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Frühlingsidylle in Furth am See, einer Kleinstadt in Österreich. Doch damit ist es mit einem Schlag vorbei, als eine rätselhafte Serie von Kindesmisshandlungen die Bewohner der Stadt in Unruhe versetzt. Der Psychiater Raffael Horn und Kommissar Ludwig Kovacs versuchen fieberhaft, den Täter zu finden, bevor die Sache noch weiter eskaliert. Das ungewöhnliche Ermittlerduo aus Hochgatterers Bestseller "Die Süße des Lebens" geht in diesem literarischen Krimi ein weiteres Mal auf gemeinsame Spurensuche.
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Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2010
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Deuticke eBook
Paulus Hochgatterer
Das Matratzenhaus
Roman
Deuticke
eBook ISBN 978-3-552-06134-7
Alle Rechte vorbehalten
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2010
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
www.hanser-literaturverlage.de
Datenkonvertierung eBook:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Revenge, revenge! Timotheus cries,
See the Furies arise!
See the snakes that they rear,
How they hiss in their hair,
And the sparkles that flash from their eyes!
John Dryden
Wie es gewesen sein muss
Der Wind ist da. Die Pelikane schnellen hoch wie an Gummibändern, blöken auf, stoßen mit angewinkelten Schwingen steil nach unten und durchschlagen die Wasseroberfläche. Wenn sie nach einer Weile an anderer Stelle wieder auftauchen, recken sie ihre Schnäbel, schütteln die Kehlsäcke und befördern, was drin ist, in den Schlund. Dann machen sie sich zu einem neuen Start bereit. Der Schwarm, vielleicht zweihundert Tiere, fällt in der Luft weit auseinander, so, als würde er sich ganz auflösen, um sich Augenblicke später zu einer dunklen Wolke zu verdichten. Das wiederholt sich hunderte Male. Bei ablandiger Luft halten sich die Vögel regelmäßig über dem Strandabschnitt auf, der sich zwischen den Verladedocks des Hafens und der langen grauen Halle der Schienenfabrik hinzieht.
Die Frau mag die Tiere nicht. Sie sind laut, und wenn man ihnen nahe kommt, stinken sie. Sie rückt mit einer kurzen kreisenden Bewegung der Schulter den gelben Stoffsack auf ihrem Rücken zurecht, fasst im Gehen seitlich nach unten, hebt das Mädchen, das die ganze Zeit neben ihr hergelaufen ist, hoch und setzt es sich auf die linke Hüfte. Die Kleine hält kurz inne, dann beginnt sie glucksend zu lachen und mit den Armen zu rudern. Sie zeigt auf ein Distelgebüsch, durch das ein Neuntöterpärchen hüpft, auf einen Bretterverschlag mit aufgemalten Gesichtern und auf einen alten Mann, der in einem Plastikstuhl sitzt und schläft. Die Frau spricht immer wieder einige Sätze, mittellaut und mit einer gewissen Eindringlichkeit, so, als erzähle sie kurze ernste Geschichten. Das Mädchen brabbelt dazwischen. Manchmal scheint es aufmerksam zu sein, manchmal nicht. Bevor die Frau beginnt, in einer steilen Schräge den Abhang zur Straße hochzuklettern, schließt sie den Arm fest um den Leib des Kindes, weist mit dem Kopf gegen den Himmel und sagt etwas, das »Jetzt musst du ruhig halten« bedeuten mag. Das Mädchen legt die Arme vor den Körper und den Kopf gegen die Brust der Frau.
Der Wind treibt ockergelbe Staubwirbel über die Fahrbahn. Die Autos scheren in einiger Entfernung nach rechts aus, um an einer Herde von Ziegen vorbeizufahren. Ein LKW, der mit Gemüsekisten beladen ist, hupt laut. Die Ziegen kümmert das gar nicht. Der Mann, der die Tiere begleitet, trägt eine Augenklappe. Er hat zwei lange Bambusstöcke auf seiner Schulter liegen.
Das Mädchen greift nach oben, an den Ausschnittrand der Bluse der Frau, und beginnt ihn zwischen den Fingern zu drehen. Die Frau schüttelt sich unwillig. Als das Mädchen keine Anstalten macht, aufzuhören, stellt sie es auf den Boden. Die beiden gehen eine Weile hinter der Ziegenherde her, dann biegen sie in eine breite Straße ein, die von Plakatwänden gesäumt ist. Das Mädchen weist mit ausgestrecktem Arm auf eine Mobiltelefon-Reklame; die Frau sagt etwas und lacht. Das Mädchen ist verlegen, bückt sich, hebt eine Getränkekapsel auf und wirft sie wieder von sich. Die Frau blickt dem davonspringenden orangefarbenen Ding nach. Dabei nimmt sie aus dem Augenwinkel wahr, dass sich über die Hügel hinter der Stadt eine mächtige Wolkenwalze schiebt. Sie fasst das Mädchen an der Hand und beschleunigt ihren Schritt.
Nach der Zufahrt zu den Wellblechhallen einer Spedition, unmittelbar im Anschluss an eine Reihe frisch gestrichener Wohnhäuser, gelangen die beiden auf den rechteckigen Vorplatz eines fahnengeschmückten Gebäudes. Auf den unteren Stufen der Freitreppe, die im Bogen zum Eingang emporführt, hockt eine Traube von Menschen. Vor ihnen geht mit ausladenden Gesten ein Mann auf und ab. Seitlich, senkrecht zur Treppe, hat er nebeneinander drei Korbbehälter hingestellt, einen länglichen, quaderförmigen und zwei runde. Das Mädchen jubelt auf, löst sich von der Frau und will auf die Menschen zulaufen. Die Frau packt das Kind an der Schulter und hält es zurück. Das Mädchen protestiert laut und versucht sich dem Griff zu entwinden. Es beruhigt sich erst, als die Frau es hochhebt und mit ihm an die Gruppe herantritt. Der Mann, klein, mager, mit einem abnorm großen Kopf, erblickt das Mädchen und hebt einen Finger. Das Mädchen versucht sein Gesicht am Hals der Frau zu verbergen; die Frau spricht beschwichtigend auf das Kind ein und zeigt abwechselnd auf den Mann und die drei Körbe. Der Mann hebt den Deckel eines der runden Körbe hoch, langt hinein und holt eine vielleicht dreißig Zentimeter lange Schlange heraus. Er fasst das Tier mit Daumen und Zeigefinger unmittelbar hinter dem kleinen, dreieckigen Kopf und zeigt es der Menge. Die Schlange ist blassgrün und hat an den Seiten jeweils zwei Reihen leuchtend gelber Punkte. Der Mann steigt einige Stufen die Treppe hoch, legt den Kopf in den Nacken und beginnt sich die Schlange langsam in sein rechtes Nasenloch zu schieben. Die Leute kreischen auf; manche wenden ihre Gesichter ab. Als schließlich nur noch die Schwanzspitze zu sehen ist, öffnet der Mann den Mund, langt mit dem linken Zeigefinger, vorbei an seinen schwarzbraunen Zahnreihen, nach hinten und zieht die Schlange mit einer schwungvollen Bewegung wieder hervor. Unter dem Gejohle der Menge verbeugt er sich.
Das Mädchen umfasst mit der einen Hand erneut den Blusenausschnitt der Frau. Zeige-, Mittel- und Ringfinger der anderen Hand schiebt es sich langsam in den Mund, immer weiter. Die Frau schaut über die Dächer der Stadt hinweg in die Ferne und scheint den Wind zu prüfen. Erst als das Mädchen heftig zu würgen beginnt, blickt sie es an. Sie sagt nichts, ergreift die Hand des Mädchens und zieht sie ihm aus dem Mund. Es ist noch Zeit. Es wird Regen geben, doch sie sind beinahe am Ziel.
Der Mann mit dem großen Kopf winkt die Frau und das Mädchen zu sich. Das Mädchen schließt die Augen, als der Mann es auffordert, in die Korbtonne zu schauen. Die Frau lächelt und sagt etwas, das vielleicht »Hab keine Angst« bedeutet. Der Mann beugt sich zu dem Mädchen hinab und flüstert ihm etwas ins Ohr. Dann greift er in die Seitentasche seiner Jacke und drückt ihm ein kleines rundliches Ding in die Hand. Das Mädchen steckt es sich rasch in den Mund. Die Frau schüttelt den Kopf, tut aber sonst nichts. Ein Bonbon, denkt sie vielleicht.
Sie gehen, schneller als zuvor, erst eine Platanenzeile entlang, dann auf einem fest ausgetretenen Weg eine flache Anhöhe empor. Die Frau blickt sich mehrmals um. Die Wolkenberge stehen hoch über der Stadt. Im Osten ragen wie riesige Säulenstümpfe die Schlote des Kraftwerks auf. Die Pelikane sind verschwunden. Das Mädchen läuft um die Tamariskenbüsche, die seitlich des Weges wachsen, herum und stößt kleine helle Laute aus. Als vor ihnen ein zinnoberfarbenes Haus mit Bogenfenstern auftaucht, tritt das Mädchen an die Seite der Frau und ergreift ihre Hand.
Der Diener, der das Tor öffnet, führt die beiden durch eine spärlich möblierte Halle in einen Glasanbau mit breiten Türen zum Garten. Drei Menschen, zwei Männer in Anzügen und eine Frau mit rosafarbener Handtasche, stehen dort und unterhalten sich in einer fremden Sprache. Als sie die Frau und das Mädchen erblicken, verstummen sie. Der eine Mann – er ist klein und dick – geht auf sie zu und legt dem Mädchen die Hand auf den Kopf. Das Mädchen duckt sich. Der andere Mann zieht einen Briefumschlag aus der Innentasche seiner Jacke und reicht ihn der Frau. Sie lässt das Mädchen los, tritt an ein rundes Tischchen mit Mosaikplatte, auf dem eine Vase und ein paar Gläser stehen, und öffnet den Briefumschlag. Sie legt das Geld, das sich drin befindet, vor sich hin, zählt es, indem sie Schein auf Schein neu aufstapelt, steckt es zurück und nimmt den Umschlag an sich. Sie lässt den gelben Stoffsack von der Schulter gleiten, hält mit abgespreizten Armen einen Augenblick lang inne und verlässt, ohne sich noch einmal umzublicken, mit hastigen Schritten den Raum.
Das Mädchen steht einfach da und schaut. In einer Entfernung von zwei, drei Metern liegt der Stoffsack auf dem Boden. Keiner sagt etwas.
Draußen läuft die Frau durch den Wind. Vielleicht lacht sie. Vielleicht schreit sie auch. Die ersten Tropfen schlagen schwer in den Staub.
Eins
Sie steht in der Tür, blickt in die Klasse und weiß, dass es wieder einmal schwierig werden wird. Alle paar Wochen ist das so.
Langsam stellt sie ihre Tasche ab. Es liegt nicht an mir, denkt sie, vor zwei Minuten hat es geläutet, die Kinder sind in Aufruhr und mittendrin sitzt ein kranker Mensch auf dem Tisch und spricht vom Himmel. Es liegt definitiv nicht an mir.
Sie bemüht sich, ruhig zu bleiben, und lässt ihre Augen über die Wand gleiten, links herum: die Tafel; der Schrank mit dem Bastelmaterial; die blühenden Bäume, einundzwanzig Stück, von jedem Kind einer, manche gezeichnet, manche aus Zeitschriften geschnitten; die große Österreichkarte mit dem roten Hasen, den Lena unten rechts draufgemalt hat; Philipps Fußabdrücke an der Wand, der linke in einer Höhe von eins zwanzig; die Rolltafel mit der Schulschrift – die muss sein, hat die Direktorin gesagt; die Fenster, in ihnen die Dächer der Stadt und im rechten, ganz am Rand, ein winziges Stück vom See.
Bauer sieht sie, lacht, winkt ihr zu und denkt nicht daran, aufzuhören. Es scheint ihm gut zu gehen – immerhin. Jetzt singt er, völlig unvermittelt und laut. Sie versucht zu erkennen, was es ist. On the water versteht sie, sonst nichts. Julia und Sophie singen mit, ebenfalls laut.
Sie klatscht in die Hände. »Schluss, meine Lieben«, ruft sie, »jetzt bin ich dran!« »Hallo, Stella!«, sagt Bauer, »nimmst du an meinem Unterricht teil?« »Ich bin evangelisch«, antwortet sie, obwohl es nicht stimmt. »Du lügst!«, ruft Bauer. »Darf ich jetzt wieder?«, fragt sie, »bitte.«
»Nur wenn du mir sagst, wie Gott aussieht.«
»Ein alter Mann mit weißem Bart.«
»Richtig. Und was trägt er bei sich?«
»Ein Buch und einen Blitz.«
»Falsch! Eine Gitarre natürlich!«
Sie sieht einen zornigen alten Mann vor sich, der eine Gitarre gegen eine Schultafel schmettert, und wundert sich über sich selbst, da zupft sie Manuel am Ärmel. Er hält ihr ein Zeichenblatt hin. »Wir haben Gott gezeichnet«, sagt er stolz. Angesichts der Graphomotorikschwäche des Buben ist vor allem die Gitarre gut gelöst – ein Kringel mit parallelen Strichen seitlich weg: eins bis sechs. Im Rechnen läuft es bei ihm tadellos.
Bauer springt vom Tisch, tanzt in Wechselschritten auf sie zu und küsst sie auf die Wange. Die Kinder lachen. »Meine Lieblingslehrerin!«, ruft er. »Ist schon gut«, sagt sie, »packst du jetzt bitte deine Sachen?!«
»Besitzt Gott deines Erachtens einen Gehstock?« Er umkreist sie und fragt, ob Gott Unterhemden trage oder eine Lesebrille, ob er vegetarisch esse, Pfeife rauche und eher ein Auto- oder ein Motorradtyp sei. »Motorrad«, sagt sie, »und er hat Probleme mit seiner Lendenwirbelsäule.« Er hält inne, und bevor er einhaken kann, sagt sie, dass bei Gottes letzter Gesundenuntersuchung der Prostatabefund nicht ganz in Ordnung gewesen sei, und außerdem sei sein Psychiater total unzufrieden mit der Zuverlässigkeit seiner Medikamenteneinnahme.
»Du bist eine fiese, feministische Volksschullehrerin«, sagt Bauer und sie fürchtet, dass Manuel, der mit offenem Mund neben ihr steht, im nächsten Augenblick wissen möchte, was denn das sei, feministisch und Prostatabefund.
Während Bauer seine Schuhe sucht, dirigiert sie die Kinder an ihre Plätze. Einer fehlt. »Was ist mit Felix?«, fragt sie. Bauer blickt sich verwirrt um. »Er ist nach Hause gegangen«, sagt Julia.
»War ihm nicht gut?«
»Doch, er hat ganz gesund ausgesehen.«
Sie sucht den Blick Bauers. »Erklärst du mir das bitte. Felix ist was?! Nach Hause gegangen?!«
»Was hast du?«, sagt Bauer, »er wohnt zwei Straßen weiter.«
Meine Klasse, denkt sie, es ist meine Klasse, und mit einem Anflug von Verwunderung registriert sie ihren Besitzanspruch, außerdem, dass die grenzenlose Nachsicht mit ihren Mitmenschen, die die sichere Basis ihres Charakters ist und sie ohne Zweifel für ihren Beruf prädisponiert wie kaum jemand anderen, innerhalb einer einzigen Sekunde völlig zusammenbricht.
»Sag das bitte noch einmal! Du hast ihn nach Hause gehen lassen?! Allein?«
»Er tut das öfter. Bis jetzt ist er jedes Mal nach einer Viertelstunde wiedergekommen. Er ist abgemeldet.«
»Er ist abgemeldet?!« Jetzt brüllt sie tatsächlich. Das entspreche ganz dem Bild, das sie von dieser professionellen Katholiken-Fraktion habe – verlogen, träge und, wenn es drauf ankomme, verantwortungslos bis in die Knochen. »Ein sechsjähriges Kind wird vom Religionsunterricht abgemeldet und der Herr Pater findet nichts dabei, es allein auf die Straße zu schicken. Zwischendurch, einfach so!« Bauer macht einen spitzen Mund, zieht den Kopf ein und nimmt seine Jacke vom Haken. Die Kinder ducken sich ebenfalls. Etwas geht mit mir durch, denkt sie, das passiert selten. Der dicke rothaarige Leonhard tritt auf sie zu. »Ich gehe hinüber und schaue, ob er vielleicht eingeschlafen ist«, sagt er. Sie fasst seine Hand und antwortet nicht. »Wie lange ist er schon weg?«, fragt sie. Bauer blickt auf die Uhr. »Vierzig Minuten«, sagt er.
»Und dir ist das nicht aufgefallen?«
»Nein«, sagt er, »wenn ich in einer gewissen Verfassung bin, fällt mir so manches nicht auf. Das weißt du.«
Ja, das weiß ich, denkt sie. Sie geht nach links hinten zu Felix’ Platz. Als sie sich bückt, um in das Fach seines Tisches zu schauen, merkt sie, dass sie Leonhard immer noch an der Hand hält. »Er hat alles dagelassen«, sagt sie. »Seine Trinkflasche hat er mitgenommen«, sagt Leonhard, »er hat eine neue silberne Trinkflasche mit einem schwarzen Drachen drauf.« Sie zieht ein großes Heft mit rotem Schutzumschlag aus dem Fach. Englisch. A hat. A cat. A bat. Eine Fledermaus zu zeichnen, sei schwierig, hat sie den Kindern gesagt, schwieriger als eine Katze. Sie fährt mit der Kuppe ihres Zeigefingers die Worte nach, auch die Zeichnungen. Was für ein schrecklicher Hut, denkt sie – wie ein Maulwurfshügel. Trotzdem beruhigt es sie, in dieses Heft zu schauen. »Er kann nicht zeichnen«, sagt Leonhard, »Kindergartenkinder können es besser.«
Bauer steht vor der Tafel, schlaksig, bleich, unruhig in den Beinen. LDR, denkt sie, long distance runner – so nennen ihn manche. Die Kollegen behaupten, er laufe jede freie Minute: rund um den See, die Ache entlang, hinauf in die Berge, manchmal mehrere Stunden am Stück. Dabei höre er Musik. Jetzt summt er. »Du hast Nerven«, sagt sie. Er schüttelt langsam den Kopf. »Ich weiß«, sagt sie, »entschuldige.« Sie legt das Heft zurück. Das Fach rechts daneben ist leer. Es hat einem Mädchen gehört, das ein paar Wochen nach Schulbeginn wieder ausgetreten ist. In der ersten Klasse kommt das vor. Susi – eine stille Dünne mit wirrem schwarzem Haar und altmodischem Namen. Felix mochte sie. »Was tun wir jetzt?«, fragt Bauer. Hinter ihm steht ein Satz an der Tafel: Der Hase hat lange Ohren. Sie hat ihn vor gut einer Stunde hingeschrieben. »Du bleibst jedenfalls da und schaust auf die Klasse. Ich gehe rüber und hole Felix. Leonhard wird mich begleiten.«
Sie laufen den Gang entlang, durchqueren die Pausenhalle und steigen die Stufen zum Haupttor hinab. Sie muss Acht geben, um nicht zu stolpern. Ich habe Angst, denkt sie. Draußen scheint die Sonne. Das ist durch die bogenförmige Oberlichte gut zu sehen. Sie weiß, dass sie draußen auf der Straße für einen Moment geblendet sein wird, und sie spürt schon diesen leichten Geruch nach Flieder. Vielleicht werden sie Friederike begegnen, die am Dienstag immer zwei Stunden später beginnt, vielleicht auch dem handzahmen Perlhuhn des Schrotthändlers, der schräg gegenüber sein Büro hat.
In dem Augenblick, als sie den Arm in Richtung Schnalle hebt, wird sie nach außen weggezogen. Im weißen Rechteck der Türöffnung steht eine kleine dunkle Figur. Leonhard ist der Erste, der etwas sagt. »Wo warst du so lange?«
Zwei
Der schwarze Cayenne, der seit eineinhalb Kilometern an ihm dranklebt und jetzt zum dritten Mal die Scheinwerfer aufblendet, schert nach links aus, zieht mit einem Aufheulen an ihm vorbei und unmittelbar danach mit unverminderter Geschwindigkeit an dem hellgrün gestrichenen Zeitungskiosk, hinter dem sie immer stehen. Er selbst sieht zwanzig Sekunden später eine Handbreit über einer Radarpistole das ausgesprochen zufriedene Gesicht eines Polizisten und weiß, dass es den anderen zirka dreihundert Euro kosten wird, vielleicht auch mehr, unter Umständen sogar einen Kniefall auf dem Kommissariat: In meinem Beruf geht es ohne Führerschein wirklich nicht, Herr Inspektor, Sie sehen das sicher ein.
Raffael Horn steuerte den Volvo bergan, erst durch das Kiefernwäldchen, dann die weite freie Fläche entlang, die in diesem Frühling halb ein Rapsfeld war, halb eine Wiese. Er fuhr betont langsam, da der Anhänger in den engen Kurven mächtig schlingerte und bei jeder Unebenheit vom Boden abhob. Währenddessen ließ er die Szene noch ein paarmal ablaufen wie einen kurzen Film: Lissoni steigt aufs Gas, überholt und fährt ins Radar. Schadenfreude war eines der wenigen Dinge, die das Leben erträglich machten, ganz eindeutig. Man musste entweder ein wenig psychopathisch oder gut analysiert sein, um das zugeben zu können und sich gleichzeitig nicht schlecht zu fühlen.
Lissoni war als Chef der Unfallchirurgie seit sechs Monaten im Amt und hatte von Anfang an demonstriert, dass er nicht die Absicht hatte, Kollegen, die ihre Disziplinen ohne Bohrmaschinen, Knochensägen und Transfusionspumpen ausübten, ernst zu nehmen. Horn war seit fünf Monaten und zwei Wochen sein Feind. Das lag nicht am Porsche. Er denke nicht daran, jemanden aus seiner Abteilung in die Kinderschutzgruppe zu entsenden, hatte Lissoni von oben herab kundgetan – wenn ein Kind unter Misshandlungsverdacht an die Unfall komme, werde angezeigt und aus, da brauche es kein Gerede, egal, was bisher üblich gewesen sei. Lissoni war blond und solariumsbraun; er trug weiße Ralph-Lauren-Polo-Shirts und einen fetten Siegelring. Auf Klischees war Verlass.
Der Vorplatz des Hauses war leer. Horn legte den Rückwärtsgang ein, indem er mehrmals auf die Kupplung trat. Das funktionierte seit einiger Zeit nur noch so. In der Werkstätte hatte man lapidar gesagt: Zwölf Jahre Bergstraßen, was wollen Sie? Er mochte den Volvo trotzdem, und nachdem er Irene zu ihrem Fünfundvierziger den kleinen Offroad-Suzuki geschenkt hatte, waren auch die Mäkeleien von ihrer Seite verstummt. Er manövrierte den Anhänger nahe an die Vorgartenbegrenzung heran, stieg aus und löste die Abdeckplane. Der Harzgeruch der Rindenmulchladung quoll ihm entgegen. Er atmete tief ein. Wie ein Mentholbonbon. Es ist Frühling, dachte er, die Luft ist frisch und ich habe einen Gegner besiegt.
Er holte Rechen, Schaufel und Scheibtruhe aus dem Schuppen, räumte ein paar abgebrochene Zweige vom Rasen und begann den Mulch abzuladen. Er verteilte ihn unter der Johannisbeerhecke, unter den Rhododendren, zwischen den Loniceren, Rosen und Hortensien. Auch die beiden Glyzinen, die Irene so liebte und er gar nicht, kriegten was ab. Ich werde zum Gärtner, dachte er, ich verkomme zum Landmenschen. Ich schaufle Rindenmulch in eine Scheibtruhe, und es macht mir Spaß. Wenn mir das vor fünfzehn Jahren jemand gesagt hätte, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Er dachte an echte Landmenschen, an Lisbeth Schalk zum Beispiel, und an die Wiesenblumensträuße, die sie regelmäßig auf die Station schleppte, manche in Rosa, manche in Gelb, manche bunt durcheinander. Raimund nannte sie eine Elbenprinzessin, und wenn man ehrlich war, gab es für eine Psychologin schlimmere Bezeichnungen. »Ich habe aber keine spitzen Ohren«, sagte sie; Raimund darauf: »Doch, haben Sie«, und sie langte tatsächlich prüfend nach oben. Lisbeth Schalk wirkte, als käme sie direkt aus einem Heimatfilm. Ihre Testbefunde waren nicht so umwerfend wie ihre Blumensträuße, aber das war eine andere Geschichte.
Horn stampfte die Rindenspäne rings um den Nussbaum, den er im Herbst gepflanzt hatte, fest. Fertig. Ihm war warm. Er krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. Etwa ein Drittel der Ladung war übrig geblieben. Er löste die Kupplung und schob den Anhänger über den Rasen an die Rückwand des Schuppens. Den größten Teil des Mulches kippte er heraus, für den letzten Rest nahm er die Schaufel. Er formte einen gleichmäßigen Kegel. Irene würde die Sache trotzdem nicht passen. Ein Garten mit einem Rindenmulchhaufen war kein perfekter Garten.
»Du wirst Blasen an den Händen bekommen.« Tobias lehnte an der Scheunenecke und grinste süffisant. »Eine Gefahr, der du dich in den letzten Jahren nicht ausgesetzt hast«, antwortete Horn, »woher kommst du überhaupt?«
»Ich gehe in die Schule, wenn ich dich erinnern darf – siebente Klasse.«
Horn warf die Schaufel auf die Ladefläche. »Hilf mir«, sagte er. Gemeinsam beförderten sie den Anhänger in die Garage. Tobias seufzte mehrmals gequält auf. Vätern adoleszenter Söhne sollte man ein gewisses Züchtigungsrecht einräumen, dachte Horn – ab und zu ein kleiner Hieb mit dem Weidenstöcklein, das wäre schon was. Er schloss das Garagentor. Ein großer Perlmuttfalter taumelte auf sie zu und setzte sich für eine Sekunde auf Tobias’ Brust. »Ein Perlmuttfalter«, sagte Horn. Tobias zuckte mit den Schultern. Irgendetwas habe ich übersehen, dachte Horn, während sie über den Kies aufs Haus zugingen. Er kam nicht drauf.
»Hast du Hunger?«
Tobias schüttelte den Kopf.
»Bist du krank?«
»Nur weil ich keinen Hunger habe? Der Dauerhunger hört auch irgendwann einmal auf. Wie alles im Leben.«
Horn durchforstete die Brotlade. Zwei harte Semmeln und eine Packung Toastbrot, die an dem einen Ende kleine blaugrüne Schimmelpunkte angesetzt hatte. »Ist eh besser, dass du keinen Hunger hast«, sagte er. »Wusste ich’s doch«, sagte Tobias.
»Wusstest du was?«
»Dass ich in diesem Haus nicht ordentlich ernährt werde.«
»Verschwinde!«, sagte Horn.
»Rausgeworfen werde ich auch.«
»Verschwinde!«
Horn füllte den Wasserbehälter der Espressomaschine und legte ein Tab ein. Er hörte, wie Tobias davonschlurfte. Er geht mir auf die Nerven, dachte er, und ich möchte nichts von ihm wissen, nichts von Französisch oder Latein oder Physik. Ich frage ihn absichtlich nicht, und ich weiß, dass das schlecht ist. Er drückte auf den Knopf, die Espressomaschine brummte, und am Ende spuckte sie heftig. Er rührte einen Löffel Zucker in den Kaffee und überlegte eine Weile. Dann ging er vors Haus, setzte sich auf die Bank und schaute auf die Stadt hinunter. Keine Zeitung, kein Buch, nichts als eine Tasse Kaffee, dachte er – wie ein alter Mann; nur die Katze fehlt. Er blickte sich um. Keine Spur von ihr. Oben auf einer der Fichten des Waldrandes saß bewegungslos ein Habicht.
Er dachte an die Auseinandersetzung, die er am Vormittag mit Krenn, dem kaufmännischen Direktor des Krankenhauses, gehabt hatte. Es war um den Dienstpostenplan gegangen, speziell um die Frage einer dritten Facharztstelle für sein Departement, und Krenn hatte am Ende gesagt, man müsse leider auch berücksichtigen, dass rein PR-mäßig die psychiatrischen Patienten keinen Realgewinn für das Haus bedeuteten. Daraufhin war er, Horn, aufgestanden, hatte gesagt: »Das Problem ist, dass der Mensch insgesamt keinen Realgewinn bedeutet, auch Sie nicht, Herr Direktor«, und hatte die Tür hinter sich zugeknallt. Krenn war neben seinem Job stellvertretender Landesparteisekretär der Wirtschaftspartei, ging zweimal pro Jahr mit dem Bürgermeister auf die Jagd und neigte zur Zwanghaftigkeit. Soll er mich doch hinauswerfen, dachte Horn. Er stellte sich vor, wie er es Irene erzählen würde: »Du, erschrick bitte nicht, aber sie haben mich heute gekündigt«, und wie sie ihn aus zusammengekniffenen Augen anschauen und fragen würde: »Und was wird jetzt aus meinem Bedürfnis nach Luxus?«
Die Luft über der Stadt war trüb und unruhig. Die Türme der Stiftskirche schienen zu schwanken, ebenso die Stahlschlote des Holzwerks, und mehrmals hatte er den Eindruck, als schwappe das Wasser des Sees über die Uferpromenade. Vielleicht liegt es auch nur an meinen Augen, dachte er, vielleicht habe ich längst einen grauen Star und weiß es nur noch nicht. Christina, seine Stationsschwester, legte ihm zumindest einmal pro Monat nahe, zum Augenarzt zu gehen. Er konnte diese Art von Mütterlichkeit nicht ausstehen und sagte in der Regel nichts darauf.
Irene hob beim zweiten Versuch ab. »Nimmst du auf dem Heimweg bitte Brot mit«, sagte er, »Tobias verhungert.« »Rein technisch wird das nicht gehen«, sagte sie.
»Spielend wird das gehen. Du musst ihn dir nur vorstellen.«
»Ich meine den Einkauf, nicht sein Verhungern. Ich habe jetzt noch zwei Schüler und danach Orchesterprobe. Vergessen?«
Sie hatte es ihm gesagt, er erinnerte sich genau. Sie waren beim Frühstück gesessen und sie hatte ihm erzählt: Karsamstag, Abendkonzert, Mozart, Requiem, und Bruckner, Te Deum, er hatte gesagt: »So ein deprimierendes Programm«, und sie hatte geantwortet, der Herr Psychiater habe vom emotionalen Gehalt von Musik offenbar keine Ahnung.
»Was heißt vergessen?«, sagte er, »du hast mit keinem Wort eine Probe erwähnt.«
»Wir sind beim Frühstück gesessen. Du hast etwas völlig Unqualifiziertes über die Naivität Anton Bruckners gesagt und ich habe mich aufgeregt. Immer noch Gedächtnisausfall?«
Horn sagte, sie phantasiere, er habe am Abend die Angehörigengruppe zu leiten und vor kurzem zwei steinharte Semmeln und schimmeliges Toastbrot in Händen gehalten, und sie antwortete, dann werde er wohl oder übel höchstpersönlich auf dem Weg ins Spital bei der Bäckerei Prinz haltmachen müssen. »Das heißt, ich muss zehn Minuten früher weg«, sagte er.
»Du Armer.«
»Wann kommst du?«
»Das hängt vom Tenor ab.«
»Aha, vom Tenor.« So danke sie es ihm also, dass er unter Aufbietung all seiner Kräfte ihren Garten vor der Überwucherung durch heimtückisches Unkraut bewahrt habe, sagte er, er werde sich auch einen Tenor suchen, von dem er es abhängig machen könne, wann am Abend er nach Hause komme. Solle er doch, antwortete Irene Horn, er, der Mister Bi. Außerdem wisse ein jeder, dass mit den Cellistinnen erotisch niemand mithalten könne, schon gar nicht ein Tenor, und daher halte sie die Idee von vornherein für ziemlich blöd.
Die Katze saß draußen auf dem Fensterblech und maunzte empört. »Mimi, sie hat recht«, sagte er, »ich werde mir einen Sopran mit abstehenden Ohren suchen und keinen Tenor.« Er öffnete das Fenster. Die Katze strich seinen Unterarm entlang und schnurrte laut. Als er sie in den Nacken kniff, fuhr sie fauchend herum und hackte ihn in den Handrücken.
Irgendetwas war seltsam. Eine Menge Rindenmulch blieb übrig, das Brot vergammelte in der Lade, er selbst beschäftigte sich mit Kündigungsphantasien, vergaß Irenes Termine und sah Kirchtürme schwanken; der Sohn verhielt sich herablassend und distanziert, und jetzt attackierte ihn auch noch sein Haustier. Irene hätte vermutlich gesagt, er gebe all dem zu viel Bedeutung, und er hätte darauf gesagt, das sei sein Beruf, den Dingen Bedeutung zu geben.
Horn spülte die Kaffeetasse ab. Die Katze spielte mit dem Wasserstrahl und tat so, als habe sie nie etwas gegen ihn gehabt. »Du falsches Luder«, sagte er halblaut. Sie schnurrte und schaute an ihm vorbei. Sie schielt, dachte er. Es war ihm noch nie aufgefallen. Er überlegte, ob er das Auto oder wieder einmal das Fahrrad nehmen solle, und beschloss dann doch, zu Fuß zu gehen. Der Vorderreifen seines Crossbikes verlor auf undurchschaubare Weise Luft, manchmal beinahe alles auf einmal und manchmal über eine längere Strecke hinweg gar nichts, und in den Volvo wollte er nicht gleich wieder steigen.
Er überquerte den Hinterhof und klopfte an die Tür zu Tobias’ Zimmer. Da er keine Reaktion erhielt, öffnete er. Tobias lag seitlich auf dem Bett und schnarchte. Unter seinem Mundwinkel hatte sich ein Speichelfleck gebildet. Horn blickte ihn eine Weile an. Er hat meine Gestalt, dachte er, er hat Irenes Sommersprossen, er ist renitent und er stinkt. Ich versuche in mir die Zuneigung zu meinem Sohn zu finden und scheitere. Die Katze sprang aufs Bett und rollte sich hinter Tobias’ Kniekehlen zusammen. Du hast mit alledem kein Problem, dachte Horn.
Der Fußweg, der die Straßenkehren abschnitt und in gerader Linie auf die Stadt zuführte, wurde im Frühjahr regelmäßig von Lattich und Gesträuch überwuchert. Erst wenn die Leute sich zu sehr aufregten, ging Martin Schwarz, der Bauer, der ein Stück oberhalb wohnte, mit dem Motortrimmer und schnitt den Pfad frei. Horn blieb mehrmals in jungen Brombeerranken hängen, fluchte und merkte nebenbei, dass sich in ihm eine Melodie breitgemacht hatte, eine kurze Passage aus dem Bruckner-Te-Deum. Sanguine, sanguine, mehr Text fiel ihm nicht ein. Ein paar Takte konnte er weitersummen. Verzückt in den Himmel blickende Klosterschwestern kamen ihm in den Sinn, dann Padre Pio samt seinen mullumwickelten Händen, und am Schluss sah er Sabrina vor sich, die rothaarige Sechzehnjährige, die an seiner Station aufgenommen war und sich während der letzten Woche täglich irgendeine Stelle ihres Körpers dermaßen aufsäbelte, dass sie genäht werden musste. Es gebe nichts Schöneres, hatte sie gesagt, als den Moment nach dem Schnitt, wenn der Körper gewissermaßen in einem kurzen Überlegen innehalte, die Kluft rein und weiß vor einem liege und erst nach einer Sekunde das Blut zu quellen beginne. Sie halte daher auch gar nichts von Brandwunden, obwohl sie selbst Raucherin sei. »Da stinkst du angekokelt und blutest keine Spur«, hatte sie gesagt. Über die spannungsreduzierenden Alternativen, die ihr angeboten wurden, lachte sie nur oder tippte sich an die Stirn. In eine Chilischote beißen oder mit Fäusten gegen einen Sandsack hauen, das könnten sie alle miteinander tun, sie selbst sei nicht so deppert. »Wer wird dich später noch wollen, wenn du über und über voller Narben bist?«, hatte Sania, die junge Sozialpädagogin, gefragt, und Sabrina hatte geantwortet: »Wer hat mich bis jetzt gewollt?«
Irene mochte diese Geschichten nicht. »Meine Lebensform ist die Idylle«, sagte sie, »für Angst und Schrecken bist du zuständig.« So war es: Sanguine, sanguine. Er befasste sich mit früh gestörten Selbstverletzerinnen und sie saß in stuckverzierten Sälen und spielte ihre melancholischen Soli, mit geschlossenen Augen und der Zungenspitze zwischen den Lippen. »Du bist die konsequenteste Verleugnerin, die ich kenne«, sagte er ab und zu, und sie sagte dann, wenn er Musik als eine Form der Verleugnung ansehe, dann könne sie gut dazu stehen. »Ob Michael das auch so sieht?«, fragte er, und ihr stiegen die Tränen in die Augen. Zwischen den beiden gab es etwas Irreparables, daran hatte auch der Auszug Michaels nichts geändert. Sie sprachen kaum miteinander, und wenn sie einander begegneten, lief es jedes Mal gleich ab: Irene begann innerhalb kürzester Zeit zu mäkeln und Michael bekam einen roten Kopf und sagte gar nichts mehr.
Es war noch genügend Zeit, daher verließ er die Bundesstraße und nahm die Abzweigung zur biologischen Beobachtungsstation. An der Rückseite des dunkelbraunen Holzgebäudes wandte er sich nach links und ging den Abflussbereich des Sees und das erste Stück der Ache entlang in Richtung Osten. Im Schilf waren Blässhühner und Haubentaucher unterwegs. In einem der schmalen Stichkanäle lag ein gelbes Schlauchboot. Ein Mann mit Schirmkappe saß drin, vollführte bizarre Verrenkungen und fotografierte. Horn verspürte den Impuls, sich anzupirschen und den Mann ins Wasser zu kippen, doch in diesem Moment trabten zwei Joggerinnen daher, beide in Rosa, eine mehr in Lachs, die andere mehr in Pink, und die ganze Sache war vorbei. Es gibt noch Hoffnung, dachte Horn – junge Frauen, die durch den Frühling laufen, bringen meine Bösartigkeit zum Verschwinden.
An den Schilfgürtel schloss sich eine Hochmoorzone an, in der man früher Torf gestochen hatte. Jetzt blühten dort Wollgras, Weideröschen und Schwertlilien. Auf Schildern ersuchte die Further Naturschutzbehörde, Rücksicht auf Ringelnattern und Bodenbrüter zu nehmen und die gekennzeichneten Wege nicht zu verlassen. Einmal möchte ich eine Rohrdommel sehen, dachte Horn, ein Wildschwein in freier Natur und eine Rohrdommel. Bei manchen Lebenszielen wusste man nicht, woher sie kamen.
Das Krankenhaus lag auf einem felsigen Hügel direkt über dem Fluss. Vor zwei Jahren hatte man im Zuge des Ausbaus eine glasgedeckte Treppe zum Uferweg errichtet, die ohne Zweifel eine Menge Geld gekostet hatte und für kranke Menschen eindeutig zu steil war.
Vom Absatz in der Mitte der Treppe überblickte man erstmals den See. Die Luft war nach wie vor dunstig, so dass man im Westen die Häuser von Mooshaim kaum ausnehmen konnte. Horn schlüpfte aus seiner Jacke. Es war schwül wie im Sommer. Jakob Fuhrmann, ein untersetzter, glatzköpfiger OP-Gehilfe, kam ihm entgegen. »Irgendjemand brüllt auf Ihrer Station«, sagte er. »Danke«, sagte Horn und ärgerte sich im nächsten Augenblick darüber. Fuhrmann war Betriebsrat und verstand sich als eine Art Anstaltspolizist. Horn blickte sich kurz um. Der Mann stieg bedächtig die Treppe hinunter, Stufe für Stufe. Ich gebe ihm einen Stoß, dachte Horn, mit dem Handballen genau zwischen die Schulterblätter. Er stellte sich vor, wie Fuhrmann die Arme zur Seite riss, wild schwankte und sich sein massiger Körper immer weiter nach vorne neigte, wie er schließlich fiel und am Ende mit einem obszönen Geräusch aufschlug. Nichts ist psychohygienisch so sinnvoll wie eine ordentliche aggressive Phantasie, hatte Aichhorn, sein früherer Supervisor, gesagt. Dann hatte ihn der Krebs gefressen.
Als er auf den Knopf drückte, um den Lift zu rufen, überlegte Horn immer noch, ob er gleich auf die Station schauen solle oder nicht. Am ehesten war es Schwind gewesen, der gebrüllt hatte, der schizophrene Staplerfahrer, den in seinen schlimmen Phasen vor allem die Gewissheit peinigte, er werde jeden Augenblick zu seiner Hinrichtung geholt; vielleicht auch Fehring, der Junkie, der sich seit mehreren Tagen in einem komplizierten Multisubstanzentzug befand. Beide wurden ab und zu laut, wenn es ihnen schlecht ging. Egal. Die Angehörigenrunde startete sowieso immer mit Verspätung.
Die Tür zu P2 war verschlossen. Das verhieß nichts Gutes. Horn kramte seinen Schlüssel hervor und lauschte. Gebrüll war vorerst nicht zu hören. Im Gruppenraum saßen einige Leute beim Nachtmahl. Daniel Fehring hatte seinen Teller von sich geschoben und starrte in den tonlos laufenden Fernseher. »Schmeckt es Ihnen nicht?«, fragte Horn. »Ich hab keinen Hunger«, antwortete Fehring. »Essen erleichtert den Entzug, das wissen Sie«, sagte Horn.
»Junkies essen wenig.« Fehring gähnte.
»Sind Sie müde? Das ist ein gutes Zeichen.«
Fehring sah elend aus, grau im Gesicht und eingefallen. Außerdem hatte er Lidödeme, das war neu. Er kam ein- bis zweimal pro Jahr zum körperlichen Drogenentzug, immer wenn seine Freundin drohte, ihn zu verlassen. Danach dauerte es meistens nur ein paar Tage, und er war wieder drauf wie immer.
Horn ging den Gang entlang zum Stützpunkt. Karin, die Jüngste der Schwestern, eine drahtige Hellblonde, saß am Computer und hämmerte in die Tastatur. Sie wirkte angespannt. »Was ist los?«, fragte er. »Sabrina«, sagte sie.
»Sabrina? Das Übliche?«
»Ja, das Übliche. Und sie hat es ins Netz gestellt.«
»Was heißt, sie hat es ins Netz gestellt?«
Das Mädchen habe sich mit einer Rasierklinge die Unterarme aufgeschnitten, sich von ihrer Zimmerkollegin dabei fotografieren lassen und die ganze Aktion über den Patientencomputer ins Internet gestellt. Dazu habe sie schriftliche Kommentare abgegeben: So wichtig nehme man an der Psychiatrie in Furth die Patienten, das Elend der Menschen sei den Ärzten sowieso egal, und so fort. Die Zimmerkollegin habe fürs Knipsen abkassiert und es dann doch verraten, was Sabrina gar nicht recht gewesen sei.
»Daraufhin hat sie gebrüllt«, sagte Horn.
»Wieso gebrüllt? Sie hat nicht gebrüllt.«
Man habe von außerhalb jemanden brüllen gehört. Er erzählte von seiner Begegnung mit Fuhrmann. Karin grinste plötzlich. »Es war Raimund«, sagte sie, »er hat gebrüllt.« Raimund habe sich über die Publikation des Blutbades von Anfang an ziemlich geärgert, und als er dann noch gesehen habe, dass er in Sabrinas Kommentaren namentlich genannt wurde, habe er ein wenig die Kontrolle verloren.
»Was schreibt sie über ihn?«
»Dass er ein Streber mit Pferdeschwanz ist.«
Horn musste ebenfalls grinsen. Karin hob den Kopf. »Ja, ich weiß, das stimmt auch«, sagte sie, »aber sie hat noch etwas geschrieben.«
»Und zwar?«
Sie stand auf, trat vor den Rollcontainer mit den Krankengeschichten und zog die Hängemappe mit Sabrinas Akte heraus. »Sie finden es unter Laufende Dokumentation«, sagte sie.
Es waren insgesamt sieben Seiten Internetausdruck, jeweils Foto plus Kommentar. Ein gezeichnetes rotes Herz, in dessen Mitte eine Rasierklinge liegt. Hier drin begreifen sie gar nichts. Ein Mädchen, das auf dem weißen Fliesenboden eines Badezimmers hockt, versunken wie jemand, der sich einen Schuss Heroin setzt, und sich in den Unterarm schneidet. Man kann sich hier umbringen und es ist allen scheißegal. Zweimal die Schnitte in Nahaufnahme. Das Zentrum der Existenz. A kind of heaven. Zwei Sätze, die mit Blut an die Wand geschrieben wurden, Ich sterbe und Fucking Furth. Das Mädchen, das auf dem Rücken in einer Blutlache liegt, die Augen geschlossen, die Arme zur Seite gestreckt. Wichsvorlage für Raimund, den Streber mit dem Pferdeschwanz, der immer einen Steifen kriegt, wenn ich mich schneide.
Sanguine, sanguine, fiel Horn ein und Irene, die bei Bruckner mit Sicherheit nicht an das Blut dachte, das einem Mädchen von den Unterarmen tropfte. Er steckte die Mappe zurück und stand auf. »Kann ich mit Raimund reden?«, fragte er.
»Christina hat ihn nach Hause geschickt. Er war total von der Rolle«, antwortete Karin.
»Und Sabrina?«
»Liegt im Tiefschlaf. Hrachovec hat sie versenkt.«
Männersolidarität, dachte Horn. Sie demütigte ihren Bezugspfleger und der Dienstarzt füllte sie mit Medikamenten ab. Er selbst hätte vermutlich nicht anders gehandelt. Manchmal war die Darstellung von Handlungsmacht das Einzige, das einem blieb, auch wenn es nach außen hin nicht so hübsch aussah.
Er beschloss, Hrachovec nicht anzurufen, und verließ die Station. Im Vorbeigehen sah er, dass Fehring auf seinem Sessel eingeschlafen war. Der Fernseher lief nach wie vor ohne Ton. Am äußersten Rand seines Bewusstseins streifte ihn etwas Unangenehmes. Er bekam es nicht zu fassen.
Vier Personen waren da. Frau Kirschner und das Ehepaar Reintaler saßen im Wartebereich an einem Tisch und tratschten, Kurt Frühwald saß ein Stück abseits, und der grauhaarige Mann, der vor zwei Wochen zum ersten Mal teilgenommen hatte, lehnte an der Wand und tupfte mit einem Stift auf seinem Palmtop herum. Horn hatte sich den Namen des Mannes nicht gemerkt, aber das passierte ihm in letzter Zeit öfter.
Eine Ansammlung seltsamer Menschen, dachte er, Mütter, Väter, Ehemänner; alle wie direkt aus Fotografien, die Gesichter flach, die Schultern ein wenig zu tief. Warum bin ich hier?, dachte er. Warum sitze ich nicht und schaue dem Habicht zu? Oder freue mich an den Rhododendronblüten? Oder stelle mir vor, wie meine Frau Cello spielt, mit glühenden Ohren und der Zungenspitze zwischen den Lippen?
Das Licht im Gruppenraum flackerte ganz leicht. Horn ärgerte sich. Er hatte vergessen, den Hauselektriker darauf hinzuweisen. In ein paar Minuten würde jemand sagen: Das Licht flackert aber immer noch, es war unvermeidlich. Es lag jedenfalls nicht an einer einzelnen Leuchte, sondern betraf alle, das war gut zu erkennen. Jemand zapft uns an, dachte er, ich werde sagen, dass jemand Strom aus dem Krankenhaus abzweigt, und man kommt nicht drauf, wer und wo. Er beschloss, zu warten.
Mehr Männer als Frauen, sagte er zur Eröffnung – das habe es in einer Angehörigenrunde noch nie gegeben; üblicherweise seien die Männer nicht so engagiert. Maria Reintaler lachte auf. Abgesehen davon, dass engagiert wohl nur ein Witz sein könne, stehe es auch hier in Wahrheit unentschieden, sei doch ihr Mann ausschließlich Staffage. Er gehe nur mit, da er mit sich allein zu Hause nichts anzufangen wisse. Sophie Kirschner lachte jetzt ebenfalls und Max Reintaler sagte: »Stimmt.« Er war einer jener Männer, die, wenn überhaupt, vorwiegend in Einwortsätzen sprachen: Ja. Nein. Mahlzeit. Hauab. Stimmt. Er führte einen kleinen Elektroinstallationsbetrieb, hatte ein gewisses Spezialistentum für Photovoltaik entwickelt und konnte sicher sein, dass seine Kunden von dem, was er machte, nicht die geringste Ahnung hatten. Seine Frau hatte ihm das Büro geführt, bis vor einem Jahr bei ihrer Mutter eine besonders rasch verlaufende Form der Demenz begonnen und sie sich nur noch ihrer Pflege gewidmet hatte. Horn fragte in die Runde, ob die anderen Herren sich auch als Staffage fühlten. Maria Reintaler sagte, das sei ihr egal, auf ihren Mann treffe das ohne Zweifel zu, hier und noch mehr zu Hause, sie sei so was von fertig, das könne sich keiner vorstellen, und ihren Herrn Gemahl berühre das gar nicht. Sie erwarte sich von der Gruppe, dass man ihrem Mann einmal gehörig die Leviten lese; es gehe nicht, dass sie mit der gesamten Last der Pflege total allein bleibe, nicht zu reden vom Haushalt und dem, was sie an Buchhaltung für die Firma nach wie vor erledige. Max Reintaler trug eine hellbraune Cordhose, ein kariertes Hemd und um den Hals eine mittelstarke Goldkette. Er blickte starr geradeaus und Horn war sicher, dass er an Kondensatoren, Kabelquerschnitte oder Solarpaneele dachte und ihm das, was seine Frau soeben sagte, durchs Hirn wehte wie ein Mailüftchen. Irgendwie verstehe ich ihn, dachte Horn, sie macht einen wahnsinnig. Außerdem hatte sie mit ihrem Lamento die letzten beiden Runden dominiert und das wollte er nicht noch einmal zulassen. »Wie ist Ihre Mutter pflegegeldmäßig eigentlich eingestuft?«, fragte er. Maria Reintaler zog die Brauen hoch und schnappte nach Luft. »Warum?«, fragte sie, »was hat das damit zu tun?« In manchen Momenten spürte Raffael Horn Verlogenheit und Scheinheiligkeit in seinem Inneren emporquellen wie eine weiche, süße Masse. Er war dann nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Er habe bloß überlegt, ob sie für ihre Mutter möglicherweise zu wenig Pflegegeld beziehe und daher am Zukauf einer professionellen Unterstützung gehindert werde, sagte er, auf dem Sektor der mobilen Krankenpflege werde allerhand angeboten, gerade im psychiatrischen Bereich. Nein, das wolle sie nicht, ereiferte sich Maria Reintaler, niemand kenne ihre Mutter so gut wie sie, und überhaupt reagiere diese auf fremde Personen zunehmend panisch. Sie hatte sich kerzengerade aufgerichtet und zerstach die Luft mit ihrem Zeigefinger, während sie sprach.
»Ihnen geht es doch nur ums Geld!« Kurt Frühwald sagte es ganz ruhig, beinahe beiläufig.
»Wie bitte?!« Ihre Stimme kippte.
»Stufe sieben, habe ich recht?«, sagte Frühwald, »das Maximum plus den Zuschlag für erhöhten medizinischen Aufwand.«
»Na und, das steht ihr auch zu!«
»Bestreitet ja keiner.«
»Eben. Was wollen Sie dann?«
»Gerechtigkeit«, sagte Kurt Frühwald, »manchmal will ich eine Spur von Gerechtigkeit, mehr nicht.«
»Gerechtigkeit?! – Niemand kann etwas dafür, dass das mit Ihrer Frau passiert ist!« Jeden Moment springt sie auf und geht ihm an die Gurgel, dachte Horn. Maria Reintaler saß mit hochrotem Kopf da, die Hände beidseits um die Sitzfläche ihres Sessels gekrallt. Kurt Frühwald wirkte vollkommen gelassen. Er lächelt, dachte Horn, er lächelt tatsächlich. Frühwald war ein mittelgroßer, glatzköpfiger Mann, der mehrmals pro Woche quer über den See und retour schwamm, vom Bootssteg der Beobachtungsstation aus hinüber zu jener Stelle, an der der Fürstenaubach in einen Wasserfall mündete, in Summe mehr als drei Kilometer. Er brauche das nicht für sein Ego, sagte er, wenn ihn jemand darauf ansprach, sondern für seine Frau; sie wiege fünfundsiebzig Kilogramm, sei stark wie nur was und vollkommen unberechenbar. Frühwalds Frau hatte vor elf Jahren eine schwere Schädelverletzung erlitten und war danach sowohl gehunfähig als auch in ihrer Persönlichkeit völlig verändert gewesen. Ihr Mann hatte sie zum ehestmöglichen Zeitpunkt aus dem Spital geholt, ihr das Rollstuhlfahren beigebracht und sie in der Folge weitgehend allein versorgt. Er hatte sich zuerst karenzieren lassen, dann seine Stelle als Bankangestellter aufgegeben und sich als Versicherungsmakler selbständig gemacht. Das verschaffte ihm die Flexibilität, die er für die Betreuung seiner Frau brauchte. Den Sohn, der damals fünf, und die Zwillingstöchter, die zweieinhalb gewesen waren, hatte er unmittelbar nach dem Unfall zur Mutter seiner Frau gegeben. Dort lebten sie immer noch.
»Niemand stimmt nicht«, sagte Frühwald.
»Was heißt das?«, fragte Horn, obwohl er die Antwort kannte.
»Der Balg, hinter dem meine Frau hergelaufen ist, kann sehr wohl etwas dafür.«
»Nicht schon wieder«, ächzte Frau Kirschner. »Tut mir leid«, sagte Frühwald, »daran wird sich nichts ändern.«
»Es war doch nur ein Kind!«
»Na und?«
Margot Frühwald hatte mit den Kindern ihrer Gruppe auf dem Rasenstreifen hinter dem Kindergarten Wir sind die Tiere des Dschungels
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