Das Orakel der Zahlen - Gordon Gillespie - E-Book

Das Orakel der Zahlen E-Book

Gordon Gillespie

0,0
19,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Mathematik gleicht einem Orakel. Ihre Offenbarungen sind so klar und präzise wie nur möglich. Doch was sie letztlich zu bedeuten haben, bleibt unklar. Albert Einstein hat seiner Verwunderung darüber Ausdruck verliehen, dass die Mathematik so vortrefflich auf die Gegenstände der Welt passt. Und der große Mathematiker David Hilbert sah die sie als ein Spiel an, dessen meisterliche Beherrschung mindestens ebenso viel Phantasie verlangt wie jede andere große Kunst. Recht besehen ist die Mathematik ein großes Abenteuer des Denkens zwischen Geist und Welt. Gordon Gillespie ist der philosophische Kopf unter den populär schreibenden Mathematikern. In „Das Orakel der Zahlen“ gelingt ihm nichts weniger als eine Grundlegung der Mathematik aus der Intuition, unserer Anschauung und Vorstellungskraft heraus. Wir bekommen eine Ahnung von den Ursprüngen des Rechnens mit Zahlen und des Umgangs mit Figuren und davon, wie sich die Mathematik durch die ihr eigene Analyse dieses Tuns zu dem imposanten Ideengebäude entwickeln konnte, das wir heute kennen. Zugleich zeigt Gillespie, welchen eminenten Nutzen die Mathematik für Wissenschaft und Kunst hat. Dieser Nutzen beschränkt sich nicht in den vielen praktischen Anwendungsmöglichkeiten mathematischer Theorien. Die Mathematik ist – richtig verstanden – eine einzigartige Inspirationsquelle für jegliches Nachdenken über die Welt, den menschlichen Geist und ihre vielfältigen Verbindungen zwischen beiden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gordon Gillespie

DAS ORAKEL DER ZAHLEN

Eine kleine Philosophie der Mathematik

C.H.Beck

Zum Buch

Die Mathematik gleicht einem Orakel. Ihre Offenbarungen sind so klar und präzise wie nur möglich. Doch was sie letztlich zu bedeuten haben, bleibt unklar. Schon Albert Einstein hat seiner Verwunderung darüber Ausdruck verliehen, dass die Mathematik so vortrefflich auf die Gegenstände der Welt passt. Höchste Zeit also für eine Grundlegung der Mathematik aus der Intuition, unserer Anschauung und Vorstellungskraft heraus. Wir bekommen eine Ahnung von den Ursprüngen des Rechnens mit Zahlen und des Umgangs mit Figuren und davon, wie sich die Mathematik durch die ihr eigene systematische Analyse dieses Tuns zu dem imposanten Ideengebäude entwickeln konnte, das wir heute kennen. Zugleich zeigt Gordon Gillespie, welchen eminenten Nutzen die Mathematik für Wissenschaft und Kunst hat. Dieser Nutzen beschränkt sich nicht in den vielen praktischen Anwendungsmöglichkeiten mathematischer Theorien. Die Mathematik ist – richtig verstanden – eine einzigartige Inspirationsquelle für jegliches Nachdenken über die Welt, den menschlichen Geist und die vielfältigen Verbindungen zwischen beiden.

Über den Autor

Gordon Gillespie hat nach dem Studium der Mathematik und Physik in Philosophie promoviert und ist seitdem als freiberuflicher Unternehmensberater in Fragen der mathematischen Risikomodellierung und Datenanalyse tätig. «Das Orakel der Zahlen» ist sein erstes populär-mathematisches Buch.

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Zwischen den Kulturen

TEIL 1: Mathematische Grundlagen

1. Vom Zählen und den Zahlen

Henne oder Ei?

Zählen ohne Zahlen

Zahlen und ihre Stellvertreterinnen auf Erden

Mit Zahlen muss man rechnen

Die Babylonische Zahlenverwirrung

Weiter, immer weiter über Gottes Werk hinaus!

Divide et impera

Welt und Zahl

Alles bloß ein «soziales Konstrukt»?

Zahl ohne Welt

2. Punkte, Geraden, Dreiecke & Co.

Geometrie, bloß ein Hobby für Geeks?

Geometrie und Welt

Der Satz des Pythagoras und die Schockgeburt der irrationalen Zahlen

Die große Vereinigung

Und wieder neue Zahlen

Die zweite Schneide des scharfen Schwerts

3. Die Erkundung des Unendlichen

Die Eins, Achilles und die Schildkröte

Die Zähmung des verschwindend Kleinen

Der Dämon kehrt zurück

Die Ruhe nach dem Sturm

TEIL 2: Mathematik und Welt

4. Die Geometrie der Speziellen Relativitätstheorie

Weltlinien

Raum und Zeit – absolut! (zumindest teilweise)

Der Eimer, das Licht und der absolute Raum

Verdampfender Äther und die Verschmelzung von Raum und Zeit

Paradoxa und Missverständnisse

Alles bloß Messunterschiede?

Inertialsysteme relativistisch errichten

Vom Speziellen zum Allgemeinen

5. Welt und Modell

Die Sprache der Natur?

Abgehoben und doch fest geerdet

Cum grano salis

Determination und Explanation – die ungleichen Schwestern

Künstliche Intelligenz – Totengräberin des erklärenden Modells?

Von Quanten und Wundern

6. Geist und (mathematische) Abstraktion

Die Lotsin aus der Unmündigkeit

Von falschen Vorbildern zu neuen Inspirationsquellen

Mathematik und Philosophie – die gar nicht so ungleichen Schwestern

Jenseits von Kausalität

Das Wahre und das Schöne

Nachwort

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung: Zwischen den Kulturen

1. Vom Zählen und den Zahlen

2. Punkte, Geraden, Dreiecke & Co.

3. Die Erkundung des Unendlichen

4. Die Geometrie der Speziellen Relativitätstheorie

5. Welt und Modell

6. Geist und (mathematische) Abstraktion

Literaturverzeichnis

Vorwort

Ich will die Buntheit der Mathematik erklären.Ludwig Wittgenstein in seinen Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik

Wer sich daranmacht, ein populär-mathematisches Buch zu schreiben, begibt sich in große Gefahr! Es droht zweierlei: Entweder man kratzt bloß an der Oberfläche und gleitet ins Belanglos-Anekdotische ab, wo niemand irgendetwas Interessantes über die Mathematik an sich erfährt. Oder aber man bohrt tiefer und geht wirklich auf mathematische Ideen und Gedankengänge ein, verliert dabei allerdings die meisten Leserinnen und Leser. Ich versuche mit diesem Buch das Unmögliche, nämlich zu bohren und Sie trotzdem nicht zu verlieren. Ich will, dass Sie darin tatsächlich etwas über die Mathematik als die teils höchst nützliche Wissenschaft, teils tiefe und wunderschöne Denkkunst erfahren, die sie meines Erachtens ist. Und ich hoffe, dass Sie das darin gezeichnete Bild der Mathematik und ihrer Bezüge zu den anderen Wissenschaften sowie zu Kunst und Kultur anregend und erhellend finden werden.

Darüber hinaus soll die Vermittlung selbst möglichst leichtfüßig voranschreiten. Wenn Sie am Ende sagen: «Das hat sich doch ganz nett weggelesen», bin ich froh. Deshalb verzichte ich weitgehend auf jeglichen Formelapparat. Allerdings, ganz darauf verzichten kann ich nicht. Denn es sollen auch mathematisch versiertere Leserinnen und Leser etwas aus diesem Buch ziehen können, das sie nicht schon wissen bzw. so noch nicht gesehen haben. Hierzu sind ein paar Integralzeichen und dergleichen mehr wohl unumgänglich. Doch keine Sorge, den allermeisten Ausführungen werden Sie auch dann folgen können, wenn «Mathe nie Ihr Ding» gewesen ist. Die wenigen mit Formeln gespickten Passagen brauchen Sie nur zur Kenntnis zu nehmen; Sie müssen sie nicht durchdringen. Ich gebe Ihnen an den entsprechenden Stellen rechtzeitig Bescheid und berichte, was Sie wissen müssen, um den roten Faden nicht zu verlieren. Dennoch appelliere ich an die mathematisch nicht ganz so Kundigen: Versuchen Sie auch da bei der Stange zu bleiben, wo es ein bisschen anstrengender wird; es lohnt sich.

Was erwartet Sie konkret? Nun, zunächst kommt die Einleitung, worin ich unter der Überschrift «Zwischen den Kulturen» die klägliche Lage der Mathematik im Dunstkreis weitaus angesagterer intellektueller Disziplinen schildere, wie der Astrophysik, Klimaforschung oder Neurobiologie auf der einen Seite und der Wirtschaftspsychologie, soziologischen Medienwissenschaft oder Critical Race Theory auf der anderen. Wie die IT Crowd aus der gleichnamigen britischen Sitcom-Serie, so fristet auch die Mathematikerzunft ihre Tage zurückgezogen im tiefsten Keller des Büroturms der Wissenschaften – vom Rest der Belegschaft zwar als «irgendwie wichtig» anerkannt, von einigen Kollegen sogar regelmäßig konsultiert, aber von allen unverstanden und als Langweiler gemieden. Das ist gemein und ungerecht! In der Einleitung möchte ich aber nicht bloß lamentieren, sondern Ihnen einen ersten Eindruck von der immensen Fülle an erstaunlichen Ideen, eleganten Begriffsbildungen und bewusstseinserweiternden Sichtweisen vermitteln, welche die Mathematik zu bieten hat. Das Hassfach aus Schulzeiten schlechthin wird Ihnen danach vielleicht in gefälligerem Licht erscheinen.

Nach dem sanften Einstieg gehen wir in den ersten drei Kapiteln, die den ersten von zwei Teilen des Buches bilden, etwas mehr in die Tiefe und untersuchen die engen Verflechtungen zwischen scheinbar völlig getrennten Dingen: Zählen und Zahlen, Punkte, Dreiecke und Kreise sowie das unendlich Große oder Kleine. So wie das weiträumige, in der Erde verborgene Geflecht von Pilzen dem Ökosystem Wald überhaupt erst den Nährboden bereitet, so bilden die in den drei Kapiteln aufgezeigten Zusammenhänge meines Erachtens das eigentliche Fundament der gesamten Mathematik. Wenn Sie diese Zusammenhänge verstehen, wird Ihnen die Mathematik nicht mehr wie ein loses Sammelsurium mehr oder weniger nützlicher Formeln erscheinen. Sie werden sie als eine Hauptakteurin im nie endenden Menschheitsprojekt erkennen, sich nicht bloß irgendeinen Reim auf alles zu machen, sondern einen gleichermaßen sinnigen, wahren und kunstvollen Reim.

Im zweiten Teil, bestehend aus dem vierten bis sechsten Kapitel, gehe ich näher auf das teils unterkühlte, teils rein instrumentelle Beziehungsverhältnis zwischen der Mathematik und den anderen Akteurinnen in diesem Projekt ein, den übrigen Wissenschaften und den Künsten. Im vierten Kapitel geht es um die Spezielle Relativitätstheorie und darum, wie ein solides Verständnis ihres mathematischen Fundaments ein viel klareres Verständnis der Theorie insgesamt ermöglicht. Dies soll als Beispiel für meine feste Überzeugung dienen, dass auch Physikerinnen und sonstige Naturwissenschaftler davon profitieren, wenn sie sich auf genuin mathematische Sichtweisen einlassen. Entgegen der landläufigen Meinung unterscheidet sich mathematisches Denken in wesentlichen Aspekten deutlich von naturwissenschaftlichem Denken. Dies führt bei vielen Gelehrten in Sachen belebter und unbelebter Natur dazu, dass sie die Mathematik lediglich nutzen, das ganz eigene Weltverhältnis der Mathematik aber verkennen. Das ist schade. Es zu kennen, erweitert nämlich den Forscherblick und eröffnet neue Perspektiven, die sich sogar in konkreten Forschungserfolgen niederschlagen können.

Im fünften Kapitel widmen wir uns gemeinsam eingehender der Frage, wie die enorme Nützlichkeit der Mathematik für Naturwissenschaft und Technik zu verstehen ist. Ist sie ein im Kern unerklärliches Mysterium? Ich meine, man kann mehr dazu sagen und die Faszination für den Gegenstand damit sogar noch steigern. Doch dabei will ich es nicht bewenden lassen. Das gestörte Verhältnis zwischen der Mathematik und den Geisteswissenschaften muss ebenfalls auf den Tisch kommen. Das geschieht im sechsten und letzten Kapitel. Dort soll deutlich werden: Die Mathematik mag zwar für diese Disziplinen in keinem so direkten Sinne nützlich sein wie für Naturwissenschaft und Technik. Die besonderen Weisen der begrifflichen und strukturellen Analyse zu kennen, wie sie die Mathematik auszeichnen, kann sich aber in einem indirekten und nicht weniger bedeutsamen Sinne für Philosophen, Historikerinnen, Soziologen, Psychologinnen u.a. als nützlich erweisen. Mehr noch, selbst für «Kreative, deren Geist in keinem starren Denkkorsett einer Wissenschaft eingeschnürt ist, sondern eher frei-assoziativ arbeitet», lohnt es sich, die Mathematik besser kennenzulernen. Vielleicht wird sogar Liebe daraus. Aber selbst wenn nicht, so führt die Auseinandersetzung mit einer scheinbar gänzlich fremden Sicht- und Denkweise zur produktiven Hinterfragung und Bereicherung der eigenen – vorausgesetzt, die fremde Sicht und das fremde Denken sind hinreichend komplex, in einigen Hinsichten merkwürdig andersartig und in anderen Hinsichten überraschend vertraut. Genau so verhält es sich mit der Mathematik.

Bevor es losgeht, aber noch ein Wort zur «gendergerechten» Sprache: Wie bereits praktiziert, habe ich den Kompromiss gewählt, dem generischen Maskulinum ein generisches Femininum an die Seite zu stellen. Wenn im Weiteren ausnahmsweise einmal doch das biologische oder soziale Geschlecht einer Mathematikerin oder eines Philosophen von Belang sein sollte, so sollte das aus dem jeweiligen Zusammenhang deutlich genug hervorgehen.

Und noch ein praktischer Hinweis: Auf der Website zu diesem Buch finden sich für diejenigen, die es noch genauer wissen wollen, Empfehlungen zur vertiefenden Lektüre, zusätzliche Hintergrundinformationen und mathematische Details zu den hier enthaltenen Beweisen bzw. Beweisskizzen. Letztere habe ich der besseren Lesbarkeit halber möglichst knapp und eingängig gehalten. Sie sollen die zündende Idee vermitteln, nicht unbedingt strengsten mathematischen Standards genügen.

Einleitung: Zwischen den Kulturen

Nun läuft aber alle analysis finitorum et infinitorum im Grunde dochauf Rechnerei zurück [die niedrigste aller Geistestätigkeiten].Danach bemesse man den «mathematischen Tiefsinn» […]Arthur Schopenhauer in Parerga und Paralipomena

Die Mathematik ist die Magd der Physik.Mein Physiklehrer in der Oberstufe

Im Jahr 1959 hielt der Physiker und Schriftsteller C.P. Snow eine Rede im Festsaal des «Senate House» der Universität Cambridge. Zahlreiche Vertreter aller Fakultäten waren anlässlich der traditionellen Rede Lecture erschienen. Von Champagner und Marmite-Schnittchen wohlig gestärkt, ahnten sie nicht, dass ihnen gleich die Leviten gelesen würden – den einen ob ihres völligen Unverständnisses grundlegender Zusammenhänge in der uns umfassenden Natur, den anderen wegen ihrer ebenso grotesken Ahnungslosigkeit von kultur- und ideengeschichtlichen Zusammenhängen, von denen nicht zuletzt ihr eigenes Weltbild maßgeblich mitgeprägt worden war. «Die zwei Kulturen» war der Titel (des ersten Teils) der Rede, und darin kam Snow zu der seitdem vielfach diskutierten Diagnose: Der Westen – der Kalte Krieg war damals in vollem Gange – kranke an einer Zweiteilung des Geisteslebens in das Lager der «literarischen Intellektuellen» auf der einen Seite und das der «Wissenschaftler» auf der anderen. Diese Diagnose belegte er u.a. anhand anekdotischer Beispiele von angesehenen Geistesgrößen, die sich über die mangelnde Bildung der «Wissenschaftler» ausließen, denen selbst aber ein so grundlegendes Resultat wie der zweite Hauptsatz der Thermodynamik rein gar nichts sagte. Doch auch die «Wissenschaftlerinnen» bekamen ihr Fett weg. So berichtete er von Begegnungen mit brillanten Köpfen, die schon bei Charles Dickens an die Grenzen ihres literarischen Fassungsvermögens kamen – von einem «esoterischen, faszinierend unklaren» Autoren wie Rainer Maria Rilke ganz zu schweigen.

Hätte Snow seine Rede an der Universität Heidelberg und auf Deutsch gehalten, hätte er die beiden Lager wohl als das der «Kulturschaffenden und Geisteswissenschaftler» auf der einen Seite und das der «Naturwissenschaftler und Ingenieure» auf der anderen ausgemacht oder so ähnlich. Und hielte er die Rede heute, so müsste er sie nur ein wenig auffrischen, nicht völlig umschreiben. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie groß die wechselseitige Ignoranz und das herablassende Desinteresse am Tun der jeweiligen Gegenseite sind. Ich habe Philosophen kennengelernt, die sinngemäß behaupteten, die Naturwissenschaften seien öde, weil dort nicht argumentiert würde, sondern nur beobachtet und buchgeführt. Und nicht nur eine Physikerin hat mir ihre Verwunderung darüber bekundet, dass die allermeisten angehenden Akademiker – darunter sogar einige halbwegs intelligente Leute – etwas anderes studieren als Physik. Schließlich bestehe alles aus Elementarteilchen, und deren Verhalten werde nun einmal letztendlich allein von der Physik erklärt.

Hier soll aber kein kulturpessimistisches Lamento folgen, in dem das goldene Zeitalter der Renaissance heraufbeschworen wird – einer unwiederbringlichen Epoche, da der Löwe Naturwissenschaft und das Lamm Geisteswissenschaft (oder umgekehrt?) friedlich beieinanderlagen und sich aufs Trefflichste gegenseitig befruchteten. Vom Anachronismus und der Schiefe des Bildes abgesehen, wäre die Botschaft allzu betrüblich – und das völlig grundlos. Denn es gibt eine Brücke über den Graben, der die beiden Kulturen trennt: die Mathematik.

Die Mathematik?! Ist nicht gerade sie eine der tragenden Säulen des herrschenden rigiden Weltbildes, in dem Schönheit und Sinn keinen Platz haben, sondern bloß kalte Zahlen und Fakten? Wird sie nicht völlig zu Recht den Naturwissenschaften zugerechnet? Nein, wird sie nicht! Auch Snow verortet in seiner Rede die Mathematiker klar im Lager der Naturwissenschaftler. Doch wenn es bei der schablonenhaften Einteilung der Wissenschaften in die beiden Kategorien Geistes- vs. Naturwissenschaften überhaupt mit rechten Dingen zugehen könnte, so müsste die Mathematik als Geisteswissenschaft gelten.[1] Nicht umsonst entstand die Mathematik – als intellektuelle Disziplin, nicht als bloßes Werkzeug – zeitgleich mit der Philosophie im antiken Griechenland, beide oft von denselben Denkern vorangetrieben und beide im Ringen um eine Befreiung des Geistes aus den Fesseln religiöser Dogmen.

Ein Beispiel aus der Quantenmechanik mag vor Augen führen, wie wenig Verständnis Physiker, Chemikerinnen, Biologen, Geologinnen u.a. in der Regel für genuin mathematischen Erkenntnisdrang aufbringen: Paul Dirac, einer der Väter der Quantenmechanik, ersann eines Tages die nach ihm benannte «Funktion» δ. Diese besitzt bestimmte praktische Recheneigenschaften, die das Leben von Physikern sehr erleichtern. Allerdings hat δ auch die sehr merkwürdige Eigenschaft, überall auf dem Zahlenstrahl den Wert null anzunehmen, außer an der Stelle null; dort ist sie unendlich. Ein solches Gebilde ergibt zunächst ebenso wenig Sinn wie ein allmächtiger Gott. So wie der weise Rabbi zunächst keine überzeugende Antwort auf die Frage des vorwitzigen Toraschülers fand, ob der allmächtige Gott denn auch einen Stein erschaffen könne, der so schwer sei, dass selbst er, Gott, ihn nicht anheben könne, so konnte auch Dirac nicht sagen, wie seine Funktion denn genau zu verstehen sei. Das hinderte Physikprofessorinnen aber keineswegs daran, ihren Studenten im Grundkurs Quantenmechanik als Rat mitzugeben: «Rechnen Sie mit der Dirac-Funktion einfach so, als wäre es eine ganz normale Funktion – Hauptsache, es kommt am Ende das Richtige raus!»

Mit einem solchen pragmatischen Motto kann und will sich keine wahre Mathematikerin zufriedengeben. Ähnlich dem Rabbi, der nicht eher ruht, als bis er die Allmacht Gottes in bester dialektischer Manier gerade vermöge ihrer Selbstwidersprüchlichkeit auf eine neue Ebene der Sinnhaftigkeit emporgehoben hat, wird sie, die Mathematikerin, so lange forschen, bis sie der Dirac-Funktion einen Sinn geben kann, der deren für die Physik so nützlichen Eigenschaften verständlich macht. Genau dies ist Laurent Schwartz mit der Entwicklung seiner Distributionen-Theorie gelungen, wofür er 1950 die Fields-Medaille erhielt (den «Nobelpreis der Mathematik»).

Waren die Physiker nicht völlig aus dem Häuschen, oder zumindest die Quantenmechanikerinnen, als sie von Schwartz’ Durchbruch erfuhren? Philip Davis und Reuben Hersh beschreiben die Reaktion in ihrer Erfahrung Mathematik so:

Mathematiker [wie Schwartz] haben sich also eineinhalb Jahrhunderte lang gequält, um einige von Fouriers [und Diracs] Berechnungen zu rechtfertigen. Andererseits empfinden Physiker und Ingenieure kaum ein Bedürfnis nach einer solchen Rechtfertigung. (Schließlich spricht ein funktionierendes Gerät oder Experiment für sich selber.) Trotzdem ist ihnen offenbar die von der Mathematik angestellte Unbedenklichkeitserklärung ganz angenehm. In kürzlich erschienenen angewandten Lehrbüchern finden sich nun dünn verteilte Hinweise auf Laurent Schwartz, mit denen ehemals «illegitime» Berechnungen gerechtfertigt werden sollen.

Salopper formuliert: Den Physikern kam’s nicht ungelegen, aber im Grunde war’s ihnen ziemlich egal.

Ich führe dieses Beispiel nicht an, um Physikerschelte zu betreiben, sondern um deutlich zu machen, dass entgegen der landläufigen Meinung die Erkenntnisinteressen der Mathematik und der Naturwissenschaften sehr, sogar grundlegend, verschieden sind. Es wäre allerdings übereilt, die Mathematik nun nahtlos in die Phalanx der Geisteswissenschaften einreihen zu wollen. Die Mathematik hat zwei wesentliche Züge, die in beiden Lagern gleichermaßen für Befremden sorgen: das scheinbar pedantische Beharren auf strenger logischer Konsistenz und, damit verbunden, ein enormer Abstraktionsgrad, der für Außenstehende oft selbstzweckhaft wirkt. Dieses Befremden kann aber günstigstenfalls, einen offenen Geist und die Bereitschaft vorausgesetzt, borniertes Lagerdenken zu überwinden, in Neugierde umschlagen. Ist diese erst einmal geweckt, werden die «Naturwissenschaftler und Ingenieure» vielleicht erkennen: All die Areale der Mathematik jenseits der von ihnen genutzten Formeln und Modelle, die der vertrackten Beweise, der Verallgemeinerungen über jegliches praktische Maß hinaus, der esoterischen Begriffsbildungen sind vielleicht keine fruchtbaren Äcker und Felder, aber dafür wunderschöne Parklandschaften oder liebliche Blumengärten. Diese näher zu erkunden, ist zumindest ein lohnendes Ziel zur weiteren persönlichen Bildung – und mit etwas Glück sogar eines mit unerwarteten fruchtbaren Folgen für die eigene Arbeit. Und die «Kulturschaffenden und Geisteswissenschaftler» werden womöglich feststellen: Die Mathematik ist alles andere als die Fron trübseliger Rechenknechte. Sie ist vielmehr die intellektuelle Kunst, nur von elementaren Begrifflichkeiten ausgehend filigrane und zugleich stabile Ideengebäude zu errichten, von denen aus zuvor ganz ungeahnte Regionen im Raum des Denkbaren erkundet werden können. Dass sie auch eine Wissenschaft mit nützlichen Resultaten ist, erscheint da fast nebensächlich.

Die Riemann’sche Geometrie belegt dies eindrücklich. Sie geht auf Bernhard Riemann zurück, der ihren Grundstein Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner Habilitationsschrift legte. (Wären doch alle Werke zur Erlangung höchster akademischer Weihen nur im Ansatz solche Geniestreiche!) Sehr verkürzt dargestellt, übertrug Riemann die Ideen seines Lehrers Carl Friedrich Gauß zu gekrümmten Flächen auf höherdimensionale Gebilde. Gauß’ Ideen wiederum lassen sich ebenfalls sehr verkürzt so zusammenfassen: An jedem Punkt (außer am Rand) einer glatten Fläche (ohne Ecken und Kanten) besitzt diese eine intrinsische Krümmung. Diese ist unabhängig von der konkreten Lage der Fläche im Raum. Das heißt, wenn die Fläche in eine beliebige andere Lage gebracht wird, beispielsweise durch Verbiegen, bleibt die intrinsische Krümmung an jedem Punkt der Fläche erhalten – vorausgesetzt nur, die Fläche wird nirgendwo gedehnt oder gestaucht.

Wenn man ein Blatt Papier auf den aufgeräumten Schreibtisch legt, sieht man: nun ja, eine ganz plane Fläche. Die intrinsische Krümmung der Fläche beträgt entsprechend überall null. Rollt man das Blatt aber zu einem Kinder-Fernrohr zusammen, so ist es im gewöhnlichen Sinne natürlich überall gekrümmt – so wie die Finger und der Daumen der Hand, die das Fernrohr hält. Bei dieser Krümmung des Blattes handelt es sich aber lediglich um die extrinsische Krümmung, die nur relativ zum umgebenden Raum besteht. Die intrinsische Krümmung ist nach wie vor überall null. Das lässt sich beispielsweise daran erkennen, dass das x-beliebige Dreieck, das vor dem Zusammenrollen des Blattes irgendwo darauf gezeichnet worden sein mag, nach dem Zusammenrollen immer noch die Winkelsumme 180° aufweist. Die Oberfläche einer Kugel, etwa des Globus auf dem Schreibtisch, hat hingegen überall eine intrinsische Krümmung ungleich null. Sie sieht also nicht nur krumm aus, sondern sie ist wirklich krumm – in sich. Wenn man beispielsweise ein Dreieck auf dem Globus vom Nordpol nach Quito, von dort nach Mogadischu und von dort wieder zum Nordpol zieht, so wird man feststellen: Das Dreieck hat lauter ungefähr rechte Winkel, sodass die Winkelsumme ca. 270° statt der gewohnten 180° beträgt. Genau daher rührt das vertrackte Problem, das Kartenmacher über Jahrhunderte hinweg schwer zu schaffen machte: Wie lässt sich die Oberfläche der Erde auf ein Blatt Papier bannen, sodass die Abstände beliebiger Landmarken maßstabsgetreu erhalten bleiben? Die Lösung besteht darin, dass es nach dem Satz von Gauß schlicht nicht geht – die Verflachung der Kugeloberfläche ist wie die Quadratur des Kreises, eben unmöglich.[2]

«Ja, nicht völlig uninteressant», wird der eine oder andere denken, «but I’m not overly impressed.» Doch Moment, jetzt kommt ja der Riemann ins Spiel. Er hat, wie gesagt, die ganze Sache auf höhere Dimensionen gehoben. Kurzum, er hat gezeigt, wie man den Begriff der intrinsischen Krümmung nicht nur auf Flächen anwenden kann, sondern auch auf Räume beliebiger Dimension. Seit Riemann kann man sinnvoll und präzise fragen, ob etwa der uns umgebende «Raum in sich gekrümmt» ist. Vor Riemann wäre das bloß eine inhaltsleere Wortfolge gewesen, die bestenfalls in den Händen eines begabten Dichters eine interessante Assoziationskette hätte hervorrufen können. So ist durch die Riemann’sche Geometrie denkbar geworden, was zuvor nicht nur unvorstellbar gewesen war, sondern im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar! (Unvorstellbar ist es aber immer noch – zumindest für Normalsterbliche.)

Das Beispiel der Riemann’schen Geometrie führt nicht nur die Fähigkeit der Mathematik vor Augen, unseren geistigen Horizont um neuartige Aussichten zu erweitern. Sie zeigt auch, wie dieser intellektuell-ästhetische Vorzug ganz unerwartet einen praktischen Nutzen abwerfen kann. Albert Einstein gehörte zu der Minderheit von Naturwissenschaftlern, die sich mehr als nur oberflächlich auch mit so frivolen Dingen wie Philosophie beschäftigen. Er war ein offener Geist, der öfter betonte, dass es weniger experimentelle Befunde waren, die ihn zu seinen bahnbrechenden Ideen führten, als vielmehr ebenjene, aus Sicht der meisten seiner Kollegen völlig abseitige Beschäftigung. Zur Mathematik hatte er hingegen zunächst ein eher instrumentelles Verhältnis: Man brauchte sie zwar als Physiker, aber von den nützlichen Resultaten abgesehen, war sie eigentlich uninteressant. So soll er, als er 1905 die Spezielle Relativitätstheorie – auf die wir noch näher zu sprechen kommen werden – entwickelt hatte und Hermann Minkowski begann, sie geometrisch zu deuten, verkündet haben: «Seit die Mathematiker sich meiner Theorie angenommen haben, verstehe ich sie selbst nicht mehr.» Aber gerade die geometrische Deutung war es, die auf die Spur zur entscheidenden Idee der Allgemeinen Relativitätstheorie führte: Raum und Zeit sind nicht nur, wie in der Speziellen Theorie, untrennbar in der Raum-Zeit miteinander verwoben. Diese ist zudem, je nach Materie- und Energieverteilung, in sich gekrümmt – im Sinne der Riemann’schen Geometrie.

Einstein brauchte zehn quälend lange Jahre, um auf diese Idee zu stoßen und, davon ausgehend, seine Allgemeine Theorie zu formulieren. Hätte er bloß geahnt, dass bereits mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor Riemann genau die begrifflichen Ressourcen entwickelt hatte, die er benötigte, wäre er sicher deutlich schneller ans Ziel gelangt.

Das Universum ist in sich gekrümmt. Und seit dem Urknall ist es weiter und immer weiter expandiert – aber nicht in einen vorab bestehenden, umgebenden Raum hinein. Stellen Sie sich einen Luftballon vor, auf dem zufällig verstreut Punkte aufgemalt sind und der gerade aufgeblasen wird. Die Punkte repräsentieren die Galaxien, die sich immer weiter voneinander entfernen. Und denken Sie sich nun noch alles andere weg, einschließlich des dreidimensionalen Raumes innerhalb und außerhalb des Luftballons. Wenn Ihnen das gelingt, sind Sie ein Genie abstrakter Imagination; wenn nicht, so geht es Ihnen wie mir: Sie wissen zumindest, wie man es sich in etwa vorstellen müsste.

Der Urknall war also keine Explosion, bei der Materie nach außen geschleudert wurde; es gab und gibt schlicht kein «Außen». Das Universum expandiert im Sinne einer stetigen Änderung seiner (durchschnittlichen) intrinsischen Krümmung. Dank Einstein (und Edwin Hubble) wissen wir dies und können es für so praktische Dinge wie das GPS nutzen. Aber nur dank Riemann können wir es überhaupt denken.

Die Mathematik ist ein Solitär unter den Wissenschaften. Sie steht zwischen den «zwei Kulturen», wenn nicht gar abseits von beiden. Das kann bei einigen Mathematikern zu einem gewissen Hochmut führen. So bemerkte David Hilbert, der wohl einflussreichste Mathematiker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, hinsichtlich Einsteins Schwierigkeiten bei der Bestimmung der sogenannten Feldgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie süffisant: «Die Physik ist viel zu schwer für die Physiker.» Und auf die Nachricht, dass einer seiner Studenten das Studium abgebrochen habe, um Dichter zu werden, soll er lapidar festgestellt haben: «Besser so, er hatte ohnehin nicht genug Phantasie für die Mathematik.»

Doch Arroganz ist keine produktive Einstellung. Viel lohnender ist es, die Sonderstellung der Mathematik als begrifflich-analytische und zugleich exakte Wissenschaft als große Chance zu verstehen: Sie prädestiniert die Mathematik dafür, die längst überfällige Überwindung des Grabens zwischen den Kulturen zu befördern. Naturwissenschaftlerinnen und sonstige «Zahlenmenschen», die ihren rein instrumentellen Blick auf die Mathematik erweitern, werden einen Sinn für Alternativen zu den ihnen vertrauten quantitativ-kausalen Erklärungsmustern entwickeln. Geisteswissenschaftler und «eher künstlerisch Veranlagte», die die Mathematik als intellektuelle Disziplin eines näheren Blickes würdigen, werden erkennen: Strenge Begründungsansprüche und kreatives Denken schließen sich nicht aus. Im Gegenteil, gerade in Verbindung miteinander haben sie vor allem in der Mathematik, aber auch in den Naturwissenschaften zu einigen der beeindruckendsten Kulturleistungen der Menschheit geführt.

Es lohnt sich also, egal wo man steht, sich der Mathematik zu öffnen.

TEIL 1

Mathematische Grundlagen

1. Vom Zählen und den Zahlen

Das Erreichen der Gänze des Daseins im Todeist zugleich Verlust des Seins des Da.Martin Heidegger in Sein und Zeit

Jetzt fuhrwerken sie wieder in der Zeit ’rum!Meine Großmutter zur erneuten Einführungder «Sommerzeit» im Jahre 1980

Henne oder Ei?

Es ist ein beliebter rhetorischer Zug in Debatten, (pseudo-)etymologische Belege heranzuziehen, um die eigene Position zu untermauern. Im besten Fall gelingt das, und es kommen durch den Hinweis auf bestimmte Ähnlichkeiten zwischen Wörtern wichtige Beziehungen zwischen Begriffen zum Vorschein. Im schlechtesten Fall suggeriert aber eine sprachliche Nähe einen engen inhaltlichen Zusammenhang, der gar nicht besteht.

Wie verhält es sich mit dem «Zählen» und den «Zahlen»? Hängen die Begriffe wirklich so eng miteinander zusammen, wie es die Wörter nahelegen? Und wenn ja, was kommt zuerst: das Zählen oder die Zahlen? Oder sind sie zwei Seiten einer Medaille? Oder spielt uns das Deutsche hier womöglich einen Streich, und sie haben überhaupt nichts miteinander zu tun? Doch, haben sie, und natürlich kommen zuerst die Zahlen. Denn wenn man zählt, heftet man sozusagen gedanklich Zahlen an die Dinge, die man zählt – beispielsweise, beim Zählen der Finger an der Hand, die Eins an den Daumen, die Zwei an den Zeigefinger, die Drei an den Mittelfinger usw.

Wem diese Charakterisierung des Zählens vermöge der Zahlen einleuchtet oder gar wie eine Binsenweisheit vorkommt, der ist einem weitverbreiteten und tiefsitzenden Missverständnis aufgesessen. Es ist, wie ich glaube, u.a. der Grund dafür, weshalb die Menschheit so lange so große Mühe hatte (und viele Menschen immer noch haben), die Zahl Null zu fassen zu kriegen. An welches Ding sollte man die Null auch heften? Ein echtes Ding gewiss nicht; das wäre ja mindestens eines. Also an nichts? Aber wie heftet man etwas an nichts – auch nur gedanklich? Das Nichts anstelle von nichts bringt auch nichts; das wäre ja wieder etwas und somit wieder mindestens eines.

Um beim Finger-Beispiel zu bleiben: Eine Freundin erzählte mir einmal von den Problemen ihrer kleinen Tochter mit dem Zählen. Wenn sie, die Freundin, alle fünf Finger einer Hand hochstrecke und ihre Tochter bitte, die Finger zu zählen, so gelinge dies der Kleinen problemlos (angefangen beim Daumen): «Eins, zwei, drei, vier, fünf!» Doch wenn sie, die Freundin, anschließend nur den kleinen Finger ausgestreckt lasse und die Tochter frage, wie viele Finger es jetzt seien, so antworte diese: «Fünf!» Diese Antwort hätte man in pädagogisch weniger aufgeklärten Zeiten schnellfertig als Zeichen von Dummheit gedeutet und wohl auch heute noch zumindest als eines mangelnder mathematischer Begabung. Beides ist falsch; im Gegenteil, das Mädchen hält sich einfach nur konsequent an obiges Bild vom Zählen: Warum, so könnte es zu Recht fragen, sollte denn auf einmal die Fünf nicht mehr am kleinen Finger haften, nur weil die anderen Finger nicht mehr ausgestreckt sind?!

Die meisten von uns haben sich als Kind irgendwann einfach mit der Antwort der Erwachsenen abgefunden: «Frag nicht so dumm, so ist es halt.» Und wir haben brav gezählt, wie «man eben zählt» – ohne zu verstehen, was wir da eigentlich tun; schlimmer noch, mit einem völlig falschen Verständnis davon.

Auftritt Georg Cantor. Kaum zu glauben, aber erst dieser 1845 in Sankt Petersburg geborene Kaufmannssohn und Begründer der höheren Mengenlehre erkannte den Schlüssel zum richtigen Verständnis des Zählens als solchen und – worauf wir im dritten Kapitel näher eingehen werden – dessen erstaunliche mathematische und philosophische Sprengkraft: die Eins-zu-eins-Beziehung.[1]

Zu Beginn einer Tanzstunde stehen die Mädchen der Tanzklasse in einer Ecke des Saals beisammen, um sich gegenseitig ihre neuesten Instagram-Posts zu zeigen; die Jungs lümmeln in einer anderen Ecke rum und machen das Gleiche. Als die Lehrerin den Saal betritt, möchte sie umgehend wissen, ob es gleich viele Jungen wie Mädchen sind. Denn die Tanzschule ist sehr konservativ; es dürfen nur jeweils ein Junge und ein Mädchen ein Tanzpaar bilden. Um das herauszufinden, könnte die Lehrerin natürlich zunächst die Jungen durchzählen, dann die Mädchen und dann die beiden Ergebnisse miteinander vergleichen. Es geht aber viel einfacher. Wenn Sie mögen, überlegen Sie gerne erst einmal selbst, bevor Sie weiterlesen. Kommen Sie darauf? Die Tanzlehrerin muss nur laut rufen: «Damenwahl!» Wenn sich nach einer kleinen Weile alle Paare gebildet haben, kennt die Lehrerin die Antwort, und zwar ganz ohne zu zählen. Es sind nämlich genau dann gleich viele Jungen wie Mädchen im Saal, wenn kein Kind ohne Tanzpartner übrig bleibt. Mathematisch ausgedrückt: Es besteht eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen den Jungen und den Mädchen.

Etwas abstrakter, besteht in der Abbildung links zwischen den Kreisen und den Dreiecken eine Eins-zu-eins-Beziehung, denn jedem Kreis ist genau ein Dreieck zugeordnet, und umgekehrt. In der Mitte und rechts sind hingegen keine Eins-zu-eins-Beziehungen dargestellt, da mindestens einem Dreieck mehr als ein bzw. kein Kreis zugeordnet ist.

Eins-zu-eins-Beziehung

«Wie soll das denn das Zählen erklären können?», könnte man einwenden. «Es setzt ja schon voraus, dass man weiß, ob einem Ding kein, ein oder mehr als ein anderes Ding zugeordnet ist.» Genau! Das wird vorausgesetzt, aber der springende Punkt ist: Es wird nicht mehr vorausgesetzt. Insbesondere wird nicht vorausgesetzt, dass man weiß, ob einem Ding (genau) zwei andere Dinge zugeordnet sind, oder drei oder vier oder … Es wird nicht einmal vorausgesetzt, dass man weiß, was es überhaupt heißt, dass einem Ding (genau) zwei andere Dinge zugeordnet sind, oder drei oder vier oder … Man muss nur Sätze wie die folgenden verstehen und gegebenenfalls auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen können: «Oh je, für den neuen Kollegen gibt’s gar keinen freien Arbeitsplatz.» – «Doch, da drüben ist noch einer frei; das ist aber der einzige.» – «Quatsch, der in der Ecke ist auch noch frei.»

Zu beachten ist ferner, dass man zum Verständnis solcher Sätze ebenso wenig bereits über die Zahlen Null und Eins verfügen muss. Zwar lässt sich «es gibt kein/genau ein/mehr als ein Ding der und der Art» umformulieren zu «die Anzahl von Dingen der und der Art ist null/eins/größer als eins». Die Umformulierung ist aber begrifflich voraussetzungsreicher als der Ausgangssatz.

Eine Analogie mag das verdeutlichen: In einer entwickelten Geldwirtschaft kann ein Bauer einem andern gegenüber sinnvoll behaupten: «Der Preis deiner Kuh ist gleich dem Preis meiner Kuh.» Vom emotionalen oder sonstigen nichtmonetären Wert abgesehen, läuft das schlicht auf die Behauptung hinaus, dass beide Kühe gleich viel wert sind. Letzteres kann auch ein Bauer in einer reinen Tauschwirtschaft sagen, aber nicht Ersteres. Denn Preise sind Größen in Geldeinheiten, von denen die Akteure einer reinen Tauschwirtschaft buchstäblich noch gar keinen Begriff haben.

Zählen ohne Zahlen

Begeben wir uns auf eine kleine Zeitreise in die Steinzeit vor der neolithischen Revolution. Wir landen am Rande einer zeitweiligen Siedlung einer Sippe von Jägern und Sammlern. Wir halten uns in einem kleinen Wäldchen versteckt, um den Lauf der Geschichte nicht allzu sehr zu stören, bleiben aber in Seh- und Hörweite. Erstaunlicherweise spricht das Völkchen Deutsch.

Da kehrt ein junger Bursche, anscheinend vom Beerensammeln kommend, in die Siedlung zurück und tritt vor die Älteste der Sippe und berichtet: «Weiseste, ich habe unten am Fluss der springenden Frösche eine große Herde von Hirschkühen entdeckt und auf der Lichtung des schreienden Bussards noch eine. Lass uns eine Treibjagd machen!» – «Schön und gut, Kleines Fuchsohr», entgegnet da die weise Frau – offenbar die Anführerin –, «doch welche Herde ist die größere?» – «Kann ich nicht sagen», antwortet der Jüngling, «sie sehen, Pi mal Daumen, gleich groß aus.» Darauf die Anführerin: «Das ist mir zu vage. Nimm diesen Beutel mit Tannenzapfen und diesen leeren Beutel, und lauf nochmal zum Fluss. Schau dir jede Hirschkuh einmal einzeln an, aber nur einmal, und nimm dabei jedes Mal aus dem vollen Beutel einen Zapfen und leg ihn in den andern Beutel. Du, Große Bärentatze, lauf zur Lichtung und mach das Gleiche; nimm den vollen Beutel da und diesen leeren mit. Kommt dann schnell wieder zurück.»

Nach einer Weile sind Kleines Fuchsohr und Große Bärentatze zurück und überreichen der Weisen die beiden frisch gefüllten Beutel. Begleitet von unverständlichen Beschwörungsformeln, nimmt sie nacheinander jeweils mit der linken Hand einen Zapfen aus dem einen Beutel und mit der rechten einen aus dem anderen Beutel. Die beiden Zapfen wirft sie anschließend ins Feuer. Das wiederholt sich so lange, bis im linken Beutel, den die Weise von Großer Bärentatze erhalten hat, kein Zapfen mehr zu finden ist. Da sagt sie: «Im Beutel von Kleinem Fuchsohr sind noch Zapfen – lasst uns die Herde am Fluss jagen!» Voller Tatendrang, wohlwissend, dass ihre Anführerin stets die richtige Entscheidung trifft, macht sich die ganze Sippe auf zur Jagd.

Die Oberjägerin verfügt offenbar über den Begriff der Eins-zu-eins-Beziehung. Mehr noch, sie nutzt sogar eine wesentliche Eigenschaft derselben: die Transitivität. Diese besagt Folgendes: Sind drei Mengen von Objekten gegeben, sodass zwischen den Objekten der ersten und denen der zweiten Menge sowie zwischen den Objekten der zweiten und denen der dritten Menge jeweils eine Eins-zu-eins-Beziehung besteht, so besteht auch zwischen den Objekten der ersten und denen der dritten Menge eine solche Beziehung. Trivial, aber mit weitreichenden Konsequenzen. Denn wie gesehen, erlaubt die Transitivität beispielsweise einen genauen Größenvergleich zweier Herden, deren Individuen man aufgrund ihrer räumlichen Entfernung gar nicht direkt miteinander in Beziehung setzen kann. Eine enorme Kulturleistung!

Doch kehren wir zur Sippe zurück. Ein paar Wochen sind vergangen, in denen die Weise offenbar intensiv nachgedacht hat. Denn nun entdeckt man auf ihrem rituellen Umhang symbolhafte Stickereien von unterschiedlich vielen Tannenzapfen. Und wenn nun Schlanker Kranichhals mit einem Zapfenbeutel kommt, breitet sie den Umhang auf dem Boden aus, nimmt die Zapfen aus dem Beutel und legt sie so auf eine der Stickereien, dass jeder echte Zapfen genau auf einem gestickten liegt. Anschließend gibt die Weise Schlankem Kranichhals Beutel und Zapfen zurück und klopft dreimal – wieder begleitet von Beschwörungsformeln – auf besagte Stickerei. Dann passiert erst einmal nichts. Doch eine Stunde später erscheint Hans, der der Anführerin auch einen Beutel mit Zapfen reicht. Wieder dasselbe Spiel. Nach dem erneuten dreimaligen Klopfen, aber diesmal auf eine andere Stickerei, verkündet die Anführerin: «Hans hat die größte Herde entdeckt. Er soll uns dorthin zur Treibjagd führen.»

Umhang zum Zählen

Ein weiterer kultureller Meilenstein: Die Anführerin hat das Zählen entdeckt! Für jede mögliche Herde von Hirschkühen (der die Sippe üblicherweise begegnet) hat sie eine Referenzmenge von Zapfen gestickt, mit denen sie die Tiere in eine Eins-zu-eins-Beziehung bringen kann. Und sie hat sich die Größenverhältnisse zwischen den Referenzmengen eingeprägt. Mehr braucht es nicht zum Zählen. Insbesondere bedarf es keiner Zahlen, die irgendwo drangeheftet werden. Die Sippe kennt zunächst nur die Stickereien, und das sind eben keine Zahlen. Aber fungieren sie nicht wie Zahlen? Ja, fast. Um zu echten Zahlen zu gelangen, bedarf es aber noch einiger Abstraktionsschritte.

Reisen wir also nochmals in der Vergangenheit ein paar Wochen in die Zukunft. In der Zwischenzeit hat Flinkes Hasenbein, der treue Gefährte der Anführerin und Vater der meisten ihrer Kinder, eine tolle Idee gehabt: «Weiseste, könnten wir die Stickereien nicht auch nutzen, um zu erfahren, an welchem Baum die meisten Feigen hängen, bevor wir hochklettern?» – «Du sollst nicht denken, Lahmes Hinkebein, sondern das Zelt aufräumen!», raunzt ihn die Obersammlerin an, um sich aber wenig später zu entschuldigen: «Verzeih, Flinkes Hasenbein, das ist mir so rausgerutscht. Ich halte dich wirklich nicht für lahm, ehrlich! Und deine Idee ist vielleicht gar nicht so schlecht; sollten wir mal ausprobieren.»

Wenig später zählt die ganze Sippe alles Mögliche, sogar flüchtige Dinge, zum Beispiel wie oft der Wolf in der Nacht geheult hat. Da wird es der Weisen schnell zu viel – immer wieder den Umhang auszubreiten, Zapfen auf die richtige Stickerei zu legen und unter Beschwörungsformeln dreimal draufzuklopfen, wird irgendwann lästig. Sie beschließt daher auf einer großen Ratsversammlung aller Sippen und Clans im näheren Umkreis: «Jeder soll einen Zapfenumhang bekommen und die Größenordnung erlernen. Ferner soll die Stickerei mit nur einem Zapfen ‹Amuh› heißen, die nächste ‹Bemi›, die nächste ‹Cus›, die nächste ‹Dünba›, die nächste …» Bald darauf hört man Mitglieder aller Sippen Dinge sagen wie: «Unsere Hündin hat gestern dünba-viele Welpen geworfen», «Mama, schau, im Nest des Adlers habe ich cus-viele Eier gefunden» oder «Furchtlosester, die Sippe der Zapfen-Weisesten hat nur pintä-viele Kämpfer, wir aber xantu-viele; lass sie uns noch heute Nacht überfallen!»

Zahlen und ihre Stellvertreterinnen auf Erden

Es ist allzu vorhersehbar, wie die Geschichte weitergeht: Durch Mord und Raub verlieren viele unserer Vorfahren ihre Angehörigen und Umhänge. Doch zumindest die Umhänge vermissen sie bald gar nicht mehr. Denn sie entdecken, dass allein die Wörter «Amuh», «Bemi», «Cus» usw. genügen; die Stickereien selbst und die Zapfen braucht’s gar nicht mehr. Wenn beispielsweise Kleines Fuchsohr (der den Überfall als Einziger seiner Sippe überlebt hat) die Feigen an einem Baum zählt, greift er schon lange nicht mehr pro Feige, die er in den Blick nimmt, nach einem Zapfen in einem Beutel, sondern spricht schlicht das nächste Zählwort aus (man beachte das «ä» statt des «a») – beginnend bei «Amuh». Kleines Fuchsohr nutzt hierbei den simplen, doch leicht zu übersehenden Umstand aus, dass jede Stickerei gerade so viele Zapfen darstellt, wie es (auf demselben Umhang) Stickereien mit höchstens so vielen Zapfen gibt. Zum Beispiel sind in «Dünba» vier Zapfen dargestellt, und es gibt vier Stickereien, die gleich viele oder weniger Zapfen darstellen, nämlich «Amuh», «Bemi», «Cus» und «Dünba» selbst.

Viele Jahre später ist Kleines Fuchsohr der Einzige, der überhaupt noch von den Umhängen mit den Zapfen-Stickereien weiß. In der neuen Sippe, der er sich angeschlossen hat, versucht er die Erinnerung wachzuhalten – doch vergebens; die anderen verehren und fürchten «Amuh», «Bemi», «Cus» etc. als Gottheiten, die einerseits den Menschen zu Diensten sind, andererseits aber eine unerklärliche Macht über sie ausüben. «Warum», so fragen sich die Menschen etwa, «übergibt Frusna die Feige, die ich in ihre Obhut gegeben habe, in die Obhut Dünbas, sobald ich die Feigen, die ich in Amuhs und Bemis Obhut gegeben hatte, wieder an mich nehme und aufesse?!» Die Menschen sind offenkundig heillos verwirrt ob des Umstands, dass sie «Amuh», «Bemi», «Cus» etc. einerseits als Zählwörter verwenden, aber andererseits auch als Namen von Entitäten, die sie buchstäblich nicht richtig zu fassen kriegen.

Und die Moral von dieser anthropologisch etwas fragwürdigen G’schicht? Wenn wir die uns vertrauten Wörter «eins», «zwei», «drei» etc. als Zählwörter verwenden, so nutzen wir sie, um die Dinge, die wir zählen, in eine Eins-zu-eins-Beziehung mit denen einer bestimmten Referenzmenge zu bringen. Nutzen wir die Wörter hingegen als Zahlwörter – nun «a» statt «ä» –, so benennen wir (etwas verkürzt) damit die Referenzmengen selbst.

Je nach Kontext könnte es sich dabei um ganz konkrete Mengen handeln, beispielsweise um Stickereien mit stilisierten Zapfen. Tatsächlich verzichten wir aber meist völlig auf jegliche Konkretisierung; es genügt, dass man die Mengen «im Kopf» hat und sich darüber einig ist, welche Menge mit welchem Zahlwort gemeint ist – so ähnlich wie bei einer Partie Blindschach, bei der sich beide Spieler das Brett und die Figuren bloß vorstellen und ihre «Züge» durch Zurufe wie «Springer auf B3» vollziehen. Mehr noch, es bedarf nicht einmal einer Vorstellung von den Mengen; man kann sie auch schlicht als völlig unstrukturierte abstrakte Objekte behandeln. Das Zählen funktioniert dann immer noch wie gehabt, und alle verstehen einen problemlos, wenn man Dinge sagt wie: «Im Teich sind genau dreizehn Fische.» Nur, das Wesen der Zahl Dreizehn verstehen die meisten falsch!

Eine konkrete Vorstellung ist nicht immer nötig für ein solides Verständnis, oft aber sehr hilfreich. Denken wir uns also als Referenzmengen für die Eins-zu-eins-Beziehung die dargestellten Ansammlungen von Kreisen. Die Pünktchen deuten an, dass die Reihe gedanklich beliebig lang nach immer demselben Prinzip fortzuführen ist, sodass für jede Menge außer der Eins gilt: Entfernt man einen Kreis aus der Menge, so besteht zwischen den verbleibenden Kreisen und denen der Vorgängermenge, sprich der linken Nachbarmenge, eine Eins-zu-eins-Beziehung.

Referenzmengen der natürlichen Zahlen

Diese gedachten Kreismengen könnten selbstverständlich durch beliebige andere Mengen mit jeweils gleich vielen Objekten ersetzt werden. Insofern sind sie bloße Stellvertreterinnen der Zahlen Eins, Zwei, Drei, Vier usw. Die Zahlen selbst sind vielmehr – im Jargon der «Analytischen Philosophie» – allein durch ihre funktionale Rolle im Sinne der Eins-zu-eins-Beziehung bestimmt, sprich dadurch, dass die Eins, je nach Kontext, aus genau einem Objekt besteht und die übrigen Zahlen sich gemäß obigem Fortführungsprinzip zueinander verhalten. Wer unbedingt eine eindeutige Antwort auf die Frage finden möchte, was die Zahlen denn nun «wirklich» sind, der könnte versucht sein, die Zahlen mit ihrer jeweiligen funktionalen Rolle selbst gleichzusetzen. Ebenso könnte man etwa vom König im Schach sagen, er sei die Rolle selbst, die die Schachregeln dem «König» zuweisen. Ob diese Antwort letztendlich stimmig ist, möchte ich dahingestellt sein lassen. Wichtig ist hier vielmehr, zu verstehen, wie und warum Zahlen funktionieren. Und dabei kann uns, wie gesagt, die Vorstellung von den Zahlen als die oben dargestellten und gedanklich fortgeführten Ansammlungen von Kreisen helfen.

Mit Zahlen muss man rechnen

Der offenkundigste Vorzug dieser Vorstellung ist der, dass sie uns vor den Versuchungen und Verwirrungen des Bildes am Anfang schützt: des Bildes vom Zählen als geistigem Prozess, bei dem wir den Dingen, die wir zählen, Zahlen zuordnen. Das Problem ist nicht das Geistige des Vorgangs – und auch nicht die Abstraktheit der Zahlen. Die Staaten Frankreich und Russland sind als politische Einheiten ebenfalls abstrakt, ebenso die Städte Paris und Moskau. Trotzdem ist die Zuordnung der beiden Städte zu den beiden Staaten als ihre jeweiligen Hauptstädte nicht rätselhafter als die Zuordnung der Sachen in meinem Einkaufswagen zu den Einträgen auf meiner Einkaufsliste.[2]