Der Menschensammler - Elsebeth Egholm - E-Book
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Der Menschensammler E-Book

Elsebeth Egholm

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Beschreibung

Nordisch, charmant, mörderisch gut! Brutale Morde, ein mächtiger Feind und eine Ermittlerin mit bewegter Vergangenheit.

Ein brutaler Mord erschüttert Århus: Ein totes Mädchen wird gefunden, ohne Augen und ohne Knochen. Die eigensinnige Kriminalreporterin Dicte Svendsen begibt sich auf die Spur des Killers. Dicte Svendsen ist sofort zur Stelle, als die grausam entstellte Leiche einer jungen Frau vor dem Stadion in Århus gefunden wird. Zunächst scheint die einzige Spur ein Springerstiefel zu sein, den ein kleines Mädchen zufällig mit der Handykamera festgehalten hat. Ist der Mann mit den Stiefeln derselbe, der Frauen für perverse Sexspiele in Kneipen aufgabelt? Oder ist der Mord ein weiterer Akt einer internationalen Serie politisch motivierter Gewaltverbrechen?

Egholms Tempo und unbarmherzige Spannung halten den Leser bis zur letzten Seite in Atem.

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Über Elsebeth Egholm

Elsebeth Egholm ist Journalistin und Autorin. Ihre Serie um die eigenwillige Journalistin Dicte Svendsen wird gerade für das Fernsehen verfilmt. Ihre Werke, mit denen sie regelmäßig die dänischen Bestsellerlisten anführt, erscheinen in acht Sprachen. Egholm lebt in Jütland und auf der kleinen maltesischen Insel Gozo.

Informationen zum Buch

Nordisch, charmant, mörderisch gut!

Brutale Morde, ein mächtiger Feind und eine Ermittlerin mit bewegter VergangenheitEin brutaler Mord erschüttert Århus: Ein totes Mädchen wird gefunden, ohne Augen und ohne Knochen. Die eigensinnige Kriminalreporterin Dicte Svendsen begibt sich auf die Spur des Killers.

Dicte Svendsen ist sofort zur Stelle, als die grausam entstellte Leiche einer jungen Frau vor dem Stadion in Århus gefunden wird. Zunächst scheint die einzige Spur ein Springerstiefel zu sein, den ein kleines Mädchen zufällig mit der Handykamera festgehalten hat. Ist der Mann mit den Stiefeln derselbe, der Frauen für perverse Sexspiele in Kneipen aufgabelt? Oder ist der Mord ein weiterer Akt einer internationalen Serie politisch motivierter Gewaltverbrechen? Egholms Tempo und unbarmherzige Spannung halten den Leser bis zur letzten Seite in Atem.

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Elsebeth Egholm

Der Menschensammler

Dicte Svendsen ermittelt

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Über Elsebeth Egholm

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Impressum

Für meinen Bruder Lars

Kapitel 1

Der Tod an sich hat nichts Schönes, aber manchmal gibt es mildernde Umstände.

Zum Beispiel die Tatsache, dass die Sonne bei dem Begräbnis schien und eine Amsel sich dazu entschlossen hatte, vom Wipfel einer Birke ein Solo vorzutragen.

Dicte lauschte dem Vogel und dem Rascheln der Blätter im Wind. Dann vernahm sie plötzlich das Geräusch von Erde, die auf Dorothea Svenssons Mahagonisarg mit den blankgeputzten Messinggriffen aufschlug, und vermisste Bo. Natürlich konnte sie eine Beerdigung allein überstehen, und schließlich lag auch nicht ihre eigene Mutter in dem Sarg. Aber etwas fehlte ihr, ein Arm, der sich um ihre Schulter legte, eine Hand, die ihren Nacken berührte. Viel mehr verlangte sie doch gar nicht. Aber er hatte eine gute Entschuldigung, immerhin war es das letzte Spiel der Saison, und AGF-Århus trat vor mehr als 17000 Zuschauern gegen HIK-Hellerup an. Es gab Dinge, die wichtiger waren als Beerdigungen, zumindest wenn man freiberuflicher Fotograf war und ein Wochenendhonorar einstreichen wollte.

Sie sah sich im Kreis der Trauernden um, die sich um das offene Grab herum aufgestellt hatten. Der Pfarrer hatte die Hände gefaltet.

»Vater unser, der du bist im Himmel …«

Ida Marie hatte rote, geschwollene Augen, die in Tränen ertranken, obwohl Dorothea alles andere als das Musterbeispiel einer Mutter gewesen war. An der einen Hand hielt sie ihren vierjährigen Sohn Martin, in der anderen ein paar langstielige rote Rosen. John Wagner stand dicht hinter ihr und hatte einen Arm um ihren Körper geschlungen. Dicte fragte sich, ob es mit der Aufklärung des Mordes an dem achtzehnjährigen Mädchen aus Hadsten wohl voranging, der seit Tagen die Schlagzeilen der Tageszeitungen beherrschte, zu denen auch einer ihrer Artikel gehörte. Aber im Moment war der Polizist nur Privatmann, und sie würde ihre Fragen zurückhalten und warten, bis sie ihn wieder in seinem Büro erreichen konnte.

Wagners Sohn, der vierzehnjährige Alexander, stand neben ihm, mit dem geistesabwesenden Blick eines Teenagers. Auch Anne und Anders, die gerade mit ihrem Sohn aus Grönland zurückgekehrt waren, gehörten zum engeren Freundeskreis. Auch diese Familie stand dicht aneinandergedrängt, als hätten sich alle Hinterbliebenen in kleinen Gruppen zusammengefunden, um sich gegen den Tod dort unten im Sarg zu schützen. Alle, nur sie nicht. Sie war nur umgeben von Luft, als befände sie sich in einer unsichtbaren Blase.

Sie hörte die Schritte hinter sich, doch ehe sie sich umdrehen konnte, stand er hinter ihr und füllte die Leere aus.

»Da ist was draußen beim Stadion passiert.«

Bo hatte es ihr ins Ohr geflüstert. Der Pfarrer hob die Stimme an:

»… vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.«

»Pünktlich zum Schuldenerlass«, murmelte Bo.

Der Pfarrer sah auf und warf ihm einen strafenden Blick zu.

»Stadion?«, wiederholte sie flüsternd, so dass der Pfarrer sie nicht hören konnte. »Du kommst da doch gerade her?«

»Das hat bestimmt nichts mit dem Spiel zu tun«, wisperte er und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren.

Das Vaterunser war überstanden, und es war Zeit, dass die Familie vortrat, ihre Blumen auf den Sarg warf und ein letztes Lebewohl sagte. Bo und sie hielten sich zurück und ließen die nächsten Verwandten vorgehen. Er legte einen Arm um sie, und da wurde ihr plötzlich bewusst, wie lange sie sich nicht mehr so nah gewesen waren, sowohl im Bett als auch im Alltag. Es war nicht aus böser Absicht so gekommen. Viel Arbeit und Zeitmangel hielten sie, wie so viele andere, im eisernen Griff, und ihr neuer Posten als Chefin der Kriminalredaktion raubte ihr die letzte Kraft.

»Die haben sich im Radio fast in die Hosen gemacht vor Angst. Auf dem Parkplatz direkt vorm Stadion wurde eine Leiche gefunden. Hab es erst vor zwei Minuten gehört.«

Bo belauschte gerne den Polizeifunk.

»Vielleicht wieder ein Drogenabhängiger?«, schlug Dicte vor. Sie wussten beide, dass in regelmäßigen Abständen tote Junkies an öffentlichen Orten, auf Toiletten, in Tiefgaragen oder etwas Ähnlichem gefunden wurden. Das war traurig, aber in der Regel nicht ausreichend, um für große Schlagzeilen zu sorgen, außer es wurde vorher bekannt gegeben, dass besonders gefährliche Stoffe auf der Straße im Umlauf waren.

»Nicht bei dem Spektakel. Es klang, als hätten die den Bürgermeister tot aufgefunden und zwar in hochhackigen Pumps und Handschellen und im Wagen des Parteichefs der Rechtsliberalen.«

Bo hatte keinen besonders großen Respekt vor Politikern. Oder, genauer gesagt, keinen Respekt vor Angestellten des öffentlichen Dienstes und am wenigsten vor Polizisten.

Plötzlich war ein Piepen zu hören. Alle sahen auf. Ida Marie hatte soeben ihre Rose ins Grab geworfen, Martin stand hochkonzentriert neben ihr und hielt seine Rose umklammert, als könne er sich nicht überwinden, sie loszulassen.

John Wagner fingerte eilig seinen Pieper aus der Jackentasche und trat einen Schritt zur Seite. Während die Familie Abschied von Dorothea Svensson nahm, beobachtete Dicte, wie Wagner eine Nummer in sein Handy tippte. Bo machte eine Kopfbewegung in seine Richtung.

»Ich fress ’nen Besen, wenn er nicht gerade zum Stadion gerufen wurde!«

»Er ist auf der Beerdigung seiner Schwiegermutter!«

»Egal. Wetten, in wenigen Minuten ist der verschwunden. Vielleicht sollten wir gleich hinterher?«

»Wir gehen doch noch alle zusammen im Varna Palais essen!«

»Nur für eine halbe Stunde«, lockte Bo sie. »Das wird niemand merken!«

Während er auf sie einredete, registrierte Dicte, wie John Wagners Gesichtsausdruck mit dem Handy am Ohr versteinerte. Sie schämte sich dafür, dass die Neugier sie gepackt hatte. Aber Bos Bericht und Wagners Pieper hatten ihren Puls so in die Höhe schnellen lassen, wie es Dorothea Svenssons Beerdigung nicht vermocht hatte.

Wagner beendete das Telefonat und zog Ida Marie beiseite. Seine ganze Körpersprache drückte große Behutsamkeit aus, während er ihr etwas erzählte. Seine Worte schienen sie zunächst zu irritieren, dann jedoch ließ sie ein kurzes Nicken folgen. Dicte sah ihm in die Augen, ehe er sich umdrehte und zum Parkplatz ging. Aber sein Blick war neutral, signalisierte nicht mehr als freundliche Distanz. Gerade das gab den entscheidenden Ausschlag.

Die Trauergemeinde löste sich allmählich auf und strömte vom Friedhof. Dicte ging auf Ida Marie zu, um sie zu umarmen, aber Anne und Anders kamen ihr zuvor, und plötzlich hatte sich eine lange Schlange gebildet. Sie sah zu Bo.

»Okay!«, sagte sie nur und nickte hinüber zum Parkplatz. »Eine halbe Stunde, nicht länger.«

»Das wird niemand merken«, versprach er ihr erneut, diesmal mit einem breiten Lächeln. »Wir sind im Varna, bevor du bis hundert gezählt hast.«

»Und ich bin die Königin von China«, gab sie zurück.

Beim Stadion, das auch NRGI-Park genannt wurde, herrschte Chaos. Massenweise blau und weiß gekleidete Fans strömten aus der Anlage nach einer erneuten, deprimierenden Niederlage der Heimmannschaft. Eigentlich hatten alle den Aufstieg in die Superliga feiern wollen, aber die Spieler waren, so Bo, wohl in Gedanken schon in den Sommerferien gewesen, und es hatte desaströs mit einem 3:1-Sieg für die Gegner vom HIK aus Hellerup geendet. Ironie des Schicksals, betrachtete man den Slogan des derzeit angesagtesten T-Shirts in Århus: »Arschklappe, wir sind zurück!« Die T-Shirt-Verkäufer hatten sich fast ein Jahr lang gedulden müssen, bis sie endlich die Ware auf den Markt bringen konnten, um zu signalisieren, dass die Zeit des Darbens in der zweiten Liga nun endgültig vorbei war. Am heutigen Tag schmeckten diese Worte darum bittersüß.

Zusätzlich zu den Ordnungskräften der Polizei, die den Strom der Tausenden von Zuschauern zu den Parkplätzen dirigierten, hatten sich noch andere Uniformierte dazugesellt. Die Kriminalpolizei war mit drei Einsatzwagen und Blaulicht angerückt, und der Leichenwagen, ein ausgedienter Notarztkombi, hielt daneben, wie ein Geier, der sich hungrig auf einen Kadaver mitten in der afrikanischen Savanne gestürzt hatte. In unmittelbarer Nähe zu diesem Fuhrpark, links vom Haupteingang des roten Stadiongebäudes, stand auch Wagners schwarzer Passat. Dicte und Bo hatten keine andere Wahl. Die Polizei hatte bereits alles mit dem rotweißen Absperrband, dem sogenannten »Minenstreifen« versehen. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als auf der anderen Seite der Stadion Allee zu parken, die Straße zu überqueren und eifrig mit ihren Presseausweisen zu wedeln. Aber es half nichts. Sie wurden nicht durchgelassen.

»Seid ihr vom Stiften? Wollt ihr wissen, was passiert ist?«

Eine kleine Gruppe schwankender Fans kam auf sie zu, mit blauen und weißen Schals und T-Shirts, die ihre Zugehörigkeit zu »Den Weißen« signalisierten. Die Enttäuschung über die Niederlage hatte sich mit einer seligen Trunkenheit gemischt.

»Wisst ihr denn, was passiert ist?«, fragte Dicte zurück und hob erneut ihren magischen Presseausweis hoch, der vielleicht auf Polizeiabsperrungen keine Wirkung hatte, aber ausgezeichnet dafür verwendet werden konnte, betrunkene AGF-Fans zu beeindrucken.

»Carstens Frau und seine Tochter haben sie gefunden«, erzählte ein stattlicher junger Mann Mitte zwanzig, mit Bierbauch, hicksend und schwenkte dabei seine Bierdose hin und her.

»Wer ist Carsten?«

»Na, Carsten Jensen! Das ist der da hinten«, rief der junge Mann und zeigte mit dem Arm in die Menge. »Die haben verdammt noch mal seine Frau festgehalten. Die wird jetzt verhört!«

»Was hat Carstens Frau denn gefunden?«, fragte Bo.

Rotgeränderte Augen versuchten unter großer Anstrengung, Bos Gesicht zu fixieren.

»Die Leiche natürlich, Mann, was denn sonst? Aufm Parkplatz.«

Es dauerte eine Weile, bis sie Carsten identifiziert hatten, der mit seiner Tochter, einem etwa elfjährigen Mädchen, bei einer Gruppe junger Fans stand, die durcheinanderredeten und wild gestikulierten. Dicte und Bo schoben sich durch die Menge. Sie hatten registriert, dass sie bisher die einzigen Vertreter der Presse waren, was die Sache eventuell etwas leichter machen könnte.

Sie stellten sich vor. Der Blick des Mädchens blieb neidisch an Bos Kamera hängen, die um seinen Hals baumelte.

»Mann, ist die cool. Ich will auch mal Fotografin werden«, sagte sie. »Aber ich muss mir die Kamera selbst kaufen«, fügte sie maulend hinzu.

»Du hast doch bestimmt ein Handy, oder?«, fragte Bo sie schmunzelnd. »Eins, mit dem man auch ganz gute Bilder machen kann. Damit kannst du doch erst einmal üben!«

Das Mädchen nickte. Bo lockte sie ein bisschen von der Gruppe weg, ließ sie seine Kamera halten und zeigte ihr auf dem Display ein paar Fotos vom Fußballspiel. Dicte verstand, was er vorhatte.

»Hast du dein Handy nicht auch vorhin auf dem Parkplatz benutzt? Damit du deinen Freunden später zeigen kannst, was ihr da entdeckt habt?«

Das Mädchen starrte sie an. Dann nickte sie, sah aber Bo dabei an. Bo hatte immer eine gute Wirkung auf Frauen.

»Wenn du Fotografin werden willst, musst du natürlich so viel wie möglich üben«, sagte er einschmeichelnd. »Hättest du nicht Lust, mir die Aufnahmen zu zeigen? Vielleicht kannst du dir so was für deine erste eigene Kamera dazuverdienen.«

Das Mädchen sah hinüber zu ihrem Vater, der in ein Gespräch vertieft war. Sie zögerte.

»Ich habe keine Fotos gemacht«, sagte sie schließlich. »Sondern einen Film. Ich dachte, damit kann ich den Wettbewerb gewinnen.«

»Du hast der Polizei gar nichts von diesem Film erzählt?«, fragte Dicte.

Das Mädchen zuckte mit den Schultern.

»Die haben mich nicht gefragt. Die wollten nur mit meiner Mama sprechen. Wir sind früher rausgegangen. Weil das Spiel so schlecht war, und außerdem musste ich aufs Klo.«

Bo wühlte in seiner Hosentasche, aber er hatte kein Bargeld dabei und sah fragend zu Dicte. Sie fischte einen Zweihundertkronenschein aus ihrem Portemonnaie und betrachtete das Mädchen. Niemand nahm so ein junges Mädchen ernst, schon gar nicht, wenn dessen Mutter dabei war und für eine Aussage zur Verfügung stand.

»Okay, hier. Zeig mal, was du da hast.«

Das Mädchen klickte sich durchs Menu.

»Wir haben da so einen Wettbewerb in der Schule. Wir sollen in den Sommerferien einen Film mit unserem Handy machen. Der darf aber nur eine Minute lang sein.«

Endlich erschienen die Bilder auf dem Display. Die Stimme des Mädchens klang wie ein Voiceover bei einem Dokumentarfilm.

»Das war total gruselig. Sie lag da wie eine Gummipuppe und hatte keine Augen mehr.«

Eine frühere Generation von Teenagern hätte wahrscheinlich einen Schock erlitten und sich psychologisch behandeln lassen müssen, dachte Dicte. Aber nicht die jungen Menschen von heute. Die waren hartgesottener. Sie hatten schon so viel Blut und Gewalt gesehen, dass sie angesichts der grausamen Wirklichkeit kaum mit der Wimper zuckten.

Bo schirmte mit seiner Hand das Display ab, damit sie gegen das Sonnenlicht die Aufnahmen ungehindert sehen konnten. Es war eindeutig eine Leiche, und hier gab es keine mildernden Umstände. Eine junge Frau mit halblangen Haaren, die ihr auf die Schultern fielen. Sie trug Jeans und ein T-Shirt, dessen Aufschrift »I love U« mit Pailletten geschrieben waren und über einem glitzernden Silberherzen prangten. Man hatte sie gegen das Auto gelehnt, und die Beschreibung »Gummipuppe« passte perfekt. Es sah aus, als bestünde sie nur aus Haut und Haaren, als hätte jemand ihr Skelett entfernt, das sie ansonsten stützen und aufrecht halten würde. Obwohl der Bildschirm sehr klein war, konnte man ihre leeren Augenhöhlen deutlich erkennen, die aus tiefer, bodenloser Dunkelheit starrten. Am linken Bildausschnitt waren zwei Beine in Jeans zu sehen, die wahrscheinlich der Mutter gehörten.

»Was ist das?«, fragte Bo.

»Was?«

»Das da. Ist das ein Schatten? Ein Baum?«

Er zeigte mit dem Finger auf das Display. Mit einem freundlichen Lächeln nahm er dem Mädchen das Handy aus der Hand und spielte den Film erneut ab. Dicte kniff die Augen zusammen.

»Da!«

Zuerst konnte sie nicht erkennen, was er meinte. Doch dann plötzlich sah sie es. Es war ein Schatten, der übers Auto, die Leiche und den Parkplatz wanderte.

»Das muss das letzte Auto in der Reihe gewesen sein«, sagte sie. »Dahinter kommt der Wald. Nur Bäume.«

»Aber ist das ein Baum?«, fragte Bo und ließ den Film ein weiteres Mal laufen.

Sie schüttelte den Kopf. Das konnte beim besten Willen kein Baum sein. Denn dann müsste es ein äußerst lebendiger Baum gewesen sein, von der Sorte, die sich bewegen konnte.

Bo fror den Ausschnitt ein, Dicte starrte auf den Schatten zwischen den Bäumen.

»Stiefel«, murmelte Bo. »Ein fucking Stiefel.«

Er hatte recht. Der Schatten endete zwischen den Bäumen, und man konnte zwei schwarze schwere Stiefel erahnen, die einen unweigerlich an einen der alten Filmklassiker erinnerte. Clockwork Orange. Der Rest des Mannes verschwand im Schatten.

»Der muss überrascht worden sein«, stellte sie fest, während ein Schauer über ihren Rücken lief. »Er hatte nicht damit gerechnet, dass dort jemand vor Ende des Spiels auftaucht. Er hat in der Nähe gestanden und alles gesehen.«

Je öfter sie den Film ansahen, desto deutlicher wurde es, dass es sich um einen menschlichen Schatten handelte, der vom Waldrand auf den letzten Wagen in der Parkreihe und auf die Frauenleiche ohne Augen gefallen war.

Kapitel 2

Wagner betrachtete die Leiche, die gegen den Wagen gelehnt war, und konnte seine Erleichterung nicht fassen.

Die Frau starrte ihn aus leeren Augenhöhlen an. Alles an ihr schien verkehrt, von ihrer unnatürlichen Körperhaltung, die an ein weggeworfenes Spielzeug erinnerte, bis zu der Tatsache, dass sie dort, umgeben von Vogelgezwitscher aus dem Buchenwald und dem Lärm der nach Hause strömenden Fußballfans, saß – und tot war. Aber wenigstens war das ein Tod, gegen den er etwas unternehmen konnte. Gott bewahre, nicht, dass er sie wieder zum Leben erwecken konnte. Aber er konnte mit dem Tod arbeiten. Er konnte ihm und der Umgebung Erkenntnisse entlocken. Er konnte ihm, wenn schon keinen Sinn, dann doch eine Erklärung abringen.

»Ich wollte dich gerne dabeihaben. Hoffe, das war in Ordnung?«

Im ersten Augenblick hatte er Schwierigkeiten gehabt, Jan Hansen wiederzuerkennen.

»Ich wusste gar nicht, dass du ein Fan von denen bist?«, sagte Wagner und deutete auf den muskulösen Oberkörper seines Kriminalkommissars, der in einem blauweißen Hummel-Fan-Shirt steckte. »Dir fehlt ja nur noch der Schal!«

Hansen sah peinlich berührt aus.

»Der liegt im Auto.«

»Ach so. Du warst hier also die ganze Zeit?«

Jan Hansen nickte.

»Wie war es auf der Beerdigung?«

Wagners Blick wanderte zurück zur Leiche. Die Spurensicherung war schon in vollem Gange. Der Gerichtsmediziner, sein guter Freund Gormsen, war noch nicht am Tatort, würde aber jeden Augenblick eintreffen.

»So, wie so was eben abläuft. Langsam«, sagte er bedächtig.

»Langsam?«

Wagner gab keine Antwort, sondern ließ sich von einem der Kriminaltechniker einen sterilen Anzug, einen Mundschutz und ein Paar Latexhandschuhe geben und ging neben der Leiche in die Hocke. Wie sollte er seine Ohnmacht beschreiben? Wie sollte er die vergangenen Tage schildern, seit seine Schwiegermutter nach überstandener Hüftoperation aus Amerika zurückgekehrt war und plötzlich hohes Fieber bekommen hatte und dann – trotz sofortiger medizinischer Versorgung – wenige Tage später an dieser Infektion gestorben war. Welche Worte sollte er finden für Ida Maries Trauer, die er um jeden Preis der Welt lindern wollte. Stattdessen hatte sie sich auch in ihn hineingefressen, bis er frustriert und machtlos aufgegeben hatte. Er konnte keine Hilfe sein. Ausgerechnet er, der es gewohnt war, sich dem Tod und seinen Ursachen zu stellen, stand plötzlich wie gelähmt daneben und musste mit ansehen, wie seine geliebte Frau sich auflöste. So wie die Weihnachtsmänner, die sein Sohn letztes Jahr gebacken hatte, als dieser noch ein Kind und noch kein Teenager war.

»Ach, das lief alles ganz gut«, antwortete er darum und hatte das Bedürfnis, eine Haarsträhne beiseitezuschieben, die am leicht geöffneten Mund der jungen Frau klebte. Aber das durfte er nicht. Der Tatort musste unberührt belassen und alles peinlich genau aufgenommen werden. Das hatte er verinnerlicht, so wie das Anschnallen des Sicherheitsgurts und das abendliche Zähneputzen.

Stattdessen betrachtete er die Tote eingehend. Sie war jung, nicht älter als zwanzig. Ihre Haut war glatt und ebenmäßig, zumindest dort, wo sie nicht blaugeschlagen und blutig war. Und das war sie fast überall, an ihren nackten Armen, im Gesicht und am Brustansatz. Fliegen umschwirrten sie, obwohl es keineswegs ein warmer Sommertag war, vielmehr so ein typisch dänischer Wechsel von Sonne und dunklen Regenwolken, die über den Himmel jagten. Ihr Haar war mittellang und dunkel, darum bemerkte er erst auf den zweiten Blick das getrocknete Blut an ihrer Schläfe. Obwohl er kein Gerichtsmediziner war, konnte er sehen, dass die Verletzung von einem dumpfen Schlag herrührte. Die Schläfe war blutverschmiert, aber lieber das, dachte er vollkommen unlogisch, als Anzeichen einer Erdrosselung mit einer geschwollenen Zunge, die aus dem Mund hängt. Dieser Tod war trotz alledem der schönere, der gnädigere.

»Na, was haben wir denn hier?«

Gormsen stand, auf einem Bein balancierend, hinter ihm und zog sich gerade Schutzanzug und Überschuhe an.

Wagner stand auf. Die anfängliche Erleichterung war einer unheilvollen Ahnung gewichen.

»Das sieht merkwürdig aus. Beinahe wie ein Ritual, wenn du meine Meinung hören willst.«

»Habe ich die jemals nicht hören wollen?«

Gormsen zog sich den zweiten Überschuh an und ließ den Gummizug schnalzen.

»Ihre Augen sind entfernt.«

Der Gerichtsmediziner ging neben der Leiche in die Hocke und begann mit seiner Arbeit. Wagner konnte förmlich spüren, wie er die schlackernde Jeans und das zu kurze rosafarbene T-Shirt registrierte. Er betrachtete den Kopf, der gegen die Beifahrertür gelehnt war, den schlanken Hals, die regelmäßigen Gesichtszüge, die Haut, jung und gepflegt. Vielleicht hatte sie Mascara getragen, das würden sie niemals in Erfahrung bringen können. Sie hatte keine Wimpern mehr. Gormsen ermittelte die Körpertemperatur der Leiche.

»Perso?«, fragte er.

»Keine Tasche«, erläuterte Hansen. »Auch nichts in den Hosentaschen, was uns weiterbringt.«

Gormsen ließ seinen Blick am Körper entlangwandern.

»Auch keine Schuhe!«

Die Füße der jungen Frau waren klein und hübsch mit hohem Spann. Ihre Nägel waren mit rosa Perlmutt lackiert. Die Sandalen hatten helle Streifen auf der gebräunten Haut hinterlassen.

»Sie hat hier nicht lange gesessen, das ist ganz klar. Jemand hat sie hier drapiert. Wann? Während des Spiels? Wann genau ist sie gefunden worden?«

»Um sechzehn Uhr fünfundvierzig«, gab Hansen an. »Eine Viertelstunde vor Spielende. Eine Mutter und ihre elfjährige Tochter haben die Leiche entdeckt. Sie hatten das Stadion verlassen, bevor das Spiel abgepfiffen wurde.«

Hansen sah wütend aus. Echte Fans blieben bis zum Schluss und unterstützten ihre Helden, in guten und in schlechten Zeiten, konnte Wagner an seiner Körperhaltung ablesen. Hansen hatte an diesem Tag kein großes Nachsehen mit Frauen und ihren elfjährigen Töchtern.

»Das kann ihnen wohl kaum einer vorwerfen!«, sagte Gormsen spitz, dessen Lieblingsverein Brabrand IF war, für den er vor langer Zeit sogar selbst gespielt hatte.

Hansen erwiderte nichts.

»Jetzt muss Brabrand wohl aus der 2. Liga aufsteigen«, fuhr Gormsen fort, während er mit Latexhandschuhen an den Fingern die Verletzung an der Schläfe untersuchte. »Böser Schlag«, murmelte er. »Wahrscheinlich auch die Todesursache.«

»Welche Waffe vermutest du?«

Wagner interessierte sich für Fußball so viel wie für die Weltmeisterschaft im Kartoffelschälen.

»Ein Stein vielleicht«, schlug Gormsen vor. »Ein Baseballschläger. Wir müssen abwarten, was wir in der Feinanalyse für Splitter in der Wunde finden.«

»Und die Augen?«

Gormsen schwieg lange und starrte nur auf das entstellte Gesicht. Wagner konnte ihn gut verstehen. Die leeren Höhlen sogen alles in sich auf. Es stimmte, wenn man sagte, die Augen seien der Spiegel der Seele. Er hatte schon viele Leichen gesehen, aber keine, die so seelenlos wirkte. Wie eine Vogelscheuche, dachte er.

»Der Täter hat die Augen entfernt«, kommentierte Gormsen den Befund. »Aber nicht nur das. Er hat auch die Augenlider abgetrennt.«

»Warum?«, fragte Wagner. »Wozu soll das gut sein?«

Gormsen zuckte mit den Schultern.

»Vorsorgende Maßnahme, vielleicht?«

»Meinst du, um andere potentielle Opfer einzuschüchtern? Mafiamethode?«

Gormsen drehte den Kopf der jungen Frau erst zur rechten, dann zur linken Seite.

»Ich würde sagen, das ist dein Revier«, entgegnete er mild. »Ich bin hier nur der Kadaverdoktor!«

Aber sie beide wussten, dass er viel mehr als das war.

»Todeszeitpunkt?«

Gormsen zuckte erneut mit den Schultern.

»Beginnende Leichenstarre und Todesflecken zusammen mit der Körpertemperatur … Mhm … Es ist nur eine ungenaue Angabe, aber ich würde so schätzen vor drei bis vier Stunden. Wir müssen sie mitnehmen, aufmachen und uns genauer ansehen.«

Er erhob sich aus der Hocke.

»Und die Presse? Die waren doch bestimmt von Anfang an dabei. Haben sie es geschafft, nah ran zu kommen und Fotos zu machen? Ich hoffe sehr, dass die nicht veröffentlicht werden, bevor wir die Tote identifiziert haben.«

Jan Hansen wies die Befürchtungen zurück. Die Gegend sei zügig mit den »Minenstreifen« abgesperrt worden, die Ordnungskräfte hatten das Absperrband zuvor benutzt, um volle Parkplätze zu kennzeichnen.

Wagner musste unwillkürlich an Dicte Svendsen denken. Wenn die eigene Frau mit einer Kriminalreporterin befreundet war, kam es ihm manchmal vor, als wäre er mit der Klatschpresse liiert. Dennoch waren sie sich bisher selten privat über den Weg gelaufen. Das Begräbnis seiner Schwiegermutter war eine der wenigen Ausnahmen, aber keineswegs eine angenehme. Dicte Svendsen auf privatem Boden zu begegnen war in etwa so, als würde man mit einem israelischen General eine Partie Golf spielen, ohne über den Nahen Osten zu sprechen. Er war sich sicher, dass sie und ihr Lebensgefährte Bo Skytte sich auf der anderen Seite der Absperrung aufhielten.

»Svendsen?«, fragte in diesem Augenblick Hansen, der wie alle anderen von den Umständen wusste. Auch von dem Konflikt, in dem sich Wagner befand, um das Verhältnis zwischen ihnen professionell zu belassen.

»Ist vermutlich dort drüben irgendwo«, räumte Wagner ein.

»Ist sie das nicht immer?«, brummte Gormsen. »Irgendwo dort draußen …«

Wagner schob die Gedanken an Dicte Svendsen beiseite. Es war nun mal so, wie es war, und er konnte das im Augenblick auch nicht ändern, sondern lediglich versuchen, sich zu schützen und an die Regeln zu halten. Und das war schon schwer genug.

Gormsen hatte sich wieder hingehockt und begonnen, den Mund des Opfers zu untersuchen.

»Hast du was entdeckt?«

Der Gerichtsmediziner antwortete mit einem gurgelnden Geräusch, öffnete seinen Arbeitskoffer und holte eine Pinzette heraus. Wagner kniete sich neben ihn.

»Ich glaube, da steckt was drin«, sagte Gormsen, als würde er mit sich selbst sprechen. »Wenn ich das da nur herausbekommen könnte.«

Sie mussten lange warten, es kam ihnen vor wie Stunden, dann endlich gelang es ihm, den Kiefer der Toten zu öffnen. Gormsen steckte seine Latexfinger in den Mund und holte eine Kugel heraus. Er drehte und wendete sie hin und her. Wagner stöhnte auf, als ihn plötzlich ein blaues Auge anstarrte.

»Ist das ihr Auge?«

Gormsen schüttelte den Kopf und klopfte mit der Pinzette gegen die Kugel, wobei ein klackerndes Geräusch entstand.

»Es sei denn, sie hatte ein Glasauge.«

Kapitel 3

Der Varna Palais lag wie ein weißes Dornröschenschloss in der Mitte vom Marselisborg Park.

Das Palais war früher einmal eines der vornehmsten Ausflugsziele gewesen. Umgeben von gepflegten Grünanlagen, Blick auf Wald und Strand, schöne hohe Räume, große üppige Blumengestecke und ein Mobiliar, das eines Fürsten würdig war.

»Die Bastion des Bürgertums«, murmelte Bo, als er Dicte übertrieben höflich die Tür aufhielt. »Frau Svensson hat es ganz nach dem Geschmack von Frau Svensson arrangiert.«

Das stimmte tatsächlich, dachte Dicte. Ida Marie hatte ihr erzählt, dass es ihrer Mutter gelungen war, ihre Vorstellung von einem gelungenen Begräbnis vor ihrem Tod zu äußern. Es sollte allem voran eine Beerdigung sein, keine Beisetzung in einer Urne. Das Varna Palais war zeit ihres Lebens das Lieblingsrestaurant der Verstorbenen gewesen. Es verströmte den Duft vergangener, großer Zeiten, die auch Dorothea Svensson mit ihren flatternden Divenroben, dem toupierten Haar und den unzähligen goldenen und diamantbesetzten Schmuckstücken erlebt hatte.

Dicte betrat das Foyer und ging den Gang hinunter zu den Veranstaltungsräumen. Sie hatte auf dem Parkplatz Ausschau nach Wagners Auto gehalten, es aber nicht entdecken können. So wie sie ihn kannte, würde er noch auftauchen. Er würde Ida Marie nicht im Stich lassen, selbst wenn er nur eine halbe Stunde entbehren könnte, jetzt, da ihn sein Job voll in Beschlag genommen hatte.

»Ich weiß genau, wo ihr beide gewesen seid.«

Ida Maries Stimme klang unterkühlt, ein unangenehmes Schweigen senkte sich über die Trauergesellschaft, als sie pünktlich zum Hauptgang eintrafen. Es gab Kassler.

»Verzeih.«

Dicte umarmte Ida Marie, die sich zuerst steif machte, doch dann nachgab und die Umarmung erwiderte.

»Kommt er noch?«, fragte Dicte. Es war unnötig, den Namen zu erwähnen.

»Hat er gesagt.«

Sie standen sich einen Augenblick schweigend gegenüber. Ihre Freundschaft fühlte sich manchmal irgendwie schief an.

»Ich muss mit ihm reden.«

Ida Maries Blick bekam etwas Wachsames. Dicte legte ihr eine Hand auf den Arm.

»Es ist wichtig. Um seinetwillen.«

»Aber in erster Linie um deinetwillen, oder? Es ist wichtig für deine Story?«

Ida Marie schüttelte den Kopf.

»Ich kann ihn jetzt nicht anrufen. Die sind da mitten in … einer Sache.«

Dicte wollte entgegnen, dass sie wusste, um was für eine ›Sache‹ es sich handelte. Aber wie so oft spürte sie genau die Grenze zwischen den Dingen, die sie wusste, und jenen, die sie offiziell wissen durfte. Letzteres gab es nicht so häufig. Ersteres war weitaus häufiger der Fall, und sie hatte nicht immer Lust, diese Dinge mit anderen zu teilen.

»Du musst warten, bis er kommt, wenn er denn kommt.«

Die Bewirtung war tadellos, und Bo stürzte sich mit seinem gewohnten Appetit auf die Speisen. Sie beobachtete ihn, während Kassler und Gemüse serviert wurden, und überlegte kurz, wo er das ganze Essen unterbrachte. Es verpuffte wahrscheinlich alles, mit Unterstützung seiner quecksilberartigen Ruhelosigkeit, vermutete sie. Zumindest setzte es nicht am Körper an, der war so dünn wie der eines gejagten Hundes und auch an diesem Tag nicht passend zum Anlass, sondern lediglich in Jeans und T-Shirt gekleidet.

Sie bekam keinen Bissen runter. Leere, unendlich tiefe Augenhöhlen schwebten durch ihre Erinnerung, begleitet von dem ironischen Slogan »I love U« auf dem T-Shirt der Toten. Natürlich hatte sie schon viel über die sonderbarsten Rituale gelesen, die sich bei dem drastischen Akt eines Mordes vollziehen konnten. Es gab unzählige Erklärungen, logische und unlogische. Dennoch war es ihr unmöglich, zu begreifen, warum ein Täter die Augen eines Opfers herausschnitt. Wenn er wollte, dass es nichts mehr sah, genügte es doch, den Menschen zu töten.

Dicte zwang sich, ein paar Brokkoliröschen zu essen und warf einen Blick auf ihre Uhr. Jetzt waren die Reden an der Reihe, und ein Familienmitglied nach dem anderen erhob sich und lobpreiste jene Frau, die in mehr als nur einer Hinsicht das Leben ihres einzigen Kindes zerstört hatte. So war das mit dem Tod, dachte Dicte. Er machte aus den schlimmsten und egoistischsten Menschen die reinsten Engel.

Sie hatten das Dessert schon fast aufgegessen, als er auftauchte. Sie hörte seine Schritte den Flur entlangkommen. Sie würde seinen Gang überall in der Welt wiedererkennen. Energisch und mit großer Sicherheit; nicht zu schnell, aber mit all der Autorität, die seine Person ausstrahlte, und das war nicht wenig. Immer wieder aufs Neue war sie überrascht, dass sie, die Autoritäten verabscheute, bei ihm eine Ausnahme machen konnte. Vielleicht lag es daran, dass seine Autorität nicht von seiner Position herrührte, sondern eine natürliche Kraft war, die im Laufe der Jahre und wachsender Erfahrung immer mehr zunahm.

»Entschuldigt bitte.«

John Wagner murmelte es über die Köpfe der Anwesenden hinweg, als er seinen Platz neben Ida Marie einnahm. Aber Gesichtsausdruck und Körperhaltung hatten keineswegs etwas Entschuldigendes. In seinem Blick lag nur diese wohlbekannte ernsthafte Bestimmtheit, die auch noch am anderen Tischende zu erkennen war, dort wo Dicte und Bo saßen. Dem Anlass entsprechend, trug er einen dunklen Anzug und nicht seine übliche Tweedjacke, die sein etwas exotisches Aussehen unterstrich. Die Haare waren grau meliert, und seine Hautfarbe verriet den Genanteil aus südlicheren Gefilden. In dem Anzug erinnerte er Dicte an den Dirigenten eines Symphonieorchesters, mit seiner leicht gebogenen Nase und den schweren Augenlidern, deren Ausdruck mit Schläfrigkeit verwechselt werden konnte, die aber nur einen wachsamen Blick verdeckten, der alles um ihn herum registrierte.

Sie hatte Verständnis dafür, dass er so ernsthaft wirkte. Es war sein Instinkt. Und das Schicksal hatte es so gewollt, dass auch sie diesen Instinkt besaß, obwohl sie noch nie darüber gesprochen hatten. Genau genommen hatten sie bisher nur zwei Gespräche unter vier Augen geführt, aber das Wissen über diese Fähigkeit, über die sie beide verfügten, hatte immer existiert, ob sie das nun wollten oder nicht. Es war, als würden sie mit großer Neugier von dem Bösen angezogen werden beziehungsweise von dem, was das Böse hervorbrachte. So als wären sie – von unterschiedlichen Positionen aus – dazu auserkoren, Ordnung in dem Chaos zu schaffen, das entstand, wenn der Tod nicht natürlich war. Er mit dem Gesetz im Rücken und in leitender Position bei der Kriminalpolizei von Århus, die nach der Polizeireform mittlerweile Ostjütlands Polizeiermittlung hieß. Und sie mit ein paar anderen Waffen, aber vor allem mit dem nie versiegenden Drang, Fragen zu stellen und Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden.

Etwa eine halbe Stunde später kam Bewegung in die Trauergesellschaft, die Leute erhoben sich, tauschten die Plätze und liefen im Raum auf und ab oder zu den Toiletten. Bruchstücke der verschiedenen Gespräche schwebten wie auf Wellen von Ecke zu Ecke. Man sprach über Dorothea Svensson, aber auch über den Leichenfund auf dem Parkplatz. Das Gerücht war bereits in Umlauf gesetzt worden, vielleicht vom Personal. Varna lag nicht so weit entfernt vom NRGI-Park. Gesprächsfetzen wie »junge Frau« und »Wagner hat den Fall« oder »arme Ida Marie« fanden ihren Weg zu Dictes Ohren. Auch Wagner schien sie aufgeschnappt zu haben, denn plötzlich entfernte er sich, kämpfte kurz mit einer Terrassentür und trat dann hinaus an die frische Luft. Sie beobachtete ihn, wie er dort stand, ganz still, und in den Park starrte. Lauschte er den Vögeln oder sah er nur tief in sein Inneres?

»Fährst du wieder zurück?«

Er drehte sich um und wirkte überhaupt nicht überrascht. Dann nickte er.

Sie kam vorsichtig näher, damit er nicht plötzlich auf dem Absatz kehrtmachte.

»Ist was Rituelles, oder? Das mit den Augen?«

Sein Blick verschloss sich, sein Mund wurde zu einem dünnen Strich. Aber offenbar war das eher eine automatische Reaktion als eine durchdachte Handlung, denn mit einem Mal lächelte er schief.

»Du bist wie immer sehr gut informiert. Was hast du dieses Mal im Ärmel?«

Sie wühlte in ihrer Tasche und holte das Handy des Mädchens hervor. Sie reichte es ihm.

»Eine Sache, die von der Polizei übersehen wurde.«

Sie nickte zum Handy. »Die Seite heißt ›lommefilm.dk‹, da geht es um Handyfilme. Die Tochter war der Ansicht, damit den Wettbewerb in ihrer Schule gewinnen zu können.«

»Indem sie eine Leiche filmt?«

Sie nickte. Er starrte entgeistert auf das Mobiltelefon in seiner Hand. Ihm konnte man es nicht anlasten, dass nur die Mutter befragt worden war. Er war erst später dazugekommen, da hatten andere bereits die einleitenden Ermittlungen in Gang gesetzt, aber sie wusste, dass er sich ärgerte.

Jetzt würde er sich fühlen, als stünde er in ihrer Schuld. Er würde sich dagegen wehren, aber sein unerschütterlicher Sinn für Gerechtigkeit würde den Kampf gewinnen, und sie würde bekommen, was sie wollte. Zumindest hoffte sie das.

Sie wandte sich zum Gehen. Der Artikel über die Leiche ohne Augen schrieb sich schließlich nicht von selbst.

»Ach, übrigens.« Dicte blieb abrupt stehen und drehte sich um. »Ich habe es nur ausgeliehen und ihr versprochen, dass ihr euch morgen bei ihr melden werdet. Du weißt ja, wie viel den Kindern heutzutage ihre Handys bedeuten. Darum ist es wichtig, dass sie von der Polizei höchstpersönlich erfährt, dass sie bei der Aufklärung eines Falles hilft.«

Er wiegte das Mobiltelefon in seiner Hand und nickte ihr zu.

»Ich hatte Ausgaben in Höhe von 200 Kronen. Ich rechne damit, dass ihr mir das ersetzt!«

Er starrte sie an, und sie legte noch einen drauf.

»Und nicht so lange mit deiner Familie in Australien telefonieren, hörst du?«

Kapitel 4

ES sollte weh tun. Sie nannte es immer ES, nie anders. Genauso wie sie an ihn immer nur als IHN dachte. Sie hatte nie versucht, den Grund dafür zu analysieren. Denn sie wusste, wenn sie erst einmal damit anfing, würde es niemals enden.

Kiki Laursen lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und lauschte der Musik, die von der Bühne in den Zuschauerraum strömte. Ihre Beine in den dunklen Netzstrümpfen und den hohen Stilettos wippten unterm Tisch im Takt mit. Der angekündigte Bluesabend im Fatter Eskil, einem Lokal, das sie sonst nie besuchte, war besser, als erwartet. Die Kneipe war knallvoll und die Stimmung gut.

»Ich gehe an die Bar. Willst du auch noch was?«

Sie schüttelte den Kopf, als Nina sie fragte. Alkohol war es nicht, was sie wollte. Und das, obwohl sie am nächsten Tag freihatte und Monica auf die Kinder aufpasste. Sie war auf der Jagd nach etwas Bestimmtem, und Susannes Polterabend konnte dafür genauso gut genutzt werden wie jeder andere Abend auch.

Sie sah sich im Kreis ihrer Freundinnen um, eine geschmackloser angezogen als die nächste. Die zukünftige Braut aber hatte den Hauptpreis gewonnen. Passend zum Anlass, war sie wie eine überreife Prinzessin geschminkt und in ein Kostüm gesteckt worden, das eine jodelnde Heidi neidisch gemacht hätte. Vor wenigen Stunden noch hatte sie auf dem Strøget, der Haupteinkaufsstraße, gestanden und rote Rosen für einen Kuss an männliche Passanten verteilt. Danach wurde sie einem Stripper ausgeliefert, der ihr sehr professionell suggerierte, dass er ihren ausladenden Körper extrem sexy fand. Natürlich war das alles nur ein Spiel, ein Schauspiel. Der Stripper war der einzige Programmpunkt gewesen, an dem auch sie beteiligt gewesen war. Er war ein appetitlicher Typ mit muskulösen Beinen und Six-Pack. Breite Schultern, schmale Taille, genauso wie sie es gerne mochte. Was für eine Schande nur, dass er schwul war, aber dieses Detail hatte sie selbstverständlich für sich behalten. Es gab keinen Grund, schöne Illusionen zu zerstören.

Ach was, die Mädels waren schon okay so. Sie waren da, wenn man sie brauchte, und das war wohl das Wichtigste. Also, was hatte schon mangelnder Stil oder die falsche Wahl beim Ehemann zu bedeuten. Susanne würde bald Mitglied in diesem Club sein. Am Samstag würde sie den wohl langweiligsten Mann der Welt heiraten, alias der immer akkurate und gepflegte Ulrik in blauem, perfekt gebügeltem Hemd und passender Krawatte. Dazu gab es seine zwei perfekten Kinder mit sauberen Fingernägeln und glatt gestriegelten Haaren aus einer früheren – offensichtlich dann doch nicht perfekten – Ehe. Es war eigentlich erschreckend, wie wenig Einfluss man auf die Partnerwahl der eigenen Freundinnen hatte.

Sie versuchte, sich Susanne und Ulrik beim Sex vorzustellen, musste es aber gleich wieder abbrechen. Vielleicht würde ihnen etwas unter der Decke in tiefer Dunkelheit einfallen. Aber große Hoffnungen hatte sie da nicht.

Das Lied war zu Ende, und die Zuschauer applaudierten. Sie stand auf.

»Ich geh mal eben aufs Klo. Haltet ihr mir den Platz frei?« Die anderen nickten. Aber sie konnte in ihren Augen ablesen, dass sie Bescheid wussten. Jetzt legt Kiki los, sagten die Blicke. Jetzt passiert gleich was.

Sie scannte die Kneipe auf dem Weg zu den Toiletten. Noch war das Rauchen erlaubt, und ein Nebel aus Qualm hatte sich über den Raum gelegt, der irgendwie zu klein für so viele Menschen wirkte. Sie mochte das. Eng, damit man sich dicht aneinander vorbeidrängen konnte – ihre Brust, die sich gegen die Schulter eines Mannes drückte, die Haut ihres Armes, die an einer Hand vorbeistreifte, die ein Bierglas hielt. Ein kleines »tschuldige« und danach ein kurzer, wie zufälliger Augenkontakt.

So bekam sie die Männer rum. Es war ganz einfach. Das war ihr noch nie schwergefallen, hatte ihr aber auch nie wirklich gutgetan. Es hatte sie kein einziges Mal glücklich gemacht, aber das war schließlich auch nicht ihr Ziel. Offensichtlich habe ich gar kein Ziel, dachte sie, außer diesem Hunger zu entkommen.

»Schöne Strümpfe!«

Klang da Verachtung durch? Der Mann, der sie angesprochen hatte, stand gegen die Bar gelehnt. Sie hatte ihn an diesem Abend bereits einmal gesehen, im Bridgewater Pub vor etwa einer Stunde. War es ein Zufall, dass er jetzt auch in dieser Kneipe war? Eigentlich sah er nicht aus wie ein typischer Fatter Eskil Gast, aber das tat sie auch nicht. Neben ihm stand ein halbvolles Glas mit Bier, das er hochhob, um ihr zuzuprosten.

In diesem Augenblick wusste sie, dass er es sein würde. Aber wenn sie jemand gefragt hätte warum, hätte sie sich mit einer Antwort schwergetan. Sein Aussehen war es nicht. Zwar war er muskulös, eher der vierschrötige Typ, aber nicht besonders groß, und auch sein Gesicht war nicht besonders hübsch. Ganz gut aussehend, mit einer platten Nase, wahrscheinlich von der Begegnung mit einer Faust, und hohen Wangenknochen. Die Haare waren eher straßenköterblond und ziemlich kurz. Vielleicht fühlte sie sich von seiner Kleidung angezogen? Schon von weitem hatte sie das Pringle-Logo auf seinem gelben Hemd gesehen. Schwarze Jeans und schwarze, schwere Stiefel vollendeten den Gesamteindruck seiner gelungenen Selbstinszenierung. Nicht uninteressant, aber auch kein Grund durchzudrehen.

»Danke.«

Sie formte die Antwort überdeutlich mit den Lippen und sah ihm in die Augen. Die waren braun, ein kühles Braun, in dem alles in einer bodenlosen Dunkelheit versinkt. Immer waren es die Augen. Dort lauerte die Gefahr, und bei ihm leuchtete sie auf eine Art, die ihr gefiel.

Sie ging auf die Toilette und legte neuen Lippenstift auf, zog ihren Slip aus und stopfte ihn in ihre Handtasche. Das alles dauerte nur wenige Sekunden, und sie warf nur einen kurzen Blick in den Spiegel, um ihr Gesicht zu betrachten. Es gab kein Gesetz, das besagte, dass man bei einem Polterabend die ganze Nacht mit seinen Freundinnen zusammenbleiben muss.

Sie wusste, dass er noch an derselben Stelle stehen würde. Er wartete auf sie. Neben ihm auf dem Tresen stand ein frisch gezapftes Glas Bier. Er zeigte darauf und sah sie an.

Sie zupfte ihr Seidenkleid zurecht, das sich an ihren Körper schmiegte. Sie sah ihm an, dass er wusste, dass sie nichts drunter trug. Zumindest hoffte er, dass es so war.

»Und wie heißt du?«, fragte er, als sie nach dem besitzerlosen Bier griff.

»Kiki.«

Er gab ihr einen festen Händedruck und verbeugte sich leicht vor ihr. Nicht um sich lustig zu machen, er war einfach einer jener Männer, die so etwas taten. Zumindest empfand sie das so.

»Johnny«, erwiderte er, als hätte er den Namen soeben in der Luft gefangen.

Sie mochte den Namen, obwohl sie wusste, dass er ihn sich ausgedacht hatte. Er schmeckte nach Lastkraftwagenfahrer und Motorenöl, aber sie konnte an seinen Händen sehen, dass er beruflich nichts mit Autos zu tun hatte.

»Und was bist du so für einer, Johnny?«

Er sah sie an.

»Willst du das wirklich wissen? Oder ist das hier nur eine oberflächliche Unterhaltung?«

»Es ist die reinste Oberfläche, und ich möchte es sehr gerne wissen.«

Sie nippte am Bier, es war eiskalt und durstlöschend. Es verstärkte ihre eigene Lust, sich auf sein Spiel einzulassen. Er wirkte erbarmungslos und schnell, sie erkannte in ihm ihren eigenen Hunger, ihre Begierde.

»Beruflich bin ich Serviceassistent im Krankenhaus. Früher haben die das Krankenträger genannt. Privat bin ich so vieles andere.«

»Zum Beispiel?«

»Fußballfan. Casual. Hundebesitzer. Wohnungseigentümer. Sexspielkind. Kaffeetrinker. Peitschenbesitzer. Sohn. Bruder. Neffe. Obwohl mir die Familie echt gestohlen bleiben kann.«

»Was ist Casual?«, fragte sie, obwohl zwei andere Worte in ihrem Kopf dröhnten und warme Stöße durch ihren Körper sendeten.

Er beugte sich zu ihr vor. Es schien ihr, als könnte er die Luft zwischen ihnen einfach flach drücken. Sein Gesicht war dicht vor ihr, und seine Augen lächelten, wie zwei Pfützen mit blankem Wasser, in denen man sich spiegeln kann.

»Das werde ich dir später erklären.«

»Später?«

»Bei mir zu Hause.«

Er deutete mit einem Kopfnicken auf ihre Hand. Sie hatte ihren Ehering zwar abgenommen, aber man konnte den Abdruck noch erkennen.

»Ich gehe davon aus, dass dein Mann nicht unbedingt an meiner Gesellschaft interessiert ist?«

Da konnte man sich nie sicher sein, dachte sie. Es wäre nicht das erste Mal, aber ihn würde sie, solange es ging, für sich allein behalten wollen. Sie nahm einen großen Schluck und wischte sich diskret den Schaum von der Oberlippe, während sie auf dem Barhocker Platz nahm und sehr langsam die Beine übereinanderschlug.

»Wo wohnst du denn?«

»In der Nähe vom Hauptbahnhof. Wollen wir nicht tanzen?«

Das Konzert war bald zu Ende, die Zuschauer hatten endlich angefangen, die kleine Tanzfläche zu bevölkern. Sie konnte Susanne und Nina sehen. Sie nickte und ließ sich vom Stuhl gleiten. Auf dem Weg zur Tanzfläche spürte sie seine Hand auf ihrer Hüfte, und die Vorfreude ließ ihr fast den Atem stocken.

Sie tanzten sofort eng umschlungen. Er hatte seine Hände auf ihrem Hintern, sie ihre auf seinem. Er war hart, das konnte sie deutlich spüren. Sein ganzer Körper war wie ein Granitblock. Er würde sie zermalmen können. Mit einer einzigen Umarmung würde er das Leben aus ihr herauspressen können.

»Zerquetsch mich«, sang es in ihr. »Zerquetsch mich, bis nur noch Stückchen und Krümel von mir übrig sind.«

Die Wohnung war ordentlich und maskulin auf eine etwas unpersönliche Art und Weise. Nur sein Hund verriet mehr über ihn. Es war ein American Stafford Terrier. Eine Rasse, die sowohl als Kampfhund aber auch – das wusste sie von Freunden – ausgezeichnet als Familienhund gehalten werden konnte.

Dieses Exemplar wirkte zumindest an der Oberfläche wie ein freundlicher Vertreter seiner Art. Allerdings verhielt es sich mit dem Hund wie mit seinem Besitzer, hinter den braunen Augen verbarg sich ein Geheimnis.

»Sekt?«

Er holte eine Flasche aus dem Kühlschrank, ehe sie antworten konnte.

»Warum nicht!«

Die Sprudelblasen würden ihr in den Kopf steigen und sie betäuben.

Der Korken sprang mit einem dumpfen Plopp ab. Er hatte seinen Pullover ausgezogen. Darunter trug er ein langärmeliges, eng sitzendes T-Shirt. Sie genoss den Anblick und stellte sich vor, wie ihre Hände die Muskeln unter dem Stoff berühren würden.

Er schenkte den Sekt in hohe Gläser, setzte sich neben sie aufs Sofa und prostete ihr zu.

»Ich möchte dir weh tun«, sagte er mit milder Stimme. »Du magst das, wenn es weh tut, oder?«

Der Raum verschwamm vor ihren Augen. Die Sprudelblasen prickelten in ihrem Hals, er fühlte sich trocken an, und sie musste noch einen Schluck trinken. Er fuhr fort: »Du magst den Geschmack von Blut. Du magst das Gefühl, wenn die Peitsche dich trifft und auf deine Arschbacken knallt. Ich kann es dir ansehen. Du willst mit Handschellen gefesselt werden und einen großen Schwanz in deinen Hals gestoßen bekommen. Tiefer und tiefer.«

Ihr Herz raste. Sie wurde warm und feucht im Schritt. Eigentlich würde sie sich am liebsten zusammenreißen und ihm sagen, dass er sich zum Teufel scheren könnte mit seinen kranken Phantasien. Eigentlich würde sie am liebsten aufstehen und gehen. Aber er hatte sie bereits mit seinen Worten in Fesseln gelegt, und ihr blieb nichts anderes übrig, als zu flüstern, ein schwaches, atemloses und bettelndes:

»Ja.«

Kapitel 5

Die Redaktion in der Frederiksgade war schon seit Jahren viel zu klein für die sechs festangestellten Journalisten und die paar freiberuflichen, Preise einheimsenden Fotografen, zu denen Bo gehörte.

Trotz der regelmäßigen Höhenflüge und Niederlagen der Morgenzeitung hatte sich über die Jahre hinweg die Personaldecke relativ stabil gehalten. In guten Zeiten wurden neue Kollegen eingestellt und neue Redaktionen gegründet, wie zum Beispiel die Kriminalredaktion, zu deren Leiterin Dicte Chefredakteur Kaiser vor kurzem erst gemacht hatte. In schlechten Zeiten wurde die Jagd auf die erst kürzlich Eingestellten oder jene eröffnet, die kurz vor der Pensionierung standen. Die Letztgenannten konnten das Glückslos ziehen und eine Abfindung kassieren, die sie in die Lage versetzte, die Welt in der ersten Klasse zu bereisen.

»Na prima, das Redaktionsfräulein beliebt zu kommen!«

Holger Søborg warf ihr von seiner sicheren Position hinter dem Bildschirm einen strafenden Blick zu. Dicte schluckte ihre Irritation hinunter, so wie sie es sich vorgenommen hatte. Ihrer Meinung nach stand Holgers Hirnkapazität in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu seinen breiten Fußballerschultern und seinem mindestens genauso breiten Grinsen. Aber er war nun einmal in ihrer Redaktion gelandet, darum war sie gezwungen, wenn sie ihn schon nicht lieben konnte, ihn wenigstens zu dulden. Was sie an diesem Tag dadurch zum Ausdruck brachte, dass sie seine Begrüßung ignorierte.

»Könnt ihr euch noch an diese Stiefel von den Schlägern in dem Film Clockwork Orange erinnern? Wie heißen die noch gleich?«

Sie hatte die Frage in den Raum geworfen, damit auch Helle eine Chance bekam. Bis vor kurzem war sie noch Praktikantin gewesen, jetzt ergänzte sie das Redaktionsteam der Krimizone, das eine wöchentliche Sonderbeilage erstellte und im täglichen Geschäft für aktuelle Sachen zuständig war. Auch sie war natürlich hoffnungslos von Bo verzückt und der Ansicht, er sei Århus’ Antwort auf Johnny Depp.

Dicte fuhr ihren Computer hoch, der mit einem Geräusch zum Leben erweckt wurde wie eine Rakete auf der Abschussrampe. Allerdings fühlte es sich so an, als hätte sie ihn gerade erst ausgeschaltet. Den Artikel über die Leiche am Stadion hatte sie nach dem Leichenschmaus im Varna Palais am Sonntagabend geschrieben. Darum hatten Bo und sie auch eine halbe Stunde länger geschlafen an diesem Montagmorgen. Und weil seine Hand ganz zufällig ihre linke Brust gestreift hatte.

»Doc Martens«, sagte Holger, dessen Hirnzellen doch ab und zu etwas Brauchbares produzieren konnten. »Ursprünglich stammen die aus England, glaube ich. Die Punks in den Achtzigern haben die vor allem getragen. Hier in Dänemark sieht man die praktisch kaum noch.«

»Aber wenn man sie sieht, wer trägt die dann?«, hakte Dicte nach und hatte vor, Doc Martens zu googeln, wenn sie ihre Mails und ihre Post gesichtet hatte.

»Die Autonomen aus der Besetzerszene, diese BZ-Bewegung«, schlug Helle vor. »Auf deren Demos kann man solche Stiefel häufiger sehen.«

»Skinheads, Hooligans«, zählte Holger noch auf. »Kurt Cobain und Nirvana; die Gallagher-Brüder. Warum? Haben die was mit der Sache am Stadion zu tun?«

Dicte wich aus:

»Nee, ich frage nur, weil Rose sich so ein Paar wünscht. Aber ich finde, da steht irgendwie ›Gewalt‹ in großen Buchstaben drauf.«

»Da können ja die Stiefel nicht wirklich was dafür«, wandte Helle ein.

Holger und sie verfingen sich in einer regen Diskussion über Gewalt, während sie ihre Mails öffnete und die Stichworte Fußball und Doc Martens zusammenfügte. Ein Hooligan? Handelte es sich hier um rohe Gewalt im Rahmen eines Fußballspiels, die einfach alle Grenzen überschritten hatte?

Ihr fiel wieder der Handyfilm über die Leiche ohne Augen ein. Die Frau war verprügelt worden, daran bestand kein Zweifel. War sie von dem Mann mit den schweren Stiefeln getreten worden? War das nur Ausdruck von zufälliger und sinnloser Gewalt? Oder war die Frau gezielt ausgewählt worden und wenn ja, aus welchem Grund?

Sie würden nichts erfahren, bevor die Polizei die Leiche identifiziert hatte, das war todsicher. Heimlich hoffte sie, Wagner würde ihr beizeiten Informationen zukommen lassen. Ansonsten hätte sie ihm das Handy nicht einfach so überlassen.

Unwillkürlich lächelte sie den Bildschirm an. In Bo war der Rebell erwacht, als er mitbekommen hatte, dass sie Wagner das Handy übergeben wollte.

»Bist du total übergeschnappt? Der Polizei einen technischen Beweis auszuhändigen? So etwas macht man einfach nicht.«

Manchmal verstand er einfach nicht, wie sie tickte. Er begriff nicht, dass sie auf längere Sicht damit rechnete, eine Gegenleistung für ihr Entgegenkommen zu erhalten. In seiner Welt waren Polizisten brutale rücksichtslose Personen, die ihn als Kind von seinen Geschwistern getrennt haben, wenn die Sauftouren seiner Mutter mal wieder alle Grenzen gesprengt hatten. In seiner Welt waren das jene Menschen, die ungefragt in die Normalität eindrangen, die zu Hause herrschte, auch wenn diese äußerst fragil war. Ein Alltag, in dem Bo als Ältester den Einkauf erledigte, die Schulbrote schmierte, die leeren Flaschen entsorgte und dessen Oberfläche ein unordentliches, vernachlässigtes, aber funktionierendes Gefüge war. Die Polizei war der Feind, das hatte Bo tief verinnerlicht. So einfach war das.

Hatte sie schon Schwierigkeiten mit Autoritäten, waren die bei diesem Mann, mit dem sie nun mittlerweile seit fünf Jahren zusammenlebte, noch um ein Hundertfaches verstärkt. Er war ihr acht Jahre jüngerer »rebel with a cause«. Meistens konnte sie ganz gut damit leben. Nur ab und zu kam es zu Zusammenstößen, die mitten in den Solarplexus gingen.

»Kaffee?«

Wenn man vom Teufel spricht, schoss es ihr durch den Kopf. Er stand im Türrahmen; groß und schlank, die Haare lang im Nacken, zum Pferdeschwanz gebunden. War das ihre ganz private Revolution gegen die Konventionen und die gesellschaftliche Erwartung von höflichen, kurzhaarigen Männern mit Bügelfalte und sauberen Nägeln? Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass ihre Eltern sich wahrscheinlich gegen diese Beziehung ausgesprochen hätten. Aber ihr Vater war tot, und ihre Mutter hatte sich für alle Zeiten den Zeugen Jehovas verschrieben. Sie hatte niemanden, gegen den sie aufbegehren konnte.

»Da sag ich nicht nein«, ließ Holger verlauten.

Bo kam mit seinen Cowboystiefeln hereingeschlurft.

»Prima. Das ist sehr nett von dir, Holger. Und vergiss nicht, auf einen Liter Wasser kommt eine ganze Packung Kaffee. Und denk dran, den Deckel von der Kaffeemaschine zu schließen, sonst spritzt sie so.«

Holger errötete, sah aber keinen anderen Ausweg aus der Situation, als tatsächlich selbst Kaffee machen zu gehen. Helle kicherte, und Bo warf ihr ein wohlwollendes Lächeln zu. Dann setzte er sich auf die Ecke von Dictes Schreibtisch:

»Hat dich dein Freund Wagner denn schon angerufen und dir alles erzählt? Oder wartet er wie gewöhnlich darauf, dass du den Fall für ihn löst?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Du bist eifersüchtig!«

»Wer, ich?«

Bisher war ihr dieser Gedanke noch nie gekommen. Als ihr aber die Worte so aus dem Mund gepurzelt waren, erschienen sie auf eine unlogische Weise total logisch und naheliegend. Dabei ging es nicht um Sex und Liebe, sondern um Gemeinsamkeit und das Gefühl, außen vor zu sein. Sie entschied, das nicht weiter zu verfolgen, und wurde durch ein zartes Klopfen an der Tür der Redaktion gerettet.

»Dicte Svendsen?«

In der Tür stand ein Ehepaar, sie schätzte die beiden auf Ende vierzig. Sie sahen müde und ausgebrannt aus, mit leeren Augen, und trugen Kleidung, die funktional aussah, über die niemand sich viele Gedanken gemacht hatte. Die Frau war ungeschminkt und hatte zerzaustes, halblanges graues Haar. Die Frisur des Mannes war ähnlich.

»Das bin ich.«

Sie stand auf. Bo nickte ihnen freundlich zu und verschwand den Gang hinunter.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Sie haben diesen Artikel über das Leben nach dem Tode geschrieben, oder?«

Der Mann hatte sie das gefragt, aber es hätte auch von der Frau kommen können. Sie standen dicht beieinander, so als würden sie sich gegenseitig stützen.

Sie nickte. Die Idee zu der Serie über die Frage, was eigentlich mit den Toten nach dem Tod geschieht, stammte ursprünglich von Kaiser. Am Anfang war sie dagegen gewesen, dass ausgerechnet die Krimiredaktion sich damit beschäftigen sollte. Aber es war Sommer, und sie mussten die Spalten auch in der Ferienzeit voll bekommen. Die Reaktion auf die Artikel war überraschend groß und positiv gewesen. Das Ehepaar war keine Ausnahme.

»Wollen Sie sich nicht setzen? Wir können hier vorne hingehen.«

Sie ging vor ins Foyer und bot ihnen Plätze an dem großen runden Tisch an, der mit Tageszeitungen überfüllt war. Sie zog die Tür zu den Redaktionsräumen hinter sich zu, um den Lärm zu dämpfen.

»Es geht um unseren Sohn«, begann die Frau.

»Er starb vor etwa einem Monat«, fügte der Mann hinzu. »Er fiel beim Joggen einfach um. Zweiundzwanzig.«

»Das tut mir furchtbar leid für Sie.«

Worte waren so unzureichend, wenn es um die großen Dinge im Leben ging. Sie suchte verzweifelt nach etwas Angemessenerem, das sie dem Paar hätte sagen können.

»Sie haben darüber geschrieben, was mit uns geschieht, wenn wir sterben. Wo wir hinkommen«, stammelte die Frau. »Wir aber wissen noch immer nicht, woran unser Sohn gestorben ist. Wir haben ihn schon längst begraben, warten aber noch immer auf so viele Antworten. Und niemand kann sie uns geben.«

»Ich gehe davon aus, dass die Ärzte ihn obduziert haben, ohne etwas zu finden?«, fragte Dicte.

»Sie stochern im Nebel nach etwas, das es vielleicht gar nicht gibt. Und wir können einfach nicht Abschied nehmen«, sagte die Frau. »Es gibt keine Antworten und lange Wartezeiten, bekommen wir zu hören. Kann das wirklich wahr sein?«

»Und mit ›sie‹ meinen Sie die Gerichtsmediziner? Dr. Gormsen im Institut für Rechtsmedizin?«

Beide nickten.

»Dr. Gormsen ist ein netter Mann«, flüsterte die Frau. »Aber wir haben das Gefühl, hingehalten zu werden.«

»Wir dachten … vielleicht sind wir nicht die Einzigen, die so etwas erlebt haben.«

Ihre Stimme war kurz davor, zu brechen. Der Mann griff nach ihrer Hand.

»Wir führen ein Leben in Ungewissheit«, erläuterte er. »Wir sind bereit, an die Öffentlichkeit zu gehen und die Geschichte von Søren zu erzählen. Die Menschen sollten wissen, wie unser System funktioniert, und vielleicht wird dadurch auch der Prozess vorangetrieben.«

Dicte sah von ihm zu ihr. Nicht zum ersten Mal musste sie sich genau überlegen, was für eine Verantwortung sie in dieser Sache trug. Zwei so verwundbare Menschen erklärten sich bereit, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Sie konnte sie gut verstehen. Allerdings hatte sie auch Verständnis für die Rechtsmediziner und das Gesetz, das verlangte, dass alle tot aufgefundenen Personen der Polizei zur rechtsmedizinischen Leichenschau gemeldet werden müssen, um eine Todesursache benennen zu können. Letzteres konnte lange dauern, wenn man bei der Obduktion nichts gefunden hatte.

»Und sie haben keine Hinweise darauf entdeckt, dass Ihr Sohn krank war? Herzkrankheiten?«

»Das war auch deren erste Theorie, aber dann haben sie gesagt, dass sie nichts gefunden hätten«, sagte der Mann.

Dicte bat die beiden um ihre Namen und den Namen ihres Sohnes und fragte, ob sie selbst mit den Rechtsmedizinern in Kontakt treten dürfe, um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie hießen Karina und Åge Frandsen und gaben ihr mehrere Adressen und Telefonnummern. Sie zweifelte zwar daran, ob ein Artikel von ihr die Sache beschleunigen könnte, aber die beiden hatten insofern recht, als es die Leser tatsächlich interessieren könnte. Die wenigsten Menschen hatten eine Vorstellung davon, auf wie viele verschiedene Weisen der Tod in ihr Leben eingreifen konnte.

Nachdem sie gegangen waren, blieb sie einen Augenblick sitzen und versuchte sich vorzustellen, wie es den beiden ging. Sein Kind zu verlieren war das eine, aber zu wissen, dass der Körper aufgeschnitten wird und davon Proben entnommen werden, war noch schlimmer. Weil man es nicht abschließen konnte und keine Gewissheit hatte, warum das eigene Kind sterben musste.

Sie wandte sich ihrem Computer zu, um endlich zu den Stiefeln zu recherchieren. Bo kam mit einem Becher Kaffee für sie herein, in der anderen hielt er seinen eigenen. Er rieb ihr den Nacken, und sie drückte ihren Kopf gegen seine Hand.

»Ich habe was von eurem Gespräch gehört. Das muss schrecklich sein.«

Sie nickte.

»Wenigstens wurde die Leiche freigegeben, und sie konnten ihn beerdigen. Die zusätzlichen Analysen scheinen jetzt so viel Zeit zu kosten.«

Aber Bo hatte recht. Es war schrecklich. Auch für die Familie des Stadionopfers musste es schrecklich sein, die Neuigkeiten zu erfahren. Der Tod war selten willkommen. Aber vielleicht war es weniger schlimm, wenn einfach plötzlich alles vorbei war, als wenn man erfuhr, dass das eigene Kind geschlagen oder sogar gefoltert worden war.

Sie googelte Doc Martens. Sofort erschienen mehrere Seiten, auf denen man die bekannten Stiefel kaufen konnte. Es gab auch Abbildungen.

»Natürlich«, sagte Bo. »Du bist ja so was von gerissen!«

Das gesuchte Modell schienen die sogenannten »Dr. Martens Black Smooth, classic 8 Eye boots« zu sein. Dort stand, dass dieser Stiefel einen prägnanten Sohlenabdruck habe und 1960 von dem deutschen Arzt Dr. Klaus Maertens erfunden wurde. Das klassische Modell habe außerdem die unverkennbaren, gelben Nähte.

»Was für eine Schuhgröße hast du gleich noch?«

»Vierundvierzig«, antwortete Bo.

Dicte tippte weiter. Sie drehte sich zu ihm um und inspizierte seine schwarzen Cowboystiefel, die er auf die Heizung gelegt hatte. Sie benötigten dringend neue Absätze, allerdings hatte sie ihn auch noch nie in anderen Schuhen gesehen. Sie lächelte ihn an.

»In etwa drei Tagen solltest du der glückliche Besitzer eines neuen Stiefelpaares sein, des berühmtesten der Zeitgeschichte.«

Kapitel 6

In dem kleinen Obduktionssaal im Institut für Rechtsmedizin war es so voll und warm wie auf einer überfüllten Tanzfläche.

Wagner stand Schulter an Schulter mit seinem Kollegen Ivar K und bereute es, nicht Jan Hansen mitgenommen zu haben. Der hätte zwar noch mehr Platz eingenommen, aber dafür hätte er wenigstens still gestanden. Ivar dagegen war die ganze Zeit in Bewegung, als hätte er ein Problem mit seinem Hals. Wie ein überhitztes Duracell-Kaninchen hatte er sich nicht unter Kontrolle, sondern drehte seinen Kopf von der einen zur anderen Seite und wackelte mit den Schultern, so dass die Nähte des blauen Kittels spannten. Wenn die Maske über Nase und Mund etwas verbergen sollte, so kompensierte er das mit Augenrollen und kräftigem Zucken der Augenbrauen.

»Verdammte Scheiße!«

Er sagte es leise und ließ einen gedämpften Pfiff folgen, der in seiner Gazemaske verschwand.

Ganz anders Wagner, der Institutsangestellte, die Kriminaltechniker und die zwei Rechtsmediziner. Sie waren leise und betrachteten mit stummem Ernst die Leiche auf dem Seziertisch.