Das Oderbruchbuch - Holger Brüns - E-Book

Das Oderbruchbuch E-Book

Holger Brüns

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Beschreibung

Das Oderbruchbuch bietet Geschichte und Geschichten aus einer Landschaft am östlichen Rand Deutschlands. Das Land ist flach, der Himmel hoch. Man ist zu Gast und ist doch mittendrin. Man hat nichts zu tun und ist doch immer beschäftigt. So sitzt man im Garten, zupft Unkraut aus der Rabatte und mäht den Rasen. Die Gedanken gehen auf Reisen, der Mensch bleibt am Ort. Die Blumen im Garten wachsen, die Wildgänse und Kraniche ziehen im Herbst, die Gedanken bleiben hängen und drehen sich um sich selbst. Die Zeit vergeht, die Vergangenheit taucht auf, und die Zukunft kommt näher. Das Oderbruchbuch ist ein Reisebuch. Das Oderbruchbuch ist ein Gartenbuch. Das Oderbruchbuch ist ein Geschichtsbuch. Das Oderbruchbuch ist ein Oderbruchbuch.

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Inhaltsverzeichnis
Das Oderbruchbuch
Das Oderbruch – eine Landschaft zwischen Afrika und Russland
Garten und Gedanken
Feuchtgebiete – weinende Frauen in nassen Kellern
Damned yellow Composits oder Forschen und Gärtnern
Zahlenspiele im Oderbruch
»Schlaf und Halbschlaf sind Imitationen des zeitlosen Zeitalters. In dieses lautlose Nichts fällt der erste bronzene Schlag wie ein Zeichen zur Auferstehung der Toten. Jetzt heißt es leben, aber noch nicht gleich. Erst zählen.« (Cees Nooteboom, »Ein Wintertagebuch«)
Ausflüge für historisch interessierte Besucher
Miniermotten, Kraniche und gelbe Blätter
Sitzsackfreizeit
Das Leben der anderen
Gartenlust
Damit die Zeit nicht stehen bleibt
Projekt Paradies
Kleines Zwischenspiel: Die Kohlen kommen.
Von Ewigkeit zu Ewigkeit
Die Heide brennt
Ordnung, Muster, Ornament und Durcheinander
Sommerfrische und die Endlichkeit
Nachwort
Editorische Notiz
Impressum und Copyright

Holger Brüns

Das Oderbruchbuch

Aufzeichnungen aus dem ereignislosen Leben

Mit Fotos von Django Knoth

Das Oderbruch – eine Landschaft zwischen Afrika und Russland

Wenn der grün-gelbe Triebwagen der Ostdeutschen Eisenbahn-Gesellschaft hinter Eberswalde von der Hauptstrecke abbiegt und in das Oderbruch hinunterfährt, dann wird runtergeschaltet. Erlaubt sind 50 Stundenkilometer, die gefühlte Geschwindigkeit beträgt eher 35. Aber genau darum geht es – Entschleunigung. Endlich einmal Zeit haben. Der unablässige Wind pustet das Gehirn frei und man denkt über Dinge nach, über die man sonst nicht nachdenken würde. Das erfrischt ungemein. Das nennt sich Sommerfrische.

Die Oder trennt das Oderbruch von Polen. Aber die Oder floss nicht immer dort, wo sie heute trennt, sondern erst seit dem 2. Juli 1753. Simon Leonhard von Haerlem, dessen Familie aus Holland stammte und der die holländischen Erfahrungen im Deichbau und mit der Landgewinnung an den Hof des Alten Fritz brachte, legte 1747 einen Plan zur großzügigen Entwässerung des Oderbruchs vor. Kernstück war die Anlage eines 19 Kilometer langen Kanals, mit dem der Lauf der Oder umgeleitet und eingedämmt werden sollte. Dieser Kanal wurde 1753 eröffnet. Das Oderbruch verdankt also den Holländern eine ganze Menge – sie hätten ruhig die Fußball-Weltmeisterschaft in diesem Jahr gewinnen können, und nicht die Spanier.

Es gibt einen Grenzübergang in Kostrzyn und einen in Hohensaaten. In Güstebieser Loose fährt eine Fähre über die Oder. Alle 40 Minuten hin, 40 Minuten später wieder zurück. Zwei bis drei Autos passen auf den kleinen Raddampfer, dazu ein paar Fahrräder und Fußgänger. Auf der einen Seite ist die Landschaft flach mit ein paar verstreuten Häusern, auf der anderen Seite ist die Landschaft hügelig mit ein paar verstreuten Häusern. Auf der einen Seite stehen Tafeln, die an die Oderflut 1997 erinnern, auf der anderen Seite stehen Tafeln, die die Aufmarschpläne der sowjetisch-polnischen Armee 1945 erläutern.

Und noch etwas durchschneidet das Oderbruch. Zwischen Wriezen und Altranft werden riesige Röhren verlegt, eine breite Schneise läuft schnurgerade durch die Landschaft. Bedanken darf man sich dafür bei Altbundeskanzler Schröder, denn durch diese Rohre soll Gas strömen. Das Gas kommt aus Russland und hat schon den weiten Weg durch die Ostsee hinter sich. Wie schnell Gas wohl ist? Wenn es heute hier vorbeiströmt, war es dann gestern noch in Russland? Oder vor einer Woche? Oder eben? Und was hat das eigentlich mit mir zu tun? Und hat es hier mehr mit mir zu tun als zuhause in Berlin, wenn ich dort die Gasheizung aufdrehe? Und wo verläuft eigentlich die Druschba-Pipeline, durch die schon seit 40 Jahren Öl aus Russland strömt? Das sind so Gedanken, die man im Trubel der Großstadt nicht hat.

Überhaupt Russland. Am 16. April 1945 setzte die 1. Belorussische Front unter Marschall Schukow von Küstrin aus zum Übergang über die Oder an und begann damit den Angriff auf Berlin. Zwischen Güsterbiese und Podelzig wurde auf 44 Kilometer Länge um jeden Hügel, um jedes Dorf und um die Seelower Höhen gekämpft. Rund 33.000 sowjetische und polnische Soldaten liegen dort begraben – und 12.000 Deutsche. Die Beziehungen zwischen Russland und dem Oderbruch bleiben seither zwiespältig.

Und nun dehnen sich die Beziehungen auch noch über die Ostsee aus. Die Gänse und Kraniche fliegen über die Ostsee. Aber nicht nach Russland, sondern nach Schweden. Aus Schweden kommt Vattenfall und auch der Energiekonzern hat Großes mit dem Oderbruch vor. CO2 verpressen! Unter dem Oderbruch. Sie wissen zwar noch nicht so genau wie das geht und ob das überhaupt funktioniert, aber man muss das ja irgendwo einmal ausprobieren. Und wenn man es dann getan hat und das Oderbruch auf einer Wolke von CO2 schwimmt, dann ist der Konzern noch ganze 15 Jahre dafür haftbar. Dann läuft die Garantie ab. Und andere müssen sehen, wie sie damit klarkommen, zum Beispiel die Landesregierung in Potsdam. Die hat bereits durch einen Staatssekretär den Überbringern von über 4.000 Protestunterschriften mitteilen lassen: Das wäre ja schließlich ganz normal und noch jedes Mal hätte eine neue Technik in Deutschland Ängste ausgelöst. Das solle man nicht so verbissen sehen und mit der Zeit würde man sich an den Gedanken schon gewöhnen.

Nun stehen überall gelbe Kreuze, wie im Wendland. Das Zeichen der vorangegangenen Kampagne »Alter Hut« (Menschen, die gegen die Verpressung waren, sollten einen alten Hut vor ihre Tür hängen) hatte ob der vielen ausgeblichenen Schirmmützen, die inmitten von grünen Hecken kaum zu erkennen waren, Mängel in der Außenwirkung. Die Beziehungen zu Potsdam und Schweden bleiben also für den Oderbrüchler schwierig, die zum Wendland werden dagegen besser.

Doch zurück zum Gefieder. Auf dem Weg zur Oderfähre in Güstebieser Loose kommt man am Eiscafé Bratz am Storchenhorst vorbei. Diese lieblich mintgrün gestrichene Location wirbt mit 17 Sorten Eis, diversen Torten und Kuchen und frischem Kaffee. Die eigentliche Attraktion aber ist das Storchennest wenige Meter weiter, auf einem hohen Pfahl am Straßenrand. Hier wachsen jedes Jahr zwei Störche auf und ihre Exkremente platschen aus großer Höhe vor die Füße der Besucher des Eiscafés. Mein Vorschlag, mehr aus dem Thema Storch zu machen und einen Eisbecher »Toter Storch« anzubieten, fand allerdings kein Echo. Die Menschen im Oderbruch nehmen die Natur noch ernst. Und gerade mit Störchen treibt man keine Scherze.

Die heißen Sommertage beschließt man gerne mit einen Ausflug nach Altfriedland, um eine Runde im Klostersee zu schwimmen. Eine große Wiese als Dorfbadestelle, die Kirche und die Ruine eines Zisterzienserklosters im Rücken und hinter den Bäumen am anderen Ufer des Sees neigt sich die Sonne dem Horizont zu. Silberlicht reflektiert auf dem Wasser, die Jugendlichen packen ihre Sachen zusammen. Aus dem Dorf kommen Ältere im Bademantel, oft mit dem Enkelkind an der Hand, um sich eben noch einmal im Wasser zu erfrischen. Irgendwie wirkt das wie ein Bild aus längst vergangener Zeit. Aber warum sollten die Leute, die nur einige Meter weit von einem See entfernt wohnen, nicht auch in hundert Jahren noch im Bademantel über die Straße zum Baden gehen? Es ist wahrscheinlich gar nicht so aus der Zeit gefallen, wie es auf mich wirkt. Es ist einfach eine andere Realität.

Überhaupt Realität: Nehmen wir die Klosterschänke in Altfriedland. Früher war es nur eine Imbissbude. Jahrelang wurde von dort aus die Badestelle mit Pommes, Bier und Fassbrause versorgt. Nun steht da ein zweigeschossiger Neubau, unten Küche und Gastraum, oben der »Saal« für die Familienfeiern. Davor ein Vorplatz mit weißen Plastikstühlen, einigen Bierbankgarnituren und einem separaten Toilettenhaus. Nun wird von hier aus die Badestelle mit Pommes, Bier und Fassbrause versorgt, aber – große Küche, große Karte – es wird auch serviert. Für die Dauer der Fußball-Weltmeisterschaft wird zum Beispiel für »Südafrikanische Küche« geworben. Geboten wird »Straußensteak und Springbock aus der Region«.

Knapp zwei Kilometer weiter stehen sie auf der märkischen Wiese, die Strauße aus der Region – und wissen nichts davon, dass sie anderswo als wesentliche Teile einer »Südafrikanische Küche« angeboten werden. Ich glaube, sie wissen nicht einmal etwas von Afrika. Sie kennen das Oderbruch und die Windräder am Horizont.

Ganz anders die Störche, die mit langen Schritten hinter den Mähdreschern herlaufen. Die kommen doch aus Afrika und fliegen dahin sogar wieder hin zurück. Oder umgekehrt. Und die Schwalben und die Gänse und die Kraniche, die hier im Frühjahr und im Herbst auf den Feldern Rast machen, die fliegen doch auch alle nach Afrika – glaube ich jedenfalls. Man kann also schon sagen, dass die Verbindungen zwischen dem afrikanischen Kontinent und dem Oderbruch traditionell gut sind, der Austausch ist intensiv und die Klosterschänke in Altfriedland ist dafür nur ein Beispiel unter vielen.

Sommer 2010

Garten und Gedanken

Dies ist ein Reisebuch. Auch wenn sich die Reisen hauptsächlich im Kopf abspielen: Die Gedanken treiben hierhin und dorthin, und der Mensch dazu verbleibt an einem Fleck. Der Fleck ist ein Garten und ein kleines Haus, eingefasst von großen Feldern, begrenzt durch einen Plattenweg.

Aufgewachsen mit einem großen Garten, gehörten Rasenmähen, Unkrautzupfen und Kirschenpflücken zu den Aufgaben, die wir Kinder zu erfüllen hatten. In der Pubertät wurden diese Aufgaben zur lästigen Pflicht, bis sie dann endlich ganz abgestreift werden konnten. Aber 30 Jahre später kommen sie zurück – als Leidenschaft und heimliches Glück. Und so habe ich mir zusammen mit Freunden eine Datsche zugelegt, einen kleinen Hof auf dem Lande, 70 Kilometer von Berlin entfernt, mitten im Nichts. Oft genug habe ich in den letzten Jahren diesen Ort als kleines Paradies erlebt. Einpflanzen, ausreißen, abschneiden und aussähen, damit kann ich mich stundenlang beschäftigen.

Kein Hochleistungsgärtnern, nein, wer sich glatte Rasenflächen und geordnete Rabatten vorstellt, der irrt. Dieser Garten entstand in heiterem Verhandlungsprozess zwischen dem, was von sich aus wächst und dem, von dem ich möchte, dass es wächst. Mal scheint die eine, mal die andere Seite die Oberhand zu gewinnen, aber man bleibt im Gespräch. Während ich die Winden ausreiße, spreche ich mit ihnen und versuche zu erklären, sie sollen der Rose doch bitte auch eine Chance geben, sie könnten ja schließlich einige Meter weiter auf dem Acker wachsen und die Rose hätte ich nun einmal genau hier auf das Beet gepflanzt. So vergeht die Zeit.

Sie vergeht auch damit, Werkzeuge zu suchen, die auf unerklärliche Weise auf den 3600 Quadratmetern verloren gegangen zu sein scheinen. Zum Beispiel hatte ich neulich meine kleine Handschaufel verlegt und suchte lange einen Gegenstand, mit dem ich die Wurzeln des Löwenzahns aus dem staubtrockenen Boden brechen könnte. Ein altes Messer leistete dann gute Dienste. Inzwischen ist die Schaufel wiedergefunden und ich denke mir, Phasen im Leben, in denen ein verlegtes Schäufelchen das größte Problem des Tages ist, gehören eindeutig zu den glücklichen.

Selbst wenn alle Gartengeräte an ihrem Platz sind, ist dies keine Garantie für zielstrebiges Arbeiten. Auf dem Weg, den Spaten zu holen, fällt mir vielleicht auf, dass ich die trockenen Äste des Holunders noch herausschneiden wollte, hole also statt des Spatens die Schere, und wenn die Äste geschnitten sind, muss vielleicht noch der Ableger der roten Schafgarbe gegossen werden, bevor ich zum Spaten greife. Zielstrebiges Arbeiten ist etwas für das Leben in der Stadt. Sommerfrische und Gartenarbeit gehören zur Entspannung und unterliegen eindeutig einem ganz eigenen Rhythmus

Bevor das alles aber zu sehr nach Friede, Freude, Eierkuchen klingt, muss ich direkt ein Geständnis ablegen, auch wenn es den mühsam aufgebauten Eindruck einer großen Harmonie zwischen Mensch und Natur wieder einzureißen droht: Ich töte Nacktschnecken! Ja, ich bekenne es. Ich finde die schwarzen Tiere eklig und sie fressen Kürbispflanzen und Salat, Tagetes und Dahlien und so manches mehr. Ich benutze kein Schneckenkorn und keine Bierfallen, nein, ich teile sie mit einem kleinen, scharfen Spachtel einfach in der Mitte durch. Die Kadaver sind Leckerbissen für andere Nacktschnecken und ziehen sie in großer Zahl an, sodass es mir an guten Tagen gelingt, ein wahres Gemetzel unter den glitschigen Tieren anzurichten. So, jetzt ist es heraus. Ich weiß, das ist nicht gut für mein Karma und wahrscheinlich werde ich zur Strafe als Nacktschnecke wiedergeboren.

Aber darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist. Vorher mähe ich noch die Auffahrt, damit es wieder ordentlich aussieht! Was denken sonst die Leute aus dem Dorf! Und auf der Bank vor dem Haus wartet das Feierabendbier.

Sommer 2010

Feuchtgebiete – weinende Frauen in nassen Kellern

Bin ich noch Silvester auf dem verschneiten Feld bis zum Oberschenkel im Schnee versunken, steht das Land jetzt, Anfang Februar, während in China das Jahr des Hasen beginnt, unter Wasser.

In den vergangenen Wochen schafften es Berichte über das »Binnenhochwasser« sogar bis in die Berliner Presse. Und als dann auch noch die Oder zufror und die Eisbrecher kapitulieren mussten und die höchste Warnstufe an der Oder ausgerufen wurde, da war die Zeit reif für eine 45-minütige Reportage des »Heimatsenders« RBB. In dieser Reportage sah man nicht nur viel Wasser und zugefrorene Oder in malerischen Bildern, sondern auch weinende Frauen in ihren Kellern, welche höchstens noch für Kneipkuren zu gebrauchen waren. Dazu alte Männer, die beim Anblick eines total erschöpften Bibers am Rande der Oder aufgebracht den Landrat anriefen, er solle herkommen und sofort diesen Totengräber des Oderbruchs abknallen.