chronische Säumigkeit einiger Mieter. Trotz aller Anstrengung gelang es ihm nicht, sämtliche Zahlungen pünktlich einzutreiben. Seinem Charakter entsprechend, er war ein typischer Choleriker, explodierte er, wenn ein Mieter um Aufschub bat. Dank der schlauen Gattin, sie hatte sich eine wirkungsvolle Methode ausgedacht, wie Paul die Säumigen unter Druck setzen konnte, erzielte er Erfolge. Zahlte jemand nicht pünktlich, ließ Paul es die Nachbarn wissen, die er traf. Er erzählte jedem in der Straße, wer die Miete schuldig blieb. Der Schuldner avancierte zum Objekt des nachbarschaftlichen Geredes. Genussvoll sprachen insbesondere die Damen des Hauses die betroffene Nachbarin darauf an. Mitfühlend fragten sie, ob man in Schwierigkeiten stecke.

 

Das Leben stand still am Samstag, den 17. Juni 1741, in der Rue des Marmousets. Ihre Mutter fand die 13-jährige Florence Gaillard tot in der Wohnung der Familie.

 

Florence lebte mit dem Vater Jérome und der Mutter Emihild sowie vier Brüdern in einer Dachgeschoss - Wohnung.

Die Gaillards gehörten zu den Bewohnern der Rue des Marmousets, die die Miete immer pünktlich bezahlten. Jérôme verdiente den Lebensunterhalt in der nahe gelegenen Königlichen Gobelinfabrik, einem der begehrtesten Arbeitgeber für Handwerker in der gesamten Stadt. Emihild hatte den Ehemann häufiger bedrängt, eine Wohnung in besserer Umgebung zu suchen. Er vertröstete sie bis zum Ende des Jahres 1741, da sie die volle Miete für das laufende Jahr entrichtet hatten und den Nachlass für die Jahreszahlung einbüßten, wenn sie vorher kündigten.

Ein Bote ritt zum Rathaus, um die Polizei zu informieren. Der Inspektor Henri Leclerc übernahm das Kommando am Tatort. Jesse Abraham, der die Verbrecherstatistik der Stadt führte, begleitete ihn. Er zeigte stets ein lebhaftes Interesse an den aktuellen Fällen und trug auch zur Lösung von Mordfällen bei, da er die gesellschaftlichen Verhältnisse in Paris von allen Ermittlern am Besten kannte. Sie sperrten die Rue des Marmousets komplett ab, um den Tatort zu inspizieren und die Nachbarn zu befragen.

In der Wohnung schlug ihnen der Klagegesang der Mutter entgegen. Sie gab Jérome die Schuld an dem Tod der Tochter.

„Unser Kind musste sterben, weil ihr Vater ein Feigling ist, der sich nicht traut, mit Paul Polinnaq über eine vorzeitige Auflösung der Miete zu sprechen. Ich habe dir oft gesagt, dass wir hier nicht sicher sind.“ Jérôme Gesicht drückte tiefe Trauer aus.

„Bitte hör jetzt auf, Florence ist tot. Wir haben gemeinsam entschieden, dass sie allein zuhause bleiben darf.“ Florence hatte die Eltern gebeten, zu Hause bleiben zu dürfen, da sie ein Buch lesen wollte, das die Kordelträgerinnen ihr geschenkt hatten. Eltern lieben für gewöhnlich die Sorgenkinder am meisten. Das galt auch für die Gaillards, die stets ein fürsorgliches Auge auf Florence warfen, da sie häufig kränkelte. Im Gegensatz zu den kerngesunden Brüdern, die vor Gesundheit strotzten. Sie hatte den Weg zur Frau noch nicht beschritten, sondern verharrte noch in der Kindheit, sodass sie normalerweise an Emihilds Rock hing.

Im Nachhinein wunderten sich die Eltern, dass sie den Wunsch geäußert hatte, zu Hause zu bleiben. Hatte sie sich mit jemanden verabredet, ohne etwas davon zu erzählen? Niemand in der Nachbarschaft wusste, dass sie allein zurückblieb, es sei denn irgendjemand beobachtete Emihild und die Jungen beim Verlassen des Hauses, und schloss daraus, dass Florence in der Wohnung zurückblieb. Emihild hatte ihr eingeimpft, die Wohnung unter keinen Umständen zu verlassen. Florence schwor es beim Leben des kleinen Holzpferdes, das sie von einer Schwester aus dem Kloster der Klarissinnen geschenkt bekommen hatte, so jedenfalls hatte sie es der Mutter erzählt.

Jérome und Emihild, die bis zu dem Tag zufrieden und weitgehend harmonisch lebten, veränderte das schreckliche Ereignis. Statt die Last, die das Schicksal ihnen aufbürdete, gemeinsam zu tragen, gab sie sich gegenseitig die Schuld am Tod des Mädchens. Sie vergaßen die vier Söhne, die ihre elterliche Fürsorge trotz allem dringend brauchten. Die Leidenschaft der Abneigung befiel sie. Nichts fesselt den Menschen bekanntlich mehr in seiner Freiheit.

Die Häuser in der Rue des Marmousets verfügten auf den Zwischenetagen über Kammern, in denen die Bewohner ihre Notdurft verrichteten. Die Wohnräume blieben somit frei von Fäkalien und Urin. Im Paris der Jahre in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutete das eine erhebliche Verbesserung der Wohnverhältnisse. Von dort flossen die Ausscheidungen in den Abflusskanal. Der Eigentümer, der die Häuser an den Marquis de Boulanden verkauft hatte, hatte die Plumpsklosetts einbauen lassen. Auf diese Art und Weise steigerte er den Verkaufserlös erheblich.

Die Kammern fielen auch Henri Leclerc und Jesse auf, als sie durch das Treppenhaus zum Tatort gingen. Zwei Polizeiassistenten sorgten dafür, dass Jérôme und Emihild das Zimmer, in dem Florence lag, nicht betraten. Jesse registrierte beim Eintreten, dass es keine Möglichkeit gab, die Wohnungstür von innen zu verriegeln. Jeder, der wollte, konnte ungebeten in die Wohnung kommen. Leichtes Spiel für den Täter.

„Henri, die Eingangstür ist nicht gesichert. Was denkst du, gilt das für sämtliche Wohnungen in dem Haus?“ Henri wandte sich an Jérôme Gaillard.

„Jérôme, sind die Türen im Haus beziehungsweise den anderen Häusern ungesichert?“ Statt Jérôme antwortete Emihild:

„Nein, nicht alle. Nur die von den Familien, deren Oberhaupt zu faul ist, einen Riegel in die Tür einzubauen. Zum Beispiel Jérome Gaillard. Die Mieter müssen das erledigen. Da der Marquis unter der Todsünde Geiz leidet.“ Jérôme schämte sich, sodass er sich traurig und beschämt zurückzog. Er kam gegen die dominante Emihild nicht an. Obwohl sie in dem Fall nicht unrecht hatte. Jérôme, eher ein Melancholiker, verbrachte viele Tage mit Träumereien in der Freizeit und schob Aufgaben ewig vor sich her.

„Warum hielt sich Florence allein in der Wohnung auf,“ fragte Henri Emihild. Unter Tränen antwortete sie ihm:

„Sie wollte unbedingt zu Hause bleiben, um mit dem kleinen Holzpferd zu spielen. Sie beharrte hartnäckig darauf, trotz Bedenken gab ich nach. Sie stellen sich nicht vor, wie sehr ich das bereue.“ Sie ging hart mit sich selbst zu Gericht. Da ihr häufig vorgeworfen wurde, sich zu unnachgiebig gegenüber den Kindern zu verhalten, hatte sie sich in letzter Zeit großzügiger gezeigt. Der Schlappschwanz Jérôme hat mich dazu getrieben. Das werde ich ihm nie verzeihen, dachte sie.

Henri und Jesse resümierten, dass der Mörder die Tat spontan beging, da sich ihm eine unerwartete Gelegenheit bot. Er musste sich demnach am Nachmittag des 17. Juni in der Nähe des Hauses auf der Straße aufgehalten haben. Emihild und die vier Brüder kehrten nach drei Stunden vom Markt zurück, und fanden Florence leblos vor. Jesse folgerte:

„Ich glaube, dass der Täter Emihild und die Söhne beim Verlassen des Hauses beobachtete. Er wartete einen günstigen Zeitpunkt ab, um ungesehen ins Haus zu schlüpfen. Anschließend schlich er durch das Treppenhaus und drang in die Wohnung ein. Er war sich sicher, dass er nur Florence antreffen würde. Der Mörder wohnt in der Rue des Marmousets, garantiert.“

Samuel de Beauroglie und Raphaela Hors la Loi trafen in dem Moment in der Rue des Marmousets ein, in dem Jesse und Henri eine erste Einschätzung vornahmen. Henri hatte nach ihnen geschickt, da er sie mit den Ermittlungen beauftragen wollte. Die Bürger reagierten auf Kindsmord hoch empfindlich und erwarteten die schnellstmögliche Aufklärung des Verbrechens. Henri, der mit dem Apparat der Sicherheitskräfte bestens vertraut war, wusste, dass die Polizei ewig brauchen würde, um den Mord aufzuklären, wenn es ihr überhaupt gelang. Samuel de Beauroglie und Raphaela eilte der Ruf voraus, auch die kompliziertesten Fälle aufzuklären. Die beiden Privatermittler schraubten die Quote der gelösten Mordfälle in Paris von unter zehn Prozent auf über fünfzig.

Madame Rose, Samuels Ardenner Stute, verursachte auf dem rustikalen Pflaster der Rue des Marmousets einen Lärm wie ansonsten nur noch die Glocken von Notre Dame. Samuel lächelte in sich hinein, weil er Madame Rose‘ Sensibilität kannte. Sie hasste es, eine derartige Aufmerksamkeit zu erregen. Horst, Raphaelas Holsteiner Wallach schaute ernst geradeaus. Ein Lächeln hätte Rose nicht toleriert.

Nachdem sie die Pferde in einem Mietstall abgegeben hatten, führte Henri sie in die Wohnung, in der das ermordete Mädchen in einem der beiden Schlafzimmer entblößt auf dem Bett lag. Florence sah aus, als schlafe sie friedlich. Sie lag auf dem Bauch, den blasse Rücken bedeckte das üppige rote Haar, das sie von der Mutter geerbt hatte. Sie wies keine Zeichen äußerer Gewalt auf, jedoch zeichneten sich Blutergüsse auf dem Körper bereits ab. Außerdem fielen den Ermittlern die Würgemale am Hals auf. Raphaela untersuchte sie gründlich, bevor sie den drei Männern zunickte. Das hieß, Florence wurde zuerst vergewaltigt, ehe der Mörder sie erwürgte. Henri informierte die fassungslosen Eltern. Emihild schrie wie von Sinnen. Dann begann sie zu lamentieren.

„Ich habe es dir gesagt, dass der Claude aus der ersten Etage ihr eines Tages etwas antun wird. Wie er Florence anschaute, voller Wollust. Aber du wolltest keinen Ärger, hast ihn nicht zur Rede gestellt. Du trägst Schuld an ihrem Tod. Wenn wir weggezogen wären, lebte sie noch.“

Emihild hatte den fünfzehn Jahre älteren Jérôme geheiratet, da er sie gut versorgte. Jérôme ertrug ihre explosiven Ausbrüche, ohne sie zu erwidern, weil sie ihn glücklich machte und ihm der Frieden in der Familie wichtiger war. Bei Gobelins schätzte Arbeit alle den zurückhaltenden, ruhigen Mann, der außerdem über hervorrragende handwerkliche Fähigkeiten verfügte. Emihilds Explosionen glichen einem Vulkanausbruch. Ihr entgegenzutreten, hieße, in heiße Lava zu greifen. Auf ihre Schuldzuweisungen reagierte er vor den Ermittlern nicht. Samuel übernahm die Befragung der Eltern.

„Bitte hört zu. Sicher wollt ihr, dass wir den Verbrecher, der Florence das antat, schnell finden. Vergesst für den Moment alles andere. Die innerfamiliäre Auseinandersetzung führt ihr später. Jetzt zählt nur, dass der Mörder die Tat sühnen muss. Ich will den Kopf in einen Korb, ihr auch, oder? Wer ist Claude? Warum verdächtigst du ihn?“Jérôme fiel Emihild ins Wort. Samuel wurde böse.

„Ich habe sie gefragt Jérome, lass sie antworten. Verstanden?“ Ein strenger Blick aus den leuchtend blauen Augen genügte, um Jérôme zum Schweigen zu bringen.

„Emihild, bitte kein Schreien, konzentriere dich. Warum glaubst du, dass er Florence wehgetan hat?“ Emihild, eine frauliche Naturgewalt, versuchte ihre Impulsivität zu kontrollieren. Die Anstrengung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ruhige, konzentrierte Unterhaltungen waren ihr Ding nun einmal nicht. Samuel in seiner sympathischen und freundlichen Art schaffte es dennoch, ihren Respekt zu gewinnen. Sie spürte, dass er es ernst meinte und den Täter der gerechten Strafe zuführen wollte. Auch die extrovertierte, selbstbewusste Emihild beruhigte sich.

„Weil Claude Florence Nähe suchte. Manchmal ging er mit ihr in die Felder hinter den Häusern, und sie kamen erst nach einer längeren Zeit zurück. Claude ist geistig behindert, ihm fehlte die Kontrolle über die Triebe. Er zählt zwanzig Jahre. Die anderen Frauen in der Straße sagen, auch wenn Männer geistig eingeschränkt sind, wollen sie ficken. Die, Sie wissen schon, sogar mehr als die Normalen. Das sagen sie. Er hält ständig nach ihr Ausschau.“ Raphaela fragte:

„Fürchtete sich Florence vor Claude?“

„Nein, überhaupt nicht. Die beiden gingen sehr kameradschaftlich miteinander um. Der Junge trägt vielleicht keine Schuld. Das ist die Natur des Mannes. Der Trieb tobt übermächtig in ihm.“ Jetzt durfte Jérome seine Meinung zu Emihilds Verdacht äußern.

„Claude hat Florence nicht wehgetan. Er liebte Florence auf eine rein freundschaftliche Weise. Sie schenkte ihm trotz der geistigen Behinderung Aufmerksamkeit. Das spürte der Junge, deshalb sah er sie immer an und suchte ihre Nähe. Die anderen Jugendlichen, besonders die Bande um den Teufel Théo Dubois, spielten ihm üble Streiche. Wenn es ihm zu viel wurde, rastete Claude aus. Wenn er den Zustand erreichte, zog sich sogar Théo zurück. Aber er trug die Schuld an Claudes Wut. Florence verachtete Théo für das Verhalten.“ Jesse schaltete sich in das Gespräch ein. Er fragte Jérome nach Théo.

„Wer ist Theo?“

„Théo wohnt mit anderen gefallenen Jugendlichen mit drei Betreuern in einem der Häuser in der Rue des Marmousets. Paul Polinnaq, der Hausverwalter, erzählt überall herum, dass der Marquis den Wohnraum mietfrei zur Verfügung stellt, als ein soziales Engagement sozusagen. Das ist jedoch gelogen. Ich weiß von einem entfernten Cousin, der bei der Sozialbehörde der Stadt arbeitet, dass er von Paris in Goldmünzen bezahlt wird. Théo ist ein junger Kerl, höchstens achtzehn Jahre, dank der unheimlich großen Klappe führt er die Truppe der Jugendlichen an. Mehr weiß ich nicht über ihn zu sagen, ich habe keine Ahnung, woher er kommt.“ Théo war ein gebürtiger Pariser. Die Mutter, eine Prostituierte, lernte er nicht kennen. Die ersten Lebensjahre verbrachte er bei der Großmutter, die sich vorbildlich um ihn kümmerte. Sie starb an Diphtherie, in dem Monat in dem Théo acht wurde. Der Vater, ein Säufer und Randalierer, sorgte sich nicht um ihn. Théo gründete eine eigene Bande, die nachts auf Raubzug ging. Die Les Vengeurs gehörten bald der Geschichte an, da die Polizei ihnen das Handwerk legte. Die Sozialbehörde übernahm Théo. Auf dem Weg kam er in die Rue des Marmousets. Er besaß eine Eigenschaft, über die nur wenige verfügen. Eine natürliche Fähigkeit zur Führung. Die Jungen, die die Stadt in der Rue des Marmousets untergebracht hatte, folgten ihm bedingungslos. Wenn Théo mit den wehenden braunen Haaren und den grünen Katzenaugen zu der Gruppe hinzustieß, verstummten die anderen. Sie warteten, was er zu sagen hatte. Die Probleme begannen, wenn erwachsene Autorität ausübten, ihm Anordnungen erteilten oder ihn für ein unangemessenes Verhalten rügten. Auch Menschen, die das Potenzial erkannten, ihn förderten, scheiterten an ihm. Er duldete keine Einmischung in seine Angelegenheiten. Es war das Resultat fehlender Fürsorge und Erziehung. Nach dem Tod der Großmutter stand Théo mit acht Jahren allein in der Welt. Er entwickelte die Fähigkeit, ohne Hilfe von außen zu überleben. Samuel drängte.

„Wir müssen noch heute mit Claude sprechen. Laut Emihild bewohnt er zwei Räume im ersten Stock. Jérôme eine letzte Frage. Habt ihr Veränderung an Florence bemerkt? Irgendetwas Neues, Ungewöhnliches.“ Emihild und Jérome sahen sich an. Sie zuckten mit den Schultern und schüttelten den Kopf. In der ersten Etage lebte der geistig behinderte Claude. Ein Vormund hatte ihn in dem Haus untergebracht. Ein Nachbar kümmerte sich um ihn.

Bei Betreten der Wohnung schoss eine französische Bulldogge auf sie zu. Der Rüde brachte mindestens siebzig Kilogramm Körpergewicht auf die Waage.

 

Plötzlich ertönte ein strenger Ruf:

„Napoleon, sofort hier.“ Der Schwerathlet drehte auf der Stelle um. Sekunden später schaute er sie an der Seite eines jungen Mannes brav sitzend traurig an. Das Herrchen lachte herzhaft und nuschelte:

„Er will nur spielen.“ Claude freute sich diebisch über den gelungenen Kalauer. Er liebte den Satz, den er gebrauchte, wenn der Hund durch seine bloße Erscheinung Menschen in Angst versetzte. Dabei besaß Napoleon einen sanften Charakter. Man sah es ihm nur nicht direkt an.

Der Anblick der vier Ermittler ängstigte Claude. Der behinderte Junge hatte die Rue des Marmousets noch nie verlassen. Sowohl der Vater als auch die Mutter arbeiteten in der Gerberei. Claude wuchs auf der Straße auf, in der Nähe der Eltern, die das Leder in der Bièvre bearbeiteten. Die Lebenserwartung der Arbeiter in den Gerbereien betrug weniger als vierzig Jahre. Vor ihrem Tod regelte die Mutter, dass Claude nach ihrem Ableben in die kleine Wohnung zieht, in der er zur Zeit des Mordes lebte. Außerdem verfügte sie, dass Elliot Largarde, ein entfernter Cousin aus dem Périgord, von Beruf Notar, zu Claudes Vormund bestellt wurde. Neben dem Jungen wohnte der Armenier Hamlet mit Familie. Er betrieb die Boucherie im Basement des Gebäudes. Elliot Largarde reiste zu selten nach Paris, um sich um Claude zu kümmern. Gegen ein angemessenes Entgelt übernahm Hamlet die Aufgabe. Er aß mit der Familie, die stets ein Auge auf ihn hatte. Ohnehin kam Claude jedoch nicht auf die Idee, die Straße zu verlassen. Nur dort fühlte er sich einigermaßen geborgen.

Hamlet verstand sofort, dass Samuel und Gefolge beabsichtigen, ihn zu Florence Ermordung zu befragen, nachdem Henri sich und die anderen vorgestellt hatte. Ohne den Vormund durfte er Claude nicht offiziell vernehmen. Auch Hamlet kannte die Vorschrift.

„Es tut mir leid Herr Inspektor, aber Monsieur Largarde muss dabei sein. Sie dürfen Claude nicht ohne ihn befragen.“ Samuel schaltete sich ein.

„Hamlet, ich finde es gut, dass du auf den Jungen aufpasst. Wir befragen oder vernehmen ihn jedoch nicht, sondern unterhalten uns lediglich mit ihm. Vielleicht hat er jemanden gesehen, der sich am Nachmittag am Haus herumtrieb. Ich verspreche dir, niemand setzt ihn unter Druck.“ Hamlet wusste, dass es Wochen dauern würde, ehe Elliot Largarde einen Termin wahrnehmen konnte. Das war nicht in seinem Sinne, denn natürlich wollte er, dass sie den Verbrecher schnell überführten. Dass Claude es nicht getan hatte, daran bestand für ihn kein Zweifel. Deshalb willigte er ein. Er bot an, das Gespräch in seiner Wohnung zu führen, da Claude sich dort zu Hause fühlte.

Sie versammelten sich um den runden massiven Nussholztisch. Hamlets Frau servierte Tee. Samuel hatte Raphaela gebeten mit Claude zu sprechen. Die anderen verpflichte er zum Schweigen, um Claude nicht zu verwirren. Napoleon lag entspannt, wie es Hunde vermögen, ohne nur einen Funken an Aufmerksamkeit zu verlieren, neben dem Stuhl auf dem Claude saß. Claude, obwohl neunzehn Jahre alt, lebte in dem Körper eines zwölfjährigen Knaben. Klapperdürr und nur einen Meter und sechzig groß. Die dunklen Haare standen zu allen Seiten vom Kopf ab. Die Knollennase passte nicht zu den anderen Merkmalen. Sie verlieh ihm etwas Brutales. Er konnte nicht still sitzen, das Gesicht zuckte in unregelmäßigen Abständen. Die braunen Augen blickten unruhig umher. Bevor Raphaela das Gespräch begann, dachte sie, wie kann jemand glauben, dass der arme Junge Florence erwürgt hat.

„Guten Tag Claude. Mein Name ist Raphaela.“ Claude sah Hamlet an, der nickte. Claude antwortete:

„Guten Tag.“ Er wippte auf dem Stuhl auf und ab. Raphaela spürte die Anspannung des Knaben. Er sollte still sitzen, was ihm schwerfiel, weil die fünf ernsten Gesichter an dem Tisch ihn nervös machten. Raphaela flüsterte Samuel ins Ohr:

„Das ergibt keinen Sinn. Ich möchte gerne allein mit ihm ein Stück laufen.“

„In Ordnung, du hast recht, geh nur, ich erkläre es den anderen.“ Raphaela reichte Claude die Hand und sagte:

„Komm Claude, wir gehen ein bisschen spazieren. Napoleon begleitet uns.“ Erleichtert sprang er auf. Sie schlugen den Weg zu den Gärten des Klarissinnenklosters ein, die an der Rückseite des Gebäudes begannen. Dort fühlte sich Claude viel wohler. Raphaela zeigte ihm ein paar Kräuter, die Claude zu ihrer Überraschung kannte. Sie fragte ihn vorsichtig:

„Wohnt Florence auch in dem Haus, in dem deine Wohnung liegt.“ Claude antwortete entspannt.

„Ja, Florence ist unter dem Dach.“

„Kennst du sie?“

„Ja.“

„Hast du sie heute schon gesehen?“

„Nein.“

„Magst du Florence gerne?“

„Sie ist meine Freundin.“

„Liebst du Florence?“ Claude antwortete nicht, sondern verfiel in einen Lachkrampf und rannte mit Napoleon in einen anderen Gang des Kräutergartens. Nachdem Raphaela ihn erreicht hatte, lachte er und sprach:

„Ich liebe dich.“ Wieder liefen die beiden davon, Claude fröhlich lachend. Raphaela versuchte zu erfahren, ob er irgendjemanden an dem Tag auf der Straße oder im Haus gesehen hatte. Claude hatte jedoch keine Lust mehr auf das Frage-und-Antwort-Spiel, er blieb in dem albernen Modus, der ihm für den Moment großen Spaß bereitete.

 

In der Zwischenzeit sprachen Samuel, Henri und Jesse mit Hamlet. Hamlet, ein Berg von einem Mann, zwei Meter groß und 150 Kilogramm schwer, Hände wie Schaufeln, eine Riesennase, auf dem Kopf nur wenige Haare, saß den drei Ermittlern gegenüber. Er versicherte, dass ihm am Nachmittag in den Stunden in denen Florence geschändet und erwürgt wurde, nichts Ungewöhnliches aufgefallen war.

„Ich habe in der Zeit zwei Schweine geschlachtet und zerlegt. Vom Schlachtraum kann ich die Straße und den Hauseingang nicht einsehen. Es tut mir leid. Ich würde gerne helfen.“ Henris Hoffnung, den Mord am selben Tag noch aufzuklären, verflog. Der Verdacht der Mutter, dass der geistig behinderte Claude die Tat begangen hatte, ließ sich nicht erhärten.

Florence vier Brüder hatte Emihild zu einer Tante geschickt, wo sie die kommende Nacht verbrachten. Die Bewohner der Räume im zweiten Stockwerk unterhalb der Dachwohnung trafen sie nicht an. Dort wohnte kein geringerer als Jacques Giroud mit zwei Brüdern. Sie betrieben einige Kilometer entfernt in den Feldern von Saint Marcel eine der größten Boulonnais Zuchten Frankreichs. Der Grund für Jacques Berühmtheit in Paris wurde im Band 1 der Reihe beschrieben.

„Wir besuchen das Gestüt morgen. Im Anschluss daran reiten wir zurück in die Rue des Marmousets, um nach Hinweisen auf den Mörder zu suchen. Er kommt nicht davon, das schwöre ich,“ sprach Samuel feierlich. Henri ordnete an, dass Florence in einen der kühlen Keller transportiert wurde, die tief unter dem Rathaus lagen.

Angekommen in der Rue des Fossoneurs versorgten Samuel und Raphaela die Pferde. Zu Abend aßen sie wie gewöhnlich zusammen mit den Mönchen im Kloster. Die Stimmung an dem lauen Juniabend wirkte angespannt. Nach dem Essen diskutierten sie regelmäßig mit einigen Ordensbrüdern über den aktuellen Mordfall. Die klugen Brüder, die reges Interesse an den Kriminalgeschichten offenbarten, halfen Samuel in der Vergangenheit bei manchem Mordfall, den Schuldigen zu finden. Mithilfe ihrer Hinweise überwand er Stillstände in den Ermittlungen.

 

Für ihn und Raphaela war es der zweite gemeinsame Fall. Den ersten, einen Mord an einem italienischen Studenten an der Sorbonne, hatten sie bravourös gelöst.

Die Gespräche verstummten, da die Meisterköche aus der Klosterküche ein köstlich duftendes Cassoulet servierten, dazu einen einfachen trockenen Rotwein. Ein Raunen ging durch die Reihen. Der Eintopf aus der Region Languedoc bestehend aus weißen Bohnen, Speck, Pökelfleisch und Würstchen, heute ausnahmsweise mit Ente, erfreute sich großer Beliebtheit. Er passte nicht ideal zu einem heißen Tag, das hinderte die Esser jedoch nicht daran, mit gewaltigem Appetit zuzulangen.

Gegen Mitternacht, nach dem Austausch mit den Mönchen, saßen Samuel und Raphaela auf eine Bank in dem wunderschönen Klosterpark.

---ENDE DER LESEPROBE---