Das preußische Arkadien - Hans-Dieter Rutsch - E-Book

Das preußische Arkadien E-Book

Hans-Dieter Rutsch

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Beschreibung

Als Goethe 1790 durch Schlesien reist, schreibt er von unterwegs an Herder und schwärmt davon, welch «sonderbar schönes, sinnliches und begreifliches Ganze» er dort entdeckt habe. Im Zentrum: das Hirschberger Tal, eine der reichsten und idyllischsten Kulturlandschaften Mitteleuropas. Genau zweihundert Jahre nach dem Besuch des Dichterfürsten öffnete sich diese Welt der Maler und Träumer erneut und erwachte aus einem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf – mit dem Ende des Kalten Krieges kehrte ein beinah schon vergessener Sehnsuchtsort in das europäische Bewusstsein zurück. Hans-Dieter Rutsch macht sich auf, Schlesien und das Hirschberger Tal zu erkunden, lässt sich von seinen Bewohnern die Geschichte dieses «preußischen Arkadiens» erzählen und spürt den Schicksalen nach, die sich damit verbinden: Wir erfahren etwa, wie sich Caspar David Friedrich von der Schneekoppe, dem höchsten Berg des Riesengebirges, zu einem seiner berühmtesten Gemälde inspirieren ließ, von Gerhart Hauptmanns Rückzugsort in Agnetendorf oder von Hagen Hartmann, der das Schloss, das einst seinen Vorfahren gehörte, vor dem Verfall rettete. Es sind bewegende Geschichten, die Hans-Dieter Rutsch aufgezeichnet hat – Geschichten über Schlesien und die Deutschen und über eine lange vergessene Kulturlandschaft, die gerade ihre Wiedergeburt erlebt.

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Hans-Dieter Rutsch

Das preußische Arkadien

Schlesien und die Deutschen

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

MottoWidmungSchlesisches SchweigenKapitel eins Jenseits der Oder: oder Abschied und WiederkehrKapitel zwei Caspar David Friedrich wandert nach SchlesienKapitel drei Terra incognita – das unbekannte LandKapitel vier Die Schneekoppe – Berg der ErleuchtungKapitel fünf Goethes schlesische LiebeKapitel sechs Gerhart Hauptmann in SchreiberhauKapitel sieben Streit und Krieg um Schlesien – eine Geschichte seit achthundert JahrenKapitel acht Legenden aus Holz: die Stabkirche WangKapitel neun Die Auferstehung von Schloss LomnitzKapitel zehn Schinkel in SchlesienKapitel elf Seit 1945: die Suche nach FriedenZum Schluss Schlesien ohne EndeDanksagungBildnachweis
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Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.

Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.

Christa Wolf

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für Barbara

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Schlesisches Schweigen

Ein Prolog

An einem der wärmeren Februartage des Jahres 1790 fasst Johann Wolfgang von Goethe einen Entschluss: Er möchte das vor ihm liegende Jahr reisend verbringen. Ob ihn das nächtliche Weinen seines am ersten Weihnachtstag des zurückliegenden Jahres geborenen Sohnes August in die Fremde treibt oder sein stets wiederkehrendes Fernweh, lässt sich nicht sagen. Jedenfalls will Goethe aus Weimar fort.

Zwischen dem achtzehnten und achtundzwanzigsten Februar unterrichtet der Dichter und Minister seinen Herzog Carl August in einem undatierten Brief von diesem Wunsch: «Ich möchte das 90er Jahr gern unter freyem Himmel, soviel möglich zubringen», und er wolle «Revüen» erleben. «Ohne Kosten macht mirs einen großen Spass, denn ich muss wieder einmal etwas fremdes sehen.» Was weder Goethe noch der Herzog ahnen: Den Sommer und Frühherbst dieses Jahres werden beide in Schlesien verbringen. Diese Reise wird Goethe bis an sein Lebensende als Geheimnis in sich verborgen tragen. Immer wieder kündigt er zwar an, das Schweigen über seinen schlesischen Sommer zu brechen. Doch es bleibt bei Ankündigungen, Goethe äußert sich nicht. Warum nur?

Goethes Sommer in Schlesien ist eines der großen Rätsel um den Dichter: Wollte er am Ende von Weimar nach Schlesien übersiedeln, dort tatsächlich Schloss und Gut erwerben? Aber warum hat er uns ausgerechnet diesen Lebensplan und seine Überlegungen darüber in seinem Tagebuch verschwiegen? Er hat uns doch sonst über so vieles genauestens unterrichtet. Die Germanisten interpretieren diesen Umstand auf verschiedene Weise. Die Theorien, die es gibt, haben aber einen gemeinsamen Kern: das rätselhafte Liebesleben Goethes.

Goethe ist mit seinem Drang, nach Schlesien zu gehen, in bester Gesellschaft. Die deutschen Maler – von Caspar David Friedrich über Carl Gustav Carus bis hin zu Ludwig Richter – zieht es immer wieder in dieses europäische Herzland an der mittleren und oberen Oder. Folgt man den Kunstwissenschaftlern, so hat die moderne Malerei der Deutschen in diesem schlesischen Mittelgebirge einen ihrer Geburtsorte.

Auch die Hohenzollern erfasst nach 1800 eine tiefe schlesische Sehnsucht. Die preußische Königin Luise sieht in der Landschaft unterhalb des Riesengebirges ein deutsches Italien, ein Arkadien, in dem sie sich wie erlöst fühlt von den gesellschaftlichen Zwängen ihrer Zeit. Hier empfindet die Königin ein ihr bisher unbekanntes Gefühl: persönliche, individuelle Freiheit. Diese Sehnsucht nach Schlesien gibt sie weiter an ihre Kinder, die diese Landschaft gemäß den Vorstellungen ihrer Mutter verwandeln und dort schaffen werden, was zu Recht als das «Preußische Arkadien» berühmt wird.

Und die Schriftsteller? Sie erfasst das schlesische Flair auf ähnliche Weise wie die Maler. Theodor Fontane, der märkischste aller deutschen Dichter, empfindet von Schlesien aus sogar Berlin, dem er sich so sehr widmete, als eine lächerlich verlogene Stadt und möchte am liebsten – so schwört er sich nach jedem seiner langen Sommeraufenthalte – für immer unterhalb des Riesengebirges leben. Die Landschaft mit ihrem Alltag bietet ihm Stoff für eine Reihe von Romanen. Einen schreibt er zwischen 1885 und 1890 und veröffentlicht ihn unter dem Titel «Quitt» zunächst als Fortsetzungsroman in der «Gartenlaube», einer Wochenzeitschrift, die gut fünf Millionen Leser erreicht. Dieser Text unterscheidet sich von den bisherigen Werken Fontanes sowohl in der Wahl des Stoffes als auch in der Form: Aus der schlesischen Bergwelt heraus versucht Fontane, seine Grenzen und Möglichkeiten als Autor zu ergründen. Er rückt seinen Schreibtisch an das Fenster seines Sommerdomizils in der Schlingelbaude, lässt den Blick über die Schneekoppe und den Kamm des Riesengebirges schweifen und füllt Blatt für Blatt. Der Roman erzählt von einem Wilddieb, der nicht akzeptieren will, dass ihn Menschen und Gesetze in Unmündigkeit und Armut halten. Sein Aufbegehren gegen dieses Unrecht macht den Unterdrückten zum Mörder, der vor seiner Schuld in die Freiheit Amerikas flieht. Es ist eine Fragestellung des zwanzigsten Jahrhunderts, der Fontane in Schlesien nachgeht: Wo beginnt und wo endet individuelle Freiheit? Kann man sich der Verantwortung dauerhaft durch Flucht entziehen? Die Antwort, die er findet, ist von erstaunlicher Aktualität: Freiheit ist ohne Verantwortung undenkbar.

Schon fünfzig Jahre vor Theodor Fontane trifft Hoffmann von Fallersleben in Breslau ein. Er lebt dort zwischen Büchern, studiert und lehrt an der altehrwürdigen Universität und soll so zu den Begründern der Germanistik als einer eigenständigen Wissenschaft werden. Sein Name verschleiert die bürgerliche Herkunft: Der Sohn eines Kaufmanns aus Fallersleben widmet sich als Student zunächst mehreren Wissenschaftszweigen und gelangt schließlich bei dem an, was ihm das Liebste wird: der Dichtung. 1835 wird Hoffmann von Fallersleben in Breslau zum ordentlichen Professor ernannt, neben seiner Lehrtätigkeit sammelt er schlesisches Liedgut. 1841, in dem Jahr, in dem er den Traum der Deutschen von «Einigkeit und Recht und Freiheit» in eine hymnische Form kleidet, veröffentlicht er auch sein «Schlesisches Liederbuch». Mit ihm trägt er den Text «Die Gedanken sind frei» in die Seele der Deutschen. Das Lied wird ihre heimliche Hymne und hält in Zeiten deutscher Diktaturen in vielen Menschen die Hoffnung aufrecht. Sie haben es sich leise zugesummt, als das Reden über Freiheit und das Einfordern von Menschenrechten als schweres Verbrechen geahndet wurde.

Nur, was wissen wir heute noch von alldem? Was wissen wir von Schlesien? Es scheint vergessen, dass diese preußische Provinz einst eine Zukunftswerkstatt der Deutschen war. Darum zog es immer wieder so viele – schenkt man den Lexika Glauben – «große Deutsche» dorthin, wo sie von der Landschaft, ihrem Licht, ihrer Luft, ihrer Stimmung verzaubert wurden. Die Erinnerung daran aber haben die Deutschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts eingestellt. Im Übereifer, aus den deutschen Raubzügen und Verbrechen der Jahre 1939 bis 1945 etwas zu lernen, wurde Schlesien fast ganz aus der Erinnerung gestrichen. Den Nachgeborenen blieb das vage Gefühl, Schlesien sei nichts weiter als jene Landschaft gewesen, in der die Deutschen ihre Lust auf Eroberung überkam. Größer konnte ein Irrtum nicht sein.

Die Folgen sind tragisch: Das Wissen um Schlesien schmolz innerhalb der ersten Nachkriegsjahrzehnte auf eine Formel zusammen: Verlorene Heimat. Das öffentliche Erzählen über Schlesien wurde eingestellt. Lediglich die Vertriebenen versuchten in der Bundesrepublik an Schlesien zu erinnern. Aber sie taten es in einem wehmütigen, klagenden Ton, im Präteritum. Als sei Schlesien eine Welt ohne jede Gegenwart und in einem schwarzen Loch verschwunden, geschluckt von der Weltgeschichte, aufgesogen in ein Nirgendwo. Im Zuge dieser Verdrängung wuchs den Deutschen eine Neurose zu, die jede Erinnerung an Schlesien betraf. Doch jetzt scheint die Zeit der Therapie zu beginnen. Das Reden über Schlesien steht nicht mehr in dem pauschalisierenden Verdacht des Ewiggestrigen, Reaktionären. Die Zeit der Besinnung auf Schlesien hat begonnen. Und sogar die der Heimkehr. Die Betroffenen wandeln zwischen Deutschland und Polen, mal suchend und tastend, mal sehr entschlossen. Alles dies ist getragen von dem Versuch, aus der Erinnerung in die Welt der Gegenwart zu treten. Was ist da eigentlich vergangen?

Viele Jahre verband ich, nach dem Krieg in eine vertriebene Familie hineingeboren, das Wort Schlesien mit dem Geruch jener Luft, die heute noch zwischen den Möbeln von Trödelläden steht. Ich atmete sie, als ich mit den Großeltern die vertriebenen schlesischen Verwandten im Spreewald, im Erzgebirge oder im Harz besuchte. Diese Menschen, mit denen mich damals keinerlei Gefühl, nicht mal die Ahnung einer Zusammengehörigkeit verband, wohnten oder hausten (manchmal in schäbigen Baracken) zwischen einem Mobiliar, das sie sich aus dem beschafft hatten, was vom Krieg übrig geblieben war. Dieses «Beutegut» stand auf Teppichen, aus denen der Dunst von altem Kaffeesatz und gekochtem Kohl kroch. Auf den Sitzmöbeln hockte der Rest der nun weit verstreuten Großfamilie. Man sprach nur von einem – von früher. Mehr Wehmut bin ich in meinem Leben nicht begegnet. Auch von Verschollenen wie meinem Urgroßvater wurde dabei geredet. Er starb, weit über siebzig Jahre alt, irgendwo auf einem Transport von Schlesien nach Ostdeutschland. Als ihn polnisches Militär zwang, seine nun polnisch gewordene Heimat zu verlassen, lebte er längst gemeinsam mit Polen auf seinem schlesischen Hof. Warum sie ihn dann verjagt hatten, das konnte ich als Kind nicht verstehen.

In den Vitrinen hinter den Sesseln wartete angeschlagenes Geschirr aus Bunzlau darauf, von mir staunend in den Händen gedreht und als Schatz erkannt zu werden. Aber mir fehlte jeder Bezug zu diesen keramischen Gefäßen, die es für meine Verwandten waren. Es dauerte Jahrzehnte, ehe Schlesien in mir an Kontur gewann. Das begann während der Reisen mit meinen Eltern in die schlesische Herkunftswelt. Es setzte sich fort in eigenen Begegnungen mit Polen, polnischen Freunden und dem, was ich nach und nach über die wahre schlesische Geschichte erfuhr. Ich begann zu fragen, wie meine Vorfahren in Schlesien gelebt hatten, welches schlesische Selbstverständnis sie gehabt hatten. Aber woher dieses Interesse kam, weiß ich nicht genau. Mich haben die Erzählungen vom Schmerz über die Vertreibung und das Elend der Flucht zwar erschrocken, aber diese tränennassen Schilderungen verstellten auch den Blick auf den Rest, die weite schlesische Lebenswelt. Sie konnte ja nicht, das wurde mir im Älterwerden klar, nur aus dem verlorenen Paradies bestanden haben. Schlesien muss auch etwas anderes gewesen sein. Dieses Unsichtbare begann mich zu interessieren. Das unbekannte Land.

Zunächst ließ ich einfach geschehen, was mit mir in Schlesien geschah. Ich nahm jede Chance wahr, dorthin zu reisen. Im Haus eines Malers in Oberschlesien fand ich, noch zu tiefen DDR-Zeiten, familiären Anschluss und freundschaftliche Nähe. Unter seinem Dach lebte ich mit aus der Ukraine vertriebenen Polen und verlor die Lust, die typisch deutschen Fragen zu stellen. Die Polen um mich herum hatten in Schlesien, dieser alten deutschen Welt, eine neue Heimat gefunden.

In Deutschland fiel schon allein die Frage, warum ich mich immer noch in Schlesien «herumtreibe», wie ein Urteil auf mich. Mancher wähnte mich in der Nähe des Revanchismus, andere sahen es einfach als Dummheit an, als Unfähigkeit, die wahren Schauplätze der deutschen und europäischen Geschichte zu erkennen. Schlesien stand nur unter einem Stern: dem Gestern. Die vertriebenen Schlesier sind daran nicht unbeteiligt. Sie wurden nicht müde zu behaupten, ohne Schlesien sei für sie und ihre Kinder keine Zukunft denkbar. Sie weigerten sich, die allgemein bekannte Tatsache zu erkennen: Wenige Verbrechen waren in der Geschichte der Menschheit häufiger als Eroberung, Plünderung und Vertreibung. Das ist nicht leicht, aber es hilft, Leid zu überwinden. Sie begannen stattdessen, an ihrem Leid zu leiden, und wurden für die nichtvertriebenen Deutschen zum Rätsel.

In der Erinnerung kehrte er oft zurück: Caspar David Friedrich malte diese Landschaft Jahre nach seiner Wanderung durch das Riesengebirge.

Für mich wurde Schlesien nach und nach immer anziehender. Ich reiste nicht im Schmerz über das verlorene Leben dorthin. Nein, ich ließ mich von Luft, Himmel und Bergen berühren, vom stillen Fließen der Oder, auf der die Wolken in blauem Himmel segeln. Vom pulsierenden Breslau mit seinen alten Geschichten, von den weiten Ebenen Oberschlesiens, seinen Bergwerken und Hüttenbetrieben. Ich konnte mich nicht sattsehen an den einsam über die Landstraßen schleichenden Panjewagen, die mit ihren pfeiferauchenden Kutschern dahinzockelten.

In dieser schlesischen Welt berühren sich Ost und West, trifft die deutsche Sprache auf ihre slawischen Nachbarn. Jahrhunderte trugen die Schiffer auf den Oderkähnen die sich vermischenden Wörter geduldig von Stadt zu Stadt. Überhaupt war Geduld hier immer nötig, denn je nach Herrschaft, und die änderte sich oft, wurde in Schlesien abwechselnd das Deutsche, das Polnische oder Tschechische wie das eigentliche Schlesisch, ein polnischer Dialekt, verboten und wieder erlaubt. Böhmen, Preußen, Polen, Schweden und Russland stritten sich um die Vorherrschaft, verkleideten ihre Kriege in das Gewand von Glaubenskämpfen und tobten sich in Schlesien aus. Die fremden Soldaten oder Söldner quartierten sich in den schlesischen Hütten, Höfen und Schlössern ein und lehrten die Schlesier, dass man keinem Versprechen eines Eroberers trauen darf.

Diese Erfahrungen liegen wie ein unsichtbarer Dunst über Schlesiens Landschaft. Und wer durch sie fährt, spaziert oder wandelt, der sollte sich nicht wundern, wenn er davon berührt, angerührt wird. Was einem dann widerfährt? Auch das will ich in diesem Buch erzählen. Aber Geduld, denn in Schlesien ticken die Uhren anders. Diesen Satz habe ich oft gehört. Und auch den: Der Westen hat die Uhren und der Osten die Zeit. Irgendwo zwischen diesen Sätzen und ihren Wahrheiten liegen Schlesien und jene Welt, die den Deutschen entrückt ist. Eine Terra incognita, ein unbekanntes Land. Wagen wir uns hinein.

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Kapitel eins Jenseits der Oder: oder Abschied und Wiederkehr

Bitterer Abschied

Im bitterkalten Januar des Jahres 1945 verlässt eine Kutsche in großer Eile Schlesien. In ihr sitzt, in warme Decken gehüllt, der dreizehnjährige Sigismund Freiherr von Zedlitz zusammen mit seinen jüngeren Neffen und Nichten sowie einem Kindermädchen. Das hölzerne Gefährt schaukelt, seine Fenster sind vom Atem der Reisenden mit einer blumigen Eisschicht besetzt. Man ist Richtung Westen unterwegs, flieht vor der aus dem Osten heranrückenden Front. Sigismund von Zedlitz ist Spross eines der ältesten Adelsgeschlechter Schlesiens. Seit 1275 ist das Leben seiner weitverzweigten Familie urkundlich belegt, im Hirschberger Tal unterhalb des Riesengebirges haben die Zedlitz im Laufe der Jahrhunderte mehrere große und prächtige Schlösser besessen. Der junge Sigismund weiß davon, sein Vater hat ihm diese lange Geschichte erzählt. Er soll künftig die Verantwortung für seine Familie und ihre Geschichte übernehmen. Dazu wurde er erzogen, seine ganze Kindheit lang. Und zu mehr noch: zu der Überzeugung, dass Besitz immer nur geliehen ist, auf eine Lebenszeit. Dann ist er an die nächste Generation zu übergeben und als Lebensgrundlage einer Gemeinschaft zu bewahren.

Dem heranwachsenden Sigismund sind Schloss und Gut Neukirch an der Katzbach als Erbe zugedacht. Er soll den schuldenfreien Besitz bewahren und in die Zukunft führen. Doch jetzt ist Krieg, die Front wird in absehbarer Zeit Neukirch erreichen. Darum die Flucht nach Westen. Darum verlässt der Erbe des Zedlitzer Besitzes die preußische Provinz. Sigismunds Vater dagegen fühlt sich persönlich für die Organisation der Evakuierung des Dorfes zuständig, er will es als Letzter verlassen. Darum sind die Kinder ohne die Eltern unterwegs.

 

Dass der künftige Schlossherr auf seiner Flucht Goethes Weg aus dem Jahr 1790 kreuzt, ahnt er nicht. Er weiß aber schon, dass Schlesien ein begehrtes und umkämpftes Land ist. Der legendäre Feldherr Gebhard Leberecht von Blücher entreißt es 1813 als Oberbefehlshaber der preußischen Truppen in Schlesien Napoleons Armee, was eben an der Katzbach geschah, einem kleinen Nebenfluss der Oder. Es ist die Landschaft dieser legendären Schlacht, in der der junge Sigismund aufwächst. «Der geht ja ran wie Blücher» – diesen Ausspruch kennt er. Womöglich stellt sich der junge Sigismund vor, dass sich das Schicksal des Krieges im Jahr 1945 genau wie bereits 1813 an der Katzbach entscheiden könnte. Keine Gedanken verschwenden die von Zedlitz an die Vorstellung, dass sie alles, was sie in diesem kalten Kriegswinter in Schlesien zurücklassen, verlieren könnten: ihren Besitz und ihre Tradition. Erst im Sommer fünfundvierzig findet die Familie in Süddeutschland wieder zueinander. Die neue Lebenswelt wird von ihnen klar benannt, mit dem Wort Exil. Ihre Nachkriegsjahrzehnte in der Bundesrepublik sind geprägt von der Erinnerung an das, was einmal das Deutsche Reich war, und von der Sehnsucht nach Rückkehr. Sollte das Leben in der schlesischen Heimat für immer vorbei sein? Die ehemaligen Einwohner von Neukirch melden sich bei ihren ehemaligen Arbeitgebern. Auch sie wollen nach Hause. Dieses Lebensgefühl teilen sie mit vier Millionen vertriebenen Schlesiern in der Bundesrepublik und der DDR. Die Vorstellungen von der Art und Weise einer Heimkehr sind diffus. Manche formulieren daraus ein umstrittenes politisches Programm – «Schlesien bleibt unser!» In der Bundesrepublik hat man dazu eine zwiespältige Haltung. Jene, die aus Schlesien in der «neuen Heimat» ankommen, spüren bei den neuen Nachbarn Desinteresse an ihrem Schicksal. Die Vertriebenen und die Flüchtlinge sind die ersten Fremden im Nachkriegsdeutschland. Sie werden behandelt wie Einwanderer und sehen sich mit dem Vorurteil konfrontiert, eigentlich mehr Polen als Deutsche zu sein. Ihre Eingliederung fordert die Regierungen ähnlich heraus wie später die Integration der «Gastarbeiter» aus Europas Süden.

 

In der DDR wird die Trauer um die verlorene Heimat unterbunden. Wer dagegen verstößt, erlebt politische Repressalien. Die Vertriebenen erhalten einen irreführenden Namen, Umsiedler werden sie genannt. Als ob sie es sich ausgesucht und nun die Folgen eigenverantwortlich zu tragen hätten. An dieser offiziellen Haltung ändert sich bis zum Fall der Mauer nur wenig. Die Schlesier können froh sein, in ihren Dokumenten die deutschen statt der polnischen Namen ihrer Geburtsorte führen zu dürfen, Breslau statt Wrocław, Hirschberg statt Jelenia Góra oder Ratibor statt Racibórz. Aber das war eine jämmerliche politische Geste, sie rührte aus der offensichtlichen Unkenntnis der zuständigen DDR-Behörden, dass zwischen 1936 und 1941 auf Weisung Hitlers eine Welle der Germanisierung über die östliche Provinz gerollt war. Alle slawisch klingenden Orts- und Personennamen in Schlesien wurden der angeblich rein deutschen Kulturgeschichte des Landes angepasst. Aus der Ortschaft «Borutin» musste «Streitkirch» werden, selbst das kleine Dorf «Lanietz» wird in «Hirschgraben» verwandelt. Wer den Namen «Wilk» führt, muss ihn zu «Wolf» umschreiben lassen.

Aber lange dürfen die Ostdeutschen ihre verlorene Heimat nicht bereisen. Als ihnen in den 1960er Jahren die ersten Visa erteilt werden, müssen die Antragsteller peinlichst genau die polnischen Ortsbezeichnungen als Reiseziel eintragen. Hirschberg oder Breslau gibt es in der DDR nicht mehr. Mitgefühl erleben die Schlesier auch im Arbeiter-und-Bauern-Staat wenig. Auch hier haben ihre neuen Nachbarn kein Interesse, sich mit den Vertriebenen zu solidarisieren. So liegt über ihrem Schicksal tiefes Schweigen.

 

Seit Beginn der 1970er Jahre sucht Sigismund Freiherr von Zedlitz von Westberlin aus verzweifelt nach einer Chance, nach Neukirch zurückzukehren. Den dortigen Besitz der Familie, der nun auf polnischem Staatsgebiet liegt, will er bewahren und pflegen. Alle Regelungen der polnischen Regierung über das Eigentum der Deutschen in Polen tragen aus seiner Perspektive provisorischen Charakter. Die Vertreibung der Schlesier sieht er im Widerspruch zu geltendem internationalen Recht, denn noch existiert der im Potsdamer Abkommen angekündigte, abschließende Friedensvertrag nicht. Der Freiherr beschließt, künftig regelmäßig als Tourist durch die DDR nach Polen zu reisen. Er fühlt sich für die Fortführung von siebenhundert Jahren Geschichte seiner Familie verantwortlich und überwindet dazu, gegen den Rat von Freunden und Verwandten, unermüdlich zwei Eiserne Vorhänge. Die deutsch-deutsche Grenze aus Stacheldraht und Beton vergleicht er mit einem Festungswall. An der Grenze zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen fehlt zwar der Stacheldraht, aber auch hier herrscht ein eisiges, abweisendes Klima. Als ob schon die Grenze jedes Bedürfnis ersticken soll, sie zu überschreiten. Sigismund von Zedlitz ist klar, dass die in der Propaganda beschworene brüderliche Freundschaft zwischen den Regierungen in Warschau und Ostberlin nur die Fassade einer Politik der Abschottung ist. Die Bürger der DDR sind für die Funktionäre der polnischen Volksrepublik nur offiziell Freunde. Die Regierung in Ostberlin unternimmt wenig, um daran etwas zu ändern. An einer wirklichen Annäherung an Polen ist den Strategen der SED nicht gelegen.

Wer aus der Bundesrepublik durch die DDR nach Polen einreist, ist den Regierungen in Ostberlin wie in Warschau gleichermaßen suspekt. An den Kontrollpunkten ist der Freiherr bald als «Revanchist» bekannt, als einer, der das Rad der Geschichte zurückdrehen möchte. Warum wäre er sonst so aktiv in der Bundesgruppe der aus Liegnitz Vertriebenen? Warum veröffentlicht er regelmäßig in den «Heimatblättern» der Vertriebenen? Warum verwendet er Formulierungen wie das «polnisch gewordene Stammland» für die Beschreibung der hinter der Oder-Neiße-Grenze vorgefundenen Realität? Der Adlige wird ein Fall für die Geheimdienste.

Dem Freiherrn schlägt auf seinen Reisen aber nicht nur Misstrauen entgegen. Manche der polnischen Bürger von Neukirch haben Verständnis für sein Anliegen. Auch sie haben nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Besitz und ihre Heimat verloren, wurden vertrieben. Sie leiden unter der durch die Sowjetunion erzwungenen Westverschiebung Polens und sind durchaus bereit, in Sigismund von Zedlitz den rechtmäßigen Erben seines Familienbesitzes zu sehen. Doch bietet sich diesem bei keiner seiner Reisen eine wirkliche Chance, den Lebensfaden seiner Vorfahren wieder aufzugreifen. Da fällt 1989 die Mauer. In Polen ist das Ende der Volksrepublik gekommen, alle Verhältnisse wandeln sich. Dürfen die vertriebenen Deutschen nun zurückkehren? Ist das für sie, fast fünfzig Jahre nach dem Ende des Krieges, überhaupt noch eine Option?

 

Den Zusammenbruch des Ostblocks nimmt man im tiefen deutschen Westen, kurz vor der französischen Grenze, unaufgeregter hin als hinter der Elbe. Man lebt und fühlt linksrheinisch. Mit diesem Selbstverständnis fährt der in Breslau geborene Arzt Hagen Hartmann jeden Morgen zur Arbeit. Anders als den Freiherrn Zedlitz interessiert ihn die ehemalige preußische Provinz nicht mehr. Er teilt nicht den Schmerz seines Vaters, der in der Hauptstadt Schlesiens einst als anerkannter Jurist lebte. Er hat zu wenige Erinnerungen an das damalige Leben und die Gemeinschaft in der Familie. Hagen Hartmann hört seinen Vater zwar klagen, er vernimmt aber auch immer wieder das Wort vorbei. Es sei vorbei mit Schlesien, vorbei mit der Heimat dort und vorbei mit dem Deutschen Reich. Und dieses Vorbei habe man schließlich selbst verschuldet durch die Tolerierung der Nazibarbarei. Zum Breslauer Freundeskreis der Hartmanns gehörten angesehene jüdische Familien. Ende der 1930er Jahre aber flohen sie dann doch aus Deutschland, um möglichen Repressionen zu entkommen. Man müsse sich, hört Hagen Hartmann von seinem Vater, schon selbst befragen, warum man die Nazidiktatur in ihrem Wesen erkannt und doch hingenommen habe; und noch nie in der Geschichte seien die Besiegten ohne Bestrafung davongekommen. Den Verlust Schlesiens sieht Hartmanns Vater als eine solche Strafe und nimmt sie an. Zum großen Vorbei gehört auch das Gefühl des Endgültigen. So vermittelt der pensionierte Jurist seinem Sohn: Vergiss Schlesien, richte hier deine Zukunft ein.

In den 1980er Jahren baut Hagen Hartmann in Saarbrücken ein Zentrum für Dialyse auf. Er hilft Menschen in lebensbedrohlichen Krisen und steht ihnen in aussichtsloser Lage zur Seite. Das füllt ihn aus, seine Arbeit erlebt er als Glück. Seine schlesische Kindheit in Breslau und im Hirschberger Tal liegt in einer längst vergessenen Welt. Die wenigen noch vorhandenen Erinnerungsbilder werden schwächer, je mehr Jahre vergehen, und sie nähren nur noch eine kleine Neugier. 1974 bereist der Mediziner zusammen mit seinen Eltern die Welt der schlesischen Kindheit – zum Abschiednehmen. Ist es der Spätherbst mit seinem regnerischen und trüben Wetter, der die Distanz zwischen Erinnerung und der vorgefundenen Realität noch verstärkt? Die Besichtigung des polnischen Wrocław erfolgt mit einem Regenschirm über dem Kopf, man sieht nicht viel. Die Reste des 1945 nahezu völlig zerstörten und im Wiederaufbau befindlichen Breslau führen Hartmann in eine Stadt, die er kaum wiedererkennt. Zusammen mit den Eltern versucht er Anknüpfungspunkte zu entdecken – es gelingt nicht. Auch die Begegnung mit dem Anwesen der Familie, einem Herrenhaus in der Nähe von Hirschberg, dem heutigen Jelenia Góra, löst kaum Heimatgefühl aus. Dafür aber Erschütterung über den Verfall. Regenwolken hängen tief über dem Tal. Der graue Himmel behindert den traumhaften Ausblick zur Schneekoppe und zu der berühmten Burgruine Kynast. Warum soll man dem nahezu verfallenen Besitz nachtrauern?

 

Dreißig Jahre nach dem Ende des Krieges ist von der schlichten Pracht der Heß’schen Bleiche, so der deutsche Name des eleganten Gebäudes, in dem für Friedrich den Großen immer ein Gästezimmer bereitgestanden hat, nichts mehr erkennbar. Das Schloss wurde von Generation zu Generation über die Töchter vererbt. Friedrich der Große soll erstaunt gewesen sein über das wirtschaftliche Geschick der Familie Hess, deren Engagement für den Aufbau der Hirschberger Gnadenkirche soll er bewundert haben. Aus Hochachtung und aus politischen Gründen hat er Heinrich Hess den Adelstitel angeboten. Doch der wohlhabende Mann lehnte dankend ab. Er wolle den König gerne unterstützen, sich ihm verpflichten wollte er aber nicht. Seine Unabhängigkeit als Mann der Wirtschaft – er handelte mit schlesischem Leinenstoff, den er veredelte – galt ihm mehr als ein durch den König verliehener Titel.

1974 stehen die Hartmanns im Regen vor dem Anwesen der Familie. Die letzte Nutzung der Heß’schen Bleiche als staatliches Kinderheim liegt schon Jahre zurück. Danach ist das zweigeschossige und zweiflüglige Gebäude, das in der Art eines französischen Landsitzes aus der Zeit Ludwigs XV. nach 1717 errichtet wurde, vom polnischen Staat in private Hand gegeben worden. Doch auch die privaten Eigentümer können den Verfall des offiziell denkmalgeschützten Anwesens nicht aufhalten. Die Besucher aus Deutschland sehen den Niedergang, sie wollen nur einen letzten Blick in das Schloss werfen, vielleicht ein letztes Andenken mitnehmen und danach das Kapitel Schlesien für immer abschließen. Die polnischen Eigentümer führen die Gäste ohne Scham durch die Räume, in denen es längst nicht mehr nur durchregnet. Deckenteile sind auf den Fußboden gestürzt, das Parkett hat sich gehoben, Öfen wurden herausgerissen und offensichtlich wie das historische Mobiliar geplündert. Eine Überraschung hält der enttäuschende Rundgang dann doch noch bereit: Hagens Mutter entdeckt ein an der Wand hängendes Jugendbildnis ihres Vaters. Die Freude ist riesig. Es existiert doch noch etwas von der alten Geschichte der Familie in dem Gebäude. Gerne schenken die neuen Eigentümer dieses Stück der Erinnerung den Deutschen. Und sie tun es mit Ehrfurcht. Sie stehen den Gästen gegenüber in keiner Schuld, aber der Vorwurf, nicht genügend getan zu haben für den Erhalt des Anwesens, steht doch unausgesprochen im Raum. Aber wie sollen sie ihre eigene Not erklären? Für sie waren weder Dachziegel noch Baugerüste zu bekommen, ihre Anwesenheit im Schloss bewahrte es immerhin vor der endgültigen Verwahrlosung und dem Abriss durch die Behörden. Nur wenige Kilometer entfernt, im heutigen Maciejowa, ereilte das Schloss Maiwaldau 1965 ebendieses Schicksal. Es wurde bis auf die Grundmauern abgetragen, seine Ziegel hat man für den Bau kommunaler Gebäude verwendet. Der ehemaligen Heß’schen Bleiche blieb das zumindest erspart. Den neuen Besitzern blieb nur, auf bessere Zeiten zu hoffen. Man hatte zwar ein wenig Geld, aber nicht die nötigen Beziehungen. Und ohne sie war Baumaterial nicht zu erhalten.

Die Hartmanns – den Zustand des Schlosses vor Augen – glauben den polnischen Eigentümern und sind doch entsetzt. Auf einen solchen Anblick waren sie nicht vorbereitet.

Der polnische Taxifahrer und Dolmetscher möchte auf der Rückfahrt wissen, ob den Deutschen dieser Besuch im Hirschberger Tal denn gefallen hat. Die Familie schweigt, ist unsicher: Ist die Frage ernst gemeint, oder spricht Ironie aus ihr? Hagen Hartmann sieht seiner Ehefrau Ingrid die Erschütterung an. Er hört sie flüstern: Hier fahre ich nie wieder hin. Damit scheint das Kapitel Schlesien für die Hartmanns ein für alle Mal abgeschlossen. In Saarbrücken spricht man nicht mehr darüber. Die Kinder wissen nur noch, da hat es einmal etwas gegeben in und mit Schlesien. Aber diese Welt ist unwiederbringlich versunken.

 

In Berlin ist man Schlesien geographisch näher. Der Betonwall, der Europa in Ost und West teilt, ist unübersehbar. Ein Jahr vor dem Fall der Mauer, im Sommer des Jahres 1988, rollt ein junger Mann namens Ulrich von Küster in einem Käfer Cabriolet, Baujahr 1956, über den Kurfürstendamm. Der junge Mann fährt durch die Nebenstraßen, vor einem Gymnasium hält er an. Die Schulglocke läutet zum Ende des letzten Unterrichts. Die siebzehnjährige Elisabeth klettert in den Käfer, ihre Mitschülerinnen bewundern sie für den Verehrer mit Oldtimer. Mit diesem Auftritt donnern die beiden davon.

Auf dem Weg zu seiner Studentenwohnung in Berlin-Moabit kitzelt Ulrich der Übermut. Er schwärmt davon, dass seine Familie in Schlesien etwas Besonderes, ein richtiges Schloss, besitze. Natürlich hat auch Elisabeth schon von einem Leben als Prinzessin mit Schloss geträumt … Aber so einfach will sie es ihm nicht machen. Die junge Frau reagiert schnippisch. Schlesien? Wo solle das denn sein? In Polen, mehr weiß er nicht. Sie: Ich wusste gar nicht, dass du Pole bist. Im Auto fährt jetzt ein wenig Verstimmung mit, und das Thema Schloss in Schlesien ist zwischen den beiden erst einmal erledigt.

Dabei mag Elisabeth Polen. Vor der mühseligen Ausreise der Familie aus der DDR ein paar Jahre zuvor verbringen die Eltern der gebürtigen Potsdamerin manchen Sommer an der polnischen Ostsee, es waren romantische Wochen an einsamen Stränden, lange Tage zwischen hohen Sanddünen.

Das Schloss in Schlesien kehrt erst an einem Wochenende im Frühherbst 1991 ins Leben des jungen Paares zurück, mit einem Telefonanruf. Ulrichs Bruder in Wiesbaden berichtet, die Eltern hätten das Schreiben eines polnischen Denkmalpflegers aus Jelenia Góra, dem einstigen Hirschberg, erhalten. Die Schlösser des Hirschberger Tales am Fuße des Riesengebirges stünden angeblich zum Verkauf. Bis 1945 lebten die Küsters dort auf Schloss Lomnitz. Bei einem Interesse, das Anwesen vom polnischen Staat zu kaufen, müsse man sich so schnell wie möglich registrieren lassen, niemand wisse, wann diese Liste geschlossen würde. Die beiden jungen Leute schauen sich in die Augen, und aus dem Bauch heraus sagt Elisabeth: Dann fahren wir Montag.

Das Jahr der ungeahnten Wunder

1991 ist ein wildes Jahr. Die Privatisierung der DDR-Konkursmasse läuft an. Den Verkauf von Land, Wohngebäuden und Betrieben wickelt die Treuhand nahezu ohne rechtliche Kontrolle ab. Eine Zeit, in der Tatsachen geschaffen werden, indem man durchsetzt, was man will. Nur der Augenblick zählt. Würde es in Polen ähnlich zugehen? Dann drängt die Zeit.

Der letzte Montag in diesem September ist ein sonniger Tag. Das Licht spielt in den goldgelben Blättern über dem alten Verdeck des Käfers, den Ulrich und sein schnell nach Berlin gekommener Bruder behutsam aufklappen. Wie schön und wie kitschig, denkt Elisabeth, als sie durch Berlin in Richtung Polen knattern. Wie hat sich die Welt in den letzten drei Jahren verändert. Die alten Mauern existieren nicht mehr, der Ostblock ist zusammengebrochen. Die selbstherrlichsten Vertreter der DDR-Führungselite sitzen hinter Gittern in Untersuchungshaft und sind empört, dass sie sich für ihr Tun verantworten sollen. Das öffentliche Interesse an ihren umständlichen Gerichtsprozessen erlischt allmählich, zu schleppend sind die Verfahren. Lediglich der Fall Honecker bleibt in den Medien hoch im Kurs.

An Reisen nach Polen hinein besteht bei den Ost- wie Westberlinern in dieser Zeit wenig Interesse. Die Ostberliner fahren allenfalls bis kurz hinter die polnische Grenze, um dort billig einzukaufen. Die Westberliner interessiert nicht einmal diese Schnäppchenjägerei. Sie sehen am Bahnhof Zoo täglich schwer bepackte Händler aus Polen den Zügen entsteigen. Auf dem Polenmarkt verkaufen sie schlesische Würste und andere Spezialitäten, erwerben mit dem Verdienst Zahnpasta, Waschpulver und Sixpacks, am Abend fahren sie wieder davon. Mit diesem Kleinhandel bringen die seltsamen Handelstreibenden ihre Familien durch die Wirren des sich auflösenden Ostblocks. Warum soll man in dieses polnische Chaos reisen?

Der Käfer mit den jungen Leuten schaukelt über die alte Autobahn zur Grenze. Selten begegnen die drei einem anderen Wagen. Die aufwendige Grenzkontrolle erschreckt sie nicht, als Wessis sind sie trainiert, sie wurden von den DDR-Grenzern nicht verwöhnt. Dann, in Polen, ein erster, ungewöhnlicher Eindruck, ein in Deutschland unbekanntes Verkehrsschild: Traktoren und Pferdewagen ist das Benutzen der Autobahn verboten. Es ist offenbar nötig, dass die Behörden solche Tafeln aufstellen. Elisabeth genießt die Einsamkeit auf der Autobahn und auf den Landstraßen. Ihr Blick bleibt an den stillen Dörfern mit den am Straßenrand spielenden Kindern hängen. Es ist die Kulisse einer angehaltenen Zeit. Seit Kriegsende hat sich hier wenig getan. Selten Neubauten, kaum ein neugedecktes Dach. Der Straßenbelag ist geflickt. Scheunen mit eingefallenen Dächern lugen zwischen den Häusern mit märkischer Anmutung hervor. Irgendwann verändert sich die Szenerie. Am südlichen Horizont taucht über Dächern und Baumwipfeln ein von der Sonne beschienenes Gebirge auf. Liegt auf diesen Gipfeln Schnee? Größer kann der Kontrast zu Berlin nicht sein. Dieses Panorama gehörte zu der verlorenen Heimat der Vorfahren.

Gegen Mittag biegt der Käfer am Ende des langgestreckten schlesischen Straßendorfes Łomnica auf einen ehemaligen Gutshof. Was Elisabeth nun zu sehen bekommt, schockiert sie. Vom Gut stehen nur noch notdürftig instandgehaltene Stallgebäude, vom Schloss selbst nicht viel mehr als die Grundmauern. Große Teile des Dachstuhles liegen eingestürzt auf der oberen Etage. Fenster und Türen fehlen, die Öffnungen der gesamten unteren Etage sind durch Bretter vernagelt. Ein Berg aus Schutt liegt auf der Portaltreppe. Das Gelände um das Schloss erinnert in keiner Weise mehr an einen Park. Wo es einmal blühte, wird schon seit langem Müll entsorgt, der Schrott alter Gerätschaften ragt heraus. Am Straßenrand bleiben Leute stehen und schauen neugierig, was die Deutschen mit dem lustigen Auto da wohl treiben. Sind das etwa die alten Herrschaften, oder ihre Kinder? Kommen die jetzt wieder? In den polnischen Zeitungen steht zu lesen, dass sie das jetzt dürfen. Die Zuschauer am Straßenrand wissen nicht, was sie davon halten sollen.

Der Verfall und die Verwahrlosung sind für Elisabeth eine tiefe Enttäuschung – die barocke Gestalt des kastenartigen Gebäudes mit seinen zwei Zwiebeltürmen entspricht nicht ihren Mädchenträumen. Ein richtiges Schloss sieht doch anders aus! Es müsste mit weit ausladenden Flügeln Gäste zu Festen laden, mit vergoldeten Wetterfahnen weit über das Land grüßen. All dies fehlt hier, nur alt ist das Schloss. Seine Eigentümer sind seit 1366 urkundlich erwähnt. Mehr als zweihundertfünfzig Jahre gehörte es zum Besitz der weitverzweigten Familie von Zedlitz, genau wie die nahe gelegenen Schlösser und Herrenhäuser Maiwaldau, Buchwald, Schildau, Boberstein und Fischbach. Dann änderten sich die Besitzverhältnisse, durch Heirat und Verkauf. Doch die Familien von Zedlitz und von Küster verkehren miteinander. Man besucht sich, feiert zusammen und erlebt, wie die Hohenzollern ab 1810 das Tal zu ihrer Sommerresidenz machen. Angeregt durch Bilder von Caspar David Friedrich erwirbt die königliche Familie dort Schloss für Schloss. Eine neues, ganz anderes Sanssouci entsteht. Die vorgefundene Natur und die schon bestehende Bausubstanz werden durch behutsame Gestaltung in einen arkadischen Raum verwandelt. Karl Friedrich Schinkel und Peter Joseph Lenné entwickeln die Pläne dafür, ihre Schüler führen sie aus. So entsteht eine Landschaft, von der man in ganz Europa spricht.

Ulrich und seinem Bruder fällt es trotz der Trümmer nicht schwer, sich ein wiederauferstandenes Schloss Lomnitz vorzustellen. Sie sind jung, und ihre Phantasie ist zu vielem fähig. Sie haben als Kinder im Wiesbadener Elternhaus vor den dort hängenden Bildern von Schloss Lomnitz und dem Hirschberger Tal gestanden. Mit staunenden Ohren hörten sie die Geschichten des Vaters von der Zeit vor dem Krieg und seiner Kindheit in dieser Landschaft, einer fernen, märchenhaften Welt. Kann man die jetzt wiederherstellen? Die Brüder diskutieren lange hin und her, mit vielen Wenns und vielen Abers. Was könnte hier nicht alles geschehen in den nächsten Jahren! Wenn auch andere Nachfahren der vielen anderen Schlösser und Güter ihre Verantwortung für den Besitz und die Geschichte ihrer Familien wieder annehmen? Wenn das Tal wiederaufersteht?

Die jungen Leute wissen wenig von dem, was um sie herum geschieht. Sie kennen keine der Familien, die hier einmal lebten. Sie wissen nichts von der Familie Hartmann, die zu der Zeit den Nachrichten über Polen noch wenig Beachtung schenkt.

 

Es kommt darauf an, die kläglichen Reste richtig anzusehen: Natürlich fehlt eine Hälfte des Daches, aber die andere Hälfte ist noch da. Vielleicht könnte man diese mit einfachen Mitteln sanieren? Natürlich stehen vom Schloss nicht viel mehr als die Grundmauern – aber ist das nicht schon einiges? Wenn die Mauern bis jetzt stehen, dann sind sie solide. Darauf kann man vertrauen. Und angesichts des Zustandes wird der Preis nicht hoch sein. Wer außer der Familie der ehemaligen Eigentümer könnte an dieser Ruine nach wirtschaftlichem Abwägen denn noch Interesse haben? Als Hotel scheint Schloss Lomnitz nicht geeignet. Vielleicht als Museum? Das Hirschberger Tal ist die an Schlössern reichste Region Europas. Hat nicht sogar Schinkel am Schloss mitgebaut und Lenné den Garten gestaltet? Vielleicht wird sich ja herumsprechen, welche Kunstschätze hier auf eine Wiederentdeckung warten. Eigentlich ist die ganze Landschaft unterhalb des Riesengebirges mit der Schneekoppe ein Kunstwerk, eine vergessene Kulturlandschaft. Eine Welt im Dornröschenschlaf. Alles, was unter den Deutschen Rang und Namen hatte, war hier. Die Hohenzollern, Johann Wolfgang Goethe, Theodor Fontane, Caspar David Friedrich, Gerhart Hauptmann, zahllose weitere Künstler, Dichter und Denker. Beherbergte Oberschreiberhau nicht eine berühmte Künstlersiedlung, ähnlich wie das norddeutsche Worpswede? Was hier an Bildern entstand, hängt in den großen deutschen Museen. Und das sollte niemanden interessieren? Hat dies alles nicht das Zeug zum Weltkulturerbe, das die UNESCO unter ihren Schutz stellen müsste?

So träumen die drei in der Nachmittagssonne, an die Mauern des ruinösen Schlosses gelehnt, von der Zukunft. Sie malen mit viel Phantasie und der Energie ihrer Jugend Visionen in die Luft dieses spätsommerlichen Oktobertages. Ihr Blick fällt auf das Gebirge. Liegt über allem nicht schon ein fast italienischer Hauch? Carl Gustav Ernst von Küster erwirbt das Schloss 1835 genau wegen dieses Flairs, denn als ehemaliger Gesandter am sizilianischen Hof verlängert er hier in Preußen sein altes italienisches Lebensgefühl. Die drei jungen Leute wägen ab: Einhundertfünfzig Jahre Familiengeschichte sind mit dem Ort verbunden. Das Leben von sieben Generationen. Unter dem Eindruck dieser Bilanz und dem Licht, das auf dem ersten Schnee im Riesengebirge funkelt, fällen von Küsters eine Entscheidung des Herzens.

Über den gleichen Anblick, der die jungen Leute 1991 so fasziniert, hat Alexander von Humboldt, der Vermesser der Welt, fast zweihundert Jahre zuvor im nur wenige Meter entfernten Schloss Buchwald notiert: «Der Blick auf das Riesengebirge gehört zu den hundert schönsten Blicken der Welt.» Humboldt, auch Experte für das Bergwesen, ist begeistert von Schlesien. 1792 besichtigt er gemeinsam mit König Friedrich Wilhelm II. die Kohlengruben in Tarnowitz. Dort stampft die erste preußische Dampfmaschine in der Friedrichshütte. Der Berghauptmann Graf Reden entwickelt die Vision von einem schlesischen Ruhrgebiet und industriellem Aufschwung. 1795 bietet er Humboldt eine gutdotierte Stelle als Bergobermeister in preußischen Diensten an. Humboldt lehnt ab. Er will nach vier schlesischen Jahren hinaus in die Welt. Von seinen Eindrücken und Erfahrungen aber, von seiner Besteigung der Schneekoppe und den Beobachtungen der schlesischen Pflanzenwelt, wird er immer wieder schreiben.

 

Und Goethe? Mit welchen Worten hat er diesen Anblick der Schneekoppe bedacht? Wir wissen es nicht. Entweder hat er nie über sie geschrieben, oder seine Aufzeichnungen sind im Lauf der Zeit verlorengegangen. Ein paar Dinge über Goethes Zeit in Schlesien wissen wir aber doch. Sie beginnt mit einem Becher heilsamen Wassers im niederschlesischen Bad Warmbrunn, den Goethe trank. Wir kennen das Datum. Es ist der Vormittag des 1. August 1790, ein sonniger Tag. Mit einer Schnabeltasse aus feinem Porzellan in der Hand schreitet der Dichter vorbei an dem dortigen, zu der Zeit noch immer nicht gänzlich fertiggestellten Schloss der Grafen Schaffgotsch. Sie sind das älteste Geschlecht in der Gegend. Ihnen gehört der Grund und Boden, und in ihnen lebt seit dem Mittelalter die Lust, diese Landschaft zu gestalten und zu verteidigen. Das berührt Goethe. Er weiß, dass die Schaffgotschen eine riesige Bibliothek besitzen. Aber Goethe hat keine Zeit, er hört die Glocke der neuen evangelischen Kirche läuten, und sein Blick trifft auf die Schneekoppe. Er weiß, dass Friedrich der Große diesen Anblick bewundert hat, und fasst einen Beschluss: Bevor er Schlesien wieder verlassen wird, muss er diesen Berg besteigen. Der Student Heinrich von Kleist wird Goethe neun Jahre später folgen und sich mit einer Hymne in das Gipfelbuch eintragen, mit einem Text, der nichts anderes als eine Kriegserklärung an das Denken Friedrich Schillers ist. Schlesien wird zu einem Ort, an dem verschiedene literarische Haltungen aufeinandertreffen.

Der Blick von dem vor ihm leuchtenden Gipfel, das weiß Goethe, soll unvergleichlich sein. Friedrich der Große hat sich dafür keine Zeit gegönnt. Das soll Goethe nicht passieren. Die Schneekoppe soll seine «Revue» werden. Er betrachtet das Gebirge durch sein Fernrohr. Zwanzig Jahre später hätte er dabei vielleicht zwei malende Wanderer auf dem Gebirgskamm stehen gesehen, Caspar David Friedrich und seinen Freund Georg Kersting. Keine Wanderung wird Friedrichs Malen mehr inspirieren als die auf dem Kamm des Riesengebirges und durch das Hirschberger Tal. Und Goethe wird diesen Bildern später begegnen, er wird bei ihrem Anblick die Fassung verlieren und spüren: Hier geht einer über ihn hinaus. Darum wettert er, von tiefster Empörung getrieben: Diese Bilder müsste man an einer Tischkante zerschlagen. Woher diese abgrundtiefe Verachtung? Wir werden es später sehen.

Aber noch ist es nicht so weit. Noch gehört Goethe zu den ersten Deutschen aus dem Westen, die Schlesien erkunden. In diesem Sommer wird er das einundvierzigste Lebensjahr vollenden. Noch fühlt er sich jung, die Unentschlossenheit gehört zu seinem Lebensgefühl. Das wird er in diesem Sommer deutlicher als in den Jahren zuvor spüren.

Goethe nimmt einen letzten Schluck aus seiner Tasse und verlässt den Kurpark von Bad Warmbrunn. Vor dem Eingang wartet seine Kutsche. Noch am Abend des gleichen Tages erreicht er das Lager des Herzogs. Dort herrscht eine merkwürdig entspannte Atmosphäre. Goethe hört erstaunt, dass man sich mit dem Wiener Gesandten geeinigt habe. Es wird keinen neuen Krieg zwischen Österreich und Preußen geben. Wird der Herzog nun seine Reitertruppen zurückführen? Und warum ist er, Goethe, dann so eilig hierhergereist? Was soll er in Schlesien?

Schweben durch den Nebel

Diese legendäre schlesische Welt – ist sie eine Erfindung der Deutschen? Eine Projektion vielfach wiederkehrender Phantasie? Oft habe ich auf die Frage antworten müssen, ob es Schlesien denn überhaupt noch gebe. Ist das Land nicht mit dem letzten Krieg untergegangen? Richtig ist, dass Stalin 1945 in den Verhandlungen der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges durchsetzte, dass Deutschland die preußische Provinz Schlesien an Polen abzutreten habe. Dies war ein Augenblick, in dem ein Politiker die Welt erbarmungslos seiner Macht unterwarf. Schlesien wurde (bis auf einen kleinen deutschen Zipfel) polnisches Gebiet. Der imperiale Gestus Stalins ist unübersehbar, und er ist im Nachhinein durch nichts zu rechtfertigen. Es geht um Annexionen, um einen Ausgleich für Polen, es geht um die Krim und die Ukraine, die nach einer Unabhängigkeit von Moskau strebten. Stalin beendet dieses Streben mit Gewalt. In solch geopolitischem Zusammenhang steht das Ende der preußischen Provinz Schlesien.

Die Folgen sind bekannt. Aus jenem Teil der Ukraine, der bis 1939 polnisches Staatsgebiet ist, wird ein Teil der Sowjetunion. Polen werden dort nicht geduldet, sie haben ihre Heimat, wo sie nun als die Fremden gelten, zu verlassen. Einhunderttausend Polen gelingt dies nicht. Sie werden von ukrainischen Nationalisten ermordet. Anschließend bekämpft die Rote Armee die ukrainischen Nationalisten in einem von Europa geduldeten Bürgerkrieg. Dreihunderttausend Ukrainer werden in der Folge von der Moskauer Regierung nach Sibirien verbannt.

Den aus der Ukraine vertriebenen Polen wird eine neue Heimat angewiesen, nämlich der Teil Schlesiens, in dem bis 1945 Deutsche leben. Zu jenen Deutschen gehören meine Eltern und Großeltern. Ich habe den Kummer über ihre Tragödie geerbt. Schon als Kind nahmen mich meine Eltern mit in die Gegend ihrer schlesischen Kindheit. Alles, was ich sah, war mir fremd, wie auch die Polen, denen ich begegnete. Warum erzählten diese Leute, froh zu sein, dass sie nach 1945 wenigstens mit dem Leben davongekommen waren. Ich verstand das nicht. Was erfuhr ein Kind der DDR über die tatsächliche Nationalitätenpolitik Moskaus? Nichts. Erst Jahrzehnte später begann ich zu verstehen. Meine Eltern waren mit ihrem Schicksal nicht allein.

Warum lässt mich das schlesische Land nicht los? Genau weiß ich es nicht. Ich fuhr immer wieder dorthin, fand schließlich polnische Freunde. Ich erfuhr, dass in Polen eine deutsche Minderheit existierte, von der in der DDR niemand sprach. Diese Deutschen durften Schlesien nicht verlassen, die größte Gruppe unter ihnen waren die Bergleute. Die polnische Wirtschaft benötigte sie als Spezialisten. Etwa dreihunderttausend Deutsche waren es noch 1989, als sie von diesem seltsamen Status, diesem Exil in der eigenen Heimat, durch den Zusammenbruch des Ostblocks erlöst wurden. Offiziell durften sie nun wieder Deutsche sein. Für viele kam das sehr spät in ihrem Leben.

Inzwischen habe ich neue Deutsche in Schlesien getroffen. Die meisten von ihnen sind Kinder von Vertriebenen, ihre Herkunft lockte sie ostwärts. Erst reisten sie als Touristen. Dann wandelte sich die Reiselust in das Bedürfnis zu bleiben. Seit Polens Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist das möglich. Schlesophil – so nennen sie ihre Liebe zu dem Land, sie lernen Polnisch und siedeln sich dort an. Die meisten, denen ich begegnet bin, haben ihr Glück dort gefunden. Ihre Geschichten sind in Deutschland nahezu unbekannt.

 

Über mir summt das dicke Stahlseil des Sesselliftes, der mich von Karpacz, dem einstigen Krummhübel, hinauf zur kleinen Station unterhalb der Schneekoppe trägt. Ich kenne den Lift aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Damals schon habe ich schutzlos auf dem kleinen, offenen Sessel im Wind geschaukelt. Damals war es Sommer, und der Wind ging mild. Jetzt ist kalter Winter. Mit dem Schmatzen der gefetteten Rollen und einem kräftigen Rucken passiere ich Liftmast um Liftmast. Unter mir wedeln Skifahrer in eleganten Kurven lässig und wie selbstverständlich in das graue Licht des Tals hinab.