Das Niemandsland ist unseres - SAID - E-Book

Das Niemandsland ist unseres E-Book

SAID

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Beschreibung

West-östliche Betrachtungen

„gottes ist der orient! gottes ist der okzident!“
diesem satz goethes fügt der ostwestliche flüchtling seinen profanen hinzu:
das niemandsland dazwischen ist unseres.
wir können es nur mit Liebe befruchten.
(SAID)

Der Dichter und Essayist SAID ist eine Brückenschlag-Existenz. Morgenland und Abendland verstrickt er in ein Gespräch über gemeinsame Wurzeln, über berühmte Grenzgänger zwischen den Kulturen und über Möglichkeiten einer respektvollen Annäherung. Um diese drei Motive kreisen die Texte dieses sehr persönlichen und zugleich politisch hochaktuellen Buches. Sie spiegeln die Facetten und Lebenswerte einer faszinierenden Persönlichkeit: Freiheit und Demut, Engagement und Besinnung, Verehrung und Spott.

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Seitenzahl: 80

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Inhaltsverzeichnis
pilgrim und bürger
ein blinder, zwei flüsse
hafis, du entschlüsselst alle geheimnisse
ich, jesus von nazareth
über toleranz
afschane
ein kind auf der suche nach europa
Copyright
pilgrim und bürger
haben meine hände versagt? warum sonst verstecken sich die götter? gesucht habe ich sie, selbst in den heiligen büchern und in allen behausungen. wollte ich doch jenem verlangen in meinen fingern nachgeben, das auf etwas jenseits meiner augen hoffte. als jugendlicher glaubte ich mit ganzem herzen an die gerechtigkeit auf erden – als ob das genügen würde.
meiner kindheit verdanke ich eine freie haltung zu religionen. und es ist nicht entscheidend, was der erwachsene später räsoniert, sondern was das kind sieht, riecht und hört. das huhn wird lebendig gekauft und zu hause geschächtet. das tier gackert, zappelt, springt umher – und verendet. das kind sieht auch die flagellanten, die sich verletzungen beibringen. »das blut entscheidet über den gang der geschichte«, schrieb oswald spengler, als er vom untergang des abendlands sprach. später ist das kind schlafend in die fremde getragen worden. hier findet es seinen weg – bittere jahre folgen. schließlich siegt die islamische revolution im namen eines gottes; nahe freunde werden auf der flucht erschossen, exekutiert. die republik lässt den gott im wind stehen.
nun sieht sich der bürger gezwungen, seine religiosität vor den gläubigen zu schützen und vor deren republik. er sucht nach anderen göttern; als hätten diese nur auf ihn gewartet. die vernunft lässt er fallen, er will ja das dritte ufer erreichen – allen mahnungen albert camus’ zum trotz: »wenn ich zwischen meiner mutter und der gerechtigkeit zu wählen habe, dann entscheide ich mich für meine mutter.«
indes, nach den wunden der islamischen revolution, sucht der pilger keine blendungen mehr, keine behausungen, nur schritte. sie tragen ihn fort, von fest gefügten göttern mit leicht stillbaren gelüsten. befriedigen will er seine götter nicht und schon gar nicht verstehen. meint er doch zu wissen, alles verstehen sei unzulänglich und münde in unterwerfung. begreifen will er sie mit den händen, wie man zum mantelsaum greift. dafür dürfen sie aus dem verborgenen agieren – ohne ausweis, ohne strichcode. in seinen renitenten gebeten berührt er zwar die einheit zwischen dem menschen und den göttern. doch er lässt sich davon nicht täuschen. er will das schlummernde berühren, er will den aufruhr – ohne das geheimnis der liebe preiszugeben.
die götter, die kommen und gehen, finden ihn eines tages. weder zückt der bürger das cartesianische messer, noch vermag er die dinge im unklaren zu lassen. der bürger entblößt sich und blickt in den tag, ohne zorn, ohne eile – bis die götter aus ihren löchern herauskriechen. sodann überwältigen sie ihn hinterrücks, wie fremde es tun – in einer von begierden getriebenen welt. und er hofft, dass sie den besiegten begreifen, mit dem unrat seiner träume und dem rest seiner sprache, der auf einen anderen tod wartet.
noch immer sucht der agnostiker mit viel kummer nach »großen niemals werbenden göttern«. zuweilen ahnt er, die suche allein sei die antwort. dann aber ist er überzeugt, seine religion habe etwas verbotenes an sich, den geruch von einem brandstifter. und er folgt dem aufruf des evangelisten: »aber nun, wer einen geldbeutel hat, der nehme ihn, desgleichen auch die tasche, und wer’s nicht hat, verkaufe seinen mantel und kaufe ein schwert.«
das schwert gebiert die unruhe und diese die demut – aus der die revolte wächst. doch eine religion, die sich der befreiung verschreibt und die liebe vergisst, berührt nicht mehr die mysterien der menschlichen seele – und wird unnütz.
das brachland zwischen dem pilger und dem bürger will sich partout nicht entscheiden und sehnt sich immerfort nach einer saat. und der zögernde mund zwischen kain und abel kommt nicht umhin, das versteck des suchenden zu verraten. doch die götter meiden seine hände. denn sie wissen, diese verraten alles, was sie berühren.
der eine will durch das leben wandern, ohne sich der schönheit zu entziehen – er will seine begierden nicht überleben. der andere sucht, friert und verwendet sich noch immer – für die götter.
zuweilen – dies geschieht meist in dunkelheit – vereinigen sich die widerstreitenden brüder und schicken ein gebet gen himmel: herr, zeig mir die dinge, wie sie wirklich sind und achte auf meine hände.
ein blinder, zwei flüsse
»ab«, das persische wort für wasser, würde ich heute – nach 40 jahren abwesenheit vom persischen sprachraum – mit zwei a schreiben: »aab«. auf das wasser musste man im iran oft lange warten, und das zweite a sollte die erwartungshaltung der durstenden wiedergeben. denn die sprache ist immer die sprache der durstenden, wenn sie keine folklore sein will. noch immer hat das deutsche wort »durst« für mich keinen vorgeschmack, keine konsequenz; dazu regnet es zu oft in meinem deutschland. noch bis mitte der sechzigerjahre war es nichts außergewöhnliches, wenn ein fremder an die tür klopfte und wasser verlangte. schon aus ehrfurcht vor den eigenen religiösen gefühlen hätte niemand dem fremden diesen wunsch versagt. er bekam das wasser, meist in einer blauen schale, die er wiederum aus ehrfurcht vor dem inhalt beidhändig hielt und an die lippen führte, nachdem er laut der schiitischen märtyrer gedacht hatte. waren doch diese heiligen märtyrer in der wüste von kerbela beinah verdurstet, bevor sie von den apostaten niedergemetzelt wurden.
bis heute assoziiere ich mit dem wort »aab« jene blaue schale und viel weniger den wasserhahn, der am ende einer auf der erde verlegten leitung inmitten der innenhöfe stand, einsam und nackt. das deutsche wort »wasser« hingegen erweckt in mir das bild eines rostfreien wasserhahns mit mischbatterie, aus dem man zu jeder zeit wie selbstverständlich wasser erhält.
»nan«, das persische wort für brot, hat auch heute – im zeitalter der digitalisierung – seinen archaischmystischen wert nicht verloren. noch heute sprechen bauern in ärmlichen gegenden vom brot, wenn sie abendessen meinen. in der zeit meiner kindheit war damit das iranische fladenbrot gemeint: geröstet, dünn und etwa 80 zentimeter lang. das kind kaufte das brot und trug es nach hause, wie eine kladde in der hand. die großmutter bestellte stets ein brot mehr als nötig. wenn das kind vom bäcker zurückkam, musste es – so war es erzogen worden -, jedem nachbarn und bekannten brot anbieten. es wäre direkt unhöflich, dieses anbieten zu umgehen. der nachbar blieb stehen, brach eine ecke des brotes ab, steckte es in den mund, neigte den kopf und ging weiter. die großmutter schwor auf das brot, auf das verzehrte brot. morgens, wenn das kind in die schule musste, holte die großmutter das gestrige brot, inzwischen getrocknet, bespritzte es mit wasser, bis es wieder weich wurde, bestrich es mit schafskäse und rollte es zusammen; das kind steckte es in die schultasche neben die schulbücher und kladden. inzwischen kauft das kind in seinem deutschen exil ohnehin nur schwedisches knäckebrot; dieses braucht nicht mehr getrocknet zu werden. es ist immer gebrauchsfertig, wie vieles im norden, und völlig entzaubert.
in berlin, vor einigen jahren, saß ich im kreis iranischer freunde. ein griechischer freund war auch dabei und seine cousine, nancy, die gerade deutsch lernte. ein deutscher freund trat hinzu und wurde uns beiden, nancy und mir, vorgestellt. als er der jungen griechin die hand reichte und seinen namen nannte, stammelte sie nur: »wolfgang, ausgang, eingang.« das laute gelächter der anwesenden irritierte sie noch mehr. mir wäre diese lautmalerische irritation schon nicht mehr passiert. wolfgang ist für mich nur noch ein name und hat keine verwandtschaft mit eingang oder ausgang. ist der berühmte blick des fremden gänzlich verloren gegangen?
»um zu bleiben / braucht man hier / zwei lungen / für einen atemzug, / einen wurzelstock / für zwei erdklumpen, / zwei schatten / für eine sonne, / einen kuss für zwei hände.«
seit jahren bin ich mit der deutschen sprache konfrontiert. seit jenem grauen tag im november 1965 am flughafen frankfurt ist mir das tempo der deutschen sprache in den eiligen schritten der passanten gegenwärtig. doch ich brauchte viele jahre, um zu verstehen, dass das tempo dieser sprache bedeutend langsamer ist als das meiner sprache. noch heute habe ich diesen tempowechsel nicht gänzlich begriffen – nicht wirklich, nicht körperlich – und spreche das deutsche zu schnell, einer vergewaltigung gleich für diese sprache. seit 1975, seit ich meine gedichte auf deutsch schreibe, fühle ich mich als gast und gefangener dieser sprache. gast, weil diese sprache mich aufgenommen hat, so gastlich sie konnte. gefangener, weil sie mir die möglichkeit geschenkt hat, mich auszudrücken: das heißt, meine freiheit zu suchen. seither kann ich die territorien der deutschen sprache nicht verlassen, ohne mich selbst zu verlassen. eine gefangenschaft, die wohl – hoffentlich – bis zum ende meines lebens währt. wie jeder gefangene schiele auch ich gelegentlich durch das gitter der grammatik auf jenes gefilde ohne regel – auf die muttersprache. und auch diese gefangenschaft verändert den blickpunkt und erweitert ihn zugleich. dennoch, der gefangene verliert seine eigene welt, seine alte, nicht; er konserviert sie. und somit wird er zu einem kompositum aus zwei welten, ein weltbürger ohne eigenes fenster: »ein blinder, / zwei flüsse./ niemand altert / im niemandsland; / hier stirbt man nur. / die gehetzte sprache der verbannten / kennt keinen raum / für proportionen.«
der gefangene zieht vergleiche zwischen den beiden sprachen beinah zwanghaft – und in solchen momenten hasst er sich selbst. die trennbaren verben – die es im persischen nicht gibt – zwingen den zuhörer, das