Das Marillenmädchen - Beate Teresa Hanika - E-Book
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Das Marillenmädchen E-Book

Beate Teresa Hanika

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Beschreibung

Welche Erinnerungen sind es, die ein Leben bestimmen?

»Sie schmeckte nach Rauch und dem verbrannten Boden des Topfes und gleichzeitig süß, diese Marmelade, sodass man nur einen Löffel nehmen wollte und dann war es auch genug. Genug Erinnerung, genug, dass mein Herz aufgewühlt wurde und schneller schlug, als gut für mich war.« Ein Marillenbaum in einem alten Wiener Garten. Seit ihrer Kindheit in den 1940er Jahren kocht Elisabetta jeden Sommer Marmelade ein. Und jedes Mal, wenn sie ein Glas aus dem alten Kellerregal in die Hand nimmt, es öffnet und den süßen Duft einatmet, erinnert sie sich an ihr Leben, an ihre in Dachau ermordete Familie, an ihre große Liebe Franz, an ihre Tochter Esther und ihre Enkelin Rahel. Elisabetta lebt zurückgezogen in ihrer Welt mit den Stimmen der Vergangenheit. Als die Tänzerin Pola bei ihr zur Untermiete einzieht, reißen die alten Wunden auf.

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Zum Buch

»Sie schmeckte nach Rauch und dem verbrannten Boden des Topfes und gleichzeitig süß, diese Marmelade, sodass man nur einen Löffel nehmen wollte und dann war es auch genug. Genug Erinnerung, genug, dass mein Herz aufgewühlt wurde und schneller schlug, als gut für mich war.«

Ein Marillenbaum in einem alten Wiener Garten. Seit ihrer Kindheit in den 1940er Jahren kocht Elisabetta jeden Sommer Marmelade ein. Und jedes Mal, wenn sie ein Glas aus dem alten Kellerregal in die Hand nimmt, es öffnet und den süßen Duft einatmet, erinnert sie sich an ihr Leben, an ihre in Dachau ermordete Familie, an ihre große Liebe Franz, an ihre Tochter Esther und ihre Enkelin Rahel. Elisabetta lebt zurückgezogen in ihrer Welt mit den Stimmen der Vergangenheit. Als das deutsche Mädchen, die Tänzerin Pola, bei ihr zur Untermiete einzieht, reißen die alten Wunden auf.

Zur Autorin

BEATE TERESA HANIKA, geboren 1976 in Regensburg, schrieb bereits mehrere erfolgreiche Jugendbücher, die u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet und für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurden. »Das Marillenmädchen« ist ihr erster Roman für Erwachsene. Beate Teresa Hanika lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Regensburg.

Beate Teresa Hanika

Das Marillenmädchen

Roman

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Copyright © 2016 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenCovermotive: © Me and You, 2014, (digital collage), Olga Shell/Private Collection/Bridgeman Images; ShutterstockSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-19612-7V002
www.btb-verlag.de

für Christina Magdalena Hanika

Ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Ich weiß, Geschichten sind aus der Mode gekommen. Spätestens seit der Jahrtausendwende habe ich keine mehr gehört. Außer diese. Sie handelt von Liebe und Freiheit, und mehr braucht es zu einer guten Geschichte nicht.

Es begann damit, dass die Russin auszog und das andere Mädchen einzog. Die beiden dachten, ich würde es nicht bemerken. Sie dachten, meine Augen wären so schlecht, dass ich eine Russin nicht von einer Deutschen unterscheiden könnte, dass der Singsang ihrer Stimmen so ähnlich ist, hart und fordernd, dass ich durch die Bodendielen nur ihren abgehackten Akzent hören und sie für ein und dieselbe halten würde. Sie dachten, ich würde nicht mitbekommen, dass eines Tages nicht mehr die Russin nach Hause kam, sondern die andere. Sie sperrte unten die Haustür auf und ging die knarzenden Treppen nach oben in den ersten Stock. Als sie mich unten in meiner Wohnungstür stehen sah, rief sie mir nur ein flüchtiges Guten Abend, Frau Shapiro zu.

Ich weiß, wie ich aussehe. Meine Augen sind wässrig und trüb, mein Haar ist in all den Jahren weiß geworden und mein Körper klapprig. Das ist er, auch wenn ich mir wünschte, es wäre nicht so. Optisch macht das sicher nicht den besten Eindruck. Aber verwirrt bin ich noch lange nicht. Ich verschränkte die Arme vor der knochigen Brust und lauschte ihren Schritten. Oben ging sie in der Wohnung umher, als wäre sie schon immer da gewesen. Sie streifte sich die Schuhe von den Füßen und lief auf blanken Sohlen ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und ließ Wasser in die gusseiserne Wanne laufen, während sie ihre Einkäufe in den Kühlschrank stellte.

Ich hatte die Russin nicht gemocht. Sie war ein einfaches Mädchen aus dem Grenzgebiet zur Mongolei, ihr Gesicht fast asiatisch, ihr Körper biegsam und leicht. So biegsam wie das Schilf, das sich zitternd über das schwarze Wasser des Baikalsees neigt. So leicht wie die Libellen, die sich mit knisternden Flügeln auf deine Hand setzen. Sie war anständig und ruhig. Und sie brachte keine Männer mit nach Hause. Nie. Vielleicht war sie zurück nach Hause gegangen, nachdem sie sich die Füße durchgetanzt hatte. Obwohl sie so anständig war, hatte ich sie nicht gemocht.

Bei der anderen reichte mir ein flüchtiger Blick, um zu wissen, dass sie Ärger hinter sich herschleppte wie eine Katze ihre Jungen. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich sie nicht gleich an diesem ersten Abend vor die Tür gesetzt habe. Schließlich war es mein Haus. Meine Wohnung. Doch irgendwie kam mir dieser Gedanke nicht in den Sinn.

Sie hinterließ einen Geruch nach Kolophonium im Treppenhaus. Das, und eine fatale Mischung aus Zorn, Angst und Geheimnis. Nach unausgesprochenen Worten und Taten, die man vergessen wollte. Vielleicht war es das, was mich daran hinderte, ihr nachzugehen und sie zur Rede zu stellen. Vielleicht waren es auch nur Altersleichtsinn, Langeweile und eine kleine Prise Feigheit, die mich zurückhielten. Wer weiß.

Meine Mutter erzählte mir immer, dass mein Vater mir meinen Namen gegeben hatte. Nachdem meine Mutter entschieden hatte, dass meine zwei Schwestern Judith und Rahel heißen sollten, hatte mein Vater auf Elisabetta bestanden. Elisabetta. Ein geradezu absurder Name für ein kleines jüdisches Mädchen, doch mein Vater sagte, er sehe es meinen Augen an, dass ich keinen gewöhnlichen Namen wollte, sondern einen, der mich von den anderen unterschied. Elisabetta Shapiro. Der Name unterschied mich. Damit hatte er wohl recht. Der Name war weder Fisch noch Fleisch. Ich war keine Italienerin. Und er gab weder einen Hinweis darauf, dass ich Jüdin war, noch dass ich aus Wien stammte.

Ich hätte es auch schlimmer treffen können. Ich will nicht jammern. Zudem die Kinder damals allesamt keine Glückskinder waren. 1934 war kein Jahr, in dem Glückskinder geboren wurden. Und ich glaube nicht, dass ein Kind aus diesem Jahr sein Schicksal je hätte verändern können, ob es nun Elisabetta oder Judith hieß.

Wie es heute damit steht, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass dieses Mädchen auch nicht wie ein Glückskind aussah. Als sie auftauchte und die Russin verschwand, begann gerade der Marillenbaum zu blühen. Hinter dem Haus, vor der Terrassentür, blühte der Baum mit solcher Hingabe, wie es nur die Natur fertigbringt. Er blühte und ließ gleichzeitig die weißen Blätter verschwenderisch auf das ungemähte, struppige Gras regnen, das sich rau unter den Füßen anfühlte. Nachts konnte ich nicht schlafen, weil der Geruch nach Frühling zu meinem Schlafzimmerfenster hineinkroch. Das machte mich und die Geister unruhig. Oder es war das Mädchen, das über mir herumlief und Pirouetten drehte.

Ich fand heraus, dass sie, wie die Russin, Tänzerin am Wiener Staatsballett war. Dass sie im Corps de Ballet tanzte und Deutsche war. Mehr musste ich nicht wissen.

Am nächsten Morgen, so früh, dass selbst mitten in Wien noch der Nebel über den Boden kroch, ging ich in den Garten hinaus und lehnte mich an den Marillenbaum. Ich konnte nicht schlafen. Nicht ihretwegen. Es war vielmehr, als wollten mich diese vierundzwanzig Stunden, die der Tag dauerte, nicht loslassen.

Mit den Jahren hatte ich mir angewöhnt, hier zu stehen, zu rauchen und mit Rahel und Judith zu sprechen. Rahel, die Ältere und Ernsthaftere, wies mich oft zurecht, was das Haus betraf. Ich ließe es verlottern, sagte sie. Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüsste, was ich mit dem Haus anstellte. Sie meinte damit, dass sich der Staub unter den Möbeln flockte und das Geschirr sich in der Spüle stapelte, weil ich keine Lust hatte abzuwaschen. Dass unter den Bildern helle Ränder waren, weil nie neu gestrichen wurde, und ich Eimer auf den Dachboden stellen musste, weil es dann und wann hineinregnete. Natürlich nur, wenn es stürmte oder wenn nach dem Winter der Schnee schmolz.

Mutter hat kein Grab, erwiderte ich dann immer etwas böse, weil ich wusste, wie sehr sie diese Tatsache traf. Judith besänftigte uns, strich wie der Wind über unsere Haut und hielt sich meistens still. Schon als Kind war sie ruhig gewesen. Zurückhaltend. Während Rahel und ich stritten, saß sie auf der Vordertreppe und las oder rollte Murmeln auf dem kleinen Weg vom Gartentor zum Haus hin und her.

»Was soll das Mädchen oben in der Wohnung«, sagte Rahel, und ich riss eine neue Packung Ernte 23 auf. Ich rauchte sie nur, weil ich wusste, wie sehr Rahel den Geruch verabscheute.

»Was meinst du?«, fragte ich.

»Die Neue. Das deutsche Mädchen.«

»Sie ist Russin.«

»Stell dich nicht dümmer, als du bist. Ich habe die Russin mit ihren Koffern mitten in der Nacht gehen sehen. Sie hat die Straßenbahn zum Hauptbahnhof genommen und sitzt jetzt wahrscheinlich in der Transsibirischen Eisenbahn.«

»Unsinn.«

»Nichts Unsinn. Du verschließt deine Augen.«

Judith ließ die Blätter im Baum rascheln, und ich zog an meiner Zigarette. Der Rauch legte sich bitter auf meine Zunge.

»Kein Mensch fährt noch mit der Transsibirischen.«

»Du weißt genau, wie ich es meine. Mutter würde sich im Grabe umdrehen.« Rahels Stimme klang wie mehrere klatschende Ohrfeigen, aber irgendwie langweilte mich dieser Satz mittlerweile. Zu oft gesagt. Zu oft gehört. Ich gähnte, riss den Mund so weit auf, dass Rahel bis zu meinem letzten verbliebenen Zahn sehen konnte.

»Ich weiß.«

»Sie würde es nicht dulden.«

»Eine Russin.«

»Eine Deutsche.«

Ich seufzte.

»Sei nicht albern. Was macht es für einen Unterschied. Mutter hätte auch keine Russin im Haus geduldet.«

Damit hatte ich wohl recht, denn Rahel hielt ihren bissigen Mund. Ich mochte sie wirklich. Tief drinnen liebte ich sie, wie nur Schwestern sich lieben können. Ich lehnte meinen Rücken gegen den Stamm des Marillenbaums. Er fühlte sich genauso rissig an wie mein eigener Körper.

»Wisst ihr noch«, sagte ich, »als Vater den Baum gepflanzt hat? Er hat ihn drüben in Mödling bei einem Obstbauern ausgegraben und hinten auf dem Fahrrad bis hierher gefahren.«

Rahel schwieg.

»Er sagte, es wäre ein guter Zeitpunkt, den Baum zu pflanzen.«

Ich konnte mich noch so gut an seine Worte erinnern, als hätte er gerade erst neben mir gestanden. Hier, an dieser Stelle, auf den Spaten gestützt, mit Erde auf der Stirn, weil er das Loch gegraben und sich dann mit der Hand über das Gesicht gewischt hatte. So gut, weil ich mir die Zeit danach genau so vorstellte. Orange und saftig. Süß und schwer, wie Marillen, die man sich noch sommerwarm vom Baum pflückte.

»Du warst noch nicht geboren, als er den Baum gepflanzt hat«, wies mich Rahel zurecht.

»Aber er hat es mir so oft erzählt, dass es sich anfühlt, als wäre ich dabei gewesen.«

»Blödsinn«, sagte Rahel mürrisch.

»Der Bauer in Mödling war im Krieg geblieben, und sein Garten war verwaist.« Ich schnippte die Asche in das dürre Gras. »Vater hatte noch nicht mal einen Eimer. Er hat sich den Wurzelballen in den Gepäckträger geklemmt und bestimmt die Hälfte der Erde verloren. Keiner hat geglaubt, dass der Baum überleben würde. Ohne die Erde und mit den paar Wurzeln. Aber er steht heute noch hier.«

So wie ich.

»Mit wem sprechen Sie?«

Ich hatte nicht bemerkt, dass das Mädchen hinter mich getreten war, und zuckte zusammen. Sie trug ein weißes Trikot – wahrscheinlich war sie auf dem Weg zur Oper – und darüber eine kurze Jeans. Unter dem dünnen Stoff konnte ich ihre Rippen und die magere Wölbung ihrer Brust sehen.

»Mit den Amseln.«

»Ach so.«

Mir fielen ihre Augen auf. Ihre Pupillen waren wie die mit bloßen Händen in den Stein gehauenen Tunnel in Montenegro. Stockfinster und ohne jeden Hinweis auf das Ende. Man musste sich überwinden, in den Tunnel zu fahren, man überlegte es sich drei Mal, und spätestens auf halber Strecke bereute man seinen Entschluss zutiefst. Sie hielt mir ihre leere Hand hin, und für einen kurzen Moment dachte ich, sie wolle sich mir nun vorstellen, förmlich, so wie es sich gehört, aber in Wirklichkeit wollte sie nur eine Zigarette. Ich ließ sie eine nehmen und gab ihr dann auch noch mein Feuerzeug.

»Ich dachte, Sie sprechen mit dem Baum.«

»Mit Bäumen kann man nicht sprechen.«

»Man kann mit allem sprechen«, sagte sie und bohrte ihre schwarzen Pupillen in meine.

Wir rauchten eine Weile schweigend, und ich spürte, wie Judith mir ihre Hände beruhigend in den Nacken legte. Vorne erwachte die Mariahilfer Straße. Die Straßenbahn fuhr klingelnd und quietschend in die Haltestelle, der Nebel löste sich unter unseren Füßen auf, und ich fröstelte, schlang mir selbst die Arme um die Körpermitte. Seit ich alt war, wich die Wärme aus mir, als hätte ich irgendwo ein Loch, durch das sie einfach so versickerte. Ich hatte nicht vor, die Deutsche auf ihren Betrug anzusprechen. Ich wollte sie nur ansehen und verstehen, warum sie hier war. Warum sie mich ausgerechnet jetzt gefunden hatte.

Über die Deutsche kann ich sagen, dass sie zwischen den Welten ging. Sie war eine, die ihre Gestalt wandeln konnte. Die eine dunkle Seite kannte, aber auch die helle. Die von einer zur anderen gleiten konnte, ohne dass etwas davon an ihr kleben blieb. Das ist außergewöhnlich. Normalerweise erkennt man es an den Augen, doch ihre gaben nichts preis. Diese schwarzen Tunnel endeten im Nichts. Sie erzählten nichts. Nichts, was sie je berührt hatte. Das bewunderte ich. Und verabscheute es zugleich. Vielleicht verwechselte ich ihre äußere Härte mit etwas, das man in ihrem Inneren nur erahnen konnte.

Der Tagesablauf der Russin war immer der gleiche gewesen. Wie ein Uhrwerk. Sie stand spät auf, weil die Proben spät begannen. Sie kam umso später zurück, weil die Vorstellungen spät endeten. Ich konnte das leise Klicken der Tür hören, die sie vorsichtig ins Schloss zog. Vorsichtig, um mich nicht zu wecken. Einmal hatte ich versucht, ihr zu erklären, dass das nicht notwendig war.

»Ich schlafe um diese Zeit nicht.«

Sie sah mich verständnislos an.

»Ich gehe nie früh zu Bett«, setzte ich hinzu, was sie noch mehr zu verwirren schien.

»Sie müssen nicht leise sein meinetwegen.«

»Bitte schön«, sagte sie, und erst da wurde mir klar, dass sie keinerlei Bewusstsein für ihre Handlungen hatte. Dass sie wie eine Marionette war, die tanzte, die zur rechten Zeit am rechten Ort war, die schlief und aß, aber nicht träumte. Plötzlich verstand ich, dass viele Menschen genauso waren, und mit Entsetzen dachte ich über mein eigenes Bewusstsein nach, über die vielen Stunden, die ich im Garten zubrachte und in denen mein Kopf sich immer mehr leerte und leerte.

Das deutsche Mädchen war vollkommen anders.

Sie schien keine festen Zeiten zu kennen. Ihr Tagesablauf war ohne jede Regel. Manchmal blieb sie den ganzen Tag und die halbe Nacht fort. Wenn sie zurückkam, schleppte sie sich mit letzter Kraft die Treppen zu der kleinen Dachgeschosswohnung hinauf. Ich vermutete, dass sie unmittelbar hinter der Tür liegen blieb und sich wie ein Tier, das auf der Jagd gewesen war, zusammenrollte. Wie ein Marder vielleicht, ein Mauswiesel oder ein Opossum.

Dann gab es Tage, da hörte ich kein Geräusch aus der Wohnung, obwohl sie ganz offensichtlich da war. Ihre Schuhe blieben unberührt vor der Wohnungstür. Oben wehte der Vorhang aus dem Fenster, und ich schwöre, ich konnte sie atmen hören. Schlief sie den ganzen Tag? Holte sie die Zeit nach, die sie sonst mit Tanzen verbrachte?

Schon am zweiten Tag brachte sie eine Horde Mädchen mit. Etwas, das die Russin nie gewagt hätte. Ich hatte die Russin nur scharf anzusehen brauchen, und sie war eingeknickt, von ihrer eigenen Schüchternheit verschlungen, wie das Kaninchen vor der Schlange. Ich hasste sie dafür, obwohl ich wusste, dass es unangebracht war, jemanden für seine Schwäche zu hassen.

Das Mädchen jedenfalls scherte sich nicht um meine Blicke. Sie ignorierte mich, als sie mit den anderen von der Oper kam. Eine Traube federleichter Geschöpfe, vom Nieselregen durchweicht, fast aufgelöst. Ihre Stimmen schwirrten im Treppenhaus, und ich stand vorne am Gartentor und blickte ihnen nach. Die Stirn gerunzelt, zornig, weil sie mich überging. Nicht fragte, nicht grüßte. Mir nicht einmal zunickte. Nichts.

Seltsamerweise hasste ich sie dafür nicht so sehr, wie ich die Russin gehasst hatte.

Das Alter hat mich nicht überrascht. Ich habe darauf gelauert, dass es über mich hereinbrechen würde wie ein sintflutartiger Regen, der alles mit sich reißt, ertränkt und auslöscht. Aber der Prozess war so schleichend, dass ich selbst jetzt noch an manchen Tagen über mein Spiegelbild staune. Über die runzelige Haut, durch die mein Körper wirkt, als wäre er auf wundersame Weise kleiner geworden. Zu viel Haut, zu wenig Fleisch. Was mich aber überrascht hat, ist mein Rücken. Irgendwann hat er zu schmerzen begonnen und beschlossen, nicht mehr damit aufzuhören. Meine Fußsohlen sind rau, und meine Schambehaarung nicht mehr existent. Was es leichter macht, ist, dass ich nie schön gewesen bin. Nicht schön wie meine Mutter oder Rahel und Judith.

Sie alle waren groß, mit langen, gleichmäßigen Gliedmaßen, schmalen Gesichtern und dunklem, welligem Haar. Ich dagegen geriet nach meinem Vater, der schon immer etwas gedrungen gewirkt hatte. Da er glatzköpfig war, kann ich nicht sagen, ob ich mein Haar von ihm geerbt habe. Es ist dieses Haar, wie es Ponys oft haben, nicht gewellt, nicht glatt, aber schwer zu bändigen. Die Statur habe ich auf jeden Fall von ihm, auch die tief liegenden Augen und die quadratischen Hände. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese Äußerlichkeiten für so eine unglaublich lange Zeit zweitrangig sein würden.

Zumindest damals nicht, als ich Rahel und Judith beobachtete, wie sie eine Decke im Garten ausbreiteten, um zu lesen. Die Kleider hochgeschlossen, und doch spitzte dort ein bloßer Fuß unter dem Saum hervor, rosig wie ein Versprechen, ein schmales Handgelenk, eine Locke, die sich über der Wange ringelte.

Von meinem Zimmer aus – das Zimmer, das dann das Mädchen bewohnte – schoss ich mit einer Zwistel auf die Jungen aus der Nachbarschaft, die an diesem Schauspiel teilhaben wollten. Ich zielte auf ihre Brust und traf sie meistens auf der Stirn. Gefluche, Gejammer. Was für eine gerechte Strafe. Meine Schwestern taten so, als bemerkten sie davon nichts.

»Das bildest du dir ein«, hatte Rahel erst kürzlich zu mir gesagt. »Im Krieg liegt man nicht im Garten. Man flüchtet, kämpft ums Überleben. Bomben fallen. Wann, sag mir, wann sollen wir im Garten gelegen haben.«

»Nebeneinander, wie die Sirenen«, neckte ich sie.

Ich konnte spüren, dass Rahel lächelte.

»Die Jungen verlangten Geld dafür, dass jemand durch das Loch im Zaun schauen durfte.«

Ein hoher Lattenzaun, der uns vor den Blicken der Nachbarn schützen sollte und im Zweifelsfall vor der ganzen Welt.

»Du träumst.«

»Ich erinnere mich.«

Judith kicherte, aber es konnte auch das Rascheln eines Eichhörnchens in den Zweigen sein.

»Niemals hätten wir zugelassen, dass sie am Zaun stehen und Geld verlangen.«

»Euer Anblick war es wert. Für mich hätte niemand gezahlt.«

»Du warst süß. Wie ein Kobold.«

»Danke.«

»Gerne.«

Als ich Jahre später meine Decke im Garten ausbreitete, später, als der Marillenbaum schon einen kleinen Schatten spendete und Rahel und Judith nicht mehr da waren, stand niemand am Zaun. Wer will einen Kobold unter einem Marillenbaum liegen sehen. Einen Kobold, der die Bücher seiner Schwestern las, die Seiten umblätterte, auf denen ihre Finger geruht hatten, unter den Blicken der jungen Männer, die nachts nicht schlafen konnten, weil sie von ihren Kniekehlen träumten, von ihrem Atem, der nach Wiesenheu roch, nach Kornrade und Mohnblumen. Die nicht schlafen konnten, weil sie sich nicht sicher waren, niemals sicher sein konnten, ob der flüchtige Blick über die Schulter ihnen galt oder dem Rosenkäfer, der über das Holz des Lattenzauns krabbelte.

Vielleicht überrascht das Alter nur die schönen Menschen, da für sie der Unterschied schmerzhafter ist, schmerzhaft wie ein unvermuteter Wespenstich. Für mich dagegen war das Alter eine Gnade. Es machte mir nichts aus, ein alter jüdischer Kobold zu sein. Im Gegenteil.

Auch das Mädchen war nicht schön, nicht im herkömmlichen Sinne. Aber ihre Bewegungen, die Art, wie sie den Gartenweg entlangschlenderte und im Vorbeigehen eine Cosmea abrupfte, um daran zu riechen, wie sie sich einmal um sich selbst drehte, wenn sie glaubte, niemand sehe ihr zu, wie sie die Füße voreinandersetzte. Das war schön. Und zu diesem Zeitpunkt hatte ich sie noch nicht tanzen sehen.

Ich beginne mit Polas Geschichte an einem Tag in München. Etwa sechs oder sieben Jahre ist dieser Tag her, vielleicht auch etwas länger. Es hatte seit Tagen nicht geregnet. Pola kam es wie Wochen vor. Das Gras im Garten hinter dem Haus war verdorrt und stachelig. Ihre Mutter hatte die Jalousien geschlossen, und nur noch nachts wurden die Fenster geöffnet, was aber auch keine Abkühlung brachte. Nachts lag Pola auf ihrem Bett und hörte, wie ihr Bruder Adèl im Nebenzimmer telefonierte und dann spätnachts noch aus dem Haus ging. Mit dem Auto ihrer Mutter wegfuhr, während ihre Mutter Nachtschicht im Krankenhaus hatte. Dann traute sie sich nicht mehr aus dem Bett, sondern verkroch sich unter der Decke, bis die Vögel am Morgen sie weckten, Adèl, der den Rover wieder in die Garage fuhr, oder ihre Mutter, die um fünf Uhr morgens die Haustür aufschloss.

Als sie aus München raus zum See fuhren, konnte Pola schon weit hinten das Gewitter erahnen. Sie stellte fest, dass sie den Wolken misstraute, und als sie länger über diesen absurden Satz – ich misstraue den Wolken – nachdachte, fiel ihr auf, dass es etwas anderes war. Etwas, das sie nicht einordnen konnte. Sie spürte, dass sich dort hinten mehr als ein Gewitter zusammenbraute, dass sie nicht zufällig in diesem Auto saß und auch nicht, weil ihr Bruder ihr einen Gefallen tun wollte. Adèl saß am Steuer des Rovers und Pola daneben. Sie ließ das Seitenfenster hinuntersurren, und der heiße Sommerwind wirbelte ihr die Haare ins Gesicht, klebte sie zu festen blonden Strähnen zusammen, die ihr in die Augen schlugen, bis sie wehtaten und zu brennen anfingen.

Sie schwiegen. Adèl hatte die Anlage so laut gedreht, dass eine Unterhaltung ohnehin fast unmöglich war. Die geteerte Straße ging in einen Feldweg über und endete schließlich vor dem See, vor den riesigen ausgebaggerten Erd- und Sandhügeln und einem festgestampften Platz, wo man sein Auto parken und seine Decke ausbreiten konnte. Erst jetzt öffnete Pola wieder die Augen. Götz’ Mercedes stand da, ein paar Motorräder, eine Kiste Bier. Adèl ließ das Auto bis zum Ufer rollen und riss dann die Tür auf. Pola stieg aus, beschattete ihre Augen und sah zur Insel hinüber. Sie misstraute auch der Insel, stellte sie fest, dem Wind und dem Wasser.

»Wird immer hübscher, die Kleine«, sagte Götz und zog Pola in seine Arme. »Auf die musst du aufpassen. Hörst du, Adèl.«

Solche Sätze machten Pola verlegen, deswegen hielt sie still ihr Gesicht an Götz’ Brust gedrückt und atmete seinen Geruch ein, der sich tief in ihre Magengegend legte. Es erinnerte sie an die Tage, die sie in dem quadratischen Haus verbracht hatte, schlief, aufwachte und immer noch da war. Tage, an denen Götz sie beschützte und mit ihr redete, als wäre er ihr Vater und ihr Bruder und vielleicht Gott.

»Ich will nicht, dass meinem Mädchen etwas zustößt.«

»Ich kann gut selbst auf mich aufpassen.« Pola presste ihr Gesicht so fest sie konnte in sein weißes frisches Hemd. Es roch nach alten Möbeln und Veilchen und den Jahren, die vergangen waren. Götz erwiderte ihre Umarmung.

»Weiß ich doch«, sagte er. »Weiß ich doch.«

Sie warfen ihre Klamotten in den Sand, und Adèl stürzte sich ins Wasser, grün war es, flaschengrün, und aufgewühlt durch seinen jungen, wilden Körper. Er setzte ihm Schaumkronen auf, teilte es mit seinen Armen und tauchte, so weit er konnte. Er konnte sehr weit. So weit, dass man Angst um ihn bekam, wenn man zusah. Ein weiteres Auto hielt, andere Jungs, die zu ihrem Bruder und Götz gehörten. Alles eine Familie. Polas Familie.

Sie machte sich von Götz los und begann, auf den Berg zu klettern, den die Bagger die letzten Tage ausgehoben hatten. Die Sonne prickelte auf ihrem Rücken, und der Kies rutschte unter ihren nackten Füßen weg. Von ganz oben konnte sie den See nun ganz überblicken, das tiefe Grün der anderen Uferseite, die Weiden und Birken, die der Wind zerzauste, den kleinen Weg, den sie sich rundherum gebahnt hatten, durch Brennnesseln und Springkraut. Die kleine Insel, die nur sie betreten konnte, weil sie die Stelle kannte, an der das Brombeerdickicht einen Durchlass freigab.

Kann man sich später erinnern an das, was man gedacht hat, als man jung war? Pola nahm sich vor, sich zu erinnern. Keinen einzigen Gedanken je zu vergessen, kein Bild zu verscheuchen, vor allem die glücklichen Bilder nicht, und dies war fast ein glückliches Bild. Die Jungs, die im Wasser tollten wie junge Hunde. Götz, der samt seinem weißen Hemd und der Hose hinterhersprang und brüllend wie ein Seebär wieder auftauchte. Die Musik, die immer noch lief, der Eisvogel, der pfeilschnell über die Wasseroberfläche schoss. Das kann man nicht vergessen. Niemals.

Sie rannte auf der anderen Seite den Hang hinunter, so steil, dass sie beinahe ins Straucheln kam, und setzte mit einem Kopfsprung ins Wasser. Eiskalt, dass es ihr die Luft nahm und Adrenalinströme durch den Körper jagte. An Land war sie besser, aber im Wasser auch nicht schlecht. So ist es, wenn man jung ist, mehr Kind als Mädchen, zu Hause in allen Elementen, eine Tänzerin zwischen Luft und Land und Wasser.

Sie schwamm bis zur Insel, das Gejohle der Jungs im Rücken, die Stimme ihres Bruders, die sie glücklich machte. Götz’ Rufe dazwischen, tief und voll, als könne er sie halten. Kurz vor der Insel, noch bevor sie den feinen Sand zwischen den Zehen spürte, drehte sie sich um, blickte zurück. Die tropfnassen jungen Männer kletterten aus dem See. Dann tauchte sie das letzte Stück, unter den im seichten Wasser liegenden Weidenstämmen hindurch, durch Schlingpflanzen und Algen und Froschgesang, fand die Stelle mit der glattgespülten Wurzel und zog sich an Land.

Zwei Mädchen, die sich treffen, wissen meist im selben Moment, ob sie füreinander bestimmt sind oder nicht. Zwei Mädchen brauchen kein Wort zu wechseln, um das herauszufinden. Sie erschnuppern es wie Wildtiere, sie legen wohl für einen Moment die Ohren an und heben ihre Nase gegen den Wind. Schwester oder Rivalin? Geliebte oder Verhasste?

Pola stand nur da und sah sie an. Auf der anderen Seite der Insel, der vom Ufer abgewandten Seite, stand sie bis zur Hüfte im Wasser. Zuerst sah sie nur ihren Rücken. Ein nasses schwarzes Männer-T-Shirt klebte an ihren Schultern, ihr Haar hing in dicken dunklen Strähnen über ihren Rücken.

Pola legte den Kopf schief. Sommerwind, der Gewitter mit sich trägt. Sekunden. Sekundenbruchteile.

Schwester. Geliebte.

»Was tust du da?«

»Was geht dich das an.«

»Weiß nicht. Ich will es nur wissen.«

»Ich habe den Frosch verloren, den ich küssen wollte.«

»Ach so.«

»Glaubst du alles, was man dir erzählt?«

»Ich versuche es.«

»Ich habe wirklich was verloren. Hier im dunklen Wasser. Ausgerechnet hier. Nicht drüben, wo es hell ist. Dort kannst du an guten Tagen jeden Kiesel sehen. Wenn du stillhältst.«

»Ich weiß.«

»Du darfst nur den Sand nicht aufwühlen. Dann siehst du natürlich nichts mehr. Aber hier. Hier ist es wie …«

»… tiefste Nacht.«

»Noch dunkler.«

»Stockfinster.«

»Wie der Rachen von einem …«

»Urtier.«

»Noch dunkler. Irgendwie.«

Sie verloren sich in Gedanken über Urtiere und Dunkelheit. Echsen und Alligatoren, die am Grund von Gewässern lauerten, und Pola starrte in das schwarze Wasser. Vom Ufer aus, hinter den Brombeerranken, konnte sie kaum die Beine des anderen Mädchens sehen, sie verschwanden im Schlick, zwischen den Seerosen, den Schwertlilien und Mückenlarven.

»Kennst du den Weg auf die Insel?«

»Klar.«

»An der glattgespülten Wurzel.«

»Hier gibt es auch einen.«

»Quatsch.«

»Ich lüge nie.«

»Hier sind doch nur Brombeeren und Dornen und Kletten, die sich festbeißen.«

»Ich könnte es dir beweisen.«

»Dann tu’s doch.«

»Dann finde ich die Stelle nicht mehr, wo ich es verloren habe.«

»Musst du jetzt auf immer hier stehen bleiben?«

»Bis ich Schwimmhäute kriege.«

»Und Fischschuppen.«

»Und einen Meerjungfrauenschwanz.«

»Bis zum Winter solltest du es gefunden haben. Sonst frierst du bis zur Hüfte fest.«

Endlich drehte sich das andere Mädchen um. Vorsichtig, um den Schlamm nicht noch mehr aufzuwirbeln. Sie hatte ein kantiges Gesicht mit breiten Wangenknochen und eine auffällige Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen. Pola klopfte das Herz bis zum Hals.

»Direkt vor dir ist ein Loch. Guck auf den Boden.«

Pola tat es. Das Loch war zwischen Brennnesseln und Marienblatt. Und wenn sie sich ganz klein machte, passte sie hindurch.

»Aber dass du mir ja nicht hier im Wasser herumtrampelst.«

»Schon klar.«

Sie wand sich durch das Loch und ließ sich auf der anderen Seite wie eine Schlange ins Wasser gleiten.

»Was hast du denn verloren?«

»Eine Kette. Golden. Mit meinem Namen drauf.«

»Wie ist denn dein Name?«

»Rahel.«

»Gut, dann finde ich sie.«

Rahel lachte. Ihre Stimme war rau, heiser, fast wie ein Junge im Stimmbruch, und Pola musste auch lachen. Sie begannen zu tauchen, wühlten mit ihren Händen im Schlamm, erst zögernd, dann ohne Hemmungen. Was verloren ist, ist verloren. Sie fanden schwarze Steine, Miesmuscheln, geschlossene und offene, Frösche, Angelhaken und eine alte Blechschachtel, die so verrostet war, dass man sie nicht mehr öffnen konnte. Irgendwann robbten sie durch den Bibertunnel wieder auf die Insel und ließen sich von der Sonne trocknen, als wäre ihre Suche plötzlich nicht mehr wichtig, als könnten sie vergessen, wonach sie gesucht hatten. Als wäre es bereits verloren und vom Schlamm verschluckt.

Der Geruch von Springkraut hing schwer in den Zweigen der Weiden, es knisterte und raschelte auf der Insel, und die Mädchen ließen die Luft zwischen sich flirren, legten sich ihre Geschichten in die Hände wie kleine, fest verpackte Geschenke.

Tatsächlich hat es eine Zeit gegeben, in der ich nicht so müde war wie jetzt. Wenn ich mich genau erinnere, war diese Zeit in den späten vierziger Jahren. Es können auch die Fünfziger gewesen sein, und manchmal erscheint es mir, als könnte ich diesen Zustand exakt auf das Jahr 1953 festlegen, das Jahr, in dem meine Schwestern zurückkamen und ich plötzlich nicht mehr einsam war. Ich war gerade dabei, Marmelade einzukochen. Der Marillenbaum bog sich unter der Last der Früchte, und immer, wenn ich einen Moment Zeit hatte, lief ich im Garten umher und sammelte die heruntergefallenen Marillen in Mutters altem Steinkrug. Ich liebte es, diese weichen, pelzigen Früchte in den Händen zu halten. Sie anzusehen, ihre orange Färbung, die ins Rötliche ging, den Saft, der einem zwischen den Fingern hindurchlief, wenn man sie aufbrach, um den Kern, den perfekten Kern, den man dann trotzdem achtlos ins Gras fallen ließ, herauszuholen. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, alle zu ernten, bevor sie überreif wurden, aufplatzten, Wespen und Hornissen anlockten und für immer verloren waren, aber ich versuchte es zumindest, ich gab mein Bestes, und manchmal stand ich bis mitten in der Nacht am Herd, wenn ich zuvor keine Zeit gefunden hatte. Ich gähnte, während ich den Zucker abwog und Zitronensaft auspresste. Meine Augen brannten, wenn die süße Masse langsam zu brodeln anfing und schmerzende, heiße Spritzer meine Unterarme trafen.

Ich dachte an die Gläser, die ich im Keller aufbewahrte. Auf den langen Regalen, die mein Vater gekauft, aber nie gefüllt hatte. Im Halbdunkel der matten Glühbirnen schimmerten sie golden, und ich wunderte mich etwas, warum sie sich nicht verfärbten. In all den Jahren.

Zum Beispiel das Marmeladenjahr 1949. Nur ein Glas, mit einem Schildchen, auf dem ich mit meiner runden Schrift – seltsamerweise ist sie mittlerweile enger und schräger geworden – sogar den Tag festgehalten hatte. Dritter Juli 1949. Sonntag. Im Gegensatz zum Jahr danach war es ein kühler Sommer gewesen, in dem der Baum nur wenige Früchte abgeworfen hatte. Die meisten waren wegen des Regens am Baum verfault oder von den Amseln und Drosseln verspeist worden, wahrscheinlich, weil die Vögel nichts anderes fanden. Die wenigen Marillen für das eine Glas hatte ich mit Mühe und Not aus den Margeriten gelesen, die sich regenschwer an den Stamm lehnten, und nachdem ich sie eingekocht hatte, vergaß ich das Glas im Speiseschrank. Als der Baum im nächsten Jahr trug, übervoll, weil das Frühjahr sonnig und mild und der Sommer heiß gewesen war, fiel es mir wieder in die Hände, und ich stellte es unten mit ins Regal. Ich weinte, nicht wegen des Glases oder meiner Vergesslichkeit, sondern weil der Nachbarsjunge mein Herz gebrochen, mich wieder geküsst und dann wieder verlassen hatte. Und ich stellte fest, dass der Schmerz zwar nicht verging, aber doch gemildert wurde, wenn ich die Marillen entkernte und dann im Topf vehement zu Brei stampfte. Dass die Tränen, die mir über die Wangen liefen, nicht mehr salzig schmeckten, sondern süß, und dass, je länger ich rührte und je heißer die Marillenmasse kochte, Blasen schlug und auf meine Schürze spritzte, umso weiter mein Herz wurde. Ich kochte achtundzwanzig Gläser ein und strafte den Jungen am nächsten Tag mit Verachtung.

Und wehe, wenn ein Kobold hasst.

Als meine Schwestern zurückkamen, in einer heißen Julinacht im Jahr 1953, beugte ich mich gerade über den Topf, um zu sehen, ob sich schon Haut auf den Marillen bildete. Ich tauchte den Löffel hinein und konnte mir nicht verkneifen, ihn abzulecken.

»Wird dir alles verschimmeln, das Zeug, wenn du dir nicht abgewöhnst, deine Zunge hineinzuhängen.«

Rahel.

»Sie verschimmelt dir, noch ehe du den Deckel draufgeschraubt hast.«

»Ich mach das immer so.«

»Das heißt nicht, dass es gut ist. Mutter hat immer einen Zweig Lavendel hineingetan.«

»Hmmm.«

»Warum machst du’s nicht?«

»Der blüht noch nicht.«

»Einen Zweig. Keine Blüte. Das Aroma ist genauso im Laub des Lavendels. Dummkopf.«

Sie klang bockig, als wäre sie wütend, dass ich alleine hier tun und lassen konnte, was ich wollte.

»Du musst die Marmelade nicht essen.«

»Du hast den Lavendel verholzen lassen. Mutter hat ihn im Frühjahr immer zurückgeschnitten auf exakt zehn Zentimeter. So fällt er später nicht auseinander. Der Lavendel ist zerzaust, wie deine schreckliche Frisur.«

Ich konnte nicht verhindern, dass mein Herz Freudensprünge machte. Rahels Stimme, so streng, wie ich sie kannte. Ich blickte durch das Küchenfenster nach draußen auf die Straße. Sie war wie leergefegt, die Straßenlaternen surrten und Eintagsfliegen kreisten darum, verbrannten sich, taumelten und starben, noch ehe sie den Boden berührten. Fahrradfahrer gerieten auf ihnen ins Straucheln, und am nächsten Morgen würde ich mit dem Besen hinausgehen und die Fliegen allesamt in den Rinnstein kehren. Das blecherne Geräusch eines Fernsehapparates und der träge Gesang des Rotkehlchens vermischten sich zu einem Strang, der sich um mein Herz schloss. Das Leben war wunderbar.

»Außerdem ist sie nicht koscher.«

Koscher. Dieses Wort, das ich nie verwendete, nach dem ich nicht lebte, das mir nichts bedeutete. Nichts. Kein Gedanke.

»Es ist Schabatt, und Marmelade, die am Schabatt zubereitet wurde, ist niemals, niemals nicht koscher.«

Kurze Stille, in der ihre Augen über die Gläser wanderten.

»Gläser, die vorher Leberwurst enthalten haben, sind nicht koscher.«

»Wie gesagt, du musst die Marmelade nicht essen«, sagte ich, ohne meinen Blick von der Straße abzuwenden. Niemand aß die Marmelade.

Wie lange hatte ich hier gewartet. Wie lange hatte ich hier gestanden. Ich konnte am Luftzug spüren, dass Judith hinter mich trat.

»Schwesterchen … Schwesterchen …«, hauchte sie mir ins Ohr, und da drehte ich mich um und fiel ihnen in die Arme, weinend und lachend zugleich.

In der Woche nachdem die Deutsche eingezogen war, ging ich in den Keller und holte ein Glas vom Regal. Wahllos. Das hatte ich noch nie getan. Sie zu archivieren war genug gewesen. Ich griff nach einem und sah mir nicht einmal das Etikett an. Nur so lange es unbedingt nötig war, wollte ich hier im Keller bleiben, in dem es immer ein bisschen nach der Zeit nach dem Krieg roch. Dunkel und feucht. Ich klemmte mir das Glas unter den Arm. Es war Zeit, damit anzufangen. Wer weiß, wie lange es noch dauern würde, jetzt, wo sie da war.