Das Politbüro - Günter Schabowski - E-Book

Das Politbüro E-Book

Günter Schabowski

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Beschreibung

«Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden.» Als Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, diesen Satz am 9. November 1989 verlas, konnte er sich nicht vorstellen, daß noch am gleichen Abend der Sturm auf die Mauer losgehen würde: «Dazu reichte meine Phantasie nicht aus.» Der Mann, der im SED-Staat eine glatte Karriere gemacht hatte, war der erste, der im erstarrten Politbüro Reformen forderte, und, unter dem wachsenden Druck der Bevölkerung, zusammen mit Egon Krenz, den Generalsekretär Erich Honecker stürzte. Jenen, die sich in der Nomenklatura der DDR genauer auskannten, war er schon früher aufgefallen: Er galt eher als pragmatisch denn dogmatisch, als reformgeneigt, aber auch zynisch, als ein Mann mit einer gewissen intelligenten Ausstrahlung, die sich von der grauen Garde der Politbüromitglieder abzuheben schien. In diesem Band schildert Schabowski, wie die Entscheidung zur Maueröffnung zustande kam, wie im Politbüro Politik gemacht wurde und wie sich der «Putsch» vollzog; welche Rolle Gorbatschow bei dem Absturz spielte, wie das Triumvirat Honecker, Mittag und Mielke herrschte, wie die Wahlfälschung zustande kam und warum der wenig konsequente Erneuerungsversuch unter Krenz scheiterte. Günter Schabowski ist nicht nur ein wichtiger Zeitzeuge. Als einer der Hauptakteure muß er sich auch der moralischen Verantwortung stellen. In seinen Antworten versucht er zu ergründen, was einen wie ihn dazu bewogen hat, sich an zentraler Stelle an einem Staat zu beteiligen, der versuchte, eine «humanistische Utopie» mit diktatorischen Mitteln durchzusetzen.

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Günter Schabowski

Herausgegeben von Frank Sieren und Ludwig Koehne

Das Politbüro

Ende eines Mythos

Ihr Verlagsname

Eine Befragung

Über dieses Buch

«Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden.» Als Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, diesen Satz am 9. November 1989 verlas, konnte er sich nicht vorstellen, daß noch am gleichen Abend der Sturm auf die Mauer losgehen würde: «Dazu reichte meine Phantasie nicht aus.»

Der Mann, der im SED-Staat eine glatte Karriere gemacht hatte, war der erste, der im erstarrten Politbüro Reformen forderte, und, unter dem wachsenden Druck der Bevölkerung, zusammen mit Egon Krenz, den Generalsekretär Erich Honecker stürzte. Jenen, die sich in der Nomenklatura der DDR genauer auskannten, war er schon früher aufgefallen: Er galt eher als pragmatisch denn dogmatisch, als reformgeneigt, aber auch zynisch, als ein Mann mit einer gewissen intelligenten Ausstrahlung, die sich von der grauen Garde der Politbüromitglieder abzuheben schien.

In diesem Band schildert Schabowski, wie die Entscheidung zur Maueröffnung zustande kam, wie im Politbüro Politik gemacht wurde und wie sich der «Putsch» vollzog; welche Rolle Gorbatschow bei dem Absturz spielte, wie das Triumvirat Honecker, Mittag und Mielke herrschte, wie die Wahlfälschung zustande kam und warum der wenig konsequente Erneuerungsversuch unter Krenz scheiterte.

Über Frank Sieren und Ludwig Koehne

Frank Sieren, geb. 1967, arbeitete als freier Journalist u.a. für «Die Zeit», den Deutschlandfunk und die «Frankfurter Rundschau».

 

Ludwig Koehne, geb. 1966, studierte in Oxford Philosophie, Politik und Psychologie.

Inhaltsübersicht

Ende eines Mythos. VorbemerkungDas Politbüro. Struktur und FigurenDer Zerfall. Vom Wahlbetrug bis zur FluchtwelleDer Sturz. Vom 40. Jahrestag bis zum Rücktritt HoneckersDie Wende. Vom Reformversuch bis zur EntmachtungDie Schuld. System und IndividuumAnhangParteirechenschaftsbericht der FührungKurzbiographien einzelner Politbüromitglieder

Ende eines Mythos. Vorbemerkung

Je undurchdringlicher ein Mythos, desto zäher klebt er in unseren Hirnen. Er befriedigt unser Bedürfnis, Dinge, die wir nicht durchschauen, erklären zu können. In Zeiten des Umbruchs mit all seinen Unsicherheiten wuchern die Mythen. Auch in der Euphorie der friedlichen DDR-Revolution verdichteten sich Tatsachen und Gerüchte über den Geheimbund Politbüro und seine Mitglieder zu faszinierenden, aber diffusen Vorstellungen, die eine realistische Sicht verhinderten.

Eines dieser Fabelwesen aus dem Bereich der Führung spukte zu dieser Zeit auch uns im Kopf herum: Unter den «Bonzen» im Politbüro war uns Günter Schabowski aufgefallen, der sich von den anderen Politbüromitgliedern dadurch unterschied, daß er einen Anflug von intelligenter Ausstrahlung zu haben schien und nicht so weltfremd und dogmatisch wirkte wie seine eher grauen als roten Genossen im Machtzentrum des SED-Staates. Es beeindruckte uns, wie der Mann sich nach jahrelang verordneter Distanz aus der Reihe seiner Pappkameraden löste und im November 1989 auf der Treppe des roten Rathauses in Berlin mit Bürgern diskutierte, ohne sich von Pfiffen einschüchtern zu lassen.

Nachdem der Erneuerungsversuch unter Egon Krenz im Dezember gescheitert war, wollten wir wissen, was aus Schabowski geworden ist. Wir wollten einen, der mitverantwortlich gewesen ist, kennenlernen. Auf der Suche nach seiner Adresse wurden wir von vielen Seiten, aus Ost wie West, gewarnt: Schabowski, «die graue Eminenz im Hintergrund», sei einer, der mit besonderer Vorsicht zu genießen sei: von den einen als «Medienzar der Wendehälse» apostrophiert, von den anderen als «Scherge von Krenz» oder «cleverer und rücksichtsloser Machtzyniker».

Andere wiederum schilderten ihn als «Schmalspur-Gorbatschow», der als Berliner Bezirkschef, ohne repressives Gehabe, regiert habe. Doch was für ein Mensch ist Schabowski wirklich? Welche Rolle hat er im Herrschaftsgefüge gespielt? Wir wollten wissen, wie im Politbüro Politik gemacht worden war und wie sich der Umsturz vollzogen hatte. Es interessierte uns, wie es zur Maueröffnung gekommen war, die Schabowski verkündet hatte. Dabei war keineswegs sicher, ob Schabowski uns überhaupt in seine Wohnung in einem Mietshaus am Rande des ehemaligen Todesstreifens zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz einlassen würde. Auf dem SED-Sonderparteitag Anfang Dezember hatten wir schon einmal versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, als er nervös mit Krenz in den Wandelgängen der Dynamosporthalle auf und ab ging. Damals hatte er uns brüsk abgewiesen. Beim zweiten Anlauf sollten wir mehr Glück haben.

Der Türöffner summt. Nachdem wir unsere Namen genannt haben, werden wir eingelassen. In der achten Etage öffnet sich die Tür. Schabowski auf Socken, in Jeanshemd, Jeanshose, eine Lesebrille baumelt um den Hals, in der Hand hält er einen Schraubenzieher. Er bittet uns hinein, nachdem wir uns ein wenig mißtrauisch begrüßt haben. Der Mann hat nichts Mächtiges mehr. Er wirkt müde, wenn auch angespannt. Seine Wangen sind eingefallen. Er hat in den letzten Wochen wohl einige Kilo Gewicht verloren.

«Schrauben Sie Ihre Schränke auch so zusammen?» fragt er und zeigt mit dem Schraubenzieher in den Flur, wo die Teile eines Kleiderschrankes liegen. Wir klettern eine enge Wendeltreppe hinauf in sein Arbeitszimmer unter dem Dach. Ein Graupapagei im Käfig legt fremdelnd den Kopf schief, als wir eintreten. Die vielen Bücher fallen auf. Auf dem Sofa liegt ein Handstaubsauger.

Warum wir gerade mit ihm sprechen wollten, will er wissen. Später erfahren wir, daß wir die ersten waren, die sich nach seinem Absturz für ihn interessiert haben. Einer wie er, der im Zentrum der SED-Macht gesessen hat, ist im neuen Deutschland eine persona non grata.

Schabowski erzählt. Vieles geht ihm durch den Kopf, so daß aus Antworten Monologe werden und wir kaum Gelegenheit zum Fragen haben. Vieles geht ihm durch den Kopf. Der Einundsechzigjährige hat Zeit zum Nachdenken, denn er findet keine Arbeit mehr. Er wirbt um Verständnis, aber er jammert nicht: «Ich will kein Mitleid.» Es überrascht uns, wie offen und präzise er die Fassungslosigkeit über seine Lage ausspricht. Allmählich begreifen wir, in welch komplexen ideologischen Strukturen dieser Mann verwickelt war. Was hat einen wie ihn dazu bewogen, sich an diesem Staat zu beteiligen, der mit diktatorischen Mitteln versuchte, eine humanistische Utopie durchzusetzen? Wir vereinbaren weitere Gespräche. Aus ihnen ist dieses Buch entstanden.

Die Befragung hat in weiten Teilen nicht so stattgefunden, wie sie sich im Buch darstellt, sondern wurde aus verschiedenen Gesprächen zusammengefügt und von uns mit kurzen Einleitungstexten versehen. Fragen, die nur dazu dienten, die Handlung voranzutreiben, haben wir gestrichen. Oftmals brachten jedoch Nachfragen erstaunliche Details zutage, führten manchmal aber auch dazu, daß wir uns in Kleinigkeiten verhakten, uns festfuhren, und Schabowski uns den Spiegel vorhielt: «Stellen Sie sich vor, Sie müßten eine wichtige Redaktionskonferenz schildern, die ein Jahr zurückliegt, und würden dann gefragt: Was hat Herr Müller für ein Gesicht gemacht, während Herr Meier sprach? Warum wurde Herr Schmidt Kaffee holen geschickt?» Schabowski brauchte Zeit, um das System, dessen Teil er war, und seine Biographie, von außen betrachten zu können.

Günter Schabowski wuchs nicht in einem Kommunistenhaushalt auf. Die Eltern, der Vater Klempner, die Mutter Reinmachefrau, waren in der Tendenz unpolitische Gewerkschaftler, die eher der Sozialdemokratie zugeneigt waren, weil sie ihnen nicht so stur und dogmatisch erschien. Ihr einziges Kind kam 1929 im vorpommerschen Anklam auf die Welt. Günter war ein fleißiger Schüler und durfte deshalb das Gymnasium besuchen, obwohl die 20 Mark Schulgeld das Familienbudget belasteten. Während des Krieges kam er in ein Kinderlandverschickungsheim, gegen Ende in ein Wehrertüchtigungslager in Sachsen, aus dem er 1945 zu Fuß zurückkehrte. Noch im selben Jahr bestand er das Abitur an seiner alten Schule, dem Andreas-Realgymnasium, das als eines der ersten in Berlin den Unterricht wieder aufnahm. Damit hatte er im Gegensatz zu den meisten seiner Altersgenossen ein Jahr gewonnen. Er wurde Lokalreporter bei der «Berliner Gewerkschaftszeitung», danach Volontär, Hilfsredakteur und schließlich Redakteur.

Günter Schabowski hat im repressiven SED-Staat eine glatte unkonventionelle Karriere gemacht. Dabei profitierte er von den Folgen «sozialistischer Unglücke». 1949 trat er der «Freien Deutschen Jugend» bei, drei Jahre später wurde er SED-Mitglied. 1953 wurde er mit 24 Jahren stellvertretender Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung «Tribüne», nach einem Revirement in der Leitung des Blattes, das einem kapitalen Druckfehler in einem Artikel über Stalins Tod folgte. Darin wurde Stalin versehentlich als «Herr des Krieges» statt als «Herr des Friedens» bezeichnet. Schabowski hatte an diesem Tag zufällig frei und wurde befördert. In dieser Position kreiste er 14 Jahre in der Karrierewarteschleife, bis er 1967 für entwicklungsfähig befunden und zu einem Studienjahr an die Moskauer Parteihochschule geschickt wurde, wie es damals für nicht mehr taufrische Genossen üblich war. Als er am 21. August 1968 als stellvertretender Chefredakteur in die Büros von «Neues Deutschland» kam, war die Redaktion gerade dabei, eine Sondernummer nach dem Einmarsch in die CSSR zu produzieren. Wiederum waren es die Folgen eines Unglückes, die seinen Aufstieg im ND beförderten. Der Sekretär des Zentralkomitees für Agitation und Propaganda Günter Lamberz kam 1978 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben. Der bisherige Chefredakteur Joachim Herrmann übernahm dessen Geschäfte in der Partei, Schabowski wurde Chefredakteur und rückte später als Kandidat in das Politbüro, den innersten Machtzirkel, auf. 1984 wurde er Vollmitglied des Politbüros. Der Sturz eines Genossen begünstigte seinen weiteren Aufstieg. Als Honecker den skandalträchtigen Berliner Bezirkssekretär Konrad Naumann aus dem Politbüro geworfen hatte, durfte Schabowski, der im ND stets treu Bilder Honeckers gedruckt hatte, als Seiteneinsteiger 1985 den wichtigen Berliner Parteibezirk übernehmen, den er bis zur Revolution leitete.

Auch im Revolutionsgeschehen spielte Schabowski eine zentrale Rolle. Während bei den meisten seiner Politbürogenossen, die sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnten, noch Fassungslosigkeit angesichts der Massenflucht vorherrschte, war er der erste, der im erstarrten Politbüro Veränderungen forderte. Eigensinn statt Einheit: Zusammen mit Egon Krenz stürzte der Mann mit der glatten Karriere Erich Honecker und seine Hardliner und versuchte, Reformen einzuleiten.

Ist er also ein besonders schlauer Wendehals gewesen, der noch rechtzeitig umzuschwenken versuchte, um die eigene Haut zu retten? Ist Schabowski überhaupt glaubwürdig?

Was Schabowski dazu drängt, bei der Wahrheit zu bleiben, ist nicht nur die Irritation über seinen Absturz. Es ist auch die Scham, die die Erinnerung an den Genuß von Privilegien wachruft, die den Bürgern seines Staates verweigert wurden. Und es ist vor allem das Gefühl der Schuld, Unrecht mitgetragen und die sozialistische Vision von Humanität und Gerechtigkeit verraten zu haben. Die Annäherung an die Wahrheit ist sein wichtigstes Kapital, um neuen Boden unter den Füßen zu finden.

Wir haben Schabowski im Laufe dieser Gespräche schätzen gelernt. Seine Selbstironie, sein kritischer Umgang mit der Vergangenheit, seine Neugier und Offenheit gegenüber Menschen, denen er begegnet, aber auch sein Stolz und sein Eigensinn, sich nicht bedingungslos demütigen zu lassen, sind Eigenschaften, die für ihn sprechen. Sie lassen sich mit seiner Schuld nicht verrechnen, sind aber Facetten, die die Persönlichkeit Schabowskis ausmachten. Dennoch bleibt: Schabowski war mitverantwortlich für ein repressives System, das gerade solche Tugenden nicht geduldet hat.

Nach dem Umsturz ist der Mythos, von dem das Politbüro und auch Schabowski als eines seiner Mitglieder gelebt haben, zerplatzt: Das Böse erwies sich als banal. Im Politbüro gab es Biederkeit, Stumpfsinn, Borniertheit, und seine Macht war die Macht der Gewohnheit. Stalinistische Repression als Verwaltungsakt totalitärer Idylle. «Nichts ist schematischer als der Amoklauf der Unbeirrbaren. Etwas Vorschriftsmäßiges, ja Bürokratisches haftet jeder Radikalität an, die sich auf nichts weiter beruft als auf Grundsätze. Wer von Prinzipientreue spricht, hat bereits vergessen, daß man nur Menschen verraten kann, Ideen nicht», schreibt Hans Magnus Enzensberger.

Es bleibt die Frage, welche Ursachen die radikale Prinzipientreue hat, die sich mit dem Verbrechen arrangiert.

Nichts spricht dafür, daß Menschen es künftig unterlassen werden, aus scheinbar guten Gründen repressive Systeme zu errichten, um andere Menschen zu unterdrücken. Doch wenn man sich der Ursachen des Dogmatismus bewußt ist, kann er zumindest früher erkannt und bekämpft werden. Dieser Erkenntnisprozeß vollzieht sich auch in einer Demokratie nicht automatisch. «Die Veränderung der menschlichen Figuration hängt aufs engste mit der Möglichkeit zusammen, Erfahrungen, die in einer bestimmten Generation gemacht worden sind, als gelerntes gesellschaftliches Wissen an die folgende Generation weiterzugeben. (…) Aber die Kontinuität der Wissenssammlung und -übertragung kann gebrochen werden. Die Zunahme des Wissens bringt keine genetische Wandlung des Menschengeschlechts mit sich. Gesellschaftlich akkumulierte Erfahrungen können sich wieder verlieren», schreibt der kürzlich verstorbene Soziologe Norbert Elias in der Einleitung zu seinem Buch «Die höfische Gesellschaft».

Die Aufforderung zu lernen, um weiterzukommen, klingt eigentlich selbstverständlich. Doch wenn man sich umsieht, muß man sich wundern. Man kann den kurzsichtigen Triumph der kapitalistischen Wirtschaftsfalken vielleicht verstehen, den Triumph der Umweltsünder und aussitzenden Politiker, die, um ihre eigenen Fehlleistungen zu verdecken, selbstgerecht mit dem Finger auf die bösen Kommunisten zeigen und hämisch den Sieg von Ludwig Erhard über Karl Marx feiern. Es ist vielleicht menschlich, aber absurd. Nach dem Kollaps einer ideologischen Engstirnigkeit badet sich der Gegner in Selbstherrlichkeit, ohne sich zu fragen, wie man sich selbst verhalten hätte, wäre man östlich der Elbe zu Hause gewesen. Solange Lernprozesse mit unangenehmer Selbstkritik verbunden sind, ist Borniertheit wohl bequemer.

Diese Verbohrtheit ist keineswegs nur eine Domäne der westdeutschen Rechten. Noch bevor dieses Buch erschienen ist, haben sich DDR-Autoren darüber beschwert, daß eine Unperson wie Schabowski in diesem Buch ein Forum erhält. Die routinierten Antifaschisten, die der Bundesrepublik immer vorgeworfen haben, daß sie ihre Vergangenheit nicht bewältige, sind unerbittlich. Das Feindbild derer, die ihre sozialistischen Werte verraten haben, hat so zu bleiben, wie sie es sich geschaffen haben. Selbst Wolf Biermann, den man nun wirklich nicht zu den Dogmatikern zählen kann, lehnte im Mai 1990 in der «ZEIT» das Angebot von Egon Krenz, sich mit ihm zu treffen, entschieden ab: «Man muß nicht durch die Jauchegrube schwimmen, um zu wissen, was Scheiße ist.» Diese verhärtete Position entspringt der berechtigten Sorge, daß die Schuldigen ihrer Schuld entschlüpfen könnten. «Wie sollen auch die kleinen Leute zum Bewußtsein ihrer bescheidenen Schande kommen, wenn sogar die großen Verbrecher sich als Menschenfreunde spreizen?» Damit vermischt sich jedoch auch die Vorstellung, daß die Front nicht bröckeln darf. Der einmal als Wendehals Überführte darf sich selbst nach Einsicht in seine Fehler nicht wandeln. Ein Klima für eine offene Auseinandersetzung wird so verhindert.

Doch Menschen verändern sich oder gruppieren zumindest ihre Widersprüche um. Sie sind jedenfalls in der Lage, ihre Verfehlungen zu erkennen und als falsch einzusehen. Sie können lernen, mit ihrer Schuld umzugehen. Günter Schabowski ist mit seiner Vergangenheit öffentlich ins Gericht gegangen. Er will nichts verdrängen, sondern versuchen zu erklären, auch um sich zu rechtfertigen. Seine Aussagen wollen Widerspruch nicht unterdrücken. Er stellt sich zur Diskussion.

 

Frank Sieren Ludwig Koehne Trier/Oxford, im September 1990

Das Politbüro

Bis zum Herbst 1989 blühten die Spekulationen um das, was sich im Politbüro abspielen mochte. Die Genossen im innersten Zirkel der Macht, dem 21 Mitglieder und fünf Kandidaten unter der Führung von Generalsekretär Erich Honecker angehörten, ließen nichts darüber verlauten, was sie diskutierten oder wie sie zu einer Entscheidung gelangten. Die Funktionen des Machtzentrums der DDR ließen sich nur allgemein beschreiben.

Eine seiner Grundfunktionen bestand in der Auslegung des Kerndogmas. Das Politbüro war für die Interpretation der Glaubensgrundsätze der kommunistischen Ideologie zuständig und damit auch die Instanz, die «Abweichler» ausmachte.

1946 wählte der Parteivorstand der SED zum erstenmal aus seiner Mitte ein Politbüro. Seine damaligen Mitglieder, die sowohl aus der SPD (u.a.Grotewohl und Ebert) als auch aus der KPD (u.a.Pieck und Ulbricht) kamen, versuchten zunächst, einen «besondern deutschen Weg des Sozialismus» zu gehen. Doch auf Druck der sowjetischen Militäradministration setzten sich bald die Stalinisten um Walter Ulbricht durch. Als erstes Politbüromitglied fiel 1950 Paul Merker, unter der Beschuldigung ein Noel-Field-Agent zu sein, einer großangelegten Säuberungswelle zum Opfer. Jedes Mitglied wurde der strikten Parteidisziplin unterstellt. Minderheiten mußten sich bedingungslos unterordnen. Es war verboten, «Fraktionen» zur Durchsetzung alternativer Politikkonzepte zu bilden. Parteiintern galt die Losung «Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.»

Als die beiden Politbüromitglieder Zaisser und Herrnstadt 1953 nach Stalins Tod und im Zuge des Aufstandes vom 17. Juni Reformen forderten und den Rücktritt Ulbrichts verlangten, wurden sie ebenfalls entmachtet. Eine umfassende Säuberung des Parteiapparates folgte in den nächsten Monaten.

Im Reformklima, das nach dem 20. Parteitag herrschte, auf dem Chruschtschow die stalinschen Verbrechen anprangerte, gab es erneute Versuche, unter anderem von Karl Schirdewan, gegen Ulbrichts stalinistischen Kurs Reformen durchzusetzen, die Ulbricht wiederum in einer großen Säuberungswelle verhinderte.

Den Machtwechsel setzte erst der noch von Walter Ulbricht ins Politbüro geholte Erich Honecker durch, indem er eine bessere Politik versprach und so den Sturz des überalterten und in Moskau nicht mehr so gelittenen Ulbricht rechtfertigte. Honecker postulierte die Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik: Im sozialistischen System müßten die Leute früher die Vorzüge des Systems spüren und nicht, wie bislang üblich, mit dem «Aufbau»-Argument auf die nächste Generation vertröstet werden. Mit dieser ideologischen Grundlinie brachte er es nicht nur zu einer gewissen Popularität in der DDR, sondern ihm gelang es auch, sich ungleich stärker als sein Vorgänger von Moskau zu emanzipieren, das wiederum Honeckers Weg als «Konsumideologie» verurteilte.

Die zweite Grundfunktion des Politbüros war die Umsetzung der ideologischen Basis in praktische Politik, um so die tägliche Funktionsfähigkeit des Staates zu sichern und zu kontrollieren. In einer Planwirtschaft ist das besonders schwierig, weil die komplexen wirtschaftlichen Prozesse bis ins Detail vorausgesehen und entsprechend organisiert werden müssen. Die Schuhindustrie bekam nicht nur vorgeschrieben, wieviel Schuhe sie zu produzieren hatte, sondern das Politbüro mußte im Fünfjahresplan festlegen, wieviel Schnürsenkel die Bürger in diesem Zeitraum zu verbrauchen hatten. Weil nicht sicher war, ob die Fakten, die für eine Entscheidung notwendig sind, das Politbüro und dessen Apparate auch immer erreichten, mußten sich zwangsläufig grundlegende Fehlentscheidungen häufen.

Theoretisch sollte dieses Problem zwar dadurch gelöst werden, daß Vertreter aller gesellschaftlich relevanten Gruppen unter der Führung der Partei im Politbüro an einem Tisch zusammensitzen. Die Mitglieder waren also Parteisekretäre des Zentralkomitees, Bezirkssekretäre in den Provinzen, Minister oder Führer von Massenorganisationen, wie die «Freie Deutsche Jugend» und die Gewerkschaft. Gleichzeitig wurde damit der Anspruch verbunden, daß das Politbüro die Gesellschaft repräsentiere. Praktisch hat dies nie funktioniert, weil die Interessenvertreter nicht voneinander unabhängig waren, sondern alle derselben Partei angehören mußten. Zwischen Staat und Partei wurde nicht getrennt.

Augenscheinlich haben unter der verfassungsgemäßen Führungsrolle der Partei einzelne Politbüromitglieder ihren Machtbereich entschieden ausgebaut. Erich Mielke ignorierte als Staatssicherheitsminister seinen Vorgesetzten, den ZK-Parteisicherheitssekretär Egon Krenz. Günter Mittag herrschte als ZK-Sekretär für Wirtschaft nahezu uneingeschränkt über zahlreiche Ministerien, und sogar über die Gewerkschaft.

Das Politbüro unterlag keiner demokratischen Kontrolle, erhob aber den Anspruch, daß seine Beschlüsse als verbindliche Anweisungen an die Gesellschaft aufzufassen seien. Wenn man den Aussagen mehrerer Politbüromitglieder vor dem Volkskammeruntersuchungsausschuß glauben schenken darf, regierte Honecker, mit Hilfe seiner Hauptschergen Günter Mittag und Erich Mielke fast wie ein absolutistischer Monarch: Willi Stoph berichtete im Untersuchungsausschuß der Volkskammer, daß er nur administrativ zu organisieren hatte, was das für Wirtschaft zuständige Politbüromitglied Mittag und der Generalsekretär ohne seine vorherige Zustimmung verfügten, obwohl Stoph als dem Ministerpräsidenten von der Rangordnung her die Entscheidungsbefugnis zukam. Wolfgang Herger, der Sicherheitsbeauftragte des ZK hat nach eigenem Bekunden nichts von den von Mielke und Honecker vorangetriebenen Planungen im Sicherheitsapparat mitbekommen. Sogar Joachim Herrmann, der für die Medien zuständige Parteisekretär für Agitation und Propaganda, führte seine rigiden Zensurpraktiken auf den Generalsekretär zurück. Er habe lediglich als getreuer Exekutor gedient.

Ihre politische Biographie teilte die Mitglieder in zwei Gruppen. Die Vertreter der Altherrenriege waren als junge Männer aktive kommunistische Widerstandskämpfer. Dazu zählen unter anderem der Generalsekretär Erich Honecker (geb. 1912), Kurt Hager (1912), der ZK-Sekretär für Kultur und Wissenschaft, Erich Mielke (1907), Minister für Staatssicherheit, der Präsident der Volkskammer Horst Sindermann (1915) und Willi Stoph (1914), der Vorsitzende des Ministerrates, Alfred Neumann (1909), stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates. Dem gegenüber stand die Gruppe von Politbürogenossen, die erst in der Nachkriegszeit politisch aktiv geworden sind. Dazu gehören der jüngste, Egon Krenz (1937), Günter Schabowski (1929), Harry Tisch (1927), der 1. Vorsitzende des FDGB, aber auch der ZK-Sekretär für Agitation Joachim Herrmann (1928) und der Wirtschaftschef Günter Mittag (1926). Doch waren dies wirklich zwei in sich relativ homogene Gruppen, die den Rahmen für das Machtspiel bildeten? Waren die Jüngeren flexibler und offener für oppositionelle Ideen in oder sogar außerhalb der Partei, mit denen sie ihr Herrschaftswissen ausbauten? Gab es bei ihnen womöglich schon versteckte Sympathie für demonstrierende Oppositionelle? Haben einige Politbüromitglieder versucht, «Glasnost», die offene selbstkritische Auseinandersetzung, die Gorbatschow ihnen vormachte, gegen den Willen der Alten ins Politbüro hineinzutragen?

***

Für die herrschende SED war der Jahrestag der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts traditionell das erste große Ereignis des Jahres. War Ihnen diese Demonstration wichtig? Was empfanden Sie, als die Opposition gerade diese Demonstration als erstes größeres öffentliches Forum für ihre Proteste gegen das System nutzte?

 

Die «LL-Demonstration», wie sie im Parteijargon hieß, war eine ausgesprochene Parteidemonstration. Es war die politische Kundgebung der Kommunisten im Unterschied zur Maidemonstration, an der überwiegend Parteilose, Gewerkschafter teilnahmen. An diesem Tag bekräftigten die Kommunisten im Gedenken an die ermordeten Führer ihre Treue zur Sache der Partei. Für die Genossen war das so etwas wie ein Zug zu einem geheiligten Ort.

 

Waren Sie stolz, da in erster Reihe mitmarschieren zu dürfen?

 

Stolz ist eine Empfindung, der ich mißtraue. Es gehörte sich so, daß der erste Sekretär in Berlin selbstverständlich mit in der ersten Reihe war. Sonst orientierte sich das Protokoll am Alphabet. Wenn es erfordert hätte, daß ich in der dritten Reihe gestanden hätte, wäre es auch in Ordnung gewesen.

Honecker selbst war von der LL-Demonstration immer sehr angetan. Er sang besonders laut und kräftig die revolutionären Lieder. Das hat ihn sehr bewegt, er ist ein gläubiger Kommunist. Diese Besonderheiten haben mit dazu beigetragen, daß sich auch bei vielen Genossen der Eindruck ergab, hier liege ein besonders infamer Versuch des Gegners vor, ausgerechnet die von der Reaktion ermordeten Luxemburg und Liebknecht durch das Luxemburg-Zitat «Freiheit ist stets die Freiheit des Andersdenkenden» zum Zeugen gegen uns zu machen. Das gehört mit zur Charakterisierung der Resonanz dieser Vorgänge. Üblich war in solchen Fällen, und darüber waren wir auch informiert, daß die Staatssicherheit zu den Leuten ging, die störende Aktionen angekündigt hatten, und sie aufforderte, das zu unterlassen, da sie andernfalls mit Repressalien, das heißt mit Verhaftungen rechnen müßten. Solche Vorgänge haben weder mich persönlich noch das Politbüro interessiert. Für uns war das keine Opposition im demokratischen Sinne. Für uns war das etwa das gleiche als wenn bei Ihnen jemand ein kriminelles Delikt begeht. Mit dem wird dann auch entsprechend verfahren. Darum kümmert sich auch bei Ihnen nicht der Justizminister. Eine Haltung, die mir heute als sehr zynisch erscheint.

 

Hat die Opposition wirklich überhaupt keinen Stellenwert innerhalb dieses Systems gehabt?

 

Daß wir diese Gruppen nicht als in der DDR gewachsenen Protest akzeptiert haben, sondern für westlich gesteuerte Querulanten hielten, die unser gutes System verunglimpfen, das leider noch unvollkommen ist, führte dazu, daß wir uns sofort bewußt oder unbewußt der gängigen Klischees bedienten und sie als sozialismusfeindlich ansahen: wer sozialismusfeindlich ist, kann nur ferngesteuert sein. Denn der Sozialismus bringt nichts «Artwidriges» hervor. Dieses Nichtakzeptieren gilt nicht nur für das Politbüro, sondern auch für weite Teile der Partei, die diese Menschen als Störenfriede der Sache betrachtete, der man sich verbunden fühlte. Die oppositionellen Gruppen wollten kritische Denkanstöße vermitteln, und sie haben Teilen der Bevölkerung sicherlich solche Impulse auch vermittelt. Besonders wirkten sie auf Menschen, die sich ablehnend, aber inaktiv verhielten. Doch die Genossen waren dadurch kaum verunsichert. Die Mitgliedschaft der Partei ist erst spät, als die Partei schon in einem desolaten Zustand war, auf die Opposition zugegangen. Zuvor hat sie auf solche Einsprüche überwiegend mit trotziger Abwehr reagiert.

 

Sie wollten diese Menschen also nicht verstehen?

 

Das war kein Vorsatz, aber im Grunde lief es darauf hinaus. Das habe auch ich erst spät begriffen. Heute bin ich der Meinung, daß der erste «Runde Tisch» am Tag nach der Zentralkomiteesitzung vom 18. Oktober hätte stattfinden müssen. Zumindest die Initiative dazu hätte kommen müssen. Ein Aufeinanderzugehen wäre schon in den Wochen des Septembers möglich gewesen, obwohl die Opposition uns damals sicherlich hätte abfahren lassen. Ein ehrliches Bemühen und eine wirkliche Erkenntnis der Prozesse, die sich im Volk abspielen, hätte uns dazu zwingen müssen, ohne Rücksicht auf unser eigenes ideologisches Prestige auf die Leute zuzugehen, selbst wenn die uns beim erstenmal gesagt hätten, leckt uns die Bollen. Doch das haben wir erst ganz vorsichtig angefangen zu erwägen, als die Wende schon vollzogen war. Wir hätten gemeinsam diskutieren müssen, so in der Art: «Setzen wir uns zusammen, was habt ihr für Vorstellungen? Das ist doch absurd, was ihr verlangt!» Bitte, wir hätten uns in die Wolle gekriegt. Dann wären wir nach Hause gegangen, die Dinge hätten gewirkt. Wir hätten wieder mit ihnen gesprochen. So hätte sich die Konspiration auch geistig formiert. Es wäre ein Stück Konzept zustandegekommen. Statt dessen haben wir im eigenen ideologischen Saft geschmort und kein ausgereiftes strategisches Konzept gehabt. Nur die Vorstellung, Reisepolitik muß man ändern, Perestroika muß man machen, die Wirtschaftsreform muß her. Doch wie, was, wo, mit welcher Intensität, mit welchem Tempo, mit welcher Zielsetzung, alles das hat uns gefehlt.

Gerade im Politbüro war die Idee vorherrschend, die Aktivitäten dieser Gruppen an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Sie durften nicht dadurch zusätzliches Gewicht bekommen, daß sie zum Gegenstand von Gesprächen oder sogar wiederholten Erörterungen im Politbüro, in der Regierung oder dergleichen wurden. Natürlich hat es keinen solchen Beschluß gegeben, aber das war die Praxis. Das hieß jedoch nicht, daß die Politbüromitglieder nicht informiert waren. Sie wurden durch die Staatssicherheit informiert, die überall über Informanten und Zuträger verfügte. Aber das nahm im Grunde jeder nur für sich zur Kenntnis. Es war nicht so, daß, wenn uns eine Information über diese oder jene Gruppe erreicht hat, jeder bei der nächsten Sitzung des Politbüros dieses Papier auf dem Tisch hatte, um darüber zu diskutieren.

 

Wie liefen die Politbüro-Sitzungen denn ab?

 

Die Politbürositzungen liefen sehr gemessen ab. Bis auf die Oktobertage wurde in den letzten fünf Jahren genau zweimal heftiger diskutiert. Das erste Mal 1985, bei der Absetzung des Berliner Bezirkssekretärs, meinem Vorgänger Konrad Naumann, und das zweite Mal im September 1989, als wir schon im Krisendampf saßen. Die Beratungen fanden jeden Dienstag um 10 Uhr statt. Wir waren schon etwas früher da, und ziemlich genau eine Minute vor zehn kam Honecker hereinmarschiert. Zunächst verlas der Protokollführer, der Leiter des Büros des Politbüros, das Beschlußprotokoll der letzten Sitzung. Danach eröffnete Erich Honecker die Tagesordnung. Neben den Tagesordnungspunkten, die der Generalsekretär auf den Plan setzte, gab es bestimmte Routinefragen, die regelmäßig behandelt wurden, zum Beispiel Fragen der Planerfüllung. Alle Vorlagen gingen vorab durch die Hände des Generalsekretärs. Wie ich im Laufe der Jahre mitbekam, ging auch ein erheblicher Teil der Wirtschaftsvorlagen zuerst durch die Hände von Mittag, selbst wenn sie nicht unbedingt aus seiner Ecke kamen. Auch wenn ein stellvertretender Ministerpräsident eine Vorlage machte, bekam Mittag diese vorher zu sehen. Man hörte dann von diesem oder jenem Mitarbeiter, daß das mit Mittag schon besprochen sei. Da die Vorlagen im wesentlichen durch den Generalsekretär schon vorab gebilligt wurden, gab es im Grunde kaum noch Anlaß zu einer Debatte. Und bei uns regte sich auch kaum Widerspruch.

Dabei hat es viele Probleme gegeben, die es notwendig gemacht hätten, intensiv zu diskutieren. Wenn ich an meinen Bezirk denke, war das zum Beispiel eine Vorlage über die Beschleunigung des Berliner Wohnungsbaus, die 1984 beraten wurde. Dabei ging es um eine Erhöhung von zwanzig- auf dreißigtausend Neubauwohnungen jährlich. Damit war die Kapazität des Berliner Wohnungsbaus einfach überfordert. Doch solche Dinge wurden auf der Grundlage eines Elementarbeschlusses über die Forcierung des Wohnungsbaus ohne Diskussion grundsätzlich akzeptiert. Derjenige, der eine Vorlage über den Generalsekretär eingebracht hatte, stellte sich in der Regel für Fragen zur Verfügung. Die Anfragen sind dann von drei oder vier Leuten gekommen, die anderen haben fleißig mitgeschrieben. Es herrschte eine Art Klassenzimmeratmosphäre. Und gewöhnlich hatte der, der die Vorlage vorbereitet hatte, sich ohnehin schon im Vorfeld, z.B. bei mir, versichert, ob es irgendwelche Einwände gäbe. Damit konnte in die Diskussion von vornherein keine Spannung aufkommen.

 

War das nicht langweilig?

 

Das war nicht der Punkt. Immerhin ging es um weitreichende Entscheidungen. Daß es keine Grundsatzdebatten gab, haben wir nicht einmal negativ gesehen. Für viele von uns war das ein Zeichen besonders solider Vorarbeit, bei der die «einheitliche Auffassung der Führung» hergestellt worden war. Ein ähnlicher Arbeitsstil herrschte auch im Zentralkomitee. Das Politbüro wird vom Zentralkomitee gewählt. Es ist also formal dem Zentralkomitee rechenschaftspflichtig. Eigentlich ist das Zentralkomitee das höhere Organ, das entscheidende Beschlüsse zu fassen und das Politbüro zu kontrollieren hat. Aber schon längst – und nicht nur in der DDR – hatte sich das Verhältnis zwischen beiden umgekehrt. Das aus Wahlen hervorgegangene Politbüro saß gewissermaßen als Kappe auf dem Zentralkomitee. Es war die ausschlaggebende Entscheidungsinstanz. Die Beschlüsse des Zentralkomitees waren wesentlich vorbestimmt durch die vom Politbüro vorgegebene Richtung. Schon bei der ersten Tagung des Zentralkomitees nach der Wende kam dieser Punkt übrigens zur Sprache und spielte eine herausragende Rolle. Es wurde gefordert, dieses Verhältnis wieder umzukehren und zu einer Situation zu kommen, die einer innerparteilichen Demokratie entspricht. In beiden Gremien hatte es auch vorher schon ab und zu leise Unmutsäußerungen gegeben, die aber keine wesentliche Rolle gespielt hatten.

Unsere Arbeit bestand darin, die Vorlagen im Vorfeld so gut abzustimmen, daß es zu keinen Komplikationen kommen konnte. Wir, das Politbüro, waren eine Truppe, die sich im Prinzip einig war über die generelle Richtung. Damit wurden wir auch kollektiv verantwortlich für diese Entscheidung, wie sich nach Honeckers Sturz zeigte – worüber sich der einzelne oft gar nicht im klaren gewesen war, solange er in dieser schwülen Atmosphäre «mitentschied».

Es gehörte mit zu der Realitätsbewältigung dieses Gremiums, daß von Zeit zu Zeit einzelne kritische Tatbestände im Politbüro diskutiert wurden und aus einem Einzelfall ein besonderer Fall gemacht wurde, an dem dann demonstriert wurde, wie es nicht sein darf. Solche Vorgänge ließen deutlich erkennen, wie Realitätsverdrängung betrieben wurde.

Werktätige aus dem Kreis Bischofswerda hatten sich beispielsweise beim Generalsekretär darüber beschwert, daß die Fleischversorgung nicht funktioniere. Also kam das ins Politbüro. Warum ist die Fleischversorgung so schlecht? Weil in dem Ort im Sommer alle Fleischer gleichzeitig in Urlaub gegangen waren. Die Läden waren zu, und es gab kein Fleisch. An diesem Beispiel wurde zweierlei demonstriert: Erstens wurde deutlich gemacht, wie aufmerksam die Führung die Lage im Land beobachtet. Und zweitens: wenn es Probleme in der Fleischversorgung gibt, dann sind sie nicht darin begründet, daß die Erzeugung, Lagerung oder Verteilung nicht funktioniert, sondern darin, daß man örtlich schlecht wirtschaftet, indem man allen Fleischern gestattet, zur gleichen Zeit in Urlaub zu fahren. «Das ist eine Praxis, die von ungenügender Sorge um die Menschen zeugt», war die rügende Feststellung. So wurden die Kreisparteiorganisation und der Kreisrat gestäupt, weil sie schlecht gearbeitet hatten.

Solche Fälle wurden von Zeit zu Zeit von Honecker selbst auf die Tagesordnung gesetzt. Einmal hatte er zum Beispiel Fotos bekommen von tausenden Fahrrädern, die in Potsdam im Freien vor sich hin rosteten, weil keine Dachziegel vorhanden waren, um das löchrige Dach des Depots zu reparieren. Also wandte sich Honecker zu Mittag und sagte: «So geht das nicht, wo sind die Dachziegel?» Mittag hörte sich das schweigend an und mußte sich dann darum kümmern. Zwar konnte ihm nichts passieren, aber ärgerlich war so ein Fall doch. Also donnerte er bei nächster Gelegenheit diejenigen im ZK-Apparat zusammen, die solche Briefe an Honecker weitergeleitet hatten.

 

Wenn Diskussionen im Politbüro keine große Rolle gespielt haben, wie charakterisierte sich denn dann der Unterschied zwischen einem Kandidaten und einem Vollmitglied, abgesehen von der Tatsache, daß der Kandidat kein Stimmrecht hatte?

 

Da ist de facto kein großer Unterschied gewesen. Selbst in den Abstimmungen war es nicht wichtig, weil Entscheidungen im Politbüro in der übergroßen Zahl einstimmige Entscheidungen waren. Es ging nur ganz selten um Sachverhalte, bei denen die Entscheidung durch Debatte und durch ein bestimmtes Stimmenverhältnis zu erzielen gewesen wäre. Daher konnten sich die Kandidaten wie Mitglieder des Politbüros fühlen.

Ich muß hinzufügen, daß es diese merkwürdige Teilung in der Tradition der deutschen Kommunisten früher nicht gegeben hat. Diese Unterteilung wurde aus den Organisationsprinzipien der KPdSU abgeleitet. Erich Honecker hat diese Zweiteilung auch nicht für wesentlich gehalten. Er hat von einem Kandidaten gleiches gefordert wie von einem Mitglied des Politbüros. Ein Kandidat, der sich öffentlich zu irgendeiner politischen Frage abweichend geäußert hätte, wäre von Honecker genauso hart zur Verantwortung gezogen worden wie ein Vollmitglied. Es war eine kapillare Unterscheidung, die keine Bedeutung hatte und darin begründet war, daß bestimmte gesellschaftliche Funktionen im Politbüro zweckmäßigerweise präsent sein sollten. Der Vorsitzende einer großen Gewerkschaftsorganisation wie des FDGB sollte, um der Rolle dieser Organisation gerecht zu werden, eher Mitglied des Politbüros sein als Kandidat. Es hat schon eine Rolle gespielt, eine Art Rangordnung nach außen zu demonstrieren. Die Position des Chefredakteurs des «Neuen Deutschland» zum Beispiel, die ich innehatte, war zwar wichtig und wurde aus dem Zentralkomitee herausgehoben, aber sie mußte nicht unbedingt mit der Rolle eines Politbüromitgliedes verbunden sein. Vor allem auch deshalb, weil Joachim Herrmann, der Sekretär für Agitation, als Voll-Mitglied für die Medien zuständig war. Manche Kandidaten hatten mehr repräsentative Funktion. Zum Beispiel Margarethe Müller, die zwanzig Jahre lang nur Kandidatin war und keine zentrale Funktion innerhalb der Partei oder des Staatsapparates ausübte und letztlich eine Art Alibi-Frau war. Sie war eine tüchtige Landarbeiterin gewesen, die sich zur Leitung eines Agrarunternehmens emporgearbeitet hatte. Vertreten waren im Politbüro: der Ministerpräsident, der Gewerkschaftsvorsitzende, und die gewissermaßen geschäftsführenden Sekretäre des ZK. Alle Ressorts des ZK-Apparates sollten auf diese Weise im Politbüro vertreten sein. Die Abteilungen des ZK waren ähnlich strukturiert wie die Regierung. Es gab auch Querverbindungen zu allen Massenorganisationen. So spannte sich, über den staatlichen Organen, ein zweites Netz der Macht über das Land.

 

Welche Rolle spielte für Honecker die Ideologie als Machtinstrument?

 

Honecker war kein Ideologe, er hat sich der Ideologie bedient. Stalin war Ideologe. Er hat selbst Ideologie fabriziert, was ihm den Machterhalt erleichtert hat. Honecker hantierte mit eher simplen Formeln. Macht ist immer mit Ideologie verknüpft. Dieser Konfessionalismus ist eine Bedingung für das Einschwören der Mannschaft. Darüber war sich natürlich auch Honecker im klaren, obwohl er kein Ideologe oder gar Visionär war. Aber ihn kennzeichnete eine unbeirrbare Überzeugtheit von der Berechtigung der Sache, die er verfocht. Ferner war ein übersteigertes Selbstbewußtsein ein Element seines Machtinstinktes. Das entwickelte sich in einer merkwürdigen Beziehung zu denen, die anfänglich mit ihm kooperiert hatten, dann mehr und mehr zu seinen Jüngern geworden waren und ihm schließlich nur noch nach dem Mund redeten. Die zurückhaltendste Art des Auftretens dieser Jüngerschaft war noch zu schweigen. Ich muß gestehen, daß auch ich oft geschwiegen und die Auseinandersetzung über Probleme im Politbüro nicht betrieben habe.

Eine wichtige Taktik, mit der Honecker seine Macht behauptete, war die Isolierung der einzelnen Politbüromitglieder. Das schlimmste Vergehen war Fraktionsbildung. Diesem Gesetz haben wir uns alle unterworfen. Man hätte eher Sodomie betreiben als sich der Fraktionsbildung schuldig machen dürfen. Wir haben uns zwar alle unsere Spielräume verschafft, ich zum Beispiel in der Berliner Parteiorganisation. Aber eine Gruppe oder nur zwei Mitglieder, die enge Diskussionen prinzipieller oder gar existentieller Art geführt hätten, hat es im Politbüro nicht gegeben. Niemand konnte sicher sein, ob eine Offenbarung von bestimmten Vorstellungen oder Zweifeln gegenüber einem Politbürokollegen nicht an die falsche Adresse geriet. Honecker war in dieser Richtung ein großer Stratege. Schon wenn zwei oder drei besonders harmonierten, war das ein Verdachtsmoment. Er hat dann meist den einen gegen den anderen ausgespielt, den einen kritisiert, den anderen gelobt.

Ich hatte mit ihm kaum Kontakt. Außerhalb der Politbürositzungen saß Honecker meist nur mit Mittag zusammen. Sicherlich wegen der prekären Wirtschaftslage. Damit waren die Möglichkeiten, jemandem im direkten Umgang auszuzeichen, Belobigungen zu verteilen auf die Politbürositzungen und das gemeinsame Mittagessen beschränkt. Was die Kritik anbelangte, war Herrmann der von Honecker meistkritisierte Mann im Politbüro. Gleichzeitig zeigte Herrmann eine ausgeprägte Loyalität zu Honecker, die nicht zuletzt auf dem Altersunterschied und natürlich auf der langjährigen Zusammenarbeit in der FDJ beruhte. Das hat es kaum bei jemand anderem gegeben.

Auch wenn all dies recht kümmerlich scheint, es funktionierte. Symptomatisch ist, daß ich in Wandlitz kein Haus von innen gesehen habe, nur das von Herrmann. Als ich Chefredakteur des «Neuen Deutschland» war, war es schon manchmal nötig, sich am Sonntagnachmittag zusammenzusetzen. Aber als ich in die Berliner Bezirksleitung wechselte, hörte das schlagartig auf. Es hat auch keiner unser Haus gekannt.

Wir waren alle isoliert. Das war die Situation. Honecker hockte nur mit Mittag und – seltener – mit Mielke zusammen. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, daß sie uneingeschränkt Bescheid wußten. Die Entscheidungsgewalt hat Honecker kaum an Mittag abgetreten. Honecker war ein selbstbewußter Mann, der allerdings vor lauter Selbstbewußtsein bald den gleichen Fehler wie Ulbricht beging: er wähnte sich in allen Fragen kompetent. Auf dem Bau wußte er Bescheid, weil er Dachdecker gelernt hatte, in die Landwirtschaft hatte er auch schon mal hineingerochen. Als Superwirtschaftswissenschaftler fühlte er sich zwar nicht gerade, aber er achtete immer darauf, daß die letzte Entscheidung in diesem Bereich bei ihm lag.

Aber sein eigentliches Strategiefeld war die Kaderpolitik. Er traf größtenteils einsame Entscheidungen. Dazu mußte er den Apparat genau kennen. Er war ein Mann des Apparates.

 

Eine dieser für einen Außenstehenden nicht zu durchschauenden Kaderentscheidungen fällte Erich Honecker wohl 1985, als er Konrad Naumann, den bisherigen ersten Bezirksvorsitzenden von Berlin seines Amtes enthob und aus dem Politbüro warf. Ein Sturz, den die SED schon lange Jahre nicht mehr gesehen hatte. Nachfolger für den größten und wichtigsten Bezirk in der DDR wurden dann Sie, was wiederum sehr ungewöhnlich war, da Sie keinerlei Erfahrung in der Parteiorganisation hatten, sondern aus dem Journalismus kamen. Wie haben Sie es denn geschafft, daß Honecker die Entscheidung zugunsten Ihrer Person gefällt hat?