Vierzehn Tage - Holger Brüns - E-Book

Vierzehn Tage E-Book

Holger Brüns

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Beschreibung

"Vierzehn Tage" erzählt eine Episode aus dem Leben eines Mittvierzigers, der in Berlin lebt und bei der Postsortierstelle arbeitet. Er hat zwei Wochen frei und weiß nichts mit sich anzufangen. Also lässt er sich treiben, trifft Bekannte, fährt ein paar Tage aufs Land und beginnt eine Affäre mit einem jüngeren Spanier. Seine ständigen Begleiter sind Erinnerungen an frühere Zeiten: an das Westberlin der 80er, an alte Ideale und Kämpfe, an eine Jugend, die hinter ihm liegt. In "Vierzehn Tage" widmet sich Holger Brüns dem Älterwerden. Er geht den großen und kleinen Fragen nach, die das Vergehen der Zeit aufwirft: Was ist aus dem Leben geworden, von dem ich einmal geträumt habe? Was geschieht mit mir, während sich die Welt um mich herum verändert? War's das jetzt? Und werde ich jemals meine Küche renovieren?

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Holger Brüns
VIERZEHN TAGE
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Über dieses Ebook
Schlohweißer Tag / Du bist so jung ergraut / Schlohweißer Tag / Ich fühl mich hohl in meiner Haut / Schlohweißer Tag / Du leeres Blatt Papier / Schlohweißer Tag / Was fang ich an mit mir.
 Silly
Zusammenleben: vielleicht nur, um sich gemeinsam gegen die Trostlosigkeit des Abends zu wappnen. Fremde sein, das sind wir unvermeidlich, notwendig, das ist wünschenswert, außer wenn der Abend hereinbricht.
 Roland Barthes »Wie zusammen leben«
Wenn wir eine Perspektive wiedergewinnen möchten, müssen wir die vage Feststellung, dass diese Welt nicht mehr fortbestehen kann, mit dem Wunsch verbinden, eine neue zu errichten.
 Unsichtbares Komitee: »An unsere Freunde«

1

Sommer. Der rote Strich auf dem Thermometer am Fenster schob sich seit ein paar Tagen regelmäßig über die Dreißig-Grad-Grenze. Zehn Uhr. Urlaub. Eine Tasse Kaffee vor sich, saß er am Küchentisch und sah sich in seiner Küche um. Das Geschirr, Schüsseln und Töpfe waren in offenen Umzugskartons gestapelt. Essig, Öl, verschiedene Gewürze und ein paar Zwiebeln lagen in einem alten Korb. Auf einem Tapeziertisch stand eine Kaffeemaschine, lag ein halbes Brot. Die Regale waren abgenommen, eine Wand bereits gestrichen, umso deutlicher hob sich das Gelb der anderen Wände davon ab. Wie war er bloß auf die Idee gekommen, ausgerechnet im Urlaub die Küche zu renovieren? Er hatte keine Lust mehr. Schon gestern hatte er die Eimer mit Farbe, Pinsel und Rolle nicht angerührt. Und da er vor zwei Tagen alles einfach liegen gelassen hatte, war die Rolle nun steinhart getrocknet. Er würde noch einmal in den Baumarkt gehen und eine neue Rolle kaufen müssen.
Als er letzte Woche die Farbe im Baumarkt kaufte, hätte er da nicht schon merken müssen, dass das alles ein Irrtum war? Er hatte sich gefreut, endlich mal wieder etwas für seine Wohnung zu tun. Drei Wochen Zeit, das sollte reichen für etwas weiße Farbe und einige kleine Ausbesserungen. Er war mit Martin in den Baumarkt gefahren. Sie suchten einen Verkäufer, und er fragte nach einer guten und günstigen Farbe. Da hätte er es merken können. An der Gegenfrage des Verkäufers. Nein, Unsinn. Die Frage war prima. Die Frage war genau richtig. Das Problem war, dass er keine Antwort darauf wusste. Der Verkäufer fragte: »Einzug oder Auszug?« Er hätte nach Hause gehen sollen und nachdenken, bis er eine Antwort darauf wusste. Stattdessen antwortete er: »Nein, nein, ich wohne da schon zehn Jahre und das ist jetzt einfach mal fällig«, und merkte selbst, dass dies keine befriedigende Antwort war. Der Verkäufer hatte mit den Achseln gezuckt und gesagt: »Na dann nehmen Sie die hier, damit machen Sie nichts falsch.«
Irgendetwas hatte er wohl doch falsch gemacht. Jetzt saß er da mit der angefangenen Renovierung, hatte schlechte Laune und keine Lust mehr. Er stand auf, spülte einen Teller ab, trank im Stehen den letzten Schluck Kaffee, stellte die Tasse neben die Kaffeemaschine und ging zur Tür. Im Hinausgehen griff er noch ein Buch vom Regal. Er zog die Wohnungstür hinter sich zu, drehte den Schlüssel zweimal im Schloss und warf ihn, ohne zu zögern, durch den Briefschlitz zurück in die Wohnung. Dann ging er summend die vier Treppen hinunter auf die Straße.
Das kleine Café um die Ecke lag noch im Schatten, dort war es angenehm kühl, nur ein Tisch vor der Tür besetzt, alle anderen Tische waren frei. Er setzte sich auf die Bank, die Bedienung stand in der Tür: »Cappuccino?«, fragte sie. Er nickte. Als sie mit der Tasse kam, fiel ihm ein, dass es heiß und dass Kaffee keine ausreichende Flüssigkeit war und dass man viel trinken sollte, daher rief er der Kellnerin hinterher: »Äh, Entschuldigung, kann ich noch ein Bitter Lemon haben.« Er las in seinem Buch, als sie die kleine Flasche und ein Glas mit Eiswürfeln brachte. Sie blieb einen Moment stehen, und als er aufschaute, lächelte sie. Vielleicht war ihr langweilig, viel zu tun hatte sie mit den drei Gästen nicht. Er schaute wieder in sein Buch, las drei Sätze, ohne sie zu verstehen, klappte es dann zu und sah hin zur Straße. Wenig Verkehr, kaum Fußgänger, von den wenigen kannte er manche vom Sehen.
Er stand auf, ging zum Tresen und suchte sich aus den Tageszeitungen, die dort auslagen, eine aus. Zeitung ging immer. Die große weite Welt und das kleine Berlin, bisschen Kultur und Wirtschaft. Nur Sport ließ er jedes Mal aus. So war er für zwanzig Minuten beschäftigt. Dann schaute er wieder auf die Straße. Das Paar am anderen Tisch war gegangen, jetzt setzten sich drei junge Männer, orderten Espresso, Latte, Cortado und Wasser. Bald redeten sie über Demo, Promo, Producer und Plattenvertrag. Sie sprachen laut, er hörte zu. Zuerst, als sie von »Demo« sprachen, dachte er, es handle sich um eine Demonstration, die vorzubereiten war. Dann begriff er, worum es wirklich ging und musste innerlich lachen, weil er sich altmodisch vorkam, bei dem Wort »Demo« zuerst an etwas Politisches zu denken und nicht an einen Plattenvertrag. Wahrscheinlich hieß das nicht mal mehr Plattenvertrag.
Er wäre jetzt gerne nach Hause gegangen. Vielleicht hätte er sogar die zweite Wand gestrichen. Aber er hatte den Schlüssel durch den Briefschlitz geworfen. Vor einer Stunde war ihm das gut und richtig vorgekommen. Jetzt hielt er es für eine dumme Idee. Sich den Rückzug auf bekanntes Gebiet zu verbieten, hieß nicht automatisch, dass man etwas Neues finden müsste. Die Geschichte von dem Mann, der zum Zigarettenkaufen aus dem Haus ging und nie wiederkam, war verlockend, doch eben auch ein Märchen, ähnlich wie Rotkäppchen und der Wolf. Im Märchen finge jetzt ein ganz neues Leben für ihn an.
Er hatte Urlaub, ganze vierzehn Tage noch. Niemand wartete auf ihn. Er hatte Ausweis und Geld in der Tasche, die Scheckkarte und Geld auf dem Konto. Er konnte einfach gehen. Aber wohin? Und was, wenn sein Urlaub zu Ende war? Käme er zurück? Würde er den Job einfach schmeißen? Und wenn das Geld alle wäre? Unter einer Brücke in Paris schlafen? Alles Blödsinn. Das funktionierte so nicht. 40 Jahre lang war alles gut gewesen. Er brauchte nicht viel, es hatte immer gereicht. Er schaute, was auf ihn zukam, und nahm, was ihm gefiel und Spaß machte. Auf einmal kam nichts mehr auf ihn zu. Oder es gefiel ihm nicht. Oder es machte keinen Spaß. Wenn das die Midlife-Crisis war, war sie langweilig. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die meisten Männer in seinem Alter so etwas durchlebten. Vor allem konnte er sich nicht vorstellen, dass das etwas mit seinem Alter zu tun hatte.
Er hörte wieder den Männern am Nachbartisch zu. Jetzt ging es um Pläne fürs Wochenende. Im Lido fand ein Konzert statt, danach raus zum See, und anschließend in diese neue Bar, die der Jens mit seinen Kumpels aufgemacht hatte. Er stand auf und zahlte am Tresen. Er gab wie immer ein gutes Trinkgeld, obwohl sein Stundenlohn kaum höher sein konnte als der, den man hier verdiente. Das Lokal lief gut. Abends war die Bar gerappelt voll.
Das Tagesgeschäft war für die Nachbarschaft. Das, fand er, war unterstützenswert. Später kamen die Touristen und junge Leute aus anderen Bezirken. Das reizte ihn nicht. Er hatte es ein paarmal versucht. Er fühlte sich dann fremd in seinem Kiez. Deshalb kam er hier nur her, um seinen Cappuccino zu trinken und die Zeitung zu lesen.
Er war schon fast an der Straßenecke, als die Bedienung hinter ihm herrief: »Du hast dein Buch vergessen!« Kurz überlegte er, ob er einfach winken sollte, »Behalt es« rufen und weitergehen. Aber dann lief er doch zurück und nahm das Buch pflichtbewusst und dankend entgegen.
Als er auf die große Straße einbog, schlug ihm Sonne und Hitze entgegen. Autos, Fahrräder, Fußgänger auf dem Bürgersteig. Vor der Sprachschule standen Gruppen junger Spanier, Griechen, Italiener. Er ging am türkischen Supermarkt vorbei, Obst und Gemüse in großer Auswahl. Den Verkäufer, der danebenstand, kannte er seit zehn Jahren, es hatte allerdings nie den Moment gegeben, an dem man sich zu grüßen begonnen hatte. So schauten sie sich auch jetzt nur ausdruckslos an. Dann über die Ampel auf die schattige Seite der Straße, hier war ebenfalls ein türkischer Supermarkt, vorbei an Apotheke, Döner und Woolworth, über die Kreuzung und dann zu Karstadt. Er stand eine Weile bei den Büchern, schaute auf die immergleiche Auswahl an Bestsellern und gängigen Titeln. Manches schien ihm interessant, doch kaufte er nichts, sondern legte das Buch, das er immer noch in der Hand trug, auf einem der Tische ab, ging weiter, fuhr mit der Rolltreppe hinauf in den ersten Stock und schaute bei den T-Shirts und Pullovern nach Sonderangeboten. Auch dort war nichts, was ihn interessierte. Er schlenderte durch die Etage und fuhr am anderen Ende wieder mit der Rolltreppe hinunter bis zur Lebensmittelabteilung im Untergeschoss, ging über verschiedene Treppen durch den U-Bahnhof, tauchte auf der anderen Seite der Straße wieder auf. Von hier waren es nur ein paar Schritte bis zur Filiale einer Baumarktkette.
Er war lange unschlüssig, ob er ein Set mit Pinseln und Rolle kaufen sollte oder nur eine Rolle, die fast genauso viel kostete wie das gesamte Set. Er entschied sich für die Rolle, Pinsel hatte er wirklich genug. An der Kasse überlegte er, ob er die Rolle jemals benutzte, ob er wirklich die Küche weiter streichen würde. Er wartete kurz auf eine Eingebung. Lauschte auf die Werbejingles aus den Lautsprechern. Es zeigte sich: kein einfacher Weg zu einem anderen Leben. Also bezahlte er die Rolle und stand mit einer kleinen Tüte in der Hand wieder vor der Filialentür.
Er setzte sich auf die Treppe und beobachtete die Menschen, die mit Zollstöcken in der Hand den Baumarkt betraten oder mit Brettern, Regalen und Farbeimern beladen zu ihren Autos gingen. Dazwischen andere, die, eine kleine Sporttasche über der Schulter, mit dem Fahrstuhl ins Fitnessstudio im dritten Stock fuhren. Alle schienen beschäftigt. Nur vor der Currywurstbude ein paar Meter weiter saßen drei Männer mit langen Haaren beim Bier.
Die Hitze wurde größer. Die Sonne kroch langsam, doch unaufhaltsam auf seinen Treppenplatz zu. Als die ersten Strahlen sein linkes Bein erreichten, stand er auf und ging in den Park neben­an.
Auf den Wegen lungerten einige Dealer. Einer sprach ihn an: »Willst du was kaufen?« Er schüttelte den Kopf und dachte einige Schritte später: Warum eigentlich nicht? Er ging allerdings weiter und wurde nicht mehr angesprochen. Auf der Wiese, die als Tuntenwiese bekannt war, legte er sich ins Gras. Einzelne Männer lagen fast oder ganz nackt auf großen bunten Handtüchern, ein Pärchen hatte ein ganzes Picknick auf einem roten Tuch ausgebreitet. Eine Gruppe saß neben ihren Fahrrädern und ließ einen Joint kreisen. Eine Zeitlang verfolgte er ihr Tun, schaute schließlich in den Himmel und schloss nach einer Weile die Augen. Die Sonne brannte, und er genoss es, wie die Hitze durch seinen Körper strömte. Lange war es nicht auszuhalten. Bald floh er in den Schatten.
Wieder sah er sich um. Der Hautfarbe nach zu urteilen, hatten die meisten hier bereits viel Zeit auf dieser Wiese verbracht. Manche schienen sich zu kennen, wanderten herum, setzten sich mal zu dem und mal zu jenem. Es war jedoch niemand dabei, der ihn interessierte. Als er sich zurückfallen ließ und wieder in den Himmel starrte, bemerkte er, dass diese friedliche Idylle ihm schlechte Laune machte. Auch der Anblick von grünen Blättern und blauem Himmel konnte das Wohlbefinden von eben nicht zurückholen. Plötzlich verspürte er Lust, die Küche fertig zu streichen. Auf einer Wiese liegen und in den Himmel starren, das war nur leere Zeit. Davon gab es viel zu viel in seinem Leben. Er begann zu überlegen, wie er wieder in seine Wohnung kommen könnte. Martin hatte einen Schlüssel, aber der war noch auf Arbeit. Er könnte ihn später anrufen. Über diesem Gedanken schlief er ein.
Er träumte von einem Puzzle:
Der Blickwinkel merkwürdig. Schräg über einen behaarten Unterarm hinweg – er vermutet, dass es sein eigener ist – liegen die Hände in perspektivischer Verzerrung auf dem Tisch und schieben Puzzleteile hin und her. Die Teile passen zusammen, schnell entstehen kleine Inseln, es ergibt sich allerdings kein Bild. Es könnte ein Körper sein, der auf einem grünen Untergrund abgebildet ist, aber ein Bein setzt an der Schulter an, die Finger der Hand weisen in verschiedene Richtungen, der Daumen ragt aus dem Handrücken, dazwischen grüne Flecken und der Kopf fehlt ganz …
Als er aufwachte, hatte sich die schlechte Laune in Traurigkeit verwandelt. Sie lag schwer auf ihm. Er schloss noch einmal die Augen, doch er konnte nicht wieder einschlafen.
Ein Mann schob ein Fahrrad über die Wiese, behängt mit verschiedenen Kühltaschen. Vorne, in einem Korb, der am Lenker befestigt war, stand eine große Thermoskanne. Bei diesem Mann kaufte er Wasser und Kaffee. Er blies auf den Kaffee, der erstaunlich heiß war, und nahm den ersten Schluck. Der Kaffee war nicht besonders, aber okay. Nun kam der Ärger zurück. Er ärgerte sich über sich selbst. Wieso trank er bei 34 Grad im Schatten heißen Kaffee? Ein Bier hätte er kaufen sollen. Nein, besser gleich zwei. Er wollte, dass sich die Bilder in seinem Kopf zu einem Bild zusammensetzten. Oder Bewusstlosigkeit. Da hätte Bier geholfen. Doch selbst dafür war er zu vernünftig. Er schlürfte seinen Kaffee und überblickte die Wiese. Wieder nahm ihn graue Unzufriedenheit ein.
Als der Kaffeebecher leer war, stand er auf, warf den Becher in einen Mülleimer und setzte sich erneut in die Sonne. Die Hitze schlug sofort an, die Haut war schnell mit einem dünnen Film aus Schweiß überzogen. Er streckte sich auf der verbrannten Wiese aus, die Grashalme pieksten, Sand und Krümel klebten an der nassen Haut. Das wohlige Gefühl wollte sich nicht wiedereinstellen.
Er verließ den Park. Am Hermannplatz kaufte er Zigaretten und ein Feuerzeug und setzte sich auf eine der niedrigen Waschbetonmauern, die den Platz von der Straße abteilten. Manchmal querte er diesen Platz drei- bis viermal täglich. Er kannte ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit. Der Hermannplatz war nicht schön. Trotz aller Versuche der Marktbetreiber, den Aufenthalt auf diesem Platz attraktiver zu gestalten, saßen weiterhin vor allem die Alkis und Junkies auf den Mauern. In ihrer Mitte die alte Frau mit dem Kopftuch, die Blumensträuße aus ihrem Garten verkaufte, je nach Saison, Tulpen, Phlox und Rittersporn, Dahlien und Herbstastern.
Dazwischen nun er. Er betrachtete die Säule in der Mitte des Platzes. Zwei unförmige längliche Quader, in denen die Stromanschlüsse für den Markt versteckt waren. Darauf eine gedrungene weiße Säule, auf der ein goldenes Paar tanzte, so glatt, glänzend und funktional, wie die 80er nie gewesen sein konnten. Am Gemüsestand drängten sich Hausfrauen und Studenten, Sonderangebot: drei Schalen Erdbeeren für zwei Euro. Die anderen Stände, der Fisch- und der Wurstwagen, die der Händler, die Taschen, Tangas, Musikkassetten oder Parfümflaschen anboten, sie alle waren eher schlecht besucht. Vor dem Currywurststand bildete sich dagegen eine Schlange. Curry, Pommes, Bier, das ging in Berlin immer.
Zwischen den U-Bahn-Eingängen war eine kleine Bühne aufgebaut. Junge Musiker durften dort spielen. Meistens Duos mit Keyboard oder Gitarre. Oft waren sie gar nicht mal so schlecht. Doch ihre Songs reizten kaum mehr als die Musik, die in Supermärkten im Hintergrund lief.
Endlich war es halb sechs und er rief Martin an. »Bist du zu Hause?«
»Nö, warum?«
»Ich brauch mal meinen Schlüssel, ich bin aus der Tür und der Schlüssel liegt drin.«
»Oh je. Was hast du gemacht?«
»Ich bin in den Baumarkt, ’ne Farbrolle kaufen und hab den Schlüssel vergessen…«
»Kann ich noch zum Sport oder hast du’s eilig?«
»Nee, mach ruhig, dann gehe ich noch was essen. Stunde?«
»Sagen wir anderthalb? Bringste ’n Bier mit?«
»Mach ich, bis gleich.«
Anderthalb Stunden später stand er vor Martins Tür. Er hatte ein Stück Pizza gekauft und war dann den ganzen Weg zu Fuß gegangen. Auf die U-Bahn hatte er keine Lust und für das Fahrrad hätte er den Schlüssel gebraucht, der in der Wohnung lag. Er ging gern im Sommer durch seinen Kiez. Dieser war eine belebte Wohngegend, zum Großteil verkehrsberuhigt. Die Menschen saßen vor den Backstuben, dem vietnamesischem Imbiss oder standen beim Eisladen an. Eine Großstadtidylle, wie aus dem Reiseführer. Heute war ihm das zu viel. Die Lokale quollen über, kaum ein Platz war frei und dazwischen ratterten kleine Grüppchen mit Rollkoffern über die Platten des Fußwegs. Er versuchte, nicht genervt zu sein, seine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was wichtig war. Wichtig waren seine Überlegungen. Alles andere versuchte er zu ignorieren. Die anderen machten es auch nicht anders, sie starrten in ihre Smartphones oder verbarrikadierten sich mit Kopfhörern und Sonnenbrillen vor der Welt. Dass es in diesem Gewimmel von Autisten nicht dauernd zu Zusammenstößen kam, war erstaunlich. Nicht einmal die Fahrradfahrer auf dem Fußweg verursachten Kollisionen.
Er wollte nicht zu früh bei Martin ankommen, so lungerte er noch etwas am Oranienplatz herum. Wie schnell das Interesse wechselte. Eben noch hatte er die Menschen ignoriert, um ungestört seinen Gedanken nachhängen zu können. Kaum saß er hier auf einer Bank, beobachtete er die Menschen, ohne dass ihn ein Gedanke dabei anflog. Er schaute und wartete.
Als es sieben war, ging er hinüber zu dem beigen Eckhaus mit der blauen Tür. Er drückte die schwere Tür auf, als der Summton ertönte, ging durch den kühlen Flur über den Hof in den Seitenflügel und stieg die enge dunkle Treppe hoch. Jedes der drei Stockwerke, die er zurücklegte, hatte seinen eigenen Geruch, und mit jedem Absatz wurde es wärmer im Treppenhaus. Martin stand in der Tür. Er trug Boxershorts und ein T-Shirt, sie küssten sich flüchtig. Er stellte die beiden kurz zuvor am Späti gekauften Bierflaschen auf Martins Küchentisch.
Martin wohnte noch nicht lange hier. Im Gegensatz zu ihm war Martin ein Profi im Renovieren. Immer hatte er etwas zu bauen oder zu verändern. Hier hatte er sich nun selbst übertroffen. In wenigen Wochen hatte er die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, Wände rausgerissen und die gesamte Elektrik neu verlegt. Hatte die Dielenfußböden abgezogen und graugrün lasiert. Hatte das Badezimmer neu gefliest und auch an der Küchenwand einen breiten Streifen mit beigen Kacheln versehen. Die passten gut zu dem roten Linoleum, mit dem der Fußboden ausgelegt war. Die Küchenzeile war mit einer grauen Arbeitsplatte und weißen Küchenschränken gestaltet. Sie saßen an dem hohen Tisch in der Ecke auf Barhockern und tranken Bier.
Kurz stellte er sich vor, wie sie hier in der Küche beim Frühstück sitzen würden, nachdem sie aus dem gemeinsamen Bett gekrochen waren. Er konnte es sich vorstellen, konnte es sich nicht vorstellen. Seit 20 Jahren. Manchmal dachte er, damals, als sie sich kennengelernt hatten, hätten sie eine Chance verpasst. Er suchte zu jener Zeit ein Zimmer und zog zu Martin in dessen Wohnung. Es war eine gute Zeit. Sie teilten alles, nur nicht das Bett, also war es nicht das, was andere eine Beziehung nannten. Aber was war es dann? Vielleicht hätte er versuchen sollen, das zu klären, anstatt einfach ein paar Jahre später wieder auszuziehen. Inzwischen hatte die Zeit es geklärt. Martin war ein Teil vom großen Glück, und wenn er sich vorstellen konnte, mit jemandem zusammen alt zu werden, dann war er es.
Martin plante für das nächste Jahr eine Reise nach Neuseeland. Auf dem Tisch stapelten sich Reiseführer, er hatte schon eine Route zusammengestellt. Martin zeigte ihm Fotos in einem Bildband; atemberaubende Landschaft, unbekannte Pflanzen, Blüten, Tiere. »Und es gibt keine gefährlichen Tiere, keine giftigen Schlangen, ich glaube nicht einmal giftige Pflanzen«, sagte Martin. Ein wenig riss ihn Begeisterung mit und er überlegte gleichzeitig, wann er das letzte Mal verreist war. Rügen, die Ostsee, letztes Jahr ein paar Tage auf Sylt, das war’s. Dass er die Landesgrenzen überschritten hatte, war schon ewig her. Nicht, dass es ihn nicht gereizt hätte. Mal abgesehen vom Geld, es hatte sich nicht ergeben. Er wollte nicht allein reisen, und wusste nicht, mit wem er fahren sollte. Einfach so ergab es sich nicht. Seine Spontanität reichte für einen Ostseetrip, nicht aber für eine Fernreise. Und so wichtig war es ihm auch wieder nicht. Das Leben ist ein kurzer Urlaub vom Tod. Wenn man das einmal begriffen hatte, war es egal, ob man nach Asien, Amerika, an die Seidenstraße fuhr, oder einfach zu Hause blieb. Nur wenn andere von ihren Erlebnissen berichteten, Fotos zeigten und die mitgebrachten Dinge ausbreiteten, bekam er manchmal einen leisen Anflug von Neid.
Nach einer Stunde nahm er den Schlüssel. »Ich bringe ihn dir das nächste Mal zurück«, sagte er, sie küssten sich und er sprang zwei Stufen auf einmal die Treppe hinunter. Er hatte es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen, und rannte den Kottbusser Damm hinunter. Das war der kürzeste Weg. Und er wollte nicht noch einmal an den Menschen vor den überfüllten Lokalen vorbei.
Er hatte Martin nichts von seinem Aufbruch heute Morgen erzählt. Die ganze Aktion schien ihm nun albern und kindisch. Es ließ sich nicht so einfach erzählen. Dabei war er ein großer Verfechter des Darübersprechens, so lange er allerdings ein Problem nicht einmal für sich selbst richtig benennen konnte – wie sollte er darüber sprechen können? Er war sich nicht einmal sicher, ob er ein Problem hatte. Es verhielt sich wie in dem Traum vorhin, dem mit dem Puzzle. Das Bild wollte sich nicht zusammensetzen lassen. Da waren nur kleine Fetzen, die nicht zusammengehörten. Da war Langeweile, Unzufriedenheit und Überdruss. Da war Leere und eine Lustlosigkeit, die unversehens auftauchte und aus der er keinen Ausweg wusste. Und zugleich war er gar nicht unzufrieden, er war nicht verzweifelt, er brauchte keine Hilfe. Er hatte Urlaub. Er hatte ein Zuhause. Da fehlte doch nichts. Als er dies dachte, beschlich ihn das Gefühl, dass es vielleicht doch ein Problem gab.

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