4,99 €
Am Anfang stand die Idee von der reinen Gemeinde von Heiligen nach dem Vorbild der Zustände der ersten Christen: nicht bloß innere, sondern auch äußere Scheidung von der "Welt", gemeinsames Leben, Gütergemeinschaft, die Offenbarung Gottes an einzelne Gläubige – die Propheten und das gemeinsame Erwarten eines tausendjährigen glückseligen Reiches. Das war eine Utopie, ein Traum. "Träume verwirklichen sich nicht. Nur Albträume verwirklichen sich", sagt die Philosophin Ágnes Heller über die Utopie vom europäischen Friedensbündnis und bringt dadurch die Aktualität der gescheiterten utopischen Entwürfe zum Ausdruck. Das Täuferreich zu Münster war ein solcher Entwurf. Anderthalb Jahre dauerte das 1534 in Münster ausgerufene Tausendjährige Reich des "Neuen Jerusalems" – ein Königreich der Auserwählten unter der Herrschaft des Täuferkönigs Jan von Leyden. Anderthalb Jahre lang belagerte der Bischof Franz von Waldeck Münster, um die in kürzester Zeit vom Papsttum über Luthertum zum Täufertum konvertierte Stadt in die Knie zu zwingen. Unter dem Belagerungsdruck, dem wachsenden Hunger und der zunehmenden Ausweglosigkeit mutierte das Königreich zu einer Schreckens- und Terrorherrschaft eines "Wundertiers", das gerne selbst zum Schwert griff und die Gottlosen und die Widerspenstigen – darunter auch eine seiner sechzehn Frauen – eigenhändig köpfte. Arna Aleys Stück "Das neue Jerusalem", entstanden im Auftrag für das Wolfgang Borchert Theater Münster, balanciert zwischen dokumentarischem Material und den thematischen Parallelen aus den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Geschehnissen. Im Zentrum des Stückes steht ein soziopathischer Herrscher, der es gekonnt schafft, die Masse auf der Ebene der Primärgefühle zu manipulieren und dadurch Hilflosigkeit, bedingungslose Ergebenheit und absolute Hörigkeit zu erzeugen. Die historischen Ereignisse bieten eine Grundlage für eine gegenwärtige Auseinandersetzung mit höchstaktuellen Themen: gescheiterte Utopie, Manipulation der Masse und Totalitarismus.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 99
Veröffentlichungsjahr: 2020
Arna Aley
Das neue Jerusalem
FELIX BLOCH ERBEN
Verlag für Bühne, Film und Funk
Inhaltsverzeichnis
Title Page
Personenverzeichnis
PROLOG
1. Offenbarung I
2. In Knipperdollings Haus
3. Auf dem Marktplatz
4. Bei Matthys Zuhause
5. Die Unruhen im Bischofslager
6. Offenbarung II
7. Die Königin (Fortsetzung der Szene 5)
8. Die Nonnen
9. Matthys’ Tod (Bei Matthys zu Hause)
10. Offenbarung III
11. Weg mit dem Kopf
12. Offenbarung IV
13. Bei Knipperdolling zu Hause
14. Bestürmung der Stadt am Pfingstmontag
15. Beim Bischof zu Hause
16. Am Domplatz
17. Offenbarung V
18. Die Selbstkrönung
19. Beim Bischof zu Hause
20. Trainingslager
21. Offenbarung VI
22. Das Schlafgemach des Königs
23. Auf dem Domplatz
24. Offenbarung VII
25. Warten auf Erlösung / Das Gastmahl des Königs
26. Der Golem
27. Offenbarung VIII
EPILOG (Jenseits von Gut und Böse)
Dank
Quellenangabe
Literaturliste
Über die Autorin
Über das Stück
Impressum
Jan Matthys, der oberste Prophet
Jan van Leiden, der Täuferkönig
Divara, die Königin
Elisabeth, die Schwester der Königin
Bernhard Rothmann, der Worthalter des Königs
Bernd Knipperdolling, der Statthalter des Königs
Der Bischof
Der Junge
Anna, auch Das Mädchen Anna, auch Anna HMMG
Corvinus, ein evangelischer Prediger
Mollenheck, Schmied in Münster
Eva, seine Tochter
Heinrich Graes, der Verräter
Bischofssekretär
Jesus
Erste Nonne
Zweite Nonne
Ältere Frau
Erster Wachmann
Zweiter Wachmann
Der Bote
Städter
Der Vorhang öffnet sich. Auf dem Sessel in Weihrauch gehüllt thront der Bischof. Auf der untersten Stufe vor seinen Füßen sitzt Anna, ein junges Mädchen, mit einem Baby in den Armen.
DER BISCHOF(zu Gott) Glotz mich nicht so anDu sollst mich nicht anglotzenNicht anglotzenIch brauche Ruhe jetztLass mich in RuheWie spät ist esDie sind so langDiese feierlichen MessenIch ertrage so viel Musik nichtEinen ganzen Chor haben sie bestelltDiese MusikDieser GestankDie Leute schwitzen so wahnsinnigKein intelligentes Gesicht dabeiAlles StumpfsinnigeGesichtsloseEin fürchterliches GefühlSchluss jetztDienstag schreibe ich dem Papstwegen Anna(Der Bischof schaut von seinem Thron auf Anna mit dem Baby in den Armen herab. Sie senkt ihr Haupt. Er bekreuzt sie. Sie bekreuzigt sich auch. Dann hebt sie das Baby zu ihm hoch. Er malt ihm ein Kreuz auf die Stirn und flüstert ihr zu)Dienstag(Anna geht in die Knie. Der Bischof wiegt in einer Hand den Klingelbeutel, die andere legt er unbewusst an seinen Sack.)Schwerrichtig schwer für eine Messe(zu Gott) Hör auf zu glotzenDu hast mir das eingeredet DuIch habe nie dein Diener werden wollenDuhast mich gezwungenDu hast es dir oben gemütlich eingerichtetUnd ich muss hier(schüttelt den Klingelbeutel) dieses Gestinke hiermit meinen eigenen Fingernmit meinen Händenmit meiner Haut berührenanfassennachzählen muss ich dasJedes MalnachzählenBis zum ErbrechennachzählenIn diesem Gewand hiersitzenund nachzählenGlotz mich nicht anDu hast dir deine Gestalt selbst ausgesuchtDie Wahrheit ist, dass du dir deine Gestalt selbst ausgesucht hastwährend ich gezwungen worden bindieses Gewanddieses Gelddieses fruchtlose SublimierenGezittert vor Ekel mein LieberGezittert(Pause)Die ganze Zeit überlege ich mirSoll ich das Ganze hinschmeißen odersoll ich es nichtSie quälen mich diese Gedankenich bin schwachschwachgequältunfähigHandlungsunfähig(zu Gott) Du hast mich ausgenutztErlöserDie ganze Zeit hast du mich ausgenutztIch bin erschöpft(Pause. Der Bischof schaut auf Anna mit dem Baby in den Armen herab.)Was macht die VernachlässigteSie betet(zu Gott) Betet sieDie ganze Zeit hat sie gebetetnur gebetetIch werde dem Papst schreibenDienstag(zu Gott) Sie gehört mir(Pause)Du hast sie hierher zu mir geführtaus ihrem Elternhaus, das sie verfluchtedurchnässterfrorenweinendIch habe sie in meiner warmen Stube aufgenommensie gehörtMirdie AnnaHat sie geweint lautgeschrienSie sollte schreienlautHerr hilf mirschreienlautIch helfe ihrso wie ich kann(zu Gott) Ich kann nicht anders helfen als ich kannIch werd ihr helfenSoMich friert’s
ANNAGott
DER BISCHOFSie soll schreien
ANNAGoott AllmächtigerGooott
DER BISCHOFSie klingt verängstigtfürchtet sichDas Kind ist noch so kleinsie zittert um das Kindmein Kind
ANNAGooooooott
DER BISCHOFSie ruft nach dirDich ruft sie anMich hat sie nicht gerufenNicht einmal
ANNAGooooooooooooott
Der Bischof streckt seine Arme nach unten, nimmt das Kind an sich.
DER BISCHOFSchön ist das Kind
ANNA(nickt)
DER BISCHOFHast dich gefürchtetum das Kind
ANNA(schaut ihn erschrocken an, nickt)
DER BISCHOF(zu Anna) Ich schreibe dem Papst wegen dirAm Dienstag
ANNA(nickt)
DER BISCHOFob du hier bleiben darfstbei mir(wiegt den Klingelbeutel in der Hand)Schön ist das Kind
ANNA(nickt)
DER BISCHOFWie ekelt mich das andas Geld der Beuteleklig (schaut sie lange an)Schön ist das Kind(Eine tote Taube fällt von oben in Annas Schoß. Sie erschrickt, starrt die Taube an, ohne sich zu bewegen.)Erkennst du ihn wieder(Anna schüttelt den Kopf)Das ist der Heilige Geist(Anna schüttelt den Kopf)Gott ist tot(Anna schüttelt den Kopf)Zieh dich ausLos zieh dich aus
ANNA(schüttelt den Kopf)
DER BISCHOF(zu Anna) Ich will, dass du dich ausziehst
ANNA(schüttelt heftig den Kopf)
DER BISCHOFIch kann keinen Widerstand ertragen (greift Anna am Hals, dreht ihr Gesicht nach oben) Da oben ist nichts(für sich) Ich bin so aufgeregt(nach einer Pause, zu Anna) War ich derjenige der –(zeigt auf das Kind) mit dem Geschenk
ANNA(nickt)
DER BISCHOFist das von mir
ANNA(nickt)
DER BISCHOFbist nicht die Einzigealle sündigenAlleLos zieh dich ausausziehen(Anna lässt ihren Überwurf runterfallen.)Sie ist eine HexeVerführerinEine HexeDas Hexenkind(Der Bischof wirft das Baby von sich.)Der Teufel
Der Bischof steht umständlich vom Sessel auf, steigt mühsam die Treppen herunter, nimmt die Mitra ab, schleudert sie zur Seite, verlässt schnaufend den Raum. Anna stopft sich das Baby zurück in den „Bauch“ und setzt sich eine Krone mit zwölf Sternen auf den Kopf.
Eine neblige Landschaft.
Die schwangere Heilige Maria Mutter Gottes mit einer Krone mit zwölf Sternen auf dem Kopf steht im Nebel.
Und ein großes Zeichen erschien in dem Himmel: Eine Frau, bekleidet mit der Sonne, und der Mond war unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt war eine Krone von zwölf Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Wehen und Schmerzen der Geburt.
Und es erschien ein anderes Zeichen in dem Himmel: Und siehe, ein großer, feuerroter Drache, der sieben Köpfe und zehn Hörner hatte und auf seinen Köpfen sieben Diademe; und sein Schwanz zieht den dritten Teil der Sterne des Himmels mit sich fort; und er warf sie auf die Erde. Und der Drache stand vor der Frau, die im Begriff war zu gebären, damit er, wenn sie geboren hätte, ihr Kind verschlänge.
ROTHMANNJetzt oder nie.
MATTHYSIch habe Jan van Leiden nach Münster berufen. Wir sollten seine Ankunft abwarten.
KNIPPERDOLLINGNicht abwarten. Jetzt.
MATTHYSIch halte viel von ihm. Er ist ein Schauspieler. Er beherrscht die Massen, kraft seiner Stimme. Ich habe ihn auf der Bühne erlebt. Kaum zu bändigen.
DIVARAIst er einer von uns?
MATTHYSEr will sich taufen lassen.
ROTHMANNJetzt ist die Zeit günstig, aus dem Verborgenen ins Öffentliche zu treten. Aus dem Dunkeln ins Licht. Aus der Stube auf den Marktplatz.
MATTHYSDie Städter werden sich nicht trauen, sich uns öffentlich anzuschließen.
KNIPPERDOLLINGDie Münsteraner fressen Rothmann aus der Hand. Vertrau ihm.
MATTHYSDie Täufer werden im ganzen Reich unter Todesstrafe verfolgt. Das wissen alle.
ROTHMANNReichsgesetze gelten nur, solange die Menschen ihnen folgen. Sobald die Mehrheit sich zum Täufertum – zum wahren Christentum, zur Erkenntnis der Heiligen Schrift bekennt und durchringt, werden die Reichsgesetze fallen.
KNIPPERDOLLINGWeg mit dem Fürstbischof!
DIVARAWeg mit dem Antichrist Papst!
MATTHYSWeg mit dem Klerus!
ROTHMANNAm Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. DWWF. Das Wort Wird Fleisch. Hier, jetzt, mit uns.
Rothmann druckt sich den Stempel „DWWF“ auf die Stirn. Ihm folgen alle anderen. Matthys zögert. Divara bemerkt Matthys grobschlächtiges Händezittern.
DIVARA(flüstert Matthys ins Ohr) Hör auf! Sie dürfen dir das nicht anmerken. Ein Manisch-Depressiver als oberster Prophet? (Divara drückt Matthys den „DWWF“ Stempel auf die Stirn.) DWWF.
Rothmann und Knipperdolling stimmen mit ein: DWWF!
MATTHYS(flüstert Divara ins Ohr) In meinen euphorischen Phasen bin ich ein feuriger Ehemann –
DIVARA(spöttisch) Das denkst du.
MATTHYSund ein rasender Prophet! Dafür liebt mich das Volk! (euphorisch) DWWF. DWWF. DWWF.
Corvinus predigt auf dem Marktplatz vor der versammelten Menge.
Die Bürgerschaft verlangt, dass Rothmann wieder in der Kirche predigen darf.
Corvinus hebt die Bibel hoch, droht mit ihr.
CORVINUSHütet euch aber vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind! An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Sammelt man auch Trauben von Dornen, oder Feigen von Disteln? So bringt jeder gute Baum gute Früchte, der schlechte Baum aber bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen, und ein schlechter Baum kann keine guten Früchte bringen.
STÄDTERWir wollen Rothmann hören! Rothmann muss her! Lasst ihn predigen!
Rothmann mit der Gefolgschaft (Matthys, Knipperdolling, Divara) treten auf.
ROTHMANNWas sind eure guten Früchte? Zeigt sie uns!
STÄDTERVerfault sind deren Früchte!
STÄDTERIst das eine gute Frucht, dass Klöster den Gilden das Geschäft verderben!
STÄDTERSechstausend Webstühle im Schwesternhaus Niesinck!
STÄDTERUnd sie zahlen keine Steuern!
STÄDTERUnd von uns werden noch Abgaben an das Kloster verlangt!
STÄDTERPfaffenweiber sind eine Schande!
STÄDTERFürstbischof ist eine Schande!
STÄDTERKlerus ist eine Schande!
STÄDTERBlutsauger!
STÄDTERSchmarotzer!
ROTHMANNWas wir anstreben – (Die Menge beruhigt sich.)Das ist die Wiederherstellung der Verhältnisse, wie sie nach Gottes Willen eigentlich sein sollten, aber durch den Verfall der katholischen Kirche verdorben sind.
STÄDTERDer Papst ist der Antichrist!
CORVINUSDas sagt Luther auch, das ist nichts Neues.
ROTHMANNLuther hat den Anfang gemacht, er ist aber nicht weit genug gegangen.
STÄDTERLuther ist ein Schisser! Ein Arschlecker der Fürsten!
ROTHMANNWir fordern die Abschaffung der Ständeordnung! Vor Gott sind alle Menschen gleich.
STÄDTERWeg mit den Fürsten! Weg mit dem Klerus!
CORVINUSLuther war der erste, der die Bauern zu der Revolte aufrief.
ROTHMANNDann aber forderte er die Fürsten auf, ohne Gnade und Geduld gegen die Bauern vorzugehen: „Gleich als wenn man einen tollen Hund totschlagen muss. Schlägst du nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir.“ Das ist Luther.
STÄDTERWeg mit Luther!
STÄDTERWeg mit seinem Knecht Corvinus!
ROTHMANNWir sind keine Allwissenden. Gott ist allwissend. Unser Ziel ist: Was immer wir erkennen, was Gottes Wille ist, das wollen wir umsetzen.
STÄDTERRothmann ist unser Mann!
ROTHMANNWer Gottes Wort empfängt und es schafft den Willen Gottes zu vollbringen, in dem wird Christus geboren. Das Wort Wird Fleisch. Gottes Wort wird Fleisch in uns. Seid ihr bereit das Wort Gottes zu empfangen?
STÄDTERJa!
ROTHMANNSeid ihr bereit die volle Verantwortung für eure Gedanken und euer Tun zu übernehmen?
STÄDTERJa!
ROTHMANNOhne, dass einer euch vorpredigt, was ihr zu tun und zu denken habt!
STÄDTERWir sind bereit!
ROTHMANNWer Gottes Wort empfängt bedarf keinerlei Anleitung. Allein Gott und sein Geist ist der Meister! Der Mensch geht aus sich selbst hinaus und zieht Christus an. Das ist der Weg zur Herstellung des vollkommenen Menschen und der vollkommenen Gemeinde. Das ist das Reich Christi. Das ist das Neue Jerusalem.
KNIPPERDOLLINGWir sind das Volk Gottes!
STÄDTERWir sind das Volk Gottes!
KNIPPERDOLLINGMünster ist das Neue Jerusalem!
STÄDTERMünster ist das Neue Jerusalem!
CORVINUS