Das nomadische Jahrhundert - Gaia Vince - E-Book

Das nomadische Jahrhundert E-Book

Gaia Vince

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Beschreibung

Waldbrände und Wirbelstürme hinterlassen immer größere Schneisen der Verwüstung. Sturzbachartige Regenfälle führen zu verheerenden Fluten, von Dürren geplagte Regionen werden unfruchtbar. Der Klimawandel ist überall zu spüren. Die Folge: In den letzten zehn Jahren hat sich die weltweite Migration verdoppelt, und in den kommenden Jahrzehnten werden buchstäblich Milliarden von Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden. Die preisgekrönte Journalistin Gaia Vince zeigt, wie sich durch Klimamigration unsere Versorgung mit Nahrungsmitteln, unsere Städte und unsere Politik verändern werden – und was nun zu tun ist. Sie bietet Antworten, die wir alle brauchen, mehr denn je. »Erschreckend, aber auch hoffnungsvoll und ungeheuer wichtig. Das nomadische Jahrhundert bringt die beiden drängendsten Probleme unserer Zeit zusammen: den Klimanotstand und die Migration. Jede und jeder Einzelne von uns wird davon betroffen sein – und deshalb sollten wir alle dieses Buch lesen. Es ist vollgepackt mit Fakten, Lösungen und auch Optimismus.« Andrea Wulf, Bestsellerautorin (»Fabelhafte Rebellen«) »Gaia Vince ist eine der besten Wissenschaftsautorinnen der Gegenwart.« Bill Bryson, Bestsellerautor »Eine Meisterleistung ... Pflichtlektüre darüber, wie wir in den kommenden Jahrzehnten leben müssen, um das langfristige Überleben der Menschheit zu sichern.« Financial Times »Engagiert und konstruktiv ... Vince lässt den Leser mit mehr als nur ein paar Funken Hoffnung zurück.« Herald »Vinces ruhige, mitfühlende und maßgebliche Erklärung der Unvermeidbarkeit von Migration ist eine unverzichtbare Lektüre.« New Statesman

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Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.piper.de

Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Nomad Century bei Allen Lane, London

Copyright © Gaia Vince, 2022

Für die deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: © www.global-migration.info

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Einleitung

1 Die Katastrophe

2 Die apokalyptischen Reiter des Anthropozäns

Brände

Hitze

Trockenheit

Überschwemmungen

3 Die Heimat verlassen

Die Migration der Dinge

Wie die Migration der Dinge den Vorrang erlangte

Fernreisen

4 Am Rande des Wahnsinns

Wer gehört hierher?

Die Erfindung der Nation

Die Bürokratie ist die heimliche Ingredienz des Patriotismus

Wie wir der Freizügigkeit ein Ende setzten

Grenzüberschreitungen

Migration ist ein wirtschaftliches und kein Sicherheitsproblem

5 Der Reichtum der Migranten

Billionen Dollar liegen auf der Straße

6 Die neuen Weltbürger

Die Neuerfindung der Nation

7 Zuflucht Erde

Die Städte des neuen Nordens

Öffnung der Grenzen

Charter Cities

Den Menschen einen Anstoß geben

8 Wohnraum für Migranten

Städte des Anthropozäns

9 Lebensräume im Anthropozän

Der Bau widerstandsfähiger Städte

10 Essen

Eine große Ernährungsumstellung ist notwendig

11 Energie, Wasser, Material

Besser wachsen

Kreislaufwirtschaft

12 Wiederherstellung

Wiederherstellung der Natur

Wiederherstellung des Klimas

Epilog

Manifest

Weiterführende Literatur

Dank

Stichwortverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Register

Für meinen Vater und alle, die unter einem grauen nördlichen Himmel tropische Blumen züchten

Einleitung

Eine große Umwälzung steht uns bevor. Sie wird uns und den Planeten verändern.

Im globalen Süden wird der extreme Klimawandel gewaltige Menschenmengen aus ihrer Heimat vertreiben, weil große Regionen unbewohnbar werden. Im klimatisch angenehmeren Norden werden die Volkswirtschaften Mühe haben, den demografischen Wandel zu bestehen, der mit massivem Arbeitskräftemangel und einer verarmten und überalterten Bevölkerung verbunden sein wird.

In den kommenden 50 Jahren werden weite Gebiete der Erde durch heißere Temperaturen und höhere Luftfeuchtigkeit für etwa 3,5 Milliarden Menschen lebensgefährlich werden. Riesige Bevölkerungsgruppen werden eine neue Heimat suchen, weil sie aus den Tropen, von den Küsten und aus nicht mehr landwirtschaftlich nutzbaren Regionen fliehen müssen. Sie, meine Leserinnen und Leser, werden entweder zu den Flüchtlingen gehören oder diese empfangen. Die Migration hat bereits begonnen: Menschen fliehen scharenweise vor der Trockenheit in Gebieten Lateinamerikas, Afrikas und Asiens, wo die Landwirtschaft und generell das Landleben unmöglich geworden sind. Der klimatisch bedingte Ortswechsel ist heute schon einer der Faktoren, der die ohnehin schon massive Abwanderung in die Städte verstärkt. Die Zahl der Migranten hat sich im letzten Jahrzehnt weltweit verdoppelt, und die Frage, was mit der schnell wachsenden Zahl vertriebener Menschen geschehen soll, wird mit zunehmender Erderwärmung immer dringender werden.

Es besteht kein Zweifel, dass wir vor einer Menschheitskatastrophe stehen, doch wir können sie bewältigen. Wir können überleben, aber um das zu bewerkstelligen, wird die Migration geplant und willentlich erfolgen müssen – in einem Maß wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte.

 

Immer mehr Menschen beginnen endlich, sich der bevorstehenden Klimakatastrophe zu stellen. Viele Länder bemühen sich, ihre Kohlenstoffemissionen zu reduzieren, und versuchen, Risikoregionen auf die Bedingungen eines heißeren Klimas vorzubereiten, doch es stellt sich ein riesiges Problem: Für große Teile der Menschheit werden die lokalen Bedingungen zu extrem, und sie haben keine Möglichkeit, sich anzupassen. Statistisch werden weltweit heute schon doppelt so viele Tage mit Temperaturen über 50 °C ermittelt wie vor 30 Jahren. Eine solche Hitze ist für Menschen bereits tödlich und auch für Gebäude, Straßen und Kraftwerke extrem problematisch. Kurz gesagt: Sie macht ein Gebiet unbewohnbar.

Dieses globale Drama bedarf einer dynamischen menschlichen Reaktion, und wir haben die Lösungen in der Hand. Wir müssen den Menschen helfen, sich vor Gefahr und Armut in Sicherheit zu bringen und ein neues lebenswertes Leben zu beginnen; insofern müssen wir zu unser aller Wohl eine widerstandsfähigere globale Gesellschaft aufbauen. Menschliche Migration von einem beispiellosen Ausmaß wird dieses Jahrhundert beherrschen und unsere Welt radikal verändern. Dies könnte eine Katastrophe oder, gut gemanagt, unsere Rettung sein.

Viele Menschen werden umziehen müssen, um zu überleben. Große Bevölkerungsgruppen werden ihre Heimat verlassen und nicht nur in die nächste Stadt migrieren, sondern auch über weite Strecken Kontinente durchqueren müssen. Die Bewohner von Regionen mit erträglicheren Bedingungen, insbesondere in den Ländern der nördlichen Breiten, werden in zunehmend überbevölkerten Städten Millionen Migranten aufnehmen und sich zugleich selbst den Bedingungen des Klimawandels anpassen müssen. In den relativ kühlen Polargebieten wird die Menschheit in Regionen, die schnell eisfrei werden, völlig neue Städte bauen müssen – beispielsweise in Teilen Sibiriens, wo heute schon monatelang Temperaturen von 30 °C herrschen.

Wo immer wir heute leben, die Migration wird unser Leben und das unserer Kinder beeinflussen. Es mag offensichtlich erscheinen, dass Wüstenstaaten wie der Sudan unbewohnbar werden oder dass Bangladesch, wo ein Drittel der Bevölkerung an einer im Meer versinkenden flachen Küste lebt, dasselbe Schicksal erleidet. (Schätzungen zufolge werden bis 2050 mehr als 13 Millionen Bürger von Bangladesch, das sind fast zehn Prozent der Bevölkerung, das Land verlassen haben.) Aber in den kommenden Jahrzehnten werden auch reiche Länder stark betroffen sein. Das heiße, von Dürren heimgesuchte Australien wird genauso leiden wie Teile der Vereinigten Staaten. Millionen werden Städte wie Miami und New Orleans verlassen und in kühleren Bundesstaaten wie Oregon und Montana Zuflucht suchen. Man wird Städte bauen müssen, um sie unterzubringen.

Allein in Indien werden mehr als eine Milliarde Menschen bedroht sein. Eine weitere halbe Milliarde wird in China umgesiedelt werden müssen, und Millionen Menschen in Lateinamerika und Afrika wird dies auch betreffen. Das hochgeschätzte südeuropäische Mittelmeerklima verschiebt sich heute schon nach Norden, und die zunehmende Hitze und Trockenheit schaffen dabei von Spanien bis in die Türke±i wüstenhafte Bedingungen. Auch Teile des Nahen Ostens sind wegen der zunehmenden Hitze, Wassermangels und schlechter Böden heute schon unbewohnbar geworden.

Die Menschen werden diese Regionen verlassen. Sie haben sich schon in Bewegung gesetzt.

 

Die Menschheit erlebt heute eine Umwälzung, die den gesamten Planeten betrifft, und diese Umwälzung ist nicht nur mit einer beispiellosen Klimaveränderung, sondern auch mit einem gewaltigen demografischen Wandel verbunden.

In den kommenden Jahrzehnten wird die Erdbevölkerung weiterhin wachsen, bis in den 2060er-Jahren vermutlich bei zehn Milliarden Menschen der Höhepunkt erreicht sein wird. Der größte Teil dieses Wachstums wird in den tropischen Regionen stattfinden, die von der Klimakatastrophe am schlimmsten betroffen sind. Deshalb werden die dort lebenden Menschen nach Norden fliehen. Der globale Norden hat das gegenteilige Problem: eine »kopflastige« Alterspyramide, in der ein großer Bevölkerungsanteil von Alten durch zu wenige Arbeitskräfte versorgt werden soll. In mindestens 23 Ländern, einschließlich Spanien und Japan, wird sich den Prognosen zufolge die Bevölkerung bis zum Jahr 2100 halbieren. In Nordamerika und Europa haben heute schon 300 Millionen Menschen das traditionelle Rentenalter von 65 Jahren überschritten, und bis 2050 werden laut wissenschaftlichen Voraussagen 43 Alte ab 65 Jahren auf 100 Arbeitsfähige zwischen 20 und 60 Jahren kommen.[1] Unter diesen Bedingungen werden Städte von München bis Buffalo miteinander konkurrieren, um Migranten anzuziehen. Dieser Wettbewerb könnte gegen Ende des 21. Jahrhunderts besonders scharf werden, wenn einige der südlichen Länder, die durch den Klimawandel unbewohnbar wurden, durch neue Verfahren von Geoengineering wieder bewohnbar geworden sind. Dies könnte etwa eintreten, wenn die globalen oder regionalen Temperaturen durch die Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre und durch technische Erfindungen, mit denen sich große Gebiete kostengünstig kühlen lassen, reduziert werden könnten. Das 21. Jahrhundert wird jedenfalls das Jahrhundert einer beispiellosen weltweiten Migration sein.

Wir müssen heute schon pragmatisch für unsere Gattung planen, wie wir dafür sorgen können, dass unsere Systeme und Gemeinschaften resilient genug sind, um mit den kommenden Verwerfungen fertigzuwerden. Wir wissen heute schon, welche Bevölkerungsgruppen bis 2050, wenn ich in den Siebzigern sein werde, umsiedeln müssen. Und wir wissen auch, welche Orte Ende des 21. Jahrhunderts, wenn meine Kinder alt sein werden, am sichersten sein werden.

Wir müssen uns jetzt darum kümmern, wo die Milliarden von Klimaflüchtlingen dauerhaft angesiedelt werden können. Zu diesem Zweck werden wir internationale Verhandlungen führen und die schon existierenden Städte auf den Ansturm vorbereiten müssen. Die Arktis wird beispielsweise für Millionen Menschen ein relativ bewohnbarer Bestimmungsort werden, selbst wenn die dortige aktuell minimale Infrastruktur derzeit bereits im schmelzenden Permafrostboden versinkt und wir sie für klimatisch wärmere Bedingungen neu aufbauen müssen. Zur Vorbereitung dieser gigantischen Migration müssen wichtige Großstädte schrittweise aufgegeben, andere verlegt und viele in anderen Ländern ganz neu gebaut werden. London, die Stadt, in der ich wohne, ist mindestens 2000 Jahre alt und beherbergt neun Millionen Menschen. Wir haben nur ein paar Jahrzehnte, um solche Städte anzupassen, zu erweitern und neu zu bauen. Während der Covid-19-Pandemie haben wir im Katastrophenfall innerhalb weniger Tage provisorische Kliniken errichten können, und ich habe keinen Zweifel, dass wir in wenigen Jahren auch anspruchsvolle Städte bauen können. Aber was für Städte, an welchen Orten – und für wen?

Die bevorstehende Migration wird gewaltige Ausmaße annehmen und vielfältige Begleiterscheinungen zeigen. Die Menschen aus den ärmsten Ländern der Welt werden wegen tödlicher Hitzewellen und Missernten fliehen. Aber auch besser situierte Menschen werden nicht mehr dort leben und wohnen können, wo sie es geplant hatten. Sie werden keine Hypothek mehr aufnehmen und keine Gebäudeversicherung abschließen können, weil es in ihrer Region keine Arbeit mehr gibt. Sie werden ihr unattraktiv gewordenes Stadtviertel verlassen, weil zu viele ihrer Nachbarn schon in eine Region mit einem erträglicheren Klima gezogen sind. Schon haben in den USA Millionen Menschen aufgrund des Klimawandels ihren Wohnsitz aufgegeben: Im Jahr 2018 waren es 1,2 Millionen Menschen, 2020 stieg die Zahl auf 1,7 Millionen. In den USA ereignet sich heute durchschnittlich alle 18 Tage eine Umweltkatastrophe, die Milliardenschäden anrichtet.[2] Gemäß Umfragen aus dem Jahr 2021 unter Amerikanern, die ihren Wohnsitz verlegten, nannte die Hälfte veränderte Klimabedingungen als einen Beweggrund.

Während ich dies schreibe, herrscht in mehr als der Hälfte des US-amerikanischen Westens eine extreme Trockenheit, und die Farmer im Klamath-Becken ziehen in Erwägung, für die Bewässerung ihrer Region illegal und gewaltsam die Tore eines Staudamms zu öffnen. Das andere Extrem besteht nach den Erkenntnissen von Climate Central, einer Gruppe unabhängiger Wissenschaftler und Journalisten, darin, dass in den USA bis 2050 eine halbe Million bestehender Häuser auf Land stehen werden, das mindestens einmal im Jahr überflutet sein wird. Der derzeitige Wert dieser Häuser wird auf 241 Milliarden Dollar geschätzt. Auch wenn ein Gebäude von einer Überschwemmung nicht direkt betroffen ist, wird das Viertel, in dem es steht, unbewohnbar, falls zu viel von der lokalen Infrastruktur zerstört ist; die Bewohner ziehen weg. Zu den Betroffenen solcher Ereignisse werden beispielsweise 400000 Einwohner von New Orleans gehören. Die Isle de Jean Charles in Louisiana hat wegen der Küstenerosion und des steigenden Meeresspiegels heute schon für die Umsiedlung all ihrer Bewohner 48 Millionen Dollar an Steuergeldern von der amerikanischen Zentralregierung erhalten. In Großbritannien wurde den Bewohnern des Dorfes Fairbourne in Wales mitgeteilt, dass sie ihre Häuser dem steigenden Meer überlassen sollen, weil das ganze Dorf im Jahr 2045 »stillgelegt« werden wird. Auch größere Küstenstädte sind gefährdet. So soll etwa die walisische Hauptstadt Cardiff bis 2050 zu zwei Dritteln unter Wasser liegen.

Auch Sie, meine Leserinnen und Leser, könnten im Zuge der kommenden Umwälzung zu einem plötzlichen, dringenden Exodus gezwungen sein, etwa weil der Klimawandel Ernten vernichtet hat und die Lebensmittelpreise extrem gestiegen sind oder weil in Ihrem Land gewaltsame Konflikte ausgebrochen sind und das Leben nicht mehr sicher ist. Vielleicht verwüstet auch ein Hurrikan Ihre Stadt, oder Ihr Dorf wird vom Meer unterspült. Die Umwälzung kann plötzlich im Gefolge einer Katastrophe kommen oder sich langsam Stück für Stück vollziehen. Laut einer Schätzung der Internationalen Organisation für Migration der Vereinten Nationen könnte es allein in den nächsten 30 Jahren 1,5 Milliarden Umweltflüchtlinge geben. Nach 2050 wird diese Zahl vermutlich sprunghaft weiter ansteigen, wenn die Erderwärmung fortschreiten und die Weltbevölkerung Mitte der 2060er-Jahre ihren Zenit erreichen wird. Heute schon sind auf der Welt zehnmal mehr Menschen wegen Umweltkatastrophen auf der Flucht als wegen Konflikten und Kriegen.

 

Durch die menschengemachten Umweltveränderungen wurde eine neue, ganz andere Welt geschaffen. Als die einzigen fühlenden Wesen, die zu einer so kühnen globalen Transformation in der Lage sind, müssen wir allerdings auch über die Reife und Weisheit verfügen, unsere Fähigkeiten zu unserer Rettung einzusetzen.

Ich habe tatsächlich panisch Grundstückspreise in Kanada und Neuseeland gegoogelt, um einen sicheren Ort für meine Kinder zu finden, wo es auch in den kommenden Jahrzehnten ausreichend Frischwasser und Vegetation geben wird. Doch ich musste auch einsehen, dass wir mit dieser Herausforderung nicht als Einzelpersonen fertigwerden können. Wenn wir nämlich aus der größten Migration der Menschheitsgeschichte Stückwerk machen und nur diejenigen, die es sich leisten können, sich in den am wenigsten betroffenen Weltregionen Sicherheit erkaufen, dann riskieren wir eine Ungleichheit des Überlebens, die uns alle bedrohen wird. Wir müssten mit einem gewaltigen Verlust an Menschenleben, mit schrecklichen Kriegen und furchtbarem Elend rechnen, wenn die Reichen versuchten, sich durch Barrieren gegen die Ärmsten abzuschotten. Wir sind schon heute in einem vergleichsweise noch geringeren Ausmaß mit dieser verheerenden Situation konfrontiert, und wir dürfen uns ein derart mörderisches Chaos in der binnen weniger Jahrzehnte zu erwartenden Größenordnung nicht leisten. Ganz abgesehen von der moralischen Ungeheuerlichkeit würde es dann für keinen von uns Frieden geben. Wir müssen also als globale Gesellschaft zusammenfinden, um dieses menschengemachte Problem zu bewältigen. Wir sind eine auf dem ganzen Planeten lebende Gattung, die von einer einzigen gemeinsamen Biosphäre abhängig ist. Wir müssen unsere Welt neu betrachten und darüber nachdenken, wo sich die Menschen zukünftig am besten niederlassen und wie wir eine möglichst nachhaltige Zukunft gestalten können.

Um dies zu bewerkstelligen, müssen wir radikal umdenken. Die Frage, die sich der Menschheit jetzt stellt, lautet: Wie sieht ein nachhaltiges Gelobtes Land aus? Wenn es uns gelingt, ein Gemeinwesen der ganzen Menschheit zu schmieden, werden wir den Planeten auch weiterhin beherrschen, selbst wenn unsere Nahrungsmittelproduktion notwendigerweise auf eine vergleichsweise kleine Region beschränkt sein wird. Wir werden in der Ära des Anthropozäns ganz neue Methoden der Ernährung, der Treibstoffversorgung und der Aufrechterhaltung unserer Lebensweisen entwickeln und gleichzeitig das Kohlendioxid in der Atmosphäre reduzieren müssen. Wir werden bei größerer Wohndichte in weniger Städten leben und gleichzeitig die mit der hohen Bevölkerungsdichte verbundenen Risiken wie Stromausfälle, Abwasserprobleme, Überhitzung, Umweltverschmutzung und Infektionskrankheiten vermindern.

Eine mindestens ebenso große Herausforderung wird jedoch darin bestehen, unsere geopolitische Einstellung zu überwinden: die Vorstellung, dass wir zu einem bestimmten Land gehören und dass dieses Land uns gehört. Mit anderen Worten: Wir werden als Flüchtlinge aus bestimmten Ländern kollektiv dazu übergehen müssen, uns als Weltbürger zu fühlen. Wir werden ein Stück von unserer jeweiligen Stammesidentität aufgeben müssen, um eine die ganze Menschheit umfassende Identität anzunehmen. Wir werden uns an die unterschiedlichsten Gesellschaften anpassen müssen, wenn wir in den neuen Städten der Polarregion leben. Und wir werden bereit sein müssen, diese wieder zu verlassen, wenn die Umstände es erfordern.

Mit jedem Grad Klimaerwärmung werden etwa eine Milliarde Menschen aus einer Zone verdrängt, in der seit Jahrtausenden Menschen gelebt haben. Uns verrinnt die Zeit, die wir brauchen, um die kommende Umwälzung zu managen, bevor sie überwältigend und tödlich wird. Migration ist nicht das Problem, sie ist die Lösung.

 

Die Migration wird uns retten, weil sie uns zu dem gemacht hat, was wir sind.

Zunächst einmal will ich Ihnen die nomadische Seele zeigen, die in uns allen schlummert. Migration ist ein wertvoller und unverzichtbarer Wesenszug unserer Gattung. Vor Hunderttausenden von Jahren haben unsere Vorfahren die Anpassungsfähigkeit entwickelt, in nahezu allen Regionen der Welt leben zu können. Sie hat uns zum Primaten des Planeten gemacht.

Noch ungewöhnlicher ist, dass nicht nur wir Menschen migrieren, sondern dass wir auch die Dinge auf dem Planeten – andere Tiere, Pflanzen, Wasser und Materialien – migrieren lassen. Wir bilden Netzwerke und teilen unsere Gene, Ideen und Ressourcen miteinander, um zu gedeihen. Am Ende wurden diese Netzwerke so stark, dass wir uns selbst gar nicht mehr bewegen mussten, weil wir stattdessen die jeweils benötigten Elemente abrufen konnten: eine Form von virtueller Migration. Im Gegensatz zu allen anderen Tieren überleben wir nicht durch das, was sich an dem Ort befindet, wo wir uns physisch aufhalten, sondern durch die virtuelle Migration, die wir ständig unternehmen. Während ich diesen Abschnitt verfasse, nutze ich aus kongolesischem Felsgestein geschlagene Rohstoffe, trage in Vietnam hergestellte Kleidung und habe in Peru geerntete Kartoffeln zu Mittag gegessen. Die menschliche Ökologie ist planetar. Sie rekonfiguriert die Erde.

In den kommenden Jahrzehnten werden wir mit einer Vielfalt von Krisen konfrontiert werden: mit Hitzewellen und Bränden, Überschwemmungen und dem Anstieg des Meeresspiegels, mit Extremwetter und den demografischen Veränderungen einer wachsenden Erdbevölkerung. All diese Krisen gehen mit sozialer Ungleichheit und Armut einher, weshalb es sich um ausgewachsene humanitäre Krisen handelt. Der Klimawandel wird oft als ein Phänomen beschrieben, das Bedrohungen vervielfältigt: Am stärksten bedroht sind diejenigen, deren Leben und Lebensweise ohnehin schon gefährdet sind. Sie sind nicht mehr in der Lage, Geld oder Ressourcen zu sparen, verfügen nicht über eine bezahlbare Gesundheitsversorgung und eine angemessene Abwasser- und Abfallentsorgung; sie werden schlecht regiert und sind nicht in der Lage, ihre Lebensumstände aus eigener Kraft zu verändern. Die Erschütterungen und der Stress des Klimawandels treffen die Menschen mit der geringsten Widerstandskraft am härtesten, so hart, dass sie sie nicht mehr bewältigen können. Wir haben es mit einer Klima-Apartheid zu tun.

In den ersten Kapiteln dieses Buches geht es darum, was einige der kommenden Krisen für unsere Welt und die menschlichen Populationen bedeuten, und ich muss Sie warnen: Es ist nichts Gutes. Aber lassen wir uns nicht entmutigen, dann werden wir sehen, dass die Lösungen schon in Reichweite sind.

In diesem Buch wird untersucht, wo das Leben für wie viele Menschen sicher sein wird und was dafür notwendig ist. Ich werde darlegen, wo Nahrungsmittel, Strom, Wasser und andere Ressourcen produziert und beschafft werden können. Auch wenn Menschen nur Migranten aufnehmen und nicht selbst migrieren, werden sie eine Umwälzung erleben. Die Städte werden einen neuen Zweck bekommen, und sie werden den veränderten Umweltbedingungen und einer gewaltig gewachsenen Bevölkerung so stark angepasst werden müssen, dass sie nicht wiederzuerkennen sein werden, wobei diese Entwicklung Gelegenheiten für Verbesserungen bietet. Das Bild, das wir als Bürger, Händler und Mitglieder einer globalen Gesellschaft voneinander haben, wird durch die neue Welt ein anderes werden.

Wie wir diesen globalen Prozess bewältigen und wie human wir einander als Migranten behandeln, wird darüber entscheiden, ob dieses Jahrhundert der Umwälzung glatt verläuft oder von gewaltsamen Konflikten und unnötigen Menschenopfern geprägt sein wird. Gut bewältigt, könnte die Umwälzung zu einem neuen globalen Gemeinwesen der Menschheit führen.

Die Entwicklung des Menschen ist durch wachsende Kooperation und zunehmende Migration gekennzeichnet. Die Umwälzung, die uns erwartet, mag vielleicht beispiellos sein, doch sie entsteht durch eine lange Geschichte, die genau auf diesem adaptiven Verhalten gründet. Heute ist es Zeit für uns, diese angeborene Flexibilität in Bezug auf den Ort, an dem wir leben, wiederherzustellen.

Wir haben heute die Chance, zu erkennen, dass wir alle voneinander abhängig sind und dass unsere Gattung von der Natur abhängig ist, wenn wir ihre Gesundheit erhaltende Funktion zu unserem eigenen Schutz wiederherstellen. Der letzte Teil dieses Buches behandelt die Frage, wie wir die Bewohnbarkeit unseres Planeten so wiederherstellen können, dass auch in den Tropen wieder große menschliche Populationen leben können. Das bedeutet, dass wir die gefährliche globale Erwärmung, die dieses Jahrhundert kennzeichnen wird, wieder reduzieren müssen – ein Ziel, das wir erreichen können, indem wir Energiesysteme ohne Kohlenstoff entwickeln, Kohlenstoff aus der Atmosphäre entfernen und Sonnenwärme zurück in den Weltraum reflektieren. In diesem Zusammenhang werden wir uns in diesem Buch nicht nur die neuesten technologischen Errungenschaften, sondern auch die gewaltigen politischen, sozialen und diplomatischen Meinungsverschiedenheiten anschauen, die wir überwinden müssen, wenn wir für neun Milliarden Menschen eine gerechte Welt schaffen wollen. Ich bitte Sie, meine Leserinnen und Leser, sich den Ideen dieses Buches mit offenem Geist zuzuwenden, gleichgültig auf welcher Seite eines ideologischen Abgrunds sie sich niedergelassen haben: Sie sollten dem Impuls nicht nachgeben, radikale soziale Lösungen sofort als »nicht plausibel« oder »unmöglich« zu verwerfen und technische Lösungen als »unnatürlich« oder »gefährlich« abzulehnen. Wir sind soziale und technologische Lebewesen, und wir lösen unsere Probleme, indem wir in beiden Bereichen unsere außergewöhnlichen Fähigkeiten einsetzen, und für diese Krise – die größte, mit der die Menschheit je konfrontiert war – werden wir unseren ganzen Werkzeugkasten brauchen. Weder technische Veränderungen in großem Maßstab noch fundamentale soziale Veränderungen sind einfache oder bequeme Möglichkeiten, und beides ist mit erheblichen Herausforderungen verbunden, doch die Situation, in der wir uns befinden, lässt uns nur noch wenige Wahlmöglichkeiten. Dieses Buch ist meine Einschätzung, wie wir am besten vorwärtskommen.

 

Migrationsgeschichten haben meine Kindheit geprägt, und ich fühle mich seit jeher zu Menschen aus anderen Orten hingezogen. Als Tochter und Enkelin von Flüchtlingen habe ich auf drei Kontinenten gelebt und bin sehr weit gereist. Auf meiner längsten Reise, die zweieinhalb Jahre dauerte, recherchierte ich für mein erstes Buch. Ich sprach mit Prinzen, Präsidenten und Armen darüber, was es bedeutet, wenn man seine Heimat verliert – auch mit dem Präsidenten der Malediven und dem von Kiribati, die vor schweren Entscheidungen stehen, weil ihre Inseln durch den Klimawandel vom Untergang bedroht sind. Ich besuchte in Indien und Bangladesch die staatenlosen Char People, die auf vergänglichen angeschwemmten Inseln im Ganges leben. Und ich habe in Afrika und Mittelamerika mit Jägern und Sammlern gelebt, deren Heimat nie eine feste Adresse hat. Im vergangenen Jahrzehnt habe ich die wissenschaftlichen Grundlagen der zunehmenden Umweltveränderungen erforscht, von der fortschreitenden Erwärmung der Atmosphäre bis zum Verlust der Artenvielfalt und der Zunahme landwirtschaftlich genutzter Flächen, durch die wir in das Anthropozän eintreten – eine Welt, wie es sie in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat. Ich habe über die Gefahren und Bedrohungen der Tiere und des Menschen geschrieben und Radio- und Fernsehsendungen darüber produziert, wie wir uns an die neue Welt anpassen können. Doch die wichtigste und zunehmend einzige Anpassung für viele Millionen Menschen wird kaum je erwähnt und nur selten befürwortet: die Migration.

Dank meiner naturwissenschaftlichen Ausbildung weiß ich, dass viele der Klimaveränderungen, mit denen wir konfrontiert sind, Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte Bestand haben werden. Die Temperatur des Planeten steigt schon heute, und dennoch blasen wir weiterhin Kohlendioxid in die Atmosphäre. Das Fenster, in dem wir noch handeln können, ist im Begriff, sich zu schließen.

Die Welt: 4 °C heißer[1]

In einem breiten tropischen Gürtel sind weite Regionen aufgrund der klimatischen Bedingungen unbewohnbar, und durch den steigenden Meeresspiegel gehen viele Inseln und Küstensiedlungen unter. Die Produktion erneuerbarer Energien ist jedoch weiterhin auf dem ganzen Planeten möglich, und es kann genügend Nahrung produziert werden, um zehn Milliarden Menschen zu versorgen.

 

Bewohnbare Breiten in einer um 4 °C heißeren Welt

 

[1]als die vorindustriellen Durchschnittstemperaturen

1 Die Katastrophe

Die Vorhersagen sind entsetzlich. Wir stehen vor einer ökologischen, sozialen und demografischen Katastrophe: versunkene Städte; tote Meere; ein Zusammenbruch der Artenvielfalt; unerträgliche Hitzewellen; ganze Länder, die unbewohnbar werden; weitverbreiteter Hunger; eine Weltbevölkerung von etwa zehn Milliarden Menschen. Eine um 3 bis 4 °C heißere Welt ist ein Albtraum, und dennoch könnten wir uns in wenigen Jahrzehnten genau in dieser Situation befinden.

Unsere Probleme sind systemisch, und sie verstärken einander gegenseitig, sodass sie wie eine Lawine auf die Menschheit zurollen. Umfragen zeigen, dass die meisten Menschen auf der ganzen Welt heute überzeugt davon sind, dass wir vor einer »Klimakatastrophe« stehen.[3] Doch selbst dieser alarmierende Begriff reicht nicht aus, um das schiere Ausmaß des Desasters auszudrücken, das vermutlich auf einen globalen gesellschaftlichen Zusammenbruch hinausläuft.

Der Anteil des Kohlendioxids in der Atmosphäre war schon im Jahr 2022 mit 420 ppm (Parts per million) höher als in den vergangenen drei Millionen Jahren.[4] Dadurch erwärmt sich die Erde stärker, als wir es in der gesamten Entwicklungsgeschichte der Menschheit je erlebt haben – und zwar schnell. Soviel wir wissen, verursachte nur der Meteoriteneinschlag am Ende der Kreidezeit vor 66 Millionen Jahren einen schnelleren Klimawandel als die heutige menschengemachte Erderwärmung. Durch den Meteoriteneinschlag, der bekanntlich das Aussterben der Dinosaurier verursachte, wurden zwischen 600 und 1000 Gigatonnen Kohlendioxid (zusammen mit riesigen Mengen anderer klimaverändernder Gase) freigesetzt.[5] Heute sind wir der Asteroid, weil wir in nur 20 Jahren 600 Gigatonnen Kohlendioxid freigesetzt haben.

Wir haben uns selbst in eine ähnlich gefährliche planetare Lage gebracht, wie es damals durch den Asteroideneinschlag geschah, und wir sind kaum besser als die Dinosaurier darauf vorbereitet, die drohende Katastrophe zu bewältigen. Bis jetzt ist es der Welt nicht gelungen, auf die dreifache Krise von Armut, Klimawandel und Zusammenbruch des Ökosystems in dem Ausmaß und mit der Geschwindigkeit zu reagieren, wie dies für die am ehesten bedrohten Teile der Menschheit unbedingt notwendig wäre.

Nehmen wir zum Beispiel den Klimawandel: Wir wissen, dass die Temperatur der Atmosphäre und der Ozeane durch unsere Kohlendioxidemissionen steigt und dies auf der ganzen Welt zu extremen Wetterereignissen, einem Anstieg des Meeresspiegels und einer Veränderung der Niederschlagsmuster führt. Wir wissen, dass das gefährlich ist und dass wir viel schneller die schädlichen Emissionen beenden müssten. Inzwischen müssten wir nicht mehr nur einen Ausstoß erreichen, bei dem das freigesetzte Kohlendioxid in der Atmosphäre wieder abgebaut wird, sondern diesen auch noch unterschreiten. Mit anderen Worten: Wir müssten weniger als Netto-Null-Emissionen produzieren und zugleich die bereits in der Atmosphäre vorhandene Kohlendioxidmenge auf ein sicheres Niveau reduzieren. All das wissen wir, doch das riesige, komplexe wirtschaftliche, kulturelle und technische System der Menschheit – dem wir alle angehören – ändert sich nur sehr langsam. Deshalb sind wir weiterhin im Begriff, uns auf einen Temperaturanstieg von 4 °C noch in diesem Jahrhundert zuzubewegen.[6]

Die fortschreitende Erhitzung des Planeten ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der globale Energieverbrauch wächst (und noch viele Jahrzehnte weiterwachsen wird) und dass der größte Teil dieser Energie dadurch erzeugt wird, dass wir Kohlendioxid in die Atmosphäre freisetzen, weil wir die Energie aus fossilen Brennstoffen gewinnen. Die offensichtlichen, durch die Physik der Erderwärmung vorgegebenen Abhilfemöglichkeiten sind deshalb: viel weniger Energie produzieren, das dadurch entstehende Kohlendioxid abfangen, bevor es in die Atmosphäre gelangt, oder Energie ohne Verbrennung von Kohlenstoffen produzieren. Diese physikalischen Erfordernisse in die realen menschlichen, sozioökonomischen und politischen Systeme zu integrieren ist jedoch kompliziert. Jeder, der behauptet, die Dekarbonisierung der Welt und der Stopp der globalen Erwärmung seien ein Leichtes, ist entweder ein Narr oder ein Scharlatan, denn es handelt sich um das komplizierteste Problem, das die Menschheit je zu bewältigen hatte. Es ist also objektiv schwierig. Aber wir haben es noch viel schwieriger gemacht. Ich will damit sagen, dass es durch die Interessen der Reichen sehr viel schwieriger geworden ist, als es vermutlich für den Rest der Welt gewesen wäre. Das gilt insbesondere für die Länder im globalen Süden, die zugleich die ärmsten und durch die Erderwärmung am ehesten gefährdet sind. Wir haben das Problem geschaffen, weil wir Menschen sind, mit all den Fähigkeiten, Mängeln und wunderbaren Eigenschaften, die zum Menschsein gehören. Und wir werden es nur als Menschen lösen können.

Es gibt heute schon viele ermutigende Anzeichen, dass die Menschheit zu handeln beginnt. Zunächst einmal besteht inzwischen eine fast universelle Einigkeit darüber, dass es eine menschengemachte Erderwärmungskrise gibt. Im Jahr 2015, dem Jahr, als die globale Erwärmung die vorindustriellen Temperaturen um 1 °C überschritt, versprachen die Regierungen auf der Klimakonferenz in Paris, den Temperaturanstieg beträchtlich unter 2 °C zu halten und »Anstrengungen zu unternehmen«, ihn bis 2100 auf 1,5 °C zu begrenzen. Auf der Glasgower Klimakonferenz im Jahr 2021 sagten einige Länder eine weitere Reduktion ihrer Emissionen zu, und es wurden einige weitere wichtige Schritte zur Erfüllung des Übereinkommens von Paris gemacht – am eindrucksvollsten durch den phänomenalen Zuwachs bei der Produktion erneuerbarer Energien. Es ist heute billiger, eine brandneue Solar- oder Windkraftanlage zu installieren, als mit einem schon bestehenden Kohlekraftwerk weiter Strom zu produzieren. In Großbritannien überschreitet die Produktion erneuerbarer Energien heute schon die Energiegewinnung mit fossilen Brennstoffen. Der Preisverfall bei den Erneuerbaren geht mit einer beschleunigten Verbesserung ihrer Leistung einher. Wir haben heute bessere und effizientere Solarzellen, Windturbinen, Batterien und Elektrofahrzeuge und sind viel erfolgreicher bei der Integration dieser Elektrizität in unsere Netze. All das wird sich weiter verbessern.

Doch so aufregend dieser Fortschritt auch ist, er ist nur ein Bruchteil dessen, was nötig wäre, um die Emissionen auch nur zu stabilisieren. Um unter einer Erderwärmung von 1,5 °C zu bleiben, müssten wir die globalen Emissionen an Treibhausgas bis 2025 halbieren und bis 2050 Netto-Null erreichen. Stattdessen nehmen sie immer noch zu (trotz der massiven Einbrüche der Industrieproduktion während der Covid-Pandemie). Die Temperaturen steigen, die Eisschmelze beschleunigt sich, und der Klimawandel wird, wie es die Wissenschaft vorausgesagt hat, schlimmer. Der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre ist heute mehr als 50 Prozent höher als durchschnittlich im vorindustriellen Zeitalter.

Viele Wissenschaftler halten es für höchst unwahrscheinlich, dass wir unter einer Erderwärmung von 2 °C bleiben können, von dem »sicheren« Ziel von 1,5 °C ganz zu schweigen. Die meisten Länder machen nicht einmal annähernd genug Fortschritte, um die von ihnen zugesagte Emissionsreduktion zu erreichen, und selbst wenn sie ihre Zusagen auf den Buchstaben genau erfüllten, wären diese so ungenügend, dass auch das niemals ausreichen würde, um die Erderwärmung unter 2 °C zu halten. Die Berichte vieler Länder hinsichtlich ihrer Treibhausgasemissionen sind derart geschönt, dass ihre Zusagen ohnehin auf fehlerhaften Daten beruhen. China und Indien zum Beispiel, der größte und der viertgrößte Emittent der Welt, werden 2030 höhere Emissionen haben als 2020. Im Jahr 2021 bewarb sich die innerhalb des Polarkreises liegende finnische Stadt Salla als Gastgeberin der Sommerolympiade des Jahres 2032. Der erste eisfreie Sommer des Arktischen Ozeans wird für das Jahr 2035 erwartet.

Klimamodelle sagen für das Jahr 2100 eine Erwärmung von 3 bis 4 °C voraus, und dabei ist zu beachten, dass es sich um globale Durchschnittstemperaturen handelt. Wenn man die Meere bei diesen Berechnungen nicht berücksichtigt, kommt man zu dem Ergebnis, dass der Temperaturanstieg an den Polen und über dem Land, wo der Mensch lebt, durchaus doppelt so hoch sein könnte, dass die Menschheit also bis 2100 einen Anstieg von bis zu 10 °C erleben könnte. Falls Ihnen das Ende des Jahrhunderts noch weit entfernt erscheint, überlegen Sie, wie viele Menschen Sie kennen, die dann noch leben werden. Meine Kinder zum Beispiel werden in den Achtzigern sein und vielleicht selbst Kinder mittleren Alters und Enkelkinder haben. Wir gestalten ihre Welt. Und sie wird ganz anders sein als unsere.

Die Generation der globalen Erwärmung: Wie heiß wird es zu ihren Lebzeiten werden?

 

 

Gehen wir einmal von einer absolut möglichen Erderwärmung von 4 °C bis zum Ende des Jahrhunderts aus. Sie ist wahrscheinlicher, als den meisten Menschen klar ist; haben Sie also bitte Geduld mit mir, wenn ich erkläre, warum. Klimamodelle sagen auf der Grundlage verschiedener künftiger Emissionsszenarien unterschiedliche Temperaturanstiege voraus. Der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) hat vier verschiedene wirtschaftliche Pfade (der englische Originalbegriff lautet Representative Concentration Pathway, RCP; die deutsche Entsprechung: repräsentativer Konzentrationspfad) kartiert, die wir im Lauf des Jahrhunderts einschlagen könnten: RCP 8.5 ist der Pfad, bei dem wir weitermachen wie bisher und fast nichts unternehmen, um den Kohlendioxidausstoß unserer Volkswirtschaften zu reduzieren; RCP 6.0 ist der gemäßigte Pfad, bei dem die Emissionen 2060 ihren Höhepunkt erreichen und dann schnell wieder abnehmen; RCP 4.5 verlangt eine ehrgeizige Reduktion und Emissionen, die schon 2040 ihren Höhepunkt erreichen; und der sehr strenge Pfad RCP 2.6. Mit den Maßnahmen, die 2021 auf der Klimakonferenz COP26 ergriffen wurden, befinden wir uns auf einem Weg, der zwischen RCP 4.5 und RCP 6.0 liegt, wobei Ersterer aus heutiger Sicht wahrscheinlicher ist. Gemäß den Projektionen rangiert eine Erwärmung von 4 °C bis 2100 irgendwo zwischen absolut möglich und halbwegs wahrscheinlich.[7] Tatsächlich könnten wir eine Erderwärmung von 4 °C, selbst wenn wir uns an den gemäßigten Pfad halten, auch nicht erst 2100, sondern etwa schon 2075 erreichen.

Wie heiß könnte es werden?

 

Ich verwende die Projektionen, die der britische Wetterdienst Met Office in Bezug auf die Veränderung der globalen mittleren jährlichen Oberflächentemperatur (im Vergleich zu den Temperaturen im vorindustriellen Zeitalter) für die verschiedenen Emissionsszenarien entwickelt hat, weil sie die Systeme der realen Welt berücksichtigen, wo die Lage unübersichtlicher wird. Wenn sich etwa der Boden erwärmt, verrottet Biomasse schneller und setzt entsprechend schneller Kohlendioxid frei. Die Fahnen auf den Schaubildern stehen für die bestmögliche Schätzung angesichts der kombinierten Unsicherheitsfaktoren in dem Modellierungssystem – unter Berücksichtigung von Phänomenen wie Rückkopplungen mit Wolken oder mit Wasserdampf, die in den wichtigsten Projektionen des Klimarats nicht enthalten sind. Die Fahnen könnten schmaler werden, wenn die Modelle besser verstanden würden. Doch es gibt auch Phänomene, wie etwa die Auswirkungen von Bränden und das Schmelzen des Permafrostbodens, die noch nicht im Einzelnen berücksichtigt sind.

Projizierte Erderwärmung in Bezug auf das vorindustrielle Niveau, wenn mit einem mittleren Emissionsszenario (RCP 6.0) gerechnet wird und die Systeme der »realen Welt« mit einbezogen werden. (UK Met Office)

 

Wenn die globale Temperatur jedes Jahrzehnt ein paar Grad ansteigt, werden das viele Menschen kaum bemerken; das eigentliche Problem sind die extremen Ereignisse, die durch die zusätzliche Hitze verursacht werden: Hitzewellen, Sturzfluten, zerstörerische Hurrikane und verheerende Brände. Sie sind es, die das Leben von Menschen zerstören.

Leider gibt es Anzeichen dafür, dass wir einem höheren Pfad als dem gemäßigten folgen. Forschungsergebnisse aus dem Jahr 2021 belegen, dass sich die Eisschmelze auf dem ganzen Planeten im Rekordtempo beschleunigt; die Verlustrate entspricht inzwischen den Worst-Case-Szenarien des Weltklimarats.[8] Etwa die Hälfte des Eises ging auf dem Land verloren und trägt damit zum globalen Anstieg des Meeresspiegels bei. Dabei beschleunigt sich die Schmelze des grönländischen und des antarktischen Eisschilds am schnellsten, was bis zum Ende des Jahrhunderts vermutlich einen Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter verursachen wird. Ende 2021 berichteten Forscher über riesige Risse im Thwaites-Gletscher, einer Eismasse von der Größe Großbritanniens oder Floridas, die sich in Westantarktika erstreckt.[9] Das schwimmende Schelf des Gletschers könnte schon in dem extrem kurzen Zeitraum von fünf Jahren abbrechen, was eine Kettenreaktion des Zusammenbruchs auslösen könnte. Durch einen vollständigen Verlust des Thwaites-Gletschers könnte der Meeresspiegel entweder um weitere 65 Zentimeter steigen oder auch um mehrere Meter, wenn durch den Kollaps des Gletschers der Zusammenbruch weiterer Gletscher ausgelöst wird. In den letzten 25 Jahren sind mindestens 28 Billionen Tonnen Eis verloren gegangen – genug, um Großbritannien und Nordirland mit einem Eisschild von 100 Metern Dicke zu bedecken, wie Forscher ausgerechnet haben. Außerdem wird durch den Verlust von hellem Eis oft dunkleres Gestein oder die dunklere Meeresoberfläche exponiert, wodurch die Erderwärmung zusätzlich beschleunigt wird, da eine dunkle Fläche das Sonnenlicht eher absorbiert als reflektiert. Im Jahr 2021 kam ein Forschungsbericht über die Arktis zu dem Ergebnis, dass ein erheblicher Teil des grönländischen Eisschilds ebenfalls kurz vor einem Kipppunkt steht, in der Folge wäre eine beschleunigte Schmelze selbst dann unvermeidlich, wenn die Erderwärmung gestoppt würde.[10] Bei Berücksichtigung aller verfügbaren Daten ist ein globaler Temperaturanstieg von 4 °C bis 2100 also durchaus wahrscheinlich, insofern sollten wir für dieses Szenario Pläne entwickeln.

 

Eine durchschnittliche Erwärmung des gesamten Planeten um 4 °C würde diesen derart verändern, wie es die Menschheit noch nie erlebt hat.

Vor etwa 15 Millionen Jahren, also lange bevor der Mensch auf der Bildfläche erschien, gab es im Miozän schon einmal eine Erderwärmung von 4 °C, als durch intensive Vulkanausbrüche im Westen des nordamerikanischen Kontinents riesige Mengen Kohlendioxid freigesetzt wurden. Der Meeresspiegel stieg um etwa 40 Meter über das heutige Niveau. Der Amazonas floss rückwärts, das Central Valley in Kalifornien war offenes Meer, von Westeuropa bis Kasachstan erstreckte sich ein Seeweg, der in den Indischen Ozean mündete, und sowohl in der Arktis als auch in der Antarktis wuchsen üppige Wälder. Der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre stieg damals auf 500 ppm – ein Niveau, das heute dem ehrgeizigsten und optimistischsten Szenario zur Begrenzung unserer künftigen Kohlenstoffemissionen entspricht. Damals jedoch fand die Erderwärmung in einem Zeitraum von mehreren Tausend Jahren statt. Tiere und Pflanzen hatten genug Zeit, sich an die neuen Bedingungen anzupassen, und, wichtiger noch, die Ökosysteme des Planeten waren noch nicht durch den Eingriff des Menschen beschädigt.

Es sieht finster aus, was unsere Welt im Jahr 2100 betrifft. Viele Arten sterben aus, weil sie sich den Veränderungen nicht schnell genug anpassen oder durch Migration entziehen können. In den Meeren entstehen riesige tote Zonen, weil durch die Kombination von Verschmutzung und Erwärmung massenhaft Algen entstehen, die dem Leben unter Wasser den Sauerstoff entziehen. Außerdem löst die Versauerung durch im Wasser gelöstes Kohlendioxid bei Schalentieren, Plankton und Korallen ein Massensterben aus – schon lange vor 2100. Irgendwann bei einer Temperaturerwärmung zwischen 2 und 4 °C werden die Korallenriffe absterben, die den Fischen als Kinderstube dienen. Und ohne die Riffe werden Fischpopulationen weltweit einen massiven Niedergang erleben.

Der Meeresspiegel wird im Jahr 2100 vielleicht zwei Meter höher sein als heute. Wir sind dann auf dem besten Weg in eine eisfreie Welt, weil die Kipppunkte für den grönländischen und den antarktischen Eisschild überschritten wurden.[11] Dies wird in den folgenden Jahrhunderten eine Erhöhung des Meeresspiegels um mindestens zehn Meter zur Folge haben. Bis 2100 werden auch die meisten Gletscher abgeschmolzen sein, auch diejenigen, die viele wichtige asiatische Flüsse speisen.

In einem breiten Äquatorialgürtel mit hoher Feuchtigkeit werden in fast den gesamten Tropen Asiens, Afrikas, Australiens und Amerikas riesige Gebiete wegen der Hitzebelastung die meiste Zeit des Jahres unbewohnbar sein. Tropische Wälder mit hitzebeständigen Arten dürften in dieser feuchten Zone mit hoher CO2-Konzentration vermutlich gedeihen, insbesondere wenn die menschliche Infrastruktur und Landwirtschaft verschwunden sein werden. Freilich dürften unter solchen Bedingungen rebenartige Lianen besser gedeihen als langsamer wachsende Bäume.[12] Im Süden und Norden dieser feuchten Zone werden immer breiter werdende Wüstengürtel entstehen, die ebenfalls Landwirtschaft und menschliche Besiedlung ausschließen. Einigen Modellen zufolge wird von der Sahara bis hinauf nach Süd- und Mitteleuropa Wüstenklima herrschen, Flüsse wie die Donau und der Rhein werden austrocknen.

Für Südamerika sagen die Modelle eine Abschwächung der östlichen Passatwinde über dem Atlantik voraus. Dadurch wird das Amazonasgebiet trockener, es entstehen immer mehr Waldbrände, und der Regenwald verwandelt sich in Grasland. Der Kipppunkt für das Amazonasbecken könnte leicht durch Entwaldung ausgelöst werden, denn der intakte Wald kann mit einer gewissen Trockenheit fertigwerden, da er sein eigenes feuchtes Ökosystem generiert und aufrechterhält. Degradierter Regenwald verliert jedoch Feuchtigkeit und verwandelt sich in eine Savanne. Bis 2050 werden die tropischen Regenwälder einschließlich des Amazonas womöglich mehr Kohlendioxid abgeben als absorbieren.

Die so entstandene neue Welt wird zweifellos gefährlicher und lebensfeindlicher sein als die alte. Durch die Hitze werden weite Gebiete des Planeten unbewohnbar, und es wird schwierig sein, die ganze Menschheit mit Nahrung zu versorgen. Viele Regionen, wo Menschen Nahrung anbauen, werden wegen Hitze oder Trockenheit dafür nicht mehr geeignet sein; trotz stärkerer Niederschläge wird das Wasser auf den heißen Böden schneller verdunsten, und die meisten Bevölkerungsgruppen werden Probleme mit der Frischwasserversorgung haben. Die globalen Lebensmittelpreise werden explodieren und Zigmillionen hungriger Menschen auf die Straßen, in die Städte und über die bestehenden Landesgrenzen treiben. Durch den höheren Meeresspiegel werden die Inseln, die heute schon nur noch dicht über dem Meeresspiegel liegen, und viele Küstenregionen, in denen beinahe die Hälfte der Weltbevölkerung lebt, unbewohnbar werden. Deshalb wird es einigen Schätzungen zufolge bis 2100 etwa zwei Milliarden Flüchtlinge geben.[13]

Eine um 4 °C erwärmte Welt ist eine schreckliche Aussicht, denn sie wird für Milliarden Menschen unbewohnbar sein. Ich hoffe sehr, dass wir nie so weit kommen werden, denn der heutige Zustand mit nur 1,2 °C über dem vorindustriellen Niveau ist schon schlimm genug. Weltweit ist es heute bereits heißer, als es in den letzten 100000 Jahren war.[14] Der einzige Grund, warum wir nicht heute schon in einer völlig anderen Welt leben, wo Wälder in der Antarktis gedeihen, besteht darin, dass solche Veränderungen Zeit erfordern. Die Systeme der Welt reagieren, aber sie haben sich noch nicht an die sehr neuen Veränderungen der Atmosphäre angepasst – das wird Jahrhunderte dauern.

Wir sind im Begriff, den geschützten Raum einer klimatisch ungewöhnlich stabilen Ära der Erdgeschichte zu verlassen, einer Ära, in der Nutzpflanzen angebaut werden und menschliche Kulturen blühen konnten.[15] Wir erleben jetzt schon die Anfänge, wenn wir von einer Extremwetterkatastrophe in die andere taumeln. Es ist alarmierend, dass sich der Wasserkreislauf, das System, wie das Wasser auf der ganzen Welt verdunstet und wieder abregnet, jetzt schon doppelt so stark beschleunigt hat, wie von den Klimamodellen vorhergesagt, und er wird sich bis zum Ende des Jahrhunderts vermutlich um weitere 24 Prozent intensivieren.[16] Dies würde extremere und häufigere Hurrikane mit erheblich größeren Niederschlagsmengen auslösen. Und es könnte leicht zu einer Verschiebung der wichtigsten Wettersysteme führen, etwa der innertropischen Konvergenzzone (ITCZ), einem Band starker Niederschläge in Äquatornähe, wo die nördlichen und die südlichen Passatwinde in den Tropen ankommen. Die innertropische Konvergenzzone speist die Monsunwinde, und ihre Lage auf dem Planeten hat während der ganzen Menschheitsgeschichte Leben gebracht, oder im Fall der Kultur der Maya vielleicht auch den Tod. In den Klimamodellen reagiert die ITCZ unterschiedlich auf die Erderwärmung, aber dennoch lässt sich sagen, dass wir auf eine Welt zusteuern, die von häufigen und intensiven Dürren und ihrem Gegenteil, tödlichen Unwettern und Überschwemmungen, geprägt sein wird.

Schon bei einer Erwärmung von nur 1,5 °C, wie sie zu Beginn der 2030er-Jahre erwartet wird, ist mit sehr negativen Auswirkungen zu rechnen. Bei diesem Temperaturanstieg wären etwa 15 Prozent der Erdbevölkerung (also 1,5 Milliarden Menschen) mindestens alle fünf Jahre tödlichen Hitzewellen ausgesetzt, eine Zahl, die bei 2 °C auf 3,3 Milliarden steigen wird. Missernten wären bei 2 °C doppelt so häufig wie heute, und der Fischfang würde sich im Vergleich halbieren. Der Meeresspiegel steigt heute schon schneller als in den pessimistischsten Prognosen.[17]

In der künftigen Welt wird die biologische Vielfalt, auf die wir angewiesen sind, erschöpft sein, und wir werden ständig mit einem Cocktail negativer Ereignisse, vom Brand bis zur Dürre, konfrontiert sein. Schon in ein paar Jahrzehnten werden wir vermutlich in einer von Konflikten zerrissenen Welt mit großen Verlusten an Menschenleben und vielleicht dem Ende unserer Kulturen leben.

2 Die apokalyptischen Reiter des Anthropozäns

Der Klimawandel ist ein Bedrohungsmultiplikator. Er verschärft die anderen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Probleme, mit denen Bevölkerungsgruppen konfrontiert sind. Brände, Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen werden in diesem Jahrhundert unsere Welt verändern. Diese vier apokalyptischen Reiter des Anthropozäns werden einen Großteil unserer Welt für Menschen unbewohnbar machen.

Brände

Bei meiner Tante Helen, die an der Südküste von New South Wales in Australien lebt, blieb die erste Morgendämmerung des Jahres 2020 aus. Am Neujahrstag ballten sich dichte schwarze Rauch- und Aschewolken, Tag und Nacht war der Himmel vom gleichen unheimlichen orangeroten Glühen überzogen. Helen verbrachte den Tag in drangvoller Enge auf einem Strand mit Hunderten anderer evakuierter Hausbesitzer sowie Hunden, Katzen, Pferden und Hühnern, eingeschlossen von einer Feuerwand. Die Straßen waren unpassierbar geworden, und als das Donnern der Flammen aus allen Richtungen näher kam, hatte die Gemeinde am Wasser Schutz gesucht. Doch das Feuer rückte immer weiter vor, bis die Menschen schließlich mit Booten gerettet wurden.

Ein paar Tage später wurden an denselben Stränden Tausende von toten Vögeln angespült: Pennantsittiche, Honigfresser, Regenbogenloris, Schnäpper, Königssittiche, Australflöter und Gelbohr-Rabenkakadus. Auch sie hatten am Meer Zuflucht gesucht, waren aber einer Rauchvergiftung erlegen oder vor Erschöpfung ins Meer gestürzt.

Tante Helen hatte innerhalb weniger Wochen zweimal ihr Haus verlassen müssen. Ihre ältere Schwester Margi, die im Norden des Staates auf dem Land lebte, war hingegen nur einmal evakuiert worden, und das mit genügend Vorwarnzeit, um kostbare Habseligkeiten, Fotos und Dokumente mitzunehmen. Sobald der Brand vorbeigezogen war, schloss sich Tante Margi der Feuerbekämpfung in der Gegend an. Sie trug Schutzkleidung und schleppte mit ihren 75 Jahren Wasserbehälter steile Waldwege hinauf und hinunter, um unter den geschwärzten Bäumen schwelende Erde zu löschen.

Diese Karte zeigt Regionen, in denen bei einer globalen Erwärmung von 4 °C über dem vorindustriellen Niveau nahezu gleichzeitig verschiedene schwerwiegende Auswirkungen auftreten können: extreme Hitzebelastung, Flussüberschwemmungen, Dürren und Waldbrände. Außerdem ist ein Indikator für die derzeitige Ernährungsunsicherheit eingezeichnet.

 

»Es war richtig harte Arbeit, und es war furchterregend«, sagt sie. Aber ihr ist klar, dass es sich um die neue Normalität handelt. So ist es, mit dem Feuer zu leben: die Unsicherheit, der ständig nagende Stress, die gepackten Koffer, die Abhängigkeit von der Gemeinschaft, das Inkaufnehmen von Tagen mit schlechter Luft, der sinkende Wert des eigenen Anwesens und der massive Anstieg der Versicherungskosten, wenn eine Versicherung überhaupt noch möglich ist. Nach jedem neuen Brand bröckelt die Gemeinschaft. Einige Orte sind schlichtweg nicht mehr bewohnbar: Das Brandrisiko ist zu hoch. Kleine Gemeinden verschwinden von der Landkarte, Expansionspläne werden nicht mehr genehmigt. Es gibt immer weniger Orte in Australien, an denen Menschen sicher leben können.

Ohne die globale Covid-19-Pandemie wäre 2020 das Jahr gewesen, in dem wir entsetzt festgestellt hätten, dass wir im Pyrozän angelangt sind, einem planetaren Zeitalter des Feuers.[18] Millionen Australier verbrachten den Beginn des Jahres unter einer schmutzigen Rauchwolke oder bekämpften Buschfeuer von einer Wildheit und einem Ausmaß, wie man es sich zuvor nicht hatte vorstellen können. Angesichts Tausender von Feuerfronten und einer nie da gewesenen Hitze wurden in der größten Evakuierungsaktion der australischen Geschichte mehr als 100000 Menschen aufgefordert, die Hochrisikozonen zu verlassen.

Der Black Summer, wie diese schlimmste Buschfeuersaison in Australien inzwischen genannt wird, war eine direkte Folge des Klimawandels – 2019 war sowohl das heißeste als auch das trockenste Jahr der australischen Geschichte –, und die Auswirkungen werden noch Jahrzehnte spürbar sein, selbst wenn solche Ereignisse »normal« werden sollten. Menschen, die weit entfernt von den Wäldern in Städten lebten, wurden von dem Rauch erreicht und litten monatelang unter gefährlicher Luftverschmutzung. Mehr als 80 Prozent der australischen Bevölkerung waren betroffen, 34 Menschen verloren ihr Leben, und 6000 Gebäude wurden zerstört. Der wahre Schaden dürfte viel größer sein: Schätzungen zufolge verursachte die Luftverschmutzung 400 verfrühte Todesfälle und hatte vermutlich auch Auswirkungen auf noch ungeborene Kinder und neugeborene Säuglinge. Durch den Rauch starben zehnmal mehr Menschen als durch die Flammen. Australien ist ein Einwanderungsland mit einer wachsenden Bevölkerung. Aber werden weiterhin Menschen in einem Land leben wollen, das ein Viertel- oder gar ein halbes Jahr mit unerträglicher Hitze und Rauch zu kämpfen hat?

Die Auswirkungen der Brände auf die Tierwelt waren verheerend. Herzzerreißende Bilder von Kängurus und Vögeln die den Flammen zu entrinnen versuchten, während die an ihre Bäume gebundenen Koalas kreischend in die Flammen stürzten, dokumentierten weltweit das Inferno. Fast drei Milliarden Wildtiere wurden ausgelöscht, was den Brand zu einer der schlimmsten ökologischen Katastrophen der modernen Geschichte machte. Das Ausmaß der Verwüstung ist so groß, dass australische Wissenschaftler es als Omnizid, die Tötung von allem, bezeichnen. Selbst Wälder mit Bäumen, die eigentlich durch Zyklen von Brand und Erholung gedeihen, verlieren angesichts der zunehmenden Häufigkeit, Ausbreitung und Intensität der Buschbrände an Widerstandskraft.

Die extremen Brände des Schwarzen Sommers in Australien entsprechen einem globalen Trend in allen Wäldern, von Kalifornien bis British Columbia, in Europa und Asien, im Amazonasbecken und in Indonesien. Wälder sind von Natur aus feucht, doch der Klimawandel bringt Hitze und Trockenheit. Er bringt mehr Feuer auslösende Blitzschläge und weniger Schnee und Regen im Winter, und er begünstigt Schädlinge, die kräftige, gesunde Bäume in Zunder verwandeln können. Kalifornien wurde 2020 von den schlimmsten Waldbränden in seiner Geschichte heimgesucht: 1,5 Millionen Hektar brannten, 100000 Menschen wurden evakuiert, und etwa 30 starben.[19] In Gebieten mit starkem Wind stellten Elektrizitätswerke den Strom ab, damit abgerissene oder beschädigte Leitungen keine Funken versprühten. In der Folge hatten Familien im Dunkeln mit den grauenvollen Ereignissen zu kämpfen. Schätzungsweise ein Zehntel der weltweit existierenden Mammutbäume wurde 2020 durch Feuer zerstört. Die Tage mit Feuerwetter, das sich durch hohe Temperaturen, geringe Feuchtigkeit und hohe Windgeschwindigkeiten auszeichnet, werden Prognosen zufolge in Teilen des US-Westküstenstaates bis 2065 um 40 Prozent zunehmen und sich bis 2100 verdoppeln.

Im Jahr 2019 entstand durch die Brände in dem mit Trockenheit geschlagenen Amazonasgebiet so viel Rauch, dass sich noch über der Tausende Kilometer entfernt an der Küste gelegenen Stadt São Paulo der Himmel verfinsterte. In Europa mussten in mehreren Ländern wegen Waldbränden Menschen evakuiert werden, in Griechenland und Portugal kam es zu Rekordbränden. Kein Ort ist vor Bränden sicher – selbst Feuchtgebiete haben schon gebrannt. Auch die kältesten Regionen der Welt bleiben nicht verschont. Auch in der Arktis brennen die Wälder, riesige Brände verschlingen in Sibirien, Grönland und Alaska ganze Wälder. Selbst im Januar, bei Temperaturen von –50 °C, brannten in der sibirischen Kryosphäre noch Torffeuer. Diese sogenannten Zombie-Feuer schwelen in den Polarregionen das ganze Jahr im Torf unter der Oberfläche, irgendwann jedoch explodieren sie in riesigen Bränden, die sich durch die borealen Wälder in Sibirien, Grönland, Alaska und Kanada fressen. Im Jahr 2019 wurden in der sibirischen Taiga mehr als vier Millionen Hektar Wald durch kolossale Feuer zerstört. Sie brannten mehr als drei Monate lang und produzierten so viel Ruß und Asche wie alle Mitgliedsländer der Europäischen Union zusammen. Modellen zufolge werden sich die Brände in den borealen Wäldern und der arktischen Tundra bis 2100 vervierfachen.[20]

In den kommenden Jahrzehnten werden in den USA ganze Nationalparks brennen. Das Brandrisiko an der amerikanischen Westküste wird weiter zunehmen, in Feuchtgebieten wie denen der Großen Seen und der Everglades wird eine Risikosteigerung von bis zu 500 Prozent prognostiziert. Weltweit zeigen die Modelle für Waldbrände »starke Zunahmen in der europäischen Mittelmeerregion und in der Levante, auf der subtropischen Südhalbkugel (brasilianische Atlantikküste, Südafrika und mittlere Ostküste Australiens) sowie im Südwesten der USA und in Mexiko«.[21] Die größten Brände können riesige Gewitterwolken (Pyrocumulonimbus) verursachen, durch die der Rauch bis in die Stratosphäre gelangt, wo er, wie die Emissionen eines Vulkanausbruchs, monatelang um die Erde kreist.

Abgesehen von den Verheerungen, die ein Brand in dem betroffenen Gebiet anrichtet, trägt er auch zur Erwärmung der globalen Temperaturen bei, und zwar sowohl durch die Zerstörung von Vegetation (die Kohlendioxid bindet) als auch indem er durch den Verbrennungsprozess und direkt aus dem Boden Kohlendioxid emittiert. Die Brände des Black Summer setzten bis zu 1,2 Milliarden Tonnen Kohlendioxid frei, was den jährlichen Emissionen aller kommerziellen Flugzeuge der Welt entspricht. Schwelbrände sind eine noch größere Bedrohung für das Weltklima, da sie viel länger dauern und deshalb viel tiefer in den Boden und die Permafrostschicht vordringen.[22] Sie setzen doppelt so viel Kohlendioxid frei wie normale Brände.

Überall auf der Welt steigt die Zahl der Brände. Sie sind unangenehm, ungesund, gefährlich und teuer … und der Mensch wird sich, freiwillig oder gezwungenermaßen, von ihnen entfernen. Man denke nur an die Luftverschmutzung. Rauch, Asche und nicht verbrannte Partikel sind, insbesondere für Personen mit Erkrankungen wie Asthma, gesundheitsschädlich. In der Gluthitze des Sommers 2020 konnten Freunde von mir, die mit ihren Kindern in Oregon leben, wegen der durch Waldbrände bedingten starken Rauchentwicklung ihre Fenster nicht öffnen, und wegen der Covid-19-Restriktionen konnten sie auch nicht zu Freunden oder Verwandten ziehen. Am Ende mussten sie wegen der herannahenden Brände fliehen und waren mehrere Tage lang gezwungen, in ihrem Auto zu wohnen. Andere Evakuierte, deren Häuser oder Geschäfte vom Feuer zerstört wurden, waren schlimmer dran. Einige werden zurückkehren und alles wiederaufbauen – dieses Mal. Und vielleicht auch noch ein nächstes Mal. Was aber, wenn es ein drittes Mal nötig wäre? Oft wird die Entscheidung von anderen getroffen: Immobilien sind so gefährdet, dass sie nicht mehr versichert werden oder der Staat ihren Wiederaufbau oder überhaupt das Wohnen an gefährlichen Orten verbietet.[23] Im Januar 2022 twitterte Adam McKay, der Regisseur des Films Don’t Look Up, eine für den Klimawandel typische Nachricht: »Gerade hat die Versicherung meines Hauses gekündigt, weil in Südkalifornien inzwischen ein zu hohes Risiko von Bränden und Überschwemmungen besteht.«[24] Ich kenne persönlich mehrere Leute in Kalifornien, die die gleiche Schwierigkeit haben – für einige Verwaltungsbezirke hat der Insurance Commissioner des Staates Kalifornien ein Moratorium für Versicherungskündigungen verkündet, doch das lässt sich langfristig nicht aufrechterhalten.[25]

Freunde sprechen davon, aus den bewaldeten Gebieten wegzuziehen; andere ziehen vom Land in die Stadt, weil dort die Feuerwehr schneller kommt. Mehr als ein Jahr nach dem Black Summer waren in Australien immer noch Familien obdachlos und lebten in einem der reichsten Staaten der Erde in provisorischen Schutzhütten.

Es kann viel getan werden, um das Brandrisiko durch besseres Management zu vermindern. Letztlich jedoch nimmt das Risiko von Waldbränden zu, weil die Welt heißer und trockener wird, und viele Menschen werden aus den gefährdeten Zonen wegziehen müssen.

Hitze

Feuer kommt wegen seiner schieren Gewalt und Heftigkeit in die Schlagzeilen, aber sein unspektakulärer Vetter, die Hitze, ist tödlicher. Heute gibt es auf der Welt doppelt so viele Tage mit Temperaturen von mehr als 50 °C als vor 30 Jahren.

Während des größten Teils ihrer Geschichte hat die Menschheit innerhalb eines relativ engen Temperaturspektrums in Regionen gelebt, die eine üppige Nahrungsmittelproduktion erlaubten. Wenn sich die Welt erhitzt, verschiebt sich diese Klimazone weg von den Tropen, und Milliarden Menschen werden gefährlichen Temperaturen ausgesetzt. Der größte Teil der globalen Erwärmung wird bis heute von den Meeren absorbiert: Allein im Jahr 2020 geschah dies in einer Menge von etwa 20 Zettajoule (20 × 1021 Joule) zusätzlicher Energie, einer Energiemenge, die der Explosion von etwa zehn Hiroshima-Atombomben pro Sekunde entspricht.[26] Diese Erwärmung ist eine Belastung für das Leben im Meer, weil sie die lebenswichtige Durchmischung der Wasserschichten verlangsamt, die die Zirkulation der Nährstoffe und des Sauerstoffs bewirkt, und sie hat schreckliche Folgen für uns, weil sie Wettersysteme zerstört und die Wahrscheinlichkeit extremer Wetterereignisse erhöht.

Die Ozeane verhindern zwar einen Großteil der Erwärmung an Land, aber sie schreitet trotzdem voran, und zwar schnell. Jeder Dritte von uns könnte bis 2070 Durchschnittstemperaturen von 29 °C erleben, ein Klima, wie es heute nur in den heißesten Wüstensiedlungen herrscht.[27] Und das wird keineswegs noch Jahrzehnte dauern: Die Temperaturen sind jetzt schon höher, als die Modellierer für unsere gegenwärtige Erderwärmung von 1,2 °C vorausgesagt hatten. Im Sommer 2021 gab es im Death Valley einen extremen Rekord von 55,6 °C, in Las Vegas waren es 47,2 °C, und selbst in Kanada wurden Temperaturen von 49,6 °C erreicht – alles weit höher als der Durchschnitt des Jahrzehnts. Geradezu verrückte Höchsttemperaturen herrschten auch an den Polen: Im März 2022 wurden in der Antarktis Temperaturen gemessen, die mehr als 40 °C über den jahreszeitlich normalen lagen, und gleichzeitig maßen Wetterstationen in der Arktis Temperaturen von 30 °C über der Norm.

Hitze ist in Kombination mit Feuchtigkeit besonders gefährlich für den Menschen, und wir erleben heute schon tödliche Temperaturen, die nicht vor 2050 erwartet wurden. Für jedes Grad Celsius, um das der Planet wärmer wird, lösen sich etwa sechs Prozent mehr Wasser in der Atmosphäre. Das hat deshalb tödliche Auswirkungen, weil wir heiße Temperaturen nur dadurch bewältigen können, dass wir Schweiß produzieren, der uns kühlt, wenn er verdunstet – bei hoher Luftfeuchtigkeit kann unser Schweiß allerdings nicht verdunsten, und wir überhitzen.

Um die Auswirkungen einer Kombination von Wärme und Feuchtigkeit zu messen, verwenden Wissenschaftler die sogenannte Feuchtkugeltemperaturberechnung, das heißt, sie ermitteln die niedrigste Temperatur, auf die Luft durch Verdunstung abgekühlt werden kann. Bei der einfachsten Form dieser Messung wird ein feuchtes Tuch um das Vorratsgefäß eines Thermometers gewickelt und die Lufttemperatur gemessen. Bei Feuchtkugeltemperaturen über 35 °C, der sogenannten »Überlebensschwelle«, kommt es selbst bei gesunden Menschen zu einer Überhitzung, und innerhalb von sechs Stunden tritt der Tod ein. Obwohl eine Temperatur von 35 °C relativ niedrig erscheint, entspricht sie bei einer Luftfeuchtigkeit von 50 Prozent fast 45 °C und fühlt sich wie 71 °C an.[28] Bei der Hitzewelle, die 2003 Europa heimsuchte, stieg die Feuchtkugeltemperatur beispielsweise auf 28 °C, und mehr als 70000 Menschen starben. Im Jahr 2020 entdeckten Wissenschaftler, dass an einigen wenigen Orten, so an den Küsten des Persischen Golfs und in Flusstälern in Indien und Pakistan, die Feuchtkugeltemperatur zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die 35 °C überschritt. Glücklicherweise geschah dies jeweils nur für ein oder zwei Stunden, aber solche Ereignisse werden immer häufiger auftreten.

Bis 2070 werden im Tropengürtel regelmäßig Temperaturen herrschen, die so hoch sind wie die derzeitigen in der Sahara. Etwa 3,5 Milliarden Menschen leben in dieser Zone, die sich über große Teile Amerikas, Afrikas und Asiens erstreckt. Bis zum Ende des Jahrhunderts wird dieser tropische Gürtel um Tausende von Kilometern breiter sein. Bis 2100 könnten die Temperaturen dort so sehr steigen, dass in manchen Regionen in Indien oder Ostchina ein mehrstündiger Aufenthalt im Freien »selbst bei topfitten Menschen im Schatten und bei guter Lüftung zum Tod führen würde«.[29] Extrem heiße Regionen sind dann die mittleren Breiten Nordamerikas, der Mittelmeerraum, die Sahelzone in Afrika und das rasch zur Wüste werdende Amazonasbecken in Südamerika. Wer in diesen Breiten lebt, wird auswandern müssen, um zu überleben, und die Migration wird schon vor den 2070er-Jahren beginnen, denn bereits ab diesem Jahrzehnt werden Milliarden Menschen mehrmals pro Dekade von extremen Hitzewellen betroffen sein.