Das Mündel der Hexe - Doris Röckle - E-Book
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Das Mündel der Hexe E-Book

Doris Röckle

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Beschreibung

Erneut entführt Doris Röckle ihre Leser in das historische Rhyntal des 14. Jahrhunderts. Die Heldin Ita erwartet eine spannende Reise voller Rätsel und Geheimnisse. Rhyntal 1354: Die junge Konstanzerin Ita erfährt kurz vor der Verbrennung der als Hexe angeklagten Almut, dass diese nicht ihre leibliche Mutter ist. Nur mit einem Bernsteinkreuz als Hinweis begibt sich Ita im Gefolge einer Gauklertruppe auf die Spuren ihrer wahren Herkunft. Doch der Weg ins ferne Rhyntal ist weit und gefährlich. Schon bald überstürzen sich die Ereignisse, als ein päpstlicher Konvoi überfallen wird und die seit Jahrhunderten verschollenen Codices und Schriftrollen aus der einstigen Bibliothek von Alexandria verschwinden. Nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass Ita erfährt, wo sich die Beute befindet. Kurzerhand entschließt sie sich, zu handeln. Die Suche nach ihrer Mutter vorerst völlig vergessend, begibt sie sich in die Höhle des Löwen…

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Doris Röckle

Das Mündel der Hexe

Historischer Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Rhyntal 1354: Die junge Konstanzerin Ita erfährt kurz vor der Verbrennung der als Hexe angeklagten Almut, dass diese nicht ihre leibliche Mutter ist. Nur mit einem Bernsteinkreuz als Hinweis begibt sich Ita im Gefolge einer Gauklertruppe auf die Spuren ihrer wahren Herkunft. Doch der Weg ins ferne Rhyntal ist weit und gefährlich.

Schon bald überstürzen sich die Ereignisse, als ein päpstlicher Konvoi überfallen wird und die seit Jahrhunderten verschollenen Codices und Schriftrollen aus der einstigen Bibliothek von Alexandria verschwinden. Nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass Ita erfährt, wo sich die Beute befindet. Kurzerhand entschließt sie sich, zu handeln. Die Suche nach ihrer Mutter vorerst völlig vergessend, begibt sie sich in die Höhle des Löwen …

Inhaltsübersicht

WidmungKarteProlog, 13381. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. KapitelPersonenverzeichnisLeseprobe »Die Spur der Gräfin«
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Für meine Familie,

die meine Euphorie während des Schreibens stets mitgetragen hat.

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Prolog, 1338

Der Sturm peitschte mit aller Härte um das Gemäuer und brachte die morsche Eiche in bedrohliche Schieflage. Die junge Frau auf der Bettstatt fuhr erschrocken hoch, als einer der Äste die Butzenscheibe neben ihr traf. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie die neuerliche Wehe zu ignorieren. Sie spürte die missbilligenden Blicke der beiden Nonnen an ihrer Seite, die sich seit Stunden mehr schlecht als recht abmühten, ihr die Geburt zu erleichtern. Der Widerwillen in ihren Augen war nicht zu übersehen. Lediglich in jenem Augenblick, als die Mutter Oberin kurz hereinschaute, um sich nach dem Fortschritt der leidigen Angelegenheit, wie sie es nannte, zu informieren, legten sie so etwas wie Eifer an den Tag und tupften ihr die Schweißperlen von der Stirn.

Erschöpft ließ sich die junge Frau in ihr Kissen zurückgleiten. Die Tortur würde noch lange dauern, sie wusste es, auch wenn ihr niemand genau erklärt hatte, wie eine Geburt vonstattenging. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie das Lächeln der beiden Nonnen, das vor Häme und Verachtung nur so strotzte. Sie würde ihnen den Triumph nicht gönnen und anfangen zu weinen, zu schreien oder gar um Hilfe zu wimmern. Auch wenn der Winzling in ihrem Bauch noch so strampelte und rebellierte, sie würde sich keine Schwäche gönnen. Instinktiv presste sie ihre Hände auf den dick aufgeschwollenen Leib, in der Hoffnung, dem Ganzen endlich ein Ende bereiten zu können. Als eine weitere Wehe ihren Leib zu zerreißen drohte, entschwand ihr Verstand in graue Finsternis.

Das Läuten zur Matutin riss sie aus ihrem Delirium. Die Wehen hatten die letzten Stunden gewaltig an Stärke zugenommen und ihr Bewusstsein noch mehr getrübt. Sie wusste nicht, ob die beiden Nonnen noch immer an ihrer Seite weilten. Erst als man ihr die Beine grob auseinanderdrückte, realisierte sie, dass sich an ihrer Misere nichts geändert hatte.

»Lange dauert es nicht mehr!«

Die Abneigung, welche in der Stimme der Ordensfrau mitschwang, war nicht zu überhören und machte unmissverständlich klar, dass sie diese Arbeit lediglich deshalb tat, weil die Ordensmutter dies so befohlen hatte.

»Die Messe werden wir wohl trotzdem verpassen«, sprach ihr Gegenüber trocken, ohne den leisesten Hauch von Mitleid oder Anteilnahme.

Die junge Frau auf der Bettstatt krümmte sich abermals vor Schmerz. Zu gerne hätte sie den beiden Schwestern etwas Wütendes und Beleidigendes entgegengeschleudert und ihnen damit unmissverständlich klargemacht, wen sie hier vor sich hatten, doch dafür reichten ihre Kräfte nicht mehr. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen und presste. Als wenig später ein Schrei die Stille der Klosterzelle zerriss, machte sich auf beiden Seiten Erleichterung breit.

Von der Anstrengung der letzten Stunden gezeichnet, lag die junge Frau wenig später auf ihrer Bettstatt. Die beiden Nonnen waren längst verschwunden, jedoch nicht, ohne vorher auf Geheiß der Mutter Oberin frische Laken gebracht zu haben. Ermattet, aber glücklich blickte die Frau auf das kleine Mädchen in ihrem Arm.

Sie konnte nicht anders, als dem Kind immer wieder über das zarte Gesichtchen zu streicheln. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass sie dieses kleine Wesen so lieben könnte. Tränen der Wonne liefen ihr über die Wangen und nässten den Haarflaum des Kindes.

Ein leises Quietschen vonseiten der Tür zerstörte die Idylle dermaßen abrupt, dass die junge Frau ihr Kind erschrocken an die Brust drückte. Die Mutter Oberin betrat die Zelle. Auf ihrem Antlitz lag eine Strenge, die nichts Gutes verheißen konnte.

»Ihr habt Euch gut gehalten«, bemerkte die Äbtissin mit heiserer Stimme, wobei sie langsam auf das vergitterte Butzenfenster zuging, »und doch wäre es für alle das Beste gewesen, das Kind hätte die Geburt nicht überlebt!«

Der Sturm hatte sich gelegt und Nebelschwaden waren aufgezogen. Der langsam anbrechende Tag hatte etwas Schweres und Bedrückendes an sich.

»Wie könnt Ihr so etwas sagen? Ihr, die Ihr mich gelehrt habt, dass alle Dinge im Leben ihren Platz haben, auch wenn man ihn auf Anhieb nicht immer entdeckt!«, erwiderte die junge Frau mit tränenerstickter, verzweifelter Stimme.

»Ihr könnt das Kind nicht behalten, dies wisst Ihr so gut wie ich«, fuhr die Mutter Oberin unberührt fort, wobei sie sich langsam umdrehte und die junge Frau kritisch musterte. »Dankt Gott, dass er uns die nötige Zeit geschenkt hat, alles in die Wege zu leiten!«

Die junge Frau spürte, wie sich ihre Kehle verengte, wie die Tränen drohten sie zu ersticken. Jeder Muskel ihres Körpers war jetzt angespannt und doch wusste sie, dass sie den Kampf niemals gewinnen konnte. Auch wenn sie mit Rang und Namen weit über der Äbtissin stand, in diesem Augenblick war sie ihr unterlegen. Sie musste es sein, wollte sie ihre Zukunft nicht zerstören.

»Es bleiben uns jetzt noch zwei Wochen, bevor der Sarganser hier eintreffen wird, zusammen mit Eurem Vater, wenn ich Euch dies in Erinnerung rufen darf.« Der Tonfall der Mutter Oberin ließ erkennen, dass jegliche Diskussion hinfällig war. Der Plan war gefasst und nichts und niemand konnte ihn ändern. »Bis dahin werdet Ihr Euch an meine Anweisungen halten. Es wird ohnehin kein leichtes Spiel sein, die Spuren dieser unsäglichen Tragödie zu vertuschen. Sollte uns dies nämlich nicht gelingen, wird nicht nur Eure Vermählung platzen, sondern auch das Kloster in Ungnade fallen!«

»Ihr tut, als hätte ich den Teufel höchstpersönlich zur Welt gebracht. Schaut sie Euch doch an! Sieht so die Sünde aus?«

»Je eher Ihr Euch von dem Kind trennt, desto besser!«, erwiderte die Mutter Oberin kalt, wobei sie den Säugling aus den Armen der jungen Frau löste. »Macht es Euch nicht unnötig schwer. Ihr werdet darüber hinwegkommen und noch vielen Kindern das Leben schenken. Dieser Bastard würde Euer Leben nur zerstören!«

»Was werdet Ihr mit ihr machen?« Die Frage war lediglich noch ein Hauchen. Der Kampf war verloren und mit ihm schwand auch der letzte Rest Kraft, den die junge Frau noch in sich verspürt hatte. Lethargisch blickte sie auf das Bündel aus Leinentuch, in dem der zarte Körper ihres Kindes eingehüllt war.

»Wir werden gut auf sie achtgeben, das dürft Ihr mir glauben. Alles andere soll und muss Euch nicht interessieren. Vergesst diesen Tag und dieses Kind, als hätte es beides nie gegeben!«

Während die junge Frau in der Zelle ihren Tränen freien Lauf ließ, drückte die Mutter Oberin das Kind fest an ihre Brust und schritt mit ausladenden Schritten den Kreuzgang entlang. Sie hatte Anweisung gegeben, dass sich alle Mitschwestern in ihren Zellen aufzuhalten hatten. Niemand sollte Zeuge sein, wenn sie das Kind verschwinden ließ. Die Gerüchteküche brodelte ohnehin schon seit Tagen. Dass man bei dieser Geburt mit Kräutern nachgeholfen hatte, dies würde bald das ganze Kloster wissen, zumal Schwester Herbaria trotz aller Gebote und Vorbehalte nicht unbedingt zur Schweigsamkeit neigte. Doch was die Mutter Oberin beinahe noch mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass die Identität der jungen Frau nur schwer geheim zu halten sein würde. Ein falsches Wort, eine ungeschickte Geste und ihr Traum von einem Konvent auf Lebzeiten würde sich in Luft auflösen. Das Kind musste weg, je schneller, desto besser. Kinder hatten in Klöstern nichts verloren, schon gar nicht, wenn Hexenmale ihren Rücken zierten. Die junge Frau hatte zwar kein Wort darüber verloren, doch bestimmt hatte auch sie das Zeichen des Teufels gesehen. Die Mutter Oberin presste das Kind noch fester an ihre Brust.

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1. Kapitel

Konstanz im Herbst des Jahres 1354

Irgendwann zwischen Mitternacht und dem Erwachen des neuen Tages hatte es zu regnen begonnen. Mit monotoner Trägheit prasselten die Regentropfen auf das Reetdach der kleinen Hütte am See.

Almut stieß einen Seufzer aus. Mit dem Regen waren auch ihre Sorgen zurückgekehrt. Die Hoffnung, vielleicht in einen erlösenden Schlaf zu fallen, um alles vergessen zu können, hatte sich nicht erfüllt. Sie hatte in dieser Nacht so gut wie kein Auge zugetan. Mühsam rappelte sie sich hoch und setzte sich auf die Kante des Holzbettes. Mit Wehmut betrachtete sie das schlafende Mädchen an der gegenüberliegenden Wand. Warum nur hatte sie Ita nicht die Wahrheit gesagt? Diese Frage stellte sie sich in letzter Zeit des Öfteren, und wie immer kam sie dabei zu dem Schluss, dass es sowohl Feigheit wie auch Eigennutz gewesen waren, die sie dazu verleitet hatten. Sie hatte sich immer ausgemalt, dass Ita sie in alten Tagen pflegen würde, ihr in Stunden der Einsamkeit Gesellschaft leisten und bei ihrem Ableben die Totengräber dazu anregen würde, den besten Platz für sie zu finden. Sie wollte nicht außerhalb der Stadtmauer begraben werden, wie all die vielen Kräuterweiber vor ihr. Es hatte nichts mit Glauben zu tun, dazu hatte sie schon zu viel erlebt und gesehen, es war auch nicht die Angst, im Fegefeuer zwischen Dämonen und Zaubern gefangen zu sein, nein, sie wollte einfach nicht, dass Grabschänder ihre letzte Ruhe störten, nur weil sie hofften, ihren Körper heimlich an die Scholastiker verschachern zu können, damit diese ihren Leichnam in den Katakomben der Escola ausweideten wie ein Stück Vieh. Sie hatte schon solch verstümmelte Leichname gesehen, dass man ihnen kaum noch ansah, ob sie einmal Männlein oder Weiblein gewesen waren.

Eine Bewegung des Mädchens ließ Almut aus ihren Gedanken hochfahren. Ita schien zu träumen. Auch wenn im düsteren Morgenlicht nicht allzu viel zu erkennen war, so glaubte Almut doch, auf dem Gesicht ihrer Ziehtochter ein Lächeln zu erkennen. Wie schön sie doch war, ihre Ita, mit den langen blonden Haaren und den lieblichen Gesichtszügen. Sie hätte Besseres verdient als ein Leben an ihrer Seite, durchzogen von Armut und der steten Angst, den nächsten Winter vielleicht nicht zu überleben, davon war sie überzeugt. Doch wie hätte sie dies als einfaches Kräuterweib bewerkstelligen sollen? Sie verfügte weder über Einfluss noch die nötigen Geldmittel, um Ita ein besseres Leben zu ermöglichen. Genau genommen war sie nicht einmal eine richtige Hebamme, jedenfalls keine mit Bewilligung vom Hohen Rat. Womit sie sich auskannte, nun dieses Wissen raunte man sich nur hinter verborgener Hand zu. Mixturen aus Giftpflanzen wie Fingerhut, Mandragora, Rizinus, Belladonna und dergleichen mehr, sie wusste aus jeder Pflanze ein Heilmittel herzustellen. Ein Heilmittel, das nicht bei jedermann auf Freude stieß, wie sie wusste. Ihre Dienste wurden genau dann benötigt, wenn eine Schwangerschaft nicht nach dem gewünschten Muster verlief oder der Medicus und die Stadthebamme sich nicht die Finger an einer Totgeburt schmutzig machen wollten. Dann war sie zur Stelle.

»Ist es schon Morgen?« Ita rieb sich die Augen.

Die Schleier der Nacht hielten sich noch hartnäckig und ließen das Innere der Hütte noch kleiner erscheinen, als es ohnehin schon war.

»Willst du jetzt schon mit der Latwerge beginnen?«, fragte Ita leicht verwundert.

»Schlaf ruhig weiter, Ita!«, antwortete Almut leise, wobei sie dem Mädchen beruhigend zunickte. »Ich werde erst etwas Feuerholz von draußen holen. Das wird bei diesem Regen wohl etwas dauern.«

»Eigentlich wäre das meine Aufgabe. Hätte ich den Holzstoß wie besprochen säuberlich an der Scheunenwand aufgebaut, wäre er gestern Abend nicht umgefallen.«

»Da hast du tatsächlich nicht ganz unrecht, und doch werde ich jetzt nach draußen gehen, zumal ich ohnehin nicht mehr schlafen kann und auf andere Gedanken kommen muss.«

Almut griff sich den größeren der Weidenkörbe. Unter der Tür drehte sie sich nochmals um, doch von Ita war bereits nichts mehr zu hören. Gut so, dachte sie sich im Stillen, so musste sie sich nicht wieder Antworten auf allerlei Fragen einfallen lassen, die ohnehin keinen Sinn ergaben. Ita war wissbegierig, beinahe zu sehr, irgendwann würde sie mit Sicherheit hinter ihr Geheimnis kommen. Almut hatte bereits jetzt Angst vor diesem Tag.

 

Der Geruch nach Moder und Fäulnis schlug Almut entgegen, kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen. Der Bodensee war unruhig, man konnte ihn hören, wenn auch nicht sehen, zu viele Trauerweiden und allerlei Gestrüpp versperrten die Sicht auf das Seeufer. Grau, trüb und nass kündigte sich der neue Tag an. Hoffentlich war dies kein schlechtes Omen. Almut zog den Umhang enger um ihre Schultern, duckte sich und rannte in Begleitung einer Windbö auf die Scheune zu. Hier lagerte nicht nur Brennholz, die Scheune diente auch als Trocknungsraum für die vielen Kräuter, die sie gemeinsam mit Ita während des Sommers gesammelt hatte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass der heutige Tag nichts Gutes barg. Es war nur eine Ahnung und vermutlich hätte man sie dafür ausgelacht, doch Almut lachte nicht. Sie spürte die Dinge, lange bevor andere sie bemerkten. Wie hatte ihre Mutter sie stets dafür ausgescholten, ja, sie sogar tagelang dafür in die Scheune gesperrt, doch das zweite Gesicht ließ sich nicht so leicht vertreiben.

Almut drückte sich eng an die Wand der Scheune, damit der Regen so wenig Angriffsfläche wie möglich hatte. Ihr Rock war nur aus dünnem Leinenstoff und hing ihr bereits jetzt wie ein nasser Sack den dürren Leib hinab.

In zwei Wochen würde Ita Geburtstag haben. Zwei Wochen, in denen sie die richtigen Worte finden musste. Almut verspürte einen Stich im Herzen. Schon der alleinige Gedanke, ihrer Tochter womöglich den letzten Rest Glauben an die Menschheit zu rauben, betrübte sie. Und genau das würde geschehen, offenbarte sie Ita die Wahrheit. Die Vergangenheit war grausam gewesen, nicht nur zu ihr, auch zu Ita. Konnte ein fünfzehnjähriges Mädchen die Wahrheit überhaupt ertragen? Ita war oft so feinfühlig, besonders dann, wenn Gott sein Urteil über eine Geburt bereits gefällt hatte.

Einem Schreckensgespenst gleich krochen die Nebelschwaden vom See herauf. Almuts Nackenhaare sträubten sich. Mit klammen Fingern schob sie den Riegel zur Seite und betrat die Scheune.

Normalerweise genoss sie die Vielfalt der Düfte, die beim Betreten der Scheune stets auf sie eindrangen. Doch heute wollte sich kein Hochgefühl einstellen. Beinahe traurig zeichneten sich die unzähligen Kräuterbüschel gegen das blassblaue Licht der Morgendämmerung ab. Minze, Eberraute, Fenchel, Lavendel und Wacholder – wie hatte sie die Zeit genossen, in welcher Ita und sie die vielen Kräuter gesammelt hatten. Almut hatte gehofft, hier inmitten ihrer Kostbarkeiten etwas Ruhe zu finden, doch weit gefehlt. Die Kälte kroch ihr unangenehm in die Knochen und ließ ihren nassen Rock zentnerschwer werden. Mittlerweile umklammerte sie den Weidenkorb mit beiden Händen. Sie hatte genau zwei Möglichkeiten. Entweder blieb sie hier in der Scheune stehen, was ihr vermutlich eine Erkältung, wenn nicht Schlimmeres, einbringen würde, oder aber sie stellte sich endlich der Verantwortung und erzählte Ita die Wahrheit.

Mit einem Seufzer aus tiefster Seele gab sie sich einen Ruck und schlüpfte durch die halb geöffnete Scheunentür wieder nach draußen in den Regen. Hastig suchte sie einige der trockensten Scheite aus dem umgefallenen Holzstapel und legte sie in den Weidenkorb. Mit einem letzten Blick auf die sich im Wind schief legenden Trauerweiden lief sie zurück in die Hütte.

Unterdessen war Ita nicht untätig geblieben. Lediglich mit einem dünnen Schultertuch und ihrem Leinenhemd bekleidet, hatte sie bereits die Reste des gestrigen Hafers mit Milch vermengt, etwas Pflaumenmus untergehoben und das Ganze mit einem Zweiglein Rosmarin schön auf dem Tisch drapiert. Almut konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, ein Lächeln, in dem Stolz ebenso mitschwang wie die leise Hoffnung, dass sich vielleicht doch nichts zu ändern brauchte.

»Was geben wir heute in die Latwerge?«, fragte Ita neugierig, während sie Almut half, den Weidenkorb vor die Feuerstelle zu tragen.

»Da der Winter vor der Tür steht, werden wir zu einem warmen Aroma greifen«, erwiderte Almut mit einem leicht verkrampften Lächeln auf den Lippen.

Sie war erleichtert, dass Ita ihre Unsicherheit nicht bemerkte. Über Kräuter und ihre Zubereitung zu sprechen war genau das, was sie jetzt brauchte. In diesen Dingen fühlte sie sich sicher.

»Das wären demnach Nelken, Zimt und …«

»… und Anis«, beendete Almut den Satz ihrer Tochter. »Gut aufgepasst, Ita. Bald brauchst du mich nicht mehr.«

»Ich werde dich immer brauchen, Mutter! Nie und nimmer werde ich dich verlassen.«

Almut war froh, sich mit der Feuerstelle beschäftigen zu können, da Ita ihre aufsteigenden Tränen so nicht sah. Pustend versuchte sie, die Glut des gestrigen Abends neu zu entfachen, ehe sie neue Scheite in die auflodernden Flammen legte. Dann wischte sie sich kurz über die Augen und ließ sich mit einem Seufzer auf dem Hocker gegenüber von Ita nieder. Den Blick auf das kleine Fenster geheftet, begann sie gedankenverloren ihren Haferbrei zu löffeln. Wieder kamen die Gewissensbisse zurück. Sie musste es Ita sagen! Jetzt wäre eine gute Gelegenheit dafür.

»Ita …«, begann Almut zögernd.

»Ich weiß schon, was du sagen willst«, entgegnete Ita hastig, wobei sie aufstand und ein neues Scheit auf das Feuer legte. »Ich werde den Holzstoß noch diesen Nachmittag wieder aufstapeln und dieses Mal so, dass er nicht wieder beim ersten Windstoß umfällt.«

Der Moment war vertan, Almut spürte es und dennoch war sie darüber alles andere als traurig. Ihre Idylle würde weiterbestehen, wenn auch basierend auf einer Lüge. Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.

 

Den nächsten Morgen verbrachten Ita und die alte Almut schweigend Seite an Seite. Ita glaubte, ihre Mutter zürne ihr doch noch etwas wegen der Schlamperei beim Holzaufstapeln, sodass sie es vorzog, deren Geduld nicht unnötig zu strapazieren, und sich mucksmäuschenstill verhielt. Zähflüssig und klebrig lag die Latwergemasse gegen Mittag ausgestrichen auf einem riesigen Holzbrett vor ihnen. In der ganzen Hütte roch es nach Nelken und Zimt.

Ita schloss die Augen, um diesen Moment in ihren Gedanken festzuhalten. Sie liebte das Hantieren mit den Kräutern, an der Seite ihrer Mutter, von der sie noch nach so vielen Jahren immer wieder Neues lernen konnte. Niemand in ganz Konstanz kannte sich in Kräutersachen besser aus als Almut, davon war sie felsenfest überzeugt. Lediglich wenn ihre Mutter zu Mitteln griff, die laut dem Bischof des Teufels waren, dann nagten Gewissensbisse an ihr. Ita wollte eben ihre Augen wieder öffnen, als ihr der herbe Geruch der Alraune in die Nase stieg. Erschrocken hielt sie inne.

»Du brauchst dich nicht zu verstellen«, bemerkte Almut mit energischem Unterton. »Ohne diese Wurzel bringt die Frau des Bleichers in Rickenbach ihr Kind niemals auf die Welt! Ich habe dir doch erzählt, dass das Kind falsch im Mutterleib liegt, und will ich es drehen, braucht die Arme etwas, das ihre Sinne betäubt.«

Ita kam zögernd näher und blickte ihrer Mutter über die Schulter. Vorsichtig hatte diese die merkwürdig aussehende Wurzel, die tatsächlich wie die Ausgeburt des Teufels aussah, in kleine Stücke geschnitten und mengte sie gerade der Latwerge bei. Wie oft hatte sie ihre Mutter schon angefleht, diese Teufeleien zu unterlassen. Man durfte Gott nicht ins Handwerk pfuschen, dies predigte Pater Ambrosius Sonntag für Sonntag in seiner Kapelle. Warum nur weigerte sich Almut so strikt, dem Gottesmann selbst einmal zuzuhören. Vielleicht wäre sie dann zur Vernunft gekommen. Almut war der liebste Mensch auf der Welt und doch mit einer Sturheit gesegnet, die zuweilen unverständlich war.

»Wenn du mit deiner Arbeit fertig bist, kannst du die Riechkugeln zu Pater Ambrosius bringen!« Almut hatte ihre Stimme nicht so streng klingen lassen wollen, doch die stummen Vorwürfe ihrer Tochter ließen sie nicht unberührt. Ita hatte recht, es war gefährlich, und doch blieb ihr keine andere Wahl. Die Frauen brauchten ihre Hilfe.

»Und du?«, fragte Ita leise. »Möchtest du nicht mitkommen zu Pater Ambrosius? Er ist ein kluger Mann und vielleicht …«

»Ich muss meine Arbeit hier beenden. Die Latwerge muss noch mit Honig bestrichen und anschließend über dem Feuer getrocknet werden«, fiel ihr Almut mit abwehrender Geste ins Wort.

»Und danach gehst du nach Rickenbach, nicht wahr?« Ita ließ nicht locker.

»Es ist besser für dich, du weißt nicht alles!«

Almuts Haltung machte deutlich, dass sie nicht gewillt war, zu diesem Thema weitere Ausführungen zu machen. Mit aufeinandergepressten Lippen griff sie sich den Honigtopf und scheuchte ihre Tochter zur Seite.

Ita schnaubte. Sie war kein kleines Kind mehr, das man beliebig fortschieben konnte, wenn es lästig wurde. Sie war beinahe sechzehn Jahre alt und verfügte durchaus über Verstand. Doch in diesem Augenblick blieb ihr nichts anderes übrig, als Almuts Anweisung zu befolgen. Widerwillig griff sie sich den Korb mit den Riechkugeln und verließ die Hütte.

Es hatte aufgehört zu regnen, wenigstens dies. Itas Stimmung war miserabel. Sie zankte sich nicht gerne mit ihrer Mutter.

 

Der Weg in die Stadt führte Ita entlang des Bodensees. Es schien ihr beinahe so, als ließen die Trauerweiden ihre Äste heute noch tiefer ins Wasser hängen als sonst. Es war einer jener Tage, an denen es nicht so richtig hell werden würde. Noch immer türmten sich dunkle Wolken am Himmel, und wollten sie nicht von einem neuerlichen Regenguss überrascht werden, musste sie sich sputen. Ihre Hütte lag etwas außerhalb der Stadtmauer von Konstanz, was bedeutete, dass ihr allerlei Gesindel auf dem Weg begegnete. Das Schottentor war bekannt dafür, dass hier die Kontrollen nicht so streng, die Geldkatzen der Torwächter dafür stets prall gefüllt waren. Den Korb mit den Riechkugeln fest an sich gedrückt, marschierte sie auf das Tor zu. Wie immer hatte sie ein flaues Gefühl in der Magengrube, zumal sie ahnte, dass der dicke Franz wieder die Wache innehaben würde. Sie mochte den alten Lüstling nicht. Wenn seine Augen über ihren Körper glitten, schämte sie sich in Grund und Boden. Dass ihr mittlerweile auch die anderen Torwächter hinterherpfiffen, machte den Schritt in die Stadt nicht einfacher.

Doch heute schien alles anders. Niemand nahm Notiz von ihr. Selbst der dicke Franz ließ sich nicht blicken. Mithilfe ihrer Ellbogen fand Ita ihren Platz inmitten des Gedränges. Karren, gezogen von Ochsen und Eseln, Frauen und Männer mit Ballen voller Schafwolle auf den Rücken, Kinder mit Handkarren, Hunde, Schafe und Pferde, alles wild durcheinander. Ita hatte Mühe, im Gedränge ihren Korb nicht zu verlieren.

»Lauf endlich weiter!«, rief eine Frau neben ihr aufgebracht. »Der Markt wartet nicht auf uns!«

In diesem Augenblick wurde Ita bewusst, dass heute Freitag war. Immer donnerstags und freitags fanden die Leinwandmarkttage statt und wie immer war die Stadt dann zum Bersten voll. Erschwerend kam hinzu, dass es der letzte Freitag in diesem Jahr war, an dem der Markt stattfand. Die Herbsttage waren gezählt, der Winter stand vor der Tür. Die einheimischen Händler und Kaufleute drängten sich bestimmt schon um die Stände der Handwerker und versuchten, die besten Stücke zu ergattern, die sie dann lukrativ in Venedig, Mailand oder Genua an den Mann bringen konnten.

Der Leinen- und Barchenthandel florierte seit jeher und hatte Konstanz zu enormem Reichtum verholfen. Die Händler gingen sogar schon so weit, öffentlich laut nach einem Kaufhaus zu schreien, in welchem sie die kostbaren Stücke zwischenlagern wollten, bis sie die Reise über den Septimer oder den St.-Gotthardpass antreten konnten.

Ita kam nur langsam voran. Der Nachteil des Schottentors war, dass sie die gesamte Stadt durchqueren musste, bis sie endlich bei Pater Ambrosius in der St.-Paulskapelle ankommen würde. Der Regen der vergangenen Nacht hatte den Schmutz in den Gassen dermaßen aufgeweicht, dass ihre Stiefel binnen kürzester Zeit voller Morast und Fäkalien waren. Insgeheim verfluchte Ita die Bürger von Konstanz, die trotz strengen Verbots ihre Nachttöpfe noch immer auf die Gassen entleerten oder den Kot ihrer Tiere dort liegen ließen, wo diese sich gerade erleichtert hatten. Im Sommer innerhalb von fünf Tagen und im Winter innerhalb von acht Tagen, das war das Verdikt, das der Stadtrat erlassen hatte. Innerhalb dieser Frist waren die Konstanzer verpflichtet, den Platz vor ihren Häusern zu säubern. Doch ganz offensichtlich zahlten die reichen Herren lieber die Buße in Form des Dreckgeldes an die Wagenkolonne, statt selbst Hand anzulegen.

Ita rümpfte die Nase. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Rock zu raffen und weiter durch die stinkende Brühe zu waten. Im Stillen ärgerte sie sich nicht nur über die faulen Konstanzer, sondern auch darüber, dass sie in der Eile ihre Trippen vergessen hatte. Doch nun war es zu spät. Es würde ihr hinterher nichts anderes übrig bleiben, als ihre Lederstiefel mit Wasser und Seifenkraut zu schrubben, wenn sie den Gestank wieder loswerden wollte.

Entlang des Münsters, in welchem Bischof Johann Windlock seinen Sitz hatte, waren die Gassen deutlich sauberer. Der Einfluss des mächtigen Mannes, der erst seit drei Jahren im Amt war und als Günstling des habsburgischen Herzogs Albrecht II. galt, war nicht zu übersehen. Bischof Windlock war ein strenger Mann, der seine bischöflichen Machtansprüche mit allen Mitteln durchsetzte, was ihn nicht selten in Konflikt mit den reichen Konstanzer Bürgern und dem Adel gebracht hatte. Doch heute ließ er sich nicht blicken. Es war kein Geheimnis, dass die Leinwandmarkttage seinen Unmut noch schürten.

Itas Ziel, die St.-Paulskapelle, lag im ärmsten Teil der Stadt. Pater Ambrosius hatte es sich zur Aufgabe gemacht, auch die weniger begüterten Bürger von Konstanz von Gott zu überzeugen. Dass dies bei Totengräbern, Prostituierten und Abdeckern kein leichtes Unterfangen war, hatte er schnell bemerkt, und doch harrte er nun schon über fünf Jahre hier aus, was ihn in Itas Augen zu einem Helden machte.

Nachdem die stolzen Patrizierhäuser hinter ihr lagen, bog Ita in eine jener dunklen Gassen ein, die man alleine nicht durchqueren sollte. Eigentlich hatte sie von Almut die Anweisung, sich der St.-Paulskapelle über den Marktplatz zu nähern, doch angesichts der Tatsache, dass ihre Mutter sie ohnehin nie zu Pater Ambrosius begleitete, widersetzte sie sich diesem Befehl stets mit Trotz.

Auf Höhe der alten Taverne blieb sie kurz stehen. Das Flechtwerk hätte längst einer Erneuerung bedurft und auch der Lehmbewurf bröckelte an etlichen Stellen. Zwei Frauen standen unter dem Türbogen, das Mieder in schändlicher Weise geöffnet, und warteten in unmissverständlicher Manier auf Freier. Der grüne Schal, den sie sich als Zeichen ihres Berufsstandes um den Hals gebunden hatten, ließ Ita erröten.

»Nun Mädchen, willst du uns zur Hand gehen?«

Ita hätte nicht sagen können, welche der beiden Weibsbilder ihr dies entgegengerufen hatte. Den Blick starr auf ihre Füße gerichtet, rannte sie an der Taverne vorbei. Ganz offensichtlich war ihre keimende Weiblichkeit nicht nur dem dicken Franz vom Schottentor verborgen geblieben. War Almut vielleicht deswegen heute Morgen so seltsam gewesen? Wollte sie sie womöglich verheiraten, kaum hatte sie ihren Geburtstag gefeiert? Ita schluckte.

In einem Taumel der Gefühle erreichte sie schließlich das kleine Gotteshaus. Gebaut aus mausgrauen Quadersteinen, schlicht und wenig einladend, hatte es nichts gemein mit dem pompösen Münster des Bischofs, das über und über mit Türmchen, Säulen und Heiligenstatuen ausstaffiert war. Die St.-Paulskapelle bestand lediglich aus einem Längsschiff und zwei kleinen Apsiden. Auf jeder Seite gab es zwei kleine Rundbogenfenster, die die Kapelle in schummriges Licht tauchten. Hätte Pater Ambrosius nicht auch die Kerzenzieher zu seiner Kundschaft gezählt, hätte er seine Schäfchen während der Messe nur schattenhaft an ihren Umrissen erkennen können.

Wie immer war ihr Eintreten von einem Quietschen begleitet, das von den rostigen Scharnieren herrührte. Der Geruch von Weihrauch und Kerzenwachs hing über dem Raum. Als sich Itas Augen allmählich an die Düsternis gewöhnt hatten, schritt sie langsam die Reihen der Holzbänke ab. Niemand schien heute die Hilfe Gottes zu benötigen. In der Kapelle herrschte gähnende Leere, sah man von Pater Ambrosius ab, der kniend vor einem schlichten Holzkreuz in seine Gebete vertieft zu sein schien.

»Entschuldigt, Pater Ambrosius«, flüsterte Ita leise. Das Letzte, was sie wollte, war den Kleriker in seiner Andacht zu stören, doch zu warten, bis Pater Ambrosius seine Gebetslitanei beendet hatte, so viel Zeit blieb ihr nicht. »Ich bringe die Riechkugeln für die Messe.«

»Danke Ita, du bist ein gutes Mädchen. Hoffentlich weiß Almut, was sie an dir hat!«

»Ihr dürft nicht so streng urteilen, Pater Ambrosius«, entgegnete Ita entschuldigend. »Almut wird ihre Gründe haben, warum sie das Gotteshaus meidet. Die Riechkugeln jedenfalls kommen von Herzen.«

Ita mochte den etwas in die Jahre gekommen Benediktinermönch. Seit er vor fünf Jahren in Konstanz aufgetaucht war, hatte sie keine seiner Messen versäumt. Anfänglich hatte sie sich ja gewundert, warum Almut so darauf bestanden hatte, dass sie jeden Sonntag die St.-Paulskapelle besuchte. Als der Pater sie dann eines Tages nach der Messe zur Seite genommen hatte, um sie heimlich im Schreiben und Lesen zu unterrichten, hatte sie ihm versprechen müssen, niemandem davon zu erzählen. Lediglich Almut wusste von ihrem Geheimnis und seltsamerweise schien sie darüber auch noch erfreut zu sein.

»Wie geht es der alten Almut? Ich hoffe doch, sie ist nicht in Rickenbach!«, sprach Pater Ambrosius mit strenger Stimme, während er sich das Kreuzzeichen auf Stirne und Brust schlug.

»Ihr wisst von Rickenbach?« Ita konnte ihr Erstaunen nur schlecht verbergen.

»Auch meine Wege führen mich zuweilen an die Bettstatt der Notleidenden und glaub mir Ita, da erfährt man so manches, das man besser nicht hören will! Almut lebt gefährlich, und was mich dabei besonders ärgert, sie weiß es!« Pater Ambrosius erhob sich mit einem Stöhnen und strich sich die Kutte glatt, ehe er Ita den Korb mit den Riechkugeln abnahm. »Sie kann der Frau nicht helfen! Selbst der Medicus hat dem Bleicher und seiner Frau klargemacht, dass in diesem Fall nur noch Gott helfen kann«, fuhr er in seiner Ausführung fort, wobei er Ita einen strafenden Blick schenkte. »Ich hoffe für Almut, dass sie keine Dummheit macht. Der Bischof ist dieser Tage besonders scharf darauf, seinen Kerker zu füllen. Er will den Ratsherren nur zu gerne vor Augen führen, wie weit seine Macht reicht! Ein Exempel vor versammelter Menge käme ihm da nur recht!«

Ita schauderte. Es war nicht so sehr die Kälte innerhalb der Gottesmauern, die ihre Nackenhaare steil aufragen ließ. Der Gedanke, Almut allein wegen ihrer Sturheit zu verlieren, erregte ihren Zorn. Erst letzte Woche war ein Bauer wegen blasphemischer Ausrufe am Galgen hingerichtet worden. Die Krähen freuten sich noch immer über die faulenden Fleischreste.

»Was für ein Exempel?«, fragte sie mit zittriger Stimme.

»Die Kaufleute wollen angeblich die Steuern für die Kirche kürzen. Sie reden von einer schlechten Flachs- und Leinernte, von Erhöhung der Zölle über die Pässe und von Überfällen, die die Karawanen immer wieder erdulden müssten. Bischof Windlock jedenfalls lässt sich dies nicht so einfach gefallen, das kannst du mir glauben. Seine Zurschaustellung der Macht wird ihm Hochachtung verschaffen.«

»Eine schöne Machtdarstellung, unschuldige Frauen und Männer in den Kerker werfen zu lassen!«, empörte sich Ita.

»Niemand weiß bislang davon und ich möchte, dass du es für dich behältst. Lediglich Almut wirst du Bescheid sagen, und wenn sie klug ist, wird sie wissen, was zu tun ist!«

Ita gab einen gequälten Laut von sich. Almut ließ sich nur bedingt sagen, was sie zu tun oder zu lassen hatte.

»In zwei Wochen hast du Geburtstag, nicht wahr?« Pater Ambrosius wechselte so unverhofft das Thema, dass Ita erst nicht wusste, wie ihr geschah. »Und deshalb habe ich ein kleines Geschenk für dich …«

Ita versuchte ihre trübsinnigen Gedanken beiseitezuschieben, was ihr jedoch nur halbherzig gelang. Almut war eine Giftmischerin, eine Hexe, wenn man so wollte, und Hexen wurden bekanntlich im See ersäuft. Mit einem Leinensack über dem Kopf, festgezurrt mit einem dicken Hanfseil, mit Steinen beschwert und dann …

»… aus der Bibliothek des Bischofs. Niemand vermisst die kleinen Gedichtbände, sie seien unnütz, böten keinen Anreiz zum Lernen – so die Meinung des Bibliothekars.«

Ita schaute ein wenig dümmlich auf das kleine Buch, welches ihr Pater Ambrosius in die Hände drückte. Gebunden in feinstes Ziegenleder, verströmte das Pergament einen Geruch, der es mit den allerliebsten Düften der feinen Damen aufnehmen konnte.

»Ich möchte, dass du dir ein Gedicht heraussuchst und es fein säuberlich mit gespitztem Federkiel auf dieses Pergament schreibst!«

Wie durch Zauberhand zog Pater Ambrosius aus der Falte seines Talars ein zusammengerolltes Stück Pergament hervor.

»Wähle eines aus, das dir auch in schwierigen Zeiten eine Hilfe sein wird«, fügte er nickend hinzu.

»Ihr glaubt also fest daran, dass Almut …«

»Sie ist stur!«, fiel ihr Pater Ambrosius ins Wort. »Stur und zuweilen auch dumm, wie Frauen eben sind!«

Ita wollte aufbegehren, hielt dann aber doch inne. Ganz unrecht hatte Pater Ambrosius im Falle von Almut wohl nicht.

»Nächsten Sonntag werden wir gemeinsam ein Buch von Galen lesen. Ich möchte, dass du dich in Zukunft mehr mit seiner Theorie der Vier-Säfte-Lehre befasst als mit Almuts Hexenkräutern! Versprichst du mir das, Ita?«

Ita biss sich auf die Unterlippe, in der Hoffnung, damit den Schmerz betäuben zu können, der sich die letzten Minuten in ihrer Seele angesammelt hatte. War das Gotteshaus sonst ein Zufluchtsort, ein Ort der Vertrautheit, so haftete ihm plötzlich ein bitterer Nachgeschmack an. Denn wie man es auch drehte und wendete, kam es zum Schlimmsten, würde auch Pater Ambrosius hinter seinem Bischof stehen und nicht hinter einer Kräuterfrau.

 

Beinahe fluchtartig hatte Ita wenig später die Kapelle verlassen. Draußen empfing sie dichter Nebel. Innerhalb kürzester Zeit klebten ihr die Haare am Kopf.

»Und, genug vom Pater?«, lachte eine der beiden Huren, als Ita mit gesenktem Kopf vorbeirannte. »Am Hafen unten sind Gaukler eingetroffen. Die werden dir mit Sicherheit besser gefallen als der alte Pfaffe!«

Hatte sie sich vor wenigen Minuten nur über die lästernden Bemerkungen der beiden Weibsbilder geärgert, so hatte sie jetzt ganz andere Sorgen. Mit einem Mal erschien ihr alles so lapidar, so oberflächlich und sinnlos. Sie schämte sich insgeheim dafür, Almut mit Schweigsamkeit gestraft zu haben. Vielleicht hätten einige klärende Worte sie davon abgehalten, nach Rickenbach zu gehen.

So in Gedanken versunken, hätte Ita beinahe den Bettler umgerannt, der ihr schwankend die Gasse entgegenkam. Der Mann schenkte ihr ein zahnloses Lächeln, ehe er deutlich schneller hinter ihrem Rücken verschwand. Ita drückte den Korb enger an ihre Brust und lief mit schnellem Schritt dem Ende der Gasse entgegen. Almut mochte es nicht, wenn sie sich ins Marktgetümmel stürzte, und dennoch hätte sie ein Blick auf die Gaukler durchaus gereizt.

Mit aufeinandergepressten Lippen und einem trotzigen Ausdruck in den Augen blickte Ita auf die Menschen, die dem Marktplatz entgegenstrebten. Sie brauchte es Almut ja nicht zu erzählen, sagte sie sich, und wenn sie Glück hatte, würde sie auch niemand inmitten der Menschenmassen erkennen. Almut würde also nie erfahren, dass sie sich unter die Marktbesucher gemischt hatte. Zur Sicherheit zog sie ihr Kopftuch noch tiefer in die Stirn und marschierte los. Kaum hatte sie der Sog der Menschenmenge erfasst, ging alles wie von allein. Innerhalb weniger Minuten stand sie in der Mitte der Marktstätte, umgeben von den protzenden Patrizierhäusern mit ihren schwungvollen Erkern. Da und dort glaubte sie den Blick auf eine der vornehmen Damen erhaschen zu können, die ihre Nase an den neumodischen Scheiben der Erker platt drückten. Von der Erregung und Euphorie mitgerissen, stieg Ita kurzerhand auf den Rand des Stadtbrunnens.

Es gab tatsächlich nicht nur Leinwände in allen Formen und Größen zu kaufen, selbst fremdländische Herren boten ihre Waren feil; Seide aus China, Gewürze aus Arabien, ja selbst Waffen aus Damaskus. Diese Händler priesen ihre Waren so lautstark an, dass die hiesigen Bauern und Handwerker mit ihren Erzeugnissen beinahe untergingen. Von Mitleid erfasst, hätte sie sich beinahe dazu hinreißen lassen, den Marktschreier für einen der wortkargen Bauern zu spielen, wäre ihr Blick nicht in Richtung des Rathauses gewandert. Die stolzen Ratsherren mit ihren samtenen schwarzen Roben und den roten Hüten standen sichtlich zufrieden unter dem Türportal und schauten dem Treiben zu.

Bei ihrem Anblick beschlich Ita ein ungutes Gefühl. Bislang hatte der Große Rat sie und Almut in Ruhe gelassen. Ein kleines Kräuterweib am Rande der Stadt, arm und verlassen, wen kümmerte das schon? Ein Klimpern und Rasseln riss Ita aus ihren Gedanken. Ehe sie reagieren konnte, stand ein Zwerg neben ihr auf dem Brunnenrand.

»Tanz mit mir!«, rief der kleine Mann lachend, wobei er versuchte, Ita bei den Händen zu packen.

Es hatten sich bereits einige Schaulustige eingefunden, die neugierig näher kamen. Ita stand wie gelähmt da und starrte den Zwerg mit offenem Mund an. Sie hatte noch nie einen so kleinen Mann gesehen, und schon gar keinen, der Schellen und Metallplättchen an den Fesseln trug, die bei jedem seiner Schritte ein klimperndes Geräusch von sich gaben.

»Lass mich!«, keuchte sie erschrocken. Beinahe wäre sie beim Versuch, sich der Belästigung zu erwehren, vom Brunnenrand gefallen. Die Menge johlte und klatschte. Irgendjemand schlug ein Tamburin und im nächsten Moment begann eine Fidel zu spielen. Der Zwerg tanzte jetzt in wildem Rhythmus, sprang abwechselnd auf die Hände und strampelte wie wild mit seinen Füßen in der Luft. Sein Repertoire an Kunststücken schien unermesslich.

Ita nutzte die Gelegenheit und sprang vom Brunnen. Noch bevor sie in der Menge untertauchen konnte, bemerkte sie die in bunte Tücher gehüllte Frau, die jetzt ihren Platz auf dem Brunnenrand eingenommen hatte. Ihren Körper nach allen Seiten biegend, tanzte sie in wilder Manier zum Rhythmus der Musik.

Von Erregung und Panik gleichermaßen ergriffen, zwängte sich Ita an den Ständen der Weber vorbei und verschwand in eine der angrenzenden Gassen. Beinahe hätte sie zwei Jungen umgerannt, die mit ihren Bauchläden voller Schnürsenkeln, Seilen und Schnallen auf sie zukamen. Ihren Blicken nach zu urteilen, hielten sie Ita wohl für verrückt, lief sie doch mit wehenden Haaren die Gasse entlang. Für heute hatte sie mehr als genug erlebt.

 

Als die Hütte am See endlich aus dem Nebel auftauchte, stieg sonderbarerweise kein Rauch aus dem Kamin auf. Ita beschleunigte ihre Schritte. Von schlimmer Vorahnung verfolgt, trat sie über die Türschwelle.

Die Hütte war nicht groß. Sie bestand lediglich aus einem einzigen Raum, der sowohl Schlafplatz wie auch Aufbewahrungsplatz all ihrer Medizin war. Ein Schrank, zwei Truhen, ein Tisch mit zwei wackeligen Hockern, aus mehr bestand ihr Mobiliar nicht, sah man von den zwei Bettstätten und ihren Strohsäcken ab, und doch war es ihr Heim, ihr Refugium des Glücks.

»Almut, bist du hier?«, rief sie mit trockener Kehle. Eine dumme Frage, dachte sie im Stillen, die Hütte war so klein, dass sich kein Platz für ein Versteck bot. Almut war nicht in dem kleinen Raum und war es wohl auch seit Stunden nicht mehr gewesen. Offensichtlich hatte sie die Hütte unmittelbar nach Ita verlassen, denn die Latwerge lag getrocknet, aber noch immer ungeschnitten neben dem Herd. Lediglich ein kleines Stück fehlte, und genau dies löste bei Ita ein flaues Gefühl in der Magengegend aus. Langsam ließ sie sich auf einen der Hocker sinken. Um sich abzulenken, begann Ita, den Rest der Latwerge in kleine mundgerechte Stücke zu schneiden. Anschließend griff sie sich einen der Tontöpfe, legte die Stücke vorsichtig hinein und stellte das Ganze ins Regal neben die unzähligen anderen Keramikschüsseln, Karaffen und Kräutersäcke. Der Anflug eines Lächelns huschte über ihre Gesichtszüge, als sie die vielen Namen der Kräuter, Salben und Mixturen las, die sie allesamt selbst in fein säuberlicher Schrift auf das Holzregal geschrieben hatte. Almut konnte nicht lesen, und doch hatte sie stets darauf beharrt, dass Ita das gesamte Herbarium mit Namen beschriftete. Sie strich zärtlich über die geschwungenen Schnörkel, ehe ihr Blick auf dem dicken Leinenband hängen blieb, in welchem sie sämtliche Rezepte und Mixturen, die Almut im Laufe der Jahre erfunden hatte, niedergeschrieben hatte. Da waren zum Beispiel die Salbe gegen Wunden, bestehend aus gemahlener Lilienwurz und Bleiweiß, die Fladen aus getrockneten Holunderblüten und Gerstenmehl für die werdende Mutter oder das Rezept gegen geschwollene Glieder, bei denen gekochte Eibischwurzel und Nierentalg die besten Mittel waren. Über hundert solche Rezepte hatte sie mittlerweile notiert, und so Gott wollte, würden es nochmals so viele werden. Almuts Eifer und Schaffensdrang waren keine Grenzen gesetzt.

Mit einem Seufzer wandte sich Ita ab. Plötzlich hielt Ita inne. Den Blick auf die Stelle gerichtet, an der für gewöhnlich der Weidenkorb stand, begann sie zu wanken. Sie hatte den Korb bei den Gauklern am Brunnen vergessen, als sie panikartig davongerannt war. Wie nur konnte ihr dies passieren? Es war nicht so sehr der Verlust des Weidenkorbes, es war der kleine Gedichtband, der sich darin befand, der sie in Sorge brachte. Was, wenn er in falsche Hände geriet? Kein gutes Omen, zumal sie auch von Almut noch immer nichts gehört hatte.

Umgeben von schmerzender Einsamkeit zog Ita ihr Schultertuch enger und trat ans Fenster. Die Nacht kroch langsam über die Ebene und ließ sowohl den Regen als auch den Nebel in der Dämmerung verschwinden. Bald würde man keine Hand mehr vor Augen erkennen. Die Nächte waren dunkel, besonders hier, abseits der Stadt. Verzweiflung und Wehmut drohten Ita zu zerfressen. Wo war Almut nur geblieben? Ita schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter. Wut kroch langsam in ihr hoch, Wut auf Almut und ihre verdammten Hexenkünste.

 

Stunden später, Ita musste trotz des Taumels ihrer Gefühle doch noch eingeschlafen sein, schreckte sie plötzlich hoch. Jemand befand sich im Raum und machte sich zweifelsohne an der Feuerstelle zu schaffen.

»Almut?«, fragte Ita leise, wobei sie sich kaum zu atmen traute.

In diesem Augenblick flammte das Feuer auf. Almut kniete zitternd vor den züngelnden Flammen.

»Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«, setzte Ita mit vorwurfsvollem Unterton nach. »Pater Ambrosius meint, dass Bischof Windlock ein Exempel statuieren will, um seine Macht gegenüber den Ratsherren und Honoratioren zu stärken. Du solltest die nächsten Wochen vorsichtiger sein mit dem, was du tust!«

»Da wird er wohl nicht ganz unrecht haben«, erwiderte Almut lahm. Die aufsteigende Wärme löste die Krämpfe in ihren Händen. Mit einem Seufzer erhob sie sich von den Knien. »Es hat leider nicht so geklappt, wie ich es mir vorgestellt hatte«, fügte sie seufzend hinzu.

»Du warst also tatsächlich beim Bleicher und seiner Frau, habe ich recht?«

Almut nickte stumm und ließ sich auf einen der Hocker fallen. Langsam begann sie, ihre Hände zu massieren, den Blick wie versteinert auf das Feuer gerichtet.

»Ist etwas mit der Bleicherin geschehen?« Ita hatte sich ihr Schultertuch umgeworfen und kam zögernd näher. »Ist sie …?«

»Nein«, flüsterte Almut kaum hörbar, »noch lebt sie. Aber wenn sich das Kind nicht bald dreht, wohl nicht mehr lange.«

»Almut, du darfst da nicht mehr hin! Pater Ambrosius glaubt, dass die Scheiterhaufen schon bald brennen werden!«

Almuts Murren brachte Ita in Rage. Am liebsten hätte sie ihre Mutter mit beiden Händen gepackt und sie so lange geschüttelt, bis sie wieder zu Vernunft kommen würde.

»Almut, ich brauche dich auch!«, rief sie stattdessen mit flehender Stimme. »Mit deinem unsäglichen Helferdrang bringst du uns beide in Gefahr! Was wird aus mir, wenn du auf dem Scheiterhaufen brennst?«

Tränen liefen Ita über die Wangen. Barfuß und nur mit einem dünnen Leinenhemd bekleidet stand sie schlotternd vor ihrer Mutter. Die Kälte kroch ihre Beine hoch, lähmte ihre Glieder, betäubte ihre Seele.

»Sie werden dir nichts tun, mein Kind!« Almut wollte sich die Hand ihrer Tochter greifen, doch diese wich zurück.

»Und woher willst du das wissen?«, fragte Ita mit tränenerstickter Stimme.

Es kam nur selten vor, dass Almut sich mit ihrer Tochter stritt, und noch seltener kam es vor, dass sie Ita in ihrem Kummer nicht helfen konnte. Wie auch sollte sie einer Heranwachsenden erzählen, dass heilende Hände manchmal auch ein Fluch sein können? Wenn sie der Bleicherin nicht zu helfen versucht hätte, wäre sie des Lebens nicht mehr froh geworden. Sie hätte sich Vorwürfe gemacht und ihre Berufung infrage gestellt.

Almut stand langsam auf und ging auf Ita zu. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, nahm sie ihre Tochter in die Arme.

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2. Kapitel

Am nächsten Tag hatte sich das Wetter gebessert. Morgenröte lag über dem See und ließ die Wasseroberfläche spiegelglatt erscheinen. Die Nacht war kalt gewesen.

In aller Frühe hatte sich Ita aus der Hütte geschlichen und war hinunter zum See gelaufen. Sie brauchte diese Zeit, um mit sich ins Reine zu kommen. Wilde Träume hatten ihren Schlaf gestört, Träume, in denen Almut lichterloh auf dem Scheiterhaufen gebrannt und Bischof Windlock schadenfreudig davorgestanden hatte.

Ita tauchte den Eimer in das eiskalte Wasser. Sie musste aufpassen, dass ihr der Henkel nicht durch die klammen Finger rutschte. Sie hatten nur diesen einen, und einen neuen konnten sie und Almut sich nicht leisten. Doch genau dies war es, was ihr Kopfzerbrechen bereitete. Sie litten nur keinen Hunger, weil Almuts Heilkünste stets mit Naturalien bezahlt wurden. Es war ein Teufelskreis und ein Herauskommen so gut wie unmöglich. Sie wusste es und Almut wusste es ebenfalls, deshalb die Giftmischerei.

Die Kälte des Morgens kroch Ita in die Glieder. Mit einem Ruck griff sie sich den Wassereimer und schritt mit ausladendem Schritt zur Hütte zurück.

Almut schlief noch tief und fest. Lediglich einige graue Haarsträhnen waren unter dem Laken zu erkennen. Leise begann Ita das Feuer zu schüren, setzte anschließend das Wasser auf und bereitete das Morgenmahl zu. Haferbrei mit Äpfeln wie so oft im Herbst, dachte sie, hoffentlich keine Gabe des Bleichers.

Als die Sonne am fernen Horizont langsam höher stieg und eine rote Schärpe hinter sich herzog, nahm Ita dies als gutes Omen. Zu früh, wie sich kurze Zeit später herausstellen sollte.

Ein Stöhnen vonseiten Almuts ließ Ita aufhorchen. Sie hatte sich schon gewundert, warum ihre Mutter nach der gestrigen Nacht so lange schlafen konnte. Doch als sie die Bettdecke zurückschlug, sah sie den Grund dafür. Ihre Mutter glühte. Das Nachthemd klebte ihr buchstäblich am Körper. Man brauchte kein Medicus zu sein, um zu erkennen, dass Almut von Fieberkrämpfen geschüttelt wurde.

Ita konnte sich nicht daran erinnern, dass Almut all die Jahre jemals krank gewesen war. Während sie ihr die Schweißperlen von der Stirn tupfte, versuchte sie, ihre eigenen Schuldgefühle hinunterzuschlucken. Bestimmt war Almut nur krank geworden, weil sie sich gestritten hatten. Dieser Gedanke war kaum auszuhalten, half Ita jedoch, das Zepter in der kleinen Hütte zu übernehmen. Jetzt konnte sie zeigen, was Almut ihr beigebracht hatte.

Langsam ging sie auf das Regal mit den Kräutern zu, griff sich den Tontopf mit der Weidenrinde und gab eine Handvoll davon ins siedende Wasser. Der Tee verströmte einen unangenehmen Geruch, doch Medizin, die Mund und Nase betörte, half nichts. So zumindest hatte Almut es ihr immer gesagt.

Ita wollte den Tee bereits in einen der Becher gießen, als ihr Blick am Regal mit der Aufschrift Baldrian hängen blieb. Baldrian verschrieb Almut stets dann, wenn sich jemand zu sehr in etwas hineinsteigerte, sich richtiggehend vom Teufel besessen fühlte. Vielleicht verhalf der Baldrian ja dazu, dass Almut die Bleicherin in Rickenbach vergaß. Einen Versuch war es allemal wert. Ita langte zweimal zu.

 

Almut keuchte und hustete, trank schlussendlich aber doch den ganzen Becher leer. Zu erschöpft, um sich der emsigen Fürsorglichkeit ihrer Tochter zu erwehren, ließ sie sich auf das Laken zurückfallen. Obwohl sie stets als Heilerin unterwegs war, galten Krankheiten für sie als Zeichen der Schwäche, und Schwäche konnte sie sich nicht leisten. Wären ihre Glieder nicht so schwer wie Blei gewesen, sie hätte keine Minute freiwillig hier auf der Bettstatt verbracht. Aus ihren Augenwinkeln beobachtete sie ihre Tochter. Wie schön Ita doch war, mit ihren langen blonden Haaren und den rehbraunen Augen. Die hohe Stirn zeugte von Intelligenz und ebendiese besaß Ita zweifellos. Wie schnell hatte sie doch Lesen und Schreiben gelernt!

Die folgenden Stunden war Ita vollauf damit beschäftigt, Almut jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Wenn sie nicht gerade Tee kochte oder ihrer Mutter den Schweiß von der Stirn tupfte, schnitt sie wie besessen Unmengen der kleinen Wildbirnen, die sie vor zwei Tagen auf der Lichtung gesammelt hatten. Auch wenn Itas Mus den Gaumen bestimmt nicht so erfreute, wie wenn Almut Hand anlegte, zur Genesung beitragen würden es allemal. Bald schon strömte ein süßlich angenehmer Duft durch die Hütte, was selbst Almut nicht entging. Zwar fühlte sie sich noch immer elend und am Rande ihrer Kräfte, doch Ita zuliebe schluckte sie in geduldiger Manier das Mus hinunter, das ihr ihre Tochter voller Stolz reichte. Sie wollte Ita nicht durch Zurückweisung kränken, der gestrige Abend saß ihr noch immer in den Knochen. Unrecht hatte Ita nicht, wenn sie sich ihre Wut jetzt auch nicht mehr anmerken ließ, Almuts Heilkünste waren nicht bei jedermann gern gesehen. Dem Medicus von Konstanz war sie schon lange ein Dorn im Auge und auch die beiden Hebammen würden ihr keine Träne nachweinen, sollte sie tatsächlich auf dem Scheiterhaufen landen. Doch es wird nicht so heiß gegessen, wie’s gekocht wird, pflegte sie stets zu sagen, wenn jemand zu sehr jammerte.

 

Auch am nächsten Tag lag Almut noch immer ermattet unter den Leinendecken. Sie versuchte sich zwar in einem Lächeln, doch Ita spürte, dass sie dies lediglich tat, um sie zu beruhigen.

»Gib dem Tee eine Handvoll geschnittenen Ingwer bei«, sprach Almut mit heiserer Stimme. »Je schneller mein Bauchgrimmen verschwindet, desto besser.«

Ita murrte, fügte sich aber dann doch dem Willen der Kranken. Sie wusste ganz genau, warum Almut so schnell wie möglich wieder gesunden wollte. Diese gottverdammte Selbstlosigkeit, jedermann zu helfen, wie konnte Almut ihr das nur antun!

»Mutter«, Ita goss den Tee in den Becher und reichte ihn Almut, die ihn mit zittrigen Händen in Empfang nahm, »offensichtlich geht es dir bereits besser. Also wird es dir auch nichts ausmachen, wenn ich kurz in die Stadt gehe.«

Die Schärfe in Itas Stimme war Almut nicht entgangen. Bestimmt tat es ihrer Tochter gut, wenn sie die Enge der Hütte für einige Stunden verlassen konnte.

»Geh nur, mein Kind«, sprach Almut nickend. »Ich werde schon allein zurechtkommen. Schließlich ist das Fieber dank deiner liebevollen Pflege bereits so weit gesunken, dass ich aufstehen kann.«

Ita fühlte sich alles andere als gut beim Gedanken, ihre Mutter alleine in der Hütte zurückzulassen. Doch sie musste versuchen, den Weidenkorb wiederzufinden. Vielleicht hatte sie ja Glück und das alte Ding stand noch immer am Rande des Brunnens. Sehr wahrscheinlich war das jedoch nicht. Der Gedichtband war kostbar gewesen und sie wollte Pater Ambrosius nicht in unnötige Schwierigkeiten bringen; und die bekam er mit Sicherheit, sollte sich herumsprechen, dass er sich Bücher aus der Bibliothek des Bischofs auslieh, um sie dem Mündel des Kräuterweibs zu geben.

Kurz vor der Stadtmauer blieb Ita stehen. Sie war den Weg so schnell gerannt, dass sie ihr Kopftuch beinahe verloren hätte. Keuchend blickte sie auf das Lager der Gaukler, das unweit von ihr in einer kleinen Talsenke lag. Vielleicht sollte sie ihr Glück erst hier versuchen. Dieser Gedanke erfüllte sie nicht unbedingt mit Elan, zumal die Gaukler im Ruf standen, eine Horde sittenloser und diebischer Zeitgenossen zu sein, die jede nur erdenkliche Möglichkeit ausnutzten, sich zu bereichern.

Zögerlich lenkte sie ihre Schritte auf die Senke zu. Sie war noch immer unsicher, und vermutlich hätte sie kurz vor Erreichen ihres Ziels noch eine Kehrtwendung gemacht, wäre nicht ein Hund laut kläffend auf sie zugerannt, sodass sie erschrocken stehen blieb. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Hilfe suchend auf die Wagenkolonne der Fahrenden.

»Was willst du hier?«, rief ihr einer der Gaukler schroff entgegen. Wie es schien, hatte Itas Auftauchen ihn dabei gestört, sich hinter einem der Karren zu erleichtern. Sein Unmut war nicht zu überhören. »Zu gaffen gibt es hier nichts!«, fügte er unwirsch hinzu, während er sich die Hose hochzog.

»Ich … ich wollte nicht stören, bestimmt nicht.« Itas Stimme zitterte. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre weit weg gerannt. Nicht nur der Hund jagte ihr Angst ein, auch der alte Mann mit seiner grimmigen Miene war ihr nicht geheuer. »Ich wollte nur … nur fragen, ob jemand vielleicht meinen … Korb gefunden hat.«

»Verdächtigst du uns etwa des Diebstahls?«, empörte sich der Mann, wobei er seine Augen zu Schlitzen verzog und Ita kritisch musterte.

»Nein, keineswegs!« Ita stand noch immer an derselben Stelle. Der Hund hatte sein Gekläffe mittlerweile eingestellt und schlich schnüffelnd um ihre Beine. »Ich habe gestern die Vorstellung in der Stadt gesehen und dabei … und dabei vor Begeisterung meinen Korb vergessen.«

»Lass sie, Winfried!«

Das unverhoffte Auftauchen der Tänzerin vom Vortag ließ Ita abermals zusammenfahren.

»Sie ist neugierig und Neugierige haben nichts verloren in der Nähe unseres Lagers«, konterte der Mann mürrisch.

»Geh zu Trude, sie sucht dich bereits!«, gab die Frau unbeirrt zurück.

Zu Itas Erstaunen schien der Mann sich weder am Tonfall noch am Inhalt des Befehls zu stören. Zweifelsohne schien die Frau eine gewisse Macht über ihn zu haben. Ungewöhnlich und äußerst abstrus, zumal Ita es gewohnt war, dass stets die Männer das Sagen hatten und die Frauen gehorchten. Offensichtlich schien dies bei Gauklern nicht so zu sein.

»Ich denke, ich kann dir helfen«, wandte sich die Frau jetzt an Ita. Sie trug einen roten Schleier über dem Haar und lächelte. Doch es waren nicht die pechschwarzen Haare, die Ita so aus der Fassung brachten, es war die Schönheit der Frau, die sie fesselte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen Menschen mit so dunkler Haut gesehen.

»Ihr habt meinen Korb gefunden?«, stotterte Ita verlegen, wobei sie nicht recht wusste, wohin sie ihre Augen lenken sollte. Bestimmt war der Gauklerin ihr Glotzen nicht entgangen.

»Den Korb und seinen Inhalt.« Die Frau lachte. Dabei blitzten ihre Zähne weißer als der Schnee, der bald in Konstanz fallen würde.

»Ihr seid die Tänzerin, nicht wahr?« Itas Fassung kehrte allmählich wieder zurück. Sie wusste nicht, warum sie diese Frage gestellt hatte, doch sie hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.

»Unter anderem«, sprach die Gauklerin. »Aber du brauchst mich nicht so förmlich anzusprechen. Nenn mich einfach Lioba. So rufen mich alle!«

»Lioba, du sagtest, du hättest meinen Korb gefunden?«, lenkte Ita das Gespräch wieder auf ihr Anliegen. »Und auch seinen Inhalt?«

»Zwei Äpfel, ein etwas verdrecktes Schnupftuch, Reste von Minzblättern und …«

»… und?« Ita spürte, dass die Frau mit ihr spielte. Bestimmt gehörte nicht nur Tanzen zu ihrem Repertoire, die Schauspielerei jedenfalls beherrschte sie ebenfalls bestens. »Der Codex gehört nicht mir!«, fügte Ita mit verzweifeltem Unterton bei. »Er gehört Bischof Windlock, und wenn dieser erfährt, dass ich ihn …«

»Sei unbesorgt«, fiel ihr Lioba ins Wort. »Du bekommst dein Buch, auch wenn ich es dem Bischof gönnen möchte, dass er diese Kostbarkeit verliert. Der Kerl hat uns nämlich verboten, weiter in der Stadt aufzutreten!«

»Vertrau einer Fremden nicht alles an, Lioba! Womöglich rennt sie umgehend zu Bischof Windlock und erzählt es ihm.« Entweder hatte Winfried mit Absicht gelauscht oder aber er hatte sich seines alten Ansinnens erinnert und sich doch noch zwischen zwei der Wagen erleichtert. Auf jeden Fall stand er plötzlich mit in den Hüften gestemmten Armen da.

»Ich bin keine Freundin von Bischof Windlock, ganz und gar nicht«, rief Ita hastig. Sie wollte nicht Gefahr laufen, dass Lioba ihre Meinung doch noch änderte und ihr den Codex womöglich nicht mehr geben wollte. »Glaubt ihr wirklich, der hohe Würdenträger gibt sich mit einfachen Leuten ab? Seht mich doch an!«

»Nun, hochwohlgeboren scheinst du wahrlich nicht zu sein«, erwiderte der Mann noch immer mürrisch. »Die Vergangenheit hat uns aber gelehrt, dass niemandem zu trauen ist.«

»Ach, Winfried, du Griesgram! Du siehst hinter allem und jedem den Teufel«, lachte Lioba. »Geh endlich zu den anderen und lass uns in Frieden!« Lioba gab dem Mann mit einer Geste zu verstehen, dass sie mit Ita alleine sein wollte. »Wie heißt du eigentlich?«, wandte sich die Tänzerin wieder an Ita, nachdem Winfried endlich verschwunden war.

»Ita ist mein Name, ich bin die Tochter der Herbaria unten am See.«

»Nun denn, Ita, warte hier. Ich hole dir, was du so sehnlichst wünschst!«

Selten hatte Ita eine Frau gesehen, die selbst ein einfaches Dahinschreiten in solch graziler Form beherrschte. Lioba schien das Tanzen im Blut zu haben, anders ließen sich ihre fließenden Bewegungen nicht erklären. Sie selbst kam sich in diesem Augenblick wie ein Trampel vor.

Ita fror. Die Sonne stand wohl mittlerweile im Zenit, doch durch die nebelartigen Schleier war sie kaum zu erkennen. Die Feuchte schien durch jede Faser ihres Rockes zu kriechen. Zudem wurde Ita das trügerische Gefühl nicht los, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Sie wagte kaum, den Kopf zu drehen.

Nach einer schier endlos erscheinenden Ewigkeit tauchte Lioba endlich zwischen den Wagen wieder auf, den so sehnlichst vermissten Korb tatsächlich in Händen.

»Vielleicht besuchst du uns einmal wieder«, sprach Lioba zum Abschied, »wir sind vielleicht doch noch einige Tage hier. Gustavo glaubt nämlich, dass Bischof Windlock seine Meinung noch ändert und wir beim Fischmarkt auftreten dürfen. Mal sehen, ob er recht behält.«

»Gustavo?« Während sie die Frage stellte, tasteten Itas Finger den Inhalt des Korbes ab. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie das feine Ziegenleder des Codex fühlte.

»Unser Anführer. Glaubt immer, dass alle nach seiner Nase tanzen.« Bei diesen Worten pustete sich Lioba eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte trotzig auf die Wagenkolonne hinter sich.

Zu gerne hätte Ita sich noch weiter mit der Tänzerin unterhalten. Die Frau faszinierte und verwirrte sie zugleich. Selten war sie einer Frau begegnet, die so offen und unverblümt sagte, was sie dachte. Vielleicht würde sie der Einladung tatsächlich folgen und den Gauklern nochmals einen Besuch abstatten, auch wenn Almut dies mit Sicherheit nicht gutheißen würde. Das fahrende Volk galt als verrucht, als schelmisch und hinterhältig, doch traf dies nicht auch auf viele Bürger von Konstanz zu? Nicht alle Ratsherren waren so edel, wie sie sich vordergründig gaben. Vielen standen Habgier und Heimtücke ins Gesicht geschrieben.

»Hab Dank für alles, Lioba, und so Gott will, sehen wir uns vielleicht wieder«, verabschiedete sich Ita mit einem Lächeln.

 

Den restlichen Tag verbrachte Ita wieder damit, für Almut die Heilerin zu spielen. Abwechselnd flößte sie ihrer Mutter Tee und Mus ein oder legte ihr Umschläge aus Zwiebelschalen und zermalmter Alantwurzel auf. Das Fieber kam und ging, doch Almuts Keuchen wurde allmählich weniger.

Trotz des Versuchs, an Almuts Bettstatt zu wachen, war Ita irgendwann doch eingeschlafen. Ein lautstarkes Poltern vonseiten der Tür ließ sie aufschrecken.

»Almut! Mach auf!«

»Was wollt Ihr?«, rief Ita hinter verschlossener Tür. Sie hatte die Stimme längst erkannt.

»Ich bin es, der Bleicher!«, rief der Mann draußen in scharfem Ton. »Almut muss uns helfen!«

»Sie kann nicht! Sie ist selbst krank!« Ita lehnte sich an die Tür. Die grobe Maserung des Holzes drückte ihr in den Rücken. Sie hoffte inständig, dass sich der Bleicher mit dieser Antwort zufriedengeben würde.

»Meine Frau stirbt, wenn Almut nicht kommt!«

Ita schlug die Hände vors Gesicht. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Was nur sollte sie machen? Weckte sie ihre Mutter, hatten die Bleicherin und ihr Kind eine kleine Chance, zu überleben. Ließ sie Almut schlafen, dann waren die beiden unweigerlich dem Tod geweiht, doch dafür lief ihre Mutter nicht Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu enden. Doch vielleicht ließ Gott auch ein Wunder geschehen und das Kind drehte sich von allein.

»Jetzt mach schon auf, Ita!«, rief der Bleicher wütend, wobei er mit beiden Fäusten abwechselnd gegen die Tür hämmerte.

Ein Blick auf Almut zeigte, dass es ohnehin nicht mehr lange dauern würde, bis diese durch den Lärm erwachte. Schweren Herzens zog Ita den Riegel aus der Halterung. Ein Knarren und Ächzen zerriss die Stille der Nacht.

»Kommt herein.« Ita wischte sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht. »Ich werde Almut wecken.«

Der Bleicher sah zum Fürchten aus. Offensichtlich musste er den ganzen Weg von Rickenbach bis hierher gerannt sein. Aus seinem hochroten Gesicht, das über und über mit Grützbeuteln bedeckt war, starrten Ita zwei Augen entgegen, in denen das blanke Entsetzen lag.

»Hol meinen Beutel, Ita.« Almuts heisere Stimme ließ die beiden herumfahren. Während des Wortgeplänkels hatte niemand auf Almut geachtet, sodass sie sich unbemerkt aus den Unmengen von Laken herausgeschält hatte und nun mühsam in ihren Rock stieg. Noch bevor ihr Ita zu Hilfe kommen konnte, warf sich Almut den löchrigen Umhang über ihre Schulter. »Pack mir auch zwei der Holunderblütenfladen ein!«