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Viele wache Zeitbeobachter sprechen heute davon, dass etwas Durchgreifendes geschehen müsste. Wer erwartet eine Neuorientierung ausgerechnet von einer so abstrakten Disziplin wie der Mathematik? Der Düsseldorfer Chemiker Dr. Peter Plichta hat etwas herausgefunden, was so atemberaubend und unvorstellbar ist, dass es nicht allein die wissenschaftliche Welt wie ein heilsamer Schock treffen wird. Hinter den verdrängten Rätseln unserer materiellen Welt steckt ein geheimer Bauplan: ein Zahlencode. Dessen Entschlüsselung beantwortet die Frage, warum der Kosmos gerade in diesen Gesetzen und Naturkonstanten (z. B. Lichtgeschwindigkeit) angelegt ist. Wichtige Fragen werden immer nur von Einzelkämpfern gelöst, nicht von der Art Forschung, die heute Milliarden verschlingt. Der erste Band dieses Werkes schildert die abenteuerliche Entdeckungsreise eines genialen Forschers, des listenreichen Odysseus unseres Jahrhunderts. Die Fülle der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse wird so geschickt in die spannende Geschichte verwoben, dass selbst Menschen, die nie mit naturwissenschaftlichen Formeln zu tun hatten, das Buch in einem Zug bis zur letzten Seite lesen. Dabei wir die vierdimensionale Raum-Zeit-Zahlen-Struktur, in der die Natur angelegt ist, ohne "Eingriffe" aus der geistigen Welt nicht zu entschlüsseln. Autobiographie, Kriminalroman, Sachbuch? Ein Leben, in dem Menschheitsgeschichte stattfindet, ist aufregender als jede erfundene Geschichte. Dieses Buch wird die lange vermisste deutsche, europäische Revolution in Gang setzen, wenn der Blitz des Gedankens in die nach Erneuerung schreienden Zustände einschlägt.
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Seitenzahl: 798
Veröffentlichungsjahr: 2022
PETER PLICHTA
I
Alleinige Verantwortung für den Inhalt:
Dr. Peter Plichta
Wissenschaftliche Mitarbeit:
Christina Burckhart, Philologin und ÄrztinMichael Felten, Dr. rer. nat. Dipl. Math.Johannes Heinrichs, Dr. phil. habil. et Dipl. Theol.
Neufassung 2000
unter Mitwirkung von Bernhard Hidding, cand. phys.
4. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright © 1991 Dr. Peter Plichta
Quadropol Verlag ist ein Imprint des
Verlages »Die Silberschnur« GmbH
Copyright © 2021 Verlag »Die Silberschnur« GmbH
ISBN 978-3-9802808-0-8eISBN 978-3-9693394-4-2
Verlag »Die Silberschnur« GmbH · Steinstr. 1 · 56593 Güllesheim
www.silberschnur.de · E-Mail: info@silberschnur.de
Band I
Im Labyrinth des Endlichen
Die berühmteste Erzählung des Abendlandes, das Grundmodell aller Geschichten von menschlichem Streit, jenes Epos, das, seit es eine schriftliche Überlieferung gibt und noch bevor es sie gab, zum Besitz aller Völker und Epochen gehört, enthält auch, ob mit oder ohne historische Grundlage, die Sage vom hölzernen Pferd.
Die Torheit der Regierenden
Barbara Tuchmann
Erstes Buch: Werden und Warten
1Die Prophezeiung
2Der Chemiebaukasten
3Der Zauberlehrling
4Weltraumgedanken
5Monopoly
6Laborplatz Nr. 4
7Bitterer Schnaps
8Der Henkel-Geist
9Kampf auf Leben und Tod
10Kalter Blitz und Donnerglück
11Die Stimme
Zweites Buch: Odyssee
12Chemikerspiegel
13Juristenspiegel
14Nobelpreis unterm Arm
15Marionetten des Schicksals
16Hamlets Affen
17Malaria und Chinabaum
18Asymmetrische Zwillinge
19Hilfe der Mächtigen
20Ärztespiegel
21Geld oder Erkenntnis?
22Allgemeiner Wahnsinn
23Der fliegende Teppich
24Die Botschaft des Fürsten
Drittes Buch: Bogenspannen
25Alibis
26Die Farbe des Blutes
27Akten im Keller
28Die hohe Kunst des Verbrechens
29Der Geheimbund
30In der Drachenhöhle
31Granaten
32Das Rätsel der 19
33Verheißung der Meister
34Die Quadratur der Kreise
Meine Eltern sind beide in Remscheid geboren und aufgewachsen. Hier haben sie sich auch kennengelernt. So lag es nahe, daß sie in dieser Stadt auch die Geburt ihrer Kinder erleben wollten. Daß es Zwillinge werden würden, stand schon bald fest. Der ungewöhnliche Leibesumfang der Schwangeren hatte den Arzt nämlich zu einer Röntgenaufnahme veranlaßt. Er trat dann bedeutungsvoll ernsten Blickes in den Untersuchungsraum, er habe eine folgenschwere Mitteilung zu machen – und jagte den Eheleuten damit zunächst einen tödlichen Schrecken ein. Als er jedoch fortfuhr, die Röntgenaufnahme zeige Zwillinge, brach großer Jubel bei den Eltern aus.
So war denn der erste Hinweis, daß es zwei werden würden, einer Röntgenplatte zu entnehmen. Und von meiner Geburtsstadt Remscheid gibt es – abgesehen von ihren beachtlichen Eisen- und Stahlprodukten – herzlich wenig zu berichten, außer der Tatsache, daß hier der erste Nobelpreisträger für Physik, Wilhelm Röntgen, geboren wurde.
Herta und Paul Plichta hatten sich seit vielen Jahren vergeblich ein Kind gewünscht, und die Frau hatte manchen Gynäkologen aufgesucht, bis ein Professor endgültig erklärte:
„Gnädige Frau, Sie werden sich damit abfinden müssen, keine Kinder bekommen zu können.“
Mit diesem definitiven Bescheid war meine Mutter zu Hause weinend zu Bett gegangen. Ob durch die scheinbar endgültige Entscheidung eine Entspannung eingetreten war, oder ob die Tröstungsversuche meines Vaters besonders erfolgreich waren, oder ob da ein kleines Alltagswunder geschehen war: das ließ sich drei Monate später nicht mehr nachvollziehen.
Die Eltern hatten fest mit zwei Mädchen gerechnet und längst deren Namen ausgesucht. Auf zwei Jungen waren sie nicht vorbereitet. Die beiden, die so verschieden werden sollten, lebten die ersten Monate ihres Lebens auf engstem Raum miteinander. Sie haben sich wohl da schon so oft wie möglich getreten. Oder hat der Kräftigere den Schwächeren, Kleineren da schon unterdrückt? Wie bei Zwillingen üblich, wurde der Schwächere jedenfalls bei der Geburt zur Seite geschoben und hat seitdem mit dem Problem fertig zu werden, der Zweitgeborene zu sein. Es sei vorweggenommen, daß er später so überaus selten Fragen stellte, aber eine seiner ersten war die:
„Mama, was würde denn aus mir, wenn der Vater König wäre?“
Die Mutter verlieh ihm so manchen Herzog- und Fürstentitel, nur stand von Anfang an fest, daß er nicht König werden könne.
Hebamme und Entbindungsarzt registrierten lediglich, daß der Erstgeborene blaue Augen hatte und um fünf Minuten nach zehn auf die Welt kam. Fünf Minuten später kam der zweite Junge und hatte braune Augen, wie Vater und Großvater Plichta. Der Name des Zweiten stand damit fest: Paul1. Eine Verwechslung der Zwillinge war nicht mehr möglich. Doch wie ich zu meinem Namen Peter kam, damit hat es eine merkwürdige Bewandtnis.
Nachdem meine Mutter aus der Narkose aufgewacht war, erschienen Chefarzt, Stationsärzte und Schwestern der Fabriciusklinik am Bett der Wöchnerin und legten der stolzen Frau rechts und links einen Buben in den Arm. Da öffnete sich der Himmel, der regnerisch bedeckt war an diesem 21. Oktober des Jahres 1939, und ein hell gleißender Lichtstrahl wie von einem starken Scheinwerfer drang durch die Wolken und ließ die Köpfchen der Neugeborenen hell erstrahlen. Eine der Ordensschwestern bekreuzigte sich und rief: „Ein Wunder!“ Schon war’s vorbei, und einer der Ärzte prophezeite, aus diesen Jungen werde später etwas ganz Besonderes, eine Ankündigung, die meine abergläubische Mutter und die frommen Schwestern nur zu gerne glaubten und die Nonnen zu dem Vorschlag veranlaßte, mir den Namen Peter zu geben. Und so wurden wir bald darauf auf die Namen der Apostel Peter und Paul getauft.
Diese Geschichte bekam viele Jahre lang jeder Besucher im Hause Plichta erzählt. Erst als etwa zwanzig Jahre vergangen waren, sanken die Erwartungen meiner Mutter. Sie sprach immer seltener davon. Inzwischen spielt sie das Erlebnis herab, das ihr doch einmal so überaus bedeutungsvoll erschien.
Prophezeiungen bei der Geburt von Kindern sind in der Geschichte oft beschrieben worden. So soll der ‘Zauberer’ Jacqou ein halbes Jahr vor der Geburt von Jean François Champollion vorausgesagt haben, daß dieser Knabe „einst Ruhm ernten solle, der Jahrhunderte überdauern würde“ (C.W. Ceram). Und tatsächlich ist von Champollion überliefert, daß er als Elfjähriger beim Anblick der ägyptischen Hieroglyphen zu dem Mathematiker J.B. Fourier sagte: „Wenn ich groß bin, werde ich diese Schrift entschlüsseln“. Als Dreiundzwanzigjähriger hat er dann ausgerufen: „Je l’ai – ich hab’s!“
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr lebten wir in Solingen-Ohligs, einem kleinen Städtchen zwanzig Kilometer östlich von Düsseldorf. Den Wohnsitz hatte mein Vater mit gutem Gespür für die spätere Kriegslage gewählt. Er hatte mit der Bombardierung der größeren Städte gerechnet, es hingegen für unwahrscheinlich gehalten, daß Ohligs von Fliegerbomben getroffen würde. Gleichwohl hatte er seine Arbeitgeber davon überzeugen können, daß dieses Städtchen als Eisenbahnknotenpunkt der Linien Köln-Wuppertal und Düsseldorf-Remscheid für seine rege Reisetätigkeit günstig läge. Er wurde während des Krieges nicht zum Militär eingezogen, denn er war Abnahmefachmann für Flugzeugstähle. Im Laufe der späteren Kriegsjahre wurde fast jede Nacht Fliegeralarm gegeben, worauf meine Mutter die Zwillinge aus den Betten riß, sie so schnell wie möglich ankleidete, ihnen kleine Rucksäcke umband und mit ihnen durch die dunklen Straßen zum Bunker eilte. Mein Vater blieb zu Hause – und zwar im Bett. Den Bunker hat er nicht ein einziges Mal betreten.
Vater war überzeugter Antifaschist, was ihm oft genug Ärger einbrachte. Doch als er einmal festgenommen wurde, holten ihn seine Vorgesetzten sehr schnell wieder aus dem Gewahrsam. Mutter hingegen war überzeugte Anhängerin des „Führers“, und ich erinnere mich noch sehr deutlich an einen Streit meiner Eltern an dem Tage, als die 6. Deutsche Armee in Stalingrad aufgegeben hatte. Zum ersten Mal hatte ein deutscher General, ein Feldmarschall dazu, Gefangenschaft dem Heldentod vorgezogen. Der Zangenteil im Süden Rußlands war zusammengebrochen, der großdeutsche Rundfunk spielte Trauermusik, und Vater und Mutter stritten sich. Es war die Bemerkung meines Vaters gewesen: „Nun ist der Krieg verloren“, die den Streit ausgelöst hatte.
„Niemals!“ hatte meine Mutter gerufen, „das läßt der Führer nicht zu!“
Mein Vater bezeichnete den Führer und dessen Gefolgsleute als Dummköpfe.
Ich hörte dem Streit aufmerksam zu und überlegte, wer von den Eltern wohl recht habe, denn beide vertraten ihre Ansicht mit Entschiedenheit.
Von nun an riß die Kette der militärischen Niederlagen nicht mehr ab. Als die Amerikaner den Rhein erreichten, wurde Vater zum Volkssturm eingezogen, insgesamt dreimal, aber trotz der dramatischen Abschiedsszenen morgens war er abends jedes Mal wieder da. Heimlich begann er, sich nach einem Versteck umzuschauen, da nach seinen Worten die gesamte Bewaffnung für fünf Männer lediglich aus einer Panzerfaust bestand. Damit stand für Vater fest, daß der Krieg sehr bald zu Ende sein würde. Ich mit meinen fünf Jahren wußte längst, daß eine Panzerfaust eine raketenbetriebene panzerbrechende Waffe ist. Im Kreis meiner Spielkameraden hieß es, sogar fünfzehnjährige Schüler hätten für das Abschießen von Russenpanzern mit der Panzerfaust das Eiserne Kreuz erhalten. Ich bedauerte sehr, zu jung für solche Heldentaten zu sein.
Ein einziges Mal während des Krieges gerieten Paul und ich in unmittelbare Lebensgefahr. Auf dem Weg zum Kindergarten griff uns auf der Rheinstraße ein Tiefflieger mit Bordwaffen an. Doch als die Maschinenwaffen zu feuern begannen, sprangen mein Bruder und ich vom Bürgersteig zur Häuserwand und warfen uns zu Boden, genau wie der Vater es uns erklärt hatte.
Als die Amerikaner den Rhein überquert hatten, wurden alle Hauptstraßen nach Solingen mit Panzersperren abgeriegelt. Hundert Meter von unserem Haus entfernt stand eine solche Sperre. Die Amerikaner wurden täglich erwartet.
Die Erwachsenen lebten längst nicht mehr in ihren Wohnungen, sondern waren in die Keller gezogen. So konnte ich der Aufsicht meiner Mutter um so besser entweichen und erlebte manches Abenteuer.
Eines Nachmittags trat Herr von Wins, Mitglied der Waffen-SS, zum Kanalgully vor unserem Haus und trennte sich blitzschnell von seinem Offiziersrock, seiner Hose und seinen Schaftstiefeln und – was ich besonders interessant fand – auch von seiner Pistolentasche mitsamt Pistole. Er stieß alles mit den Füßen in den Gullyschacht und zog sich Zivilkleidung an. Da stand ich hinter ihm, schlug die Hacken zusammen und brüllte:
„Heil Hitler, Herr von Wins!“
Der Mann zuckte heftig zusammen, dann erklärte er mit verlegenem Lächeln:
„Das ist nun vorbei, Peter“, und eilte zu seinem Haus zurück. Während ich noch überlegte, wie die schöne Pistole zu retten sei, schoß aus unserem Haus der Hausbesitzer Herr Beckhaus, Mitglied der SA, heraus und begann seinerseits, sich von seiner scheußlich braunen Uniform zu trennen. Wieder schlug ich die Hacken zusammen und brüllte:
„Heil Hitler, Herr Beckhaus!“, ein Gruß, für den ich mit meiner blonden Mähne und den strahlend blauen Augen bisher manche Anerkennung gefunden hatte. Herr Beckhaus erbleichte, fast hätte er die Nerven verloren – und ich hätte die zweite Pistole retten können. Doch er faßte sich, packte seine Zivilkleidung und rannte, nur noch halb bekleidet, ins Haus zurück. Als ich abends meinem Vater diese Erlebnisse erzählte, lachte der so unbändig, wie ich ihn noch nie lachen gehört hatte. Was denn das Verhalten der Männer zu bedeuten habe, wollte ich wissen. Er sagte nur einen Satz:
„Wir haben verloren.“
Eines Morgens gegen zehn Uhr waren die Amerikaner da. Sie standen mit ihren Panzern vor unserer Panzersperre und gaben über Megaphon bekannt, die Häuser würden in Schutt und Asche gelegt, wenn die Sperre nicht in zwei Stunden beseitigt sei. Plötzlich kamen Frauen mit Hacken und Spaten aus den Kellern und begannen, mit ihren bloßen Händen die Pfähle der Panzersperre aus der Erde zu ziehen. Es herrschte ein Gewusel wie am Eingang eines Ameisennestes. Nicht ein Mann ließ sich blicken, denn die Männer fürchteten die Gefangennahme. In weniger als zwei Stunden war die Panzersperre verschwunden. Jetzt hingen in den Fenstern plötzlich weiße Bettücher, überall dort, wo noch am letzten Festtag Hakenkreuzfahnen geweht hatten.
In die Häuser der Rheinstraße, die zum feinen Teil von Ohligs gehörte, zogen amerikanische Offiziere mit ihrem Betreuungspersonal. Den erwachsenen Deutschen war das Verlassen der Keller verboten. Es hieß, jeder, der die Straße beträte, würde erschossen. Mein Bruder und ich schlüpften aus dem Keller und bestaunten die Maschinenpistolen, die an der Garderobe hingen wie sonst Großvaters Spazierstöcke.
In beiden Wohnzimmern saßen Offiziere und hatten zu unserem Erstaunen die Füße auf den Tischen liegen. Einer fragte mich auf deutsch, ob ich den „Hitlergruß“ vorführen könne. Und wie ich das konnte: den rechten Arm ausstrecken, die Absätze der Schuhe mit jener bekannten Drehbewegung zusammenschlagen und laut „Heil Hitler!“ brüllen. Die Amis konnten vor Begeisterung über diese Vorführung meinem Bruder gar nicht genug Schokolade und Konserven in den Arm drücken. Als meine hungernden Eltern die Nahrungsmittel in Empfang nahmen und meine Mutter hörte, daß der „deutsche Gruß“ uns diese Köstlichkeiten beschert hatte, verlor sie vor Angst die Beherrschung. Mein Vater hingegen strahlte. Während der folgenden Tage erfuhren die Offiziere von uns Kindern, daß unsere im Keller hausenden Eltern voller Angst waren. Ein Dolmetscher fragte mich genauestens aus, warum der Vater nicht im Krieg sei und warum nicht Parteimitglied. Und siehe da: Die Mutter durfte aus dem Keller kommen und kurz darauf bereits für die Herren Offiziere Essen kochen.
Überhaupt waren die Amerikaner die freundlichsten Menschen, die ich bisher kennengelernt hatte, und die Erwachsenen schienen es nicht anders zu empfinden. Als sie dann eines Tages abziehen mußten und von den Lastwagen herab „nach Moskau!“ riefen, standen die Deutschen unten und hatten Tränen in den Augen. Auf die Amerikaner folgten die Briten. Von einem Tag auf den andern wurden wir als die Verlierer des Krieges behandelt. Zu essen gab es überhaupt nichts mehr, Strom und Wasser wurden abgestellt. Um wenigstens etwas Brennholz zu bekommen, half mein Vater, Äste von Straßenbäumen abzusägen.
Auf unserem Balkon stand eines Tages ein Motorrad, das mein Vater irgendwie besorgt und in den ersten Stock hinauf transportiert hatte. Was noch fehlte, war das Benzin. An einem Sonntagmorgen schlichen Vater, Paul und ich zum Festplatz, der vollgestellt war mit deutschen Armeefahrzeugen, Geschützen und Handfeuerwaffen. Um den Platz war Militärpolizei postiert. Der Vater hatte erklärt, in den Tanks der Wagen müßten sich noch große Mengen Benzin befinden. Wir hatten trainiert, leere Zwanzig-Liter-Benzinkanister unter Lastwagen zu transportieren und Deckel von Benzintanks zu öffnen. Während sich der Vater außerhalb des Festplatzgeländes versteckt hielt, hockten Paul und ich unter den Armeefahrzeugen, saugten über einen Gummischlauch mit dem Mund Benzin an und warteten dann mucksmäuschenstill, während das Benzin von alleine in unseren Kanister lief. Für den Fall, daß die Höhendifferenz nicht ausreichte, hatten wir eine kleine Handpumpe aus lackiertem Messing mitbekommen.
Wir Knirpse schafften es, eine Reihe von Benzinkanistern etwa zur Hälfte zu füllen und sie an den Wachen vorbei vom Festplatz bis zu Vaters Versteck zu schleppen.
Im Laufe des Sonntags verwandelte sich unser Balkon in ein kleines Benzinlager, bis die Mutter erfuhr, unter welchen Umständen das Benzin „organisiert“ worden war. Da erst beendete eine handfeste Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten das nicht ungefährliche Abenteuer. Immerhin, jetzt konnte mein Vater mit dem Motorrad aufs Land fahren, um Nahrungsmittel zu besorgen. In Deutschland hatte die Hamsterzeit begonnen.
In diese Zeit fällt ein Erlebnis, das mich lange beschäftigte. In Remscheid hatte der Großvater, Paul Plichta, einen Schlaganfall erlitten und lag halbseitig gelähmt im Krankenhaus. An einem Vormittag war im Wohnzimmer meiner Großeltern die Pendeluhr stehengeblieben. Ich hatte zugesehen und laut gesagt:
„Die Uhr steht!“
In dem Moment läutete das Telefon. Die Großmutter schlug die Hände vors Gesicht und rief: „Der Paul ist tot!“
Meine Mutter nahm den Telefonhörer von der Gabel und erhielt tatsächlich die Nachricht vom Tod des Großvaters. Später wurde viel über diesen merkwürdigen Zufall geredet. Nur mein Vater erklärte als wissenschaftlich gebildeter Mann und überzeugter Atheist:
„Alles Unsinn!“
Ich freute mich ungewöhnlich auf meinen ersten Schultag und hatte vor Aufregung in der Nacht zuvor kaum schlafen können. Als es Zeit war, in die Schule zu gehen, begann ich, gewaltig am Arm der Mutter zu zerren, während mein Bruder, der die ganze Zeit still geweint hatte, in ein Geheul wie von Todesangst ausbrach, sich auf die Erde warf und versuchte, Mutter am anderen Arm zurückzuhalten. Die Passanten waren verwundert, wie sich da ein Junge immer wieder auf die Straße fallen ließ, dafür gewaltig verhauen und trotzdem mitgeschleift wurde, während der andere eifrig versuchte, die Mutter voranzuziehen. Auf dem Rückweg hatte sich die Situation umgekehrt. Nun heulte ich, und mein Bruder zog voller Eifer die Mutter heimwärts, denn in der Schule hatten wir erfahren, daß der Unterricht wegen Kohlemangels erst ein halbes Jahr später beginnen würde.
Ich konnte gleich zu Beginn der Schulzeit lesen und schreiben, mein Bruder aber weigerte sich, nur ein einziges Wort lesen und schreiben zu lernen. Er ahnte wohl, daß er sonst unweigerlich erst recht viel lesen und schreiben müsse. Die Schuljahre hindurch zeigten noch so viele und heftige Schläge der Eltern keinen erkennbaren Einfluß auf sein Verhalten.
Allmählich wurde den Eltern immer deutlicher, wie grundsätzlich verschieden wir waren. Ich las, soviel ich konnte, mein Bruder las nie. Ich wurde der Lieblingsschüler unseres Klassenlehrers, des späteren Schulrektors Hunke, mein Bruder saß in der Klasse und hütete sich, den Mund aufzumachen. Trotz dieser auffallenden Unterschiede waren wir immer gleich gekleidet und pflegten überall, wo wir erschienen, uns nebeneinanderzustellen, geradezustehen und mit herausgestreckter Brust auf die Frage „Wie heißt ihr denn?“ gemeinsam zu antworten:
„Wir heißen Peter und Paul!“
In der Regel bekamen wir daraufhin zu hören:
„Peter und Paul, der eine ist fleißig, der andre ist faul.“
Oh, dieser Spruch, den auch solche Menschen wie einen Refrain runtersagten, die uns überhaupt nicht kannten, die natürlich nicht wissen konnten, wie genau sie damit unsere Situation benannten und – verfestigten!
Die Nachkriegsjahre waren äußerst hart. Ein Elternteil war jetzt ständig auf Hamsterfahrt, um mit einer solchen Köstlichkeit wie etwa Speck zurückzukehren. Irgendwann hatte sich viel ranziges Fett angesammelt, und mein Vater kochte es mit verdünnter Natronlauge in einem großen Einkochkessel zu Seife. Die Ätznatronplätzchen lagen in einer Weithals-Chemikalienflasche mit dem wunderschönen Etikett
NaOHNatriumhydroxydchemisch rein
Verschlossen war die Flasche mit einem paraffingetränkten Korkstopfen. Oft stand ich im Keller und schaute mir die weißen Plätzchen an, von denen mein Vater gesagt hatte, daß davon die Hornhaut der Augen blind werden könne. Der Begriff jedoch, um den es in diesem Buch geht, dieses Wort, das mein Leben beherrschen würde, war noch nicht gefallen. Ein paar Jahre sollten noch vergehen, bis ich es zum ersten Mal hören würde:
In den Nachkriegsjahren lernte ich aber schon auf andere Weise die wichtigsten Vorgänge in der Chemie, Feuer und Oxidation, kennen. Meine Eltern verkauften damals für einen Düsseldorfer Fabrikanten eiserne Wagenreifen und Jauchepumpen. Die Mutter hatte das Glück, bei einem Bauern in Ostfriesland als Aushilfe arbeiten zu können. Sie tauschte in der Umgebung Wagenreifen gegen Speck ein.
Zum Bauernhaus gehörte eine Schmiede. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, gleich nach unserer Ankunft, ein Schmiedefeuer. Wenn es, von Torfstücken unterhalten, nur glimmt, wirkt es so schwach, daß man nicht einmal versuchen möchte, darüber Wasser zu erhitzen. Wird jedoch der Blasebalg bedient, wird das Feuer heller und heller, schließlich weiß und so heiß, daß man die Augen schließen muß. Ich war fasziniert, als ich diesen Vorgang erstmals beobachtete und zuschaute, wie ein Geselle ein Hufeisen in wenigen Minuten hellrot erhitzte, es mit einer langen eisernen Zange ergriff und auf dem Amboß mit ein paar gezielten Schlägen bearbeitete. Anschließend wurde das Eisen in Wasser getaucht. Der Schmied erklärte mir, daß sich jetzt Eisen in Stahl umwandle. Ich kannte ja die Geschichten von den Helden mit den unüberwindbar scharfen Schwertern. Davon hatte ich in meinen Büchern mit den deutschen Heldensagen oft gelesen, von Schwertern, die so scharf waren, daß sogar, wie durch Zauber, Wolle in einem Fluß bei der bloßen Berührung mit dem Schwert geteilt wurde. Kein Wunder also, daß ich kaum mehr aus der Schmiede zu locken war.
Jetzt sah ich zum ersten Mal, wie die meterlangen Stabeisen in brennendem Torf nach Stunden so weich wurden, daß eine Walze daraus ringförmige Wageneisen formen konnte und hölzerne Räder damit ummantelt wurden. Bei all dem, was ich vom Schmied lernte, war meine liebste Tätigkeit, den Blasebalg zu bedienen, jenes Gerät, mit dessen Erfindung einst der Mensch die Steinzeit überwand, mit dessen Gebrauch die Eisenzeit im Norden begann und in Vorderasien die Bronzezeit.
Noch ein Erlebnis beeindruckte die Stadtjungen. Im Stall entdeckten wir eine große Sau mit ihren kleinen Ferkeln, darunter das entzückendste, ein schwarzes Schweinchen. Die Schweine fraßen alles: Milch und Kleie, Papier, Bohnengestrüpp, den eigenen Kot – und verwandelten dieses seltsame Gemisch in Speck. Ich dachte darüber nach, wie denn ein Schwein das Fett herstellt, aus dem der Vater wiederum Glycerin und Seife machen konnte.
Zum Abschluß unseres Aufenthaltes in Ostfriesland nahm uns die Mutter für einige Tage mit nach Norderney. Das Übersetzen mit der Fähre in der Dämmerung hat keine besondere Erinnerung hinterlassen. Aber tags darauf sah ich bei blauem Himmel zum ersten Mal den Nordseestrand und die Brandung.
Ich war seltsam berührt von dieser Schönheit. Ich lernte die Begriffe Ebbe und Flut, Springflut und Nippflut kennen und erfuhr, daß die Gezeiten vom Stand des Mondes abhängen, und dachte darüber nach, wie der Mond das denn anstellt.
Auf der Insel hing an fast allen Hotels ein Schild: „Ein Ei fünf Mark“. Ganz erstaunt fragte ich die Mutter, wieso es denn hier so viele Eier gebe, und bekam die Erklärung, die Bauern hätten genug Nahrungsmittel, genug Eier, nur keine Lust, zu den staatlich festgesetzten Preisen zu liefern. Mutter erzählte von der Inflation nach dem ersten Weltkrieg, wie sie oft in der Metzgerei Millionen und Milliarden gezählt habe.
„Wenn ein Ei fünf Mark kostet“, sagte sie, „wird es bald wieder eine Inflation geben.“
Mein Bruder sagte nichts. Sein Interesse für Millionen war, wohl aus Mangel an mathematischem Interesse, noch nicht geweckt.
1 Lateinisch: der Kleine.
Meine Mutter, Herta Plichta, war das vierte und jüngste Kind von Karl und Emiline Koch, die in Remscheid in der Patenbergstraße eine Metzgerei besaßen. Ihr Bruder war in der ersten Woche des Ersten Weltkrieges von einer Granate zerrissen worden, die älteste Schwester hatte nach Amsterdam geheiratet, die andere gegen den Willen der Eltern den Karl Lenz geehelicht, eben keinen Metzgergesellen, sondern einen Arbeiter, der in einem Stahlwerk seinem „groben Beruf“ nachging. Er war einer der ganz wenigen aufrichtigen und feinen Menschen, denen ich im Leben begegnet bin.
Entgegen der ganzen Hoffnung der Kochs, ihr Geschäft der Herta weiterzuvererben und damit nicht verkaufen zu müssen, hatte diese sehr hochgestochene Pläne. Daß sie nur Volksschulbildung besaß, hat sie stets bekümmert, und bis heute, bis ins hohe Alter, beschäftigt sie die Frage, was alles erreichbar gewesen wäre, hätte sie nur das Lyzeum besuchen können. Sie war in einem Arbeiterviertel aufgewachsen, in dem die hochdeutsche Sprache völlig unüblich war. Normalerweise wäre ihr der Weg in die „feine Gesellschaft“ verschlossen geblieben. Aber ihr Abschlußzeugnis zeigt von oben bis unten die Note „gut“. Sie war ein hübsches Mädchen, von stolzer Art, und so beschloß sie, als sie auf der Remscheider Kirmes dem Paul Plichta begegnete: „Diesen oder keinen!“ Da war wohl nicht nur ausschlaggebend, daß dieser junge Mann so gut aussah, sondern auch, daß er studierte. Das war’s, was meine Mutter erhofft hatte, einen studierten Mann! – wobei ihr nicht bekannt war, daß mein Vater als Student einer Ingenieurschule später nicht zu den Akademikern zählen würde.
Ihre Eltern waren beide in einem Waisenhaus großgeworden, beide arbeiteten, nach heutigen Maßstäben, von der Kindheit bis ins Alter ungewöhnlich hart. Karl Koch war nach dem tödlichen Unfall der Eltern ins Waisenhaus gekommen, sein einziger Bruder, der schon neunzehnjährige Wilhelm, mit einer Geige unter dem Arm nach Amerika ausgewandert. Die Eltern hatten ein Fuhrunternehmen gehabt und müssen wohlhabend gewesen sein, doch es hieß, noch vor der Beerdigung hätte die Verwandtschaft die Wertsachen und Möbel aus dem Hause getragen. Der Wilhelm spielte so wundervoll Geige, daß die Menschen gesagt haben, er sei zu schade für Remscheid, und tatsächlich wurde er erster Geiger des Philharmonischen Orchesters von New York. Aus dieser gesellschaftlichen Position heraus war es ihm möglich, die Erbin eines Bierbraukonzerns aus Philadelphia zu heiraten. Als er zum ersten Mal mit Chauffeur und Cadillac in seine Heimatstadt zurückkehrte, hatte sich sein Bruder Karl als Metzgermeister ein eigenes Geschäft erarbeitet. Der hatte das Kämpfen gelernt im Waisenhaus, und stolz schilderte meine Mutter, daß er wie ein Held mit zwei Schlachterbeilen in der Eingangstür der Metzgerei gestanden hat, als 1919 die Kommunisten und die Spartakisten plündernd durch die Straße zogen. Der konnte brüllen, daß das Haus wackelte. Aber ansonsten, hieß es, sei er ein herzensguter Mensch gewesen.
Wilhelm Koch kam bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jedes Jahr mit seiner Frau, unserer Tante Linda, nach Remscheid. Aber nie, so erzählte meine Mutter, habe er sein schlechtes Gewissen überwunden, den kleinen Bruder alleine in einem Waisenhaus zurückgelassen zu haben. Er war, nach seinen eigenen Worten, so reich, daß er sein Geld nicht zählen konnte. Da seine Ehe kinderlos blieb, galt er bis in meine Jugend als der reiche Onkel aus Amerika, auf dessen Erbe meine Eltern insgeheim jahrelang hofften, und oft wurde von dem Füllhorn gesprochen, das eines Tages über den Köpfen der Plichtas eine wahre Flut von Dollarscheinen ausschütten werde. Wegen dieser Geschichte der Einheirat bei den Multimillionären, die es in unserer Familie schon einmal gegeben hatte, fand ich es später ganz natürlich, daß mein Bruder Paul die Miterbin eines der größten europäischen Chemiekonzerne heiratete. Meine Eltern hingegen, die so viele Jahre an das Geld aus Amerika geglaubt hatten, das dann doch die Kirche erbte, reagierten auf die Vorstellung, daß ihr Söhnchen Paul als ein Nichts mit abgebrochenem Ingenieurstudium die Chemieerbin heiraten könnte, mit Unglauben: „Das schafft der nie, das wird nichts!“, genausowenig, wie aus der Erbschaft von Onkel Wilhelm etwas geworden war.
Mein Großvater väterlicherseits, Paul Plichta, war aus Danzig ausgewandert, hatte als Kalkulator bei den Mannesmann Röhrenwerken in Remscheid seine erste Anstellung gefunden und nach und nach die ganze Sippe in den Westen geholt. In Remscheid war der fleißige und angesehene Mann seiner späteren Frau, Anna Schmitz, begegnet, über deren Familie meine Eltern wenig Rühmliches verlauten ließen und deren Name gerade meinem Bruder noch in den Ohren klingen mag. Denn jedesmal, wenn die Eltern Pauls schlechte Schulleistungen mit schlimmen Prügeln bestraften, betonten sie, sie müßten eben alles tun, damit aus ihm nur ja kein Schmitz werde. Ich aber wurde im Anschluß an diese Exzesse mit der aufmunternden Begründung verhauen, es sei wichtig, zu verhindern, daß aus mir ein „Großkotz“ werde. Und das, obwohl meine Mutter mir empört erzählte, wie ungewöhnlich hart mein Vater selbst in seiner Jugend bestraft worden sei.
Mein Vater war kein guter Schüler gewesen, hatte jedoch die mittlere Reife geschafft und ein Ingenieurpraktikum absolviert. Das anschließende Maschinenbaustudium schloß er mit der Gesamtnote „gut“ ab, was ihm ermöglicht hätte, ohne Abitur die Technische Hochschule zu besuchen. Wahrscheinlich ging er aus Mangel an „Großkotzigkeit“ dieses Wagnis erst gar nicht ein. Er nahm lieber eine sechsjährige Arbeitslosigkeit während der schwierigen Wirtschaftslage Ende der zwanziger Jahre in Kauf.
Da hat er sein Leben lang auf die Herren Akademiker geschimpft und hatte die Chance, selber einer zu werden. Das Studium jedenfalls hätte sein Vater ihm bezahlt. Als meiner bereits hochbetagten Mutter in einem Gespräch diese Situation erstmals klar wurde, war sie zutiefst erbost. Da hatte ihr Verlobter – statt zu studieren! – sechs Jahre lang Billard gespielt. Die Hochzeit mußte lange genug hinausgeschoben werden. Und ihr war der so ersehnte „echte“ Akademiker vorenthalten worden. Im Leben meines Vaters hat es von „total unfähigen Vorgesetzten“ gewimmelt, die aber eben Akademiker waren und das Sagen hatten. Zur Rechtfertigung meines Vaters sei gesagt, daß er wirklich über ein großes Spektrum theoretischer und handwerklicher Fähigkeiten verfügte und schließlich zwölf erteilte Patente besaß. Was ihm wirklich gefehlt hat, sind Mut und Weitblick.
Als der Zweite Weltkrieg beendet war, war mein Vater wieder arbeitslos, diesmal, weil er in der Waffenindustrie tätig gewesen war. Die Verhältnisse der Plichtas wurden vor der Währungsreform ein wenig verbessert durch die Care-Pakete von Tante Linda aus Amerika. Onkel Wilhelm lebte schon nicht mehr. Mit diesen Care-Paketen ist eine Begebenheit verknüpft, bei der ich zum ersten Mal durch meine Beobachtungsgabe auffiel.
Die Anzahl der Care-Pakete hatte rapide abgenommen. In ihren Briefen hatte Tante Linda sich wiederholt beklagt, die Dankbarkeitsbezeugungen träfen so spärlich ein. Meine Mutter war schon ganz verzweifelt, daß ihre Schwestern soviel reichlicher bedacht wurden als sie. Da mußten Pakete auf mysteriöse Weise verschwunden sein, und in unserer Familie verging kaum ein Tag, an dem nicht gerätselt wurde, was da wohl los sei. Mir war aufgefallen, daß unser Dienstmädchen jetzt immer den Briefkasten eifrigst leerte und daß zum Empfang eines Care-Paketes die Benachrichtigung der Post und der Personalausweis der Mutter vorgelegt werden mußten. Diesen Ausweis verwahrte die Mutter in einem Kasten auf dem Schreibtisch.
Während eines Besuches im Elternhaus unseres Dienstmädchens kam mir eine Idee. Ich schlüpfte in einem unbeobachteten Moment ins Schlafzimmer der fremden Leute. Paul stand Wache an der Tür.
„Paul, schau mal!“ rief ich aufgeregt beim Öffnen der großen Türen des Schlafzimmerschrankes.
Vor unseren Augen stapelte sich ein ganzes Warenlager amerikanischer Konserven. Wir schlossen flugs die Schranktüren, und ich erzählte zu Hause den Eltern von meiner Entdeckung. Sie aber wollten des Rätsels Lösung kaum glauben und waren zu feige, die Ware zurückzufordern.
Solche Care-Pakete enthielten Herrlichkeiten, die uns Jungen bislang gänzlich unbekannt waren: glänzend lackierte Dosen, gefüllt mit Kaffeebohnen, schneeweißem Schmalz oder Eipulver, Kartons mit Rosinen oder Süßigkeiten. Paul und ich waren unterernährt. Zusätzlich bestand der Verdacht auf Tuberkulose. Aus diesem Grund wurden wir in den Sommerferien in ein Kinderheim auf Norderney verschickt und litten furchtbar unter Heimweh und Hunger. Woche um Woche mußten wir immer wieder die gleichen Spazierwege durch die Kiefernwälder der Nordseeinsel zurücklegen. Das Seeklima am Strand, hieß es, sei ungesund. Die Dünen und das Meer haben wir nur einmal gesehen. Alle Kinder hatten an diesem Tag eine Badehose anzuziehen und bekamen von den Schwestern Kinderspaten in die Hände gedrückt. So bewaffnet, ging es zum Strand, damit ein Fotograf eine Aufnahme machen konnte. Die Schwestern waren froh, sich nicht öfter mit ihren Trachten am Strand aufhalten zu müssen.
Als Paul und ich wieder nach Hause kamen, sahen wir so blaß aus, daß unsere Eltern befürchteten, die Erkrankung habe sich verschlimmert. Mein Bruder bekam noch eine Gelbsucht, und darum beneidete ich ihn von Herzen. Denn aus dem weißen amerikanischen Mehl wurden beim Bäcker wunderschöne Weißbrote gebacken und die Scheiben dick mit Leberpastete beschmiert. Paul saß nun im Bett und bewachte diese Köstlichkeiten – so wie später seine Millionen.
Meinem Vater bot sich 1947 die Gelegenheit, in Düsseldorf Fuhrparkdirektor zu werden. Nur war es diesmal unumgänglich, in die Partei, die SPD, einzutreten. Mein Vater verachtete Sozialdemokraten und überhaupt alle politischen Parteien. Er war ein unpolitischer Mensch und beobachtete voller Empörung den Neuaufbau Deutschlands durch Männer, die ihre Parteibücher schneller gewechselt hatten als ihre Hemdkragen.
Am Tag seines Vorstellungsgespräches beim Oberstadtdirektor verschwand er im Bett. Er wäre dort vor Angst wohl noch gestorben, hätte nicht meine Mutter die Reise nach Düsseldorf angetreten, um mit ihrem kühnen Blick den Oberstadtdirektor zu den Worten zu verleiten:
„Wenn Sie die Frau des Herrn Plichta sind, erhält Ihr Mann die Stelle.“
So wurde mein Vater Beamter und Direktor.
In Hülle und Fülle gab es mit dem Tag der Währungsreform wieder Lebensmittel. Nur leider mußte damit auch gleich das erste Experiment meines Vaters, nämlich Schweine mit Müllabfällen aufzuziehen, eingestellt werden. Für Schweine, die mit Abfällen gemästet waren, interessierte sich niemand mehr.
Am 21. Juni 1948 saßen wir alle am Küchentisch. Mein Vater zählte das neue Geld, von dem jedem von uns vierzig Deutsche Mark ausgezahlt worden waren. Es hieß, an diesem Tage seien alle Deutschen gleich arm bzw. reich gewesen. Da die Aktionäre ebenso wie die Grundbesitzer die vierzig Mark zusätzlich erhielten, begann der wirtschaftliche Aufstieg der neuen Demokratie mit einem Volksbetrug. Das Geld lag auf dem Tisch. Wir betrachteten die druckfrischen Noten voller Ehrfurcht. Paul und ich erhielten je zwei Mark, die der Vater, einer der sparsamsten und geizigsten Menschen überhaupt, uns mit tiefernstem Blick überreichte. Ihm muß wohl ein Festgeldkonto mit einhundertjähriger Laufzeit vorgeschwebt haben, anders ist die Tragödie, die sich noch am gleichen Tage abspielte, nicht zu verstehen.
Ich hatte mit meinem Schatz in der Tasche das Haus verlassen und als stolzer potentieller Käufer die Ohligser Kaufhalle betreten. Bis zu diesem Tag kannte ich nur Geschäfte, in denen überhaupt nichts feilgeboten wurde, oder vor denen die Menschen Schlange stehen mußten, wenn es wirklich einmal etwas zu kaufen gegeben hatte. Jetzt hingegen quoll das ganze Kaufhaus über von mir unbekannten Waren. Nach nicht zu langem Überlegen entschied ich mich für eine Motorradbrille aus Zelluloid und sah, daß mich Paul just in dem Augenblick beobachtete, als ich, stolzer Eigentümer dieses kostbaren Besitzes, die Plastikbrille in die Hosentasche steckte, in der jetzt natürlich die zwei Mark fehlten. Ich ahnte Schlimmes.
Zu Hause standen sie dann auch schon bereit, der Vater, die Mutter, die Großmutter und der Paul, alle mit todernsten Mienen, als sei etwas Ungeheuerliches geschehen. Ich wurde wie ein Delinquent zum Küchenofen geführt, Vater riß mir die Brille aus der Hosentasche, die Ofentür wurde aufgerissen und zisch! – mit einer hellen Stichflamme verschwand meine schöne Brille.
Damit waren die Rollen verteilt. Für mich war Geld von nun an bloß bedrucktes Papier, das nur dann einen Sinn hat, wenn man es ausgibt. Mein Bruder dagegen wurde von diesem Tag an der alleremsigste Sparer.
Da ich in der Schule so gut stand, hieß es bald in der Verwandtschaft, der Peter werde einmal Gelehrter, wenn nicht gar Professor. Zum Ausgleich hieß es von Paul, er werde sehr reich. Unseren verschiedenartigen Veranlagungen begegneten die Eltern mit völliger Hilflosigkeit, der Vater, indem er niemals auch nur nach dem Unterrichtsstoff fragte, die Mutter mit einem an Besessenheit grenzenden Interesse für Schulaufgaben und Noten. Die Vorstellung, daß die Asymmetrie der zweieiigen Zwillinge ganz natürlich erklärt werden kann, war den Eltern fremd. Sehr deutlich zeigte sich ihre Hilflosigkeit in der Behauptung, der Peter habe im Bauch der Mutter dem Paul die Nahrung weggegessen, und es sei nur gerecht, wenn er dies in seiner Jugend wiedergutmache. Meine Zeit als Nachhilfelehrer des jüngeren Bruders hatte begonnen und sollte fast dreißig Jahre andauern. Die Geschichte vom Mutterleib empfand ich als arg dumm und meinen Bruder als mir völlig wesensfremd, als jemanden, der mir eigentlich herzlich gleichgültig war, wenn da nicht jenes seltsame, stark ausgeprägte Gefühl gewesen wäre, mit diesem fremden Menschen durch ein unsichtbares, aber unzertrennbares Band verbunden zu sein.
In Düsseldorf hatte mein Vater auf der Rückseite des Ostfuhrhofes eine alte Schmiede in ein Einfamilienhaus umbauen lassen. Der Umbau war sehr gut gelungen, aber die Eltern warteten mit dem Umzug nach Düsseldorf bis zum Wechsel der Söhne von der Volksschule zum Gymnasium.
Der Lehrer Hunke hatte die Eltern in die Schule bestellt. Nur die Mutter war erschienen. Er hatte ihr in einem sehr langen und ernsten Gespräch darzulegen versucht, daß Paul niemals auf ein Gymnasium gehöre, dieser Junge würde an den Anforderungen einer solchen Schule zerbrechen. Unser Klassenlehrer Hunke war ein kluger Mann. Eines hat er jedoch nicht gewußt: Was das Schicksal einem Menschen bestimmt hat, läßt sich nicht aus Schulnoten und Zeugnissen vorhersagen. Immerhin hatte das Gespräch meine Mutter nachdenklich gemacht: Wenn Paul Ingenieur werden sollte wie der Vater, hätte er wenigstens mit dem Stabilbaukasten spielen müssen. Stattdessen lag er den lieben langen Tag auf der Erde und träumte Nümmerchen. Mit dem Baukasten spielte der Peter.
Für mein Abgangszeugnis – das beste der Klasse – hatte ich ein kleines Spielzeuggewehr geschenkt bekommen. Mit meinem Gewehr und unserem Hund Purzel verschwand ich in den Wochen vor dem Umzug oft in den wunderschönen Wäldern der Umgebung, um Abschied zu nehmen. Ich war behütet aufgewachsen in Solingen-Ohligs, war abenteuerlustig gewesen, aber nie unvorsichtig. Kaum ein einziges Mal waren Paul und ich in Gefahr geraten.
Die Ehe der Eltern hatte ein paar Jahre zuvor zu kränkeln begonnen, es gab da, wie den Zornesausbrüchen meiner Mutter zu entnehmen war, immer wieder andere Frauen im Leben meines Vaters.
Vielleicht ahnte der Vater, es könne etwas passieren. Er erklärte mir die Zusammensetzung von Leuchtgas und wies mich auf den hochgiftigen Bestandteil Kohlenmonoxid hin und auf die überaus große Gefährlichkeit des Wasserstoffgases, das, mit Luft gemischt, ganze Wohnhäuser durch eine Explosion zum Einsturz bringen könne.
An einem Nachmittag kurz darauf saßen Paul und ich in der Küche am Kindertischchen auf unseren Stühlchen. Mutter machte das Küchenfenster zu und schloß die Tür ab. Dann öffnete sie die Hähne der Kochgasstellen und der Backofenheizung. Gas strömte zischend aus. Innerhalb weniger Minuten war der Raum vom Leuchtgas und seinen unangenehmen dumpfen Begleitstoffen erfüllt. Ich schaute meinem Bruder ins Gesicht und überlegte, was er wohl dachte und empfand. Aber ich bemerkte keinerlei Reaktion. Ich beobachtete meine Mutter, sah ihre tiefe Verzweiflung und sagte:
„Du mußt die Gashähne wieder zumachen. Denn wenn jemand im Haus das Licht anmacht, wird es eine schreckliche Explosion geben.“
Ich empfand keine Angst, mich faszinierte die Frage, ob der Zwillingsbruder Paul nun wisse, daß wir in Lebensgefahr waren, oder nicht. Meine Mutter kam zur Besinnung, sie stellte das Gas ab und öffnete das Fenster. Dann packte sie uns, lief mit uns in den nahe gelegenen Wald und forderte uns auf, tief zu atmen. Wieder zu Hause, wurde Paul und mir schlecht, und wir mußten uns erbrechen.
An der Aufnahmeprüfung des Lessing-Gymnasiums in Düsseldorf konnte ich nicht teilnehmen, weil ich erkrankt war. So fuhr Paul alleine zur Prüfung, konnte mir jedoch danach nicht sagen, welche Aufgaben gestellt worden waren. Merkwürdigerweise bestand er die Prüfung, während ich in der Wiederholungsprüfung mit den Rechenaufgaben in größte Schwierigkeiten geriet. Es waren zwar nur einfache Dreisatzaufgaben, aber so etwas hatten wir in der Schule nicht gelernt. Damit wäre ich eigentlich durchgefallen, wäre nicht die Rechennote meines Abschlußzeugnisses so gut gewesen.
Ein alter weißhaariger Herr nahm mich mit zu einer Nische des Konferenzzimmers der Schule. Später erfuhr ich, daß er nicht nur Mathematik- und Physiklehrer war, sondern auch Astronom. Ich mußte mich auf sein Knie setzen.
Er sagte: „Junge, erzähl’ mir etwas über die Zahlen.“
„Die Zahlen beginnen mit 1, 2, 3 oder mit 0, 1, 2, 3 und laufen nach dem Zehnersystem durch Anhängen einer Null über die 10, 100, 1000, 10000 immer weiter.“
„Und wie geht das weiter?“ fragte der alte Mann.
Ich sagte: „Erst kommt die Million, dann die Milliarde, dann die Billion, die Billiarde, die Trillion …“
„Und wann hören die Zahlen auf?“
Ich sagte: „Nie.“
„Warum nicht? Irgendwann müssen sie doch aufhören.“
„Die Zahlen können nicht aufhören, weil sie unendlich sind.“
„Kennst du noch etwas, was unendlich ist?“
„Ja“, antwortete ich, „der Weltraum und die Zeit.“
Da legte er seine Hand auf meinen Kopf und sagte: „Junge, du kannst gehen.“
Die ersten Wochen der Sexta versäumte ich, denn ich lag mit Fieber zu Hause. Als ich dann zum ersten Mal am Lateinunterricht teilnahm, verstand ich kein Wort. Zu meinem Entsetzen stellte sich nach einigen Fragen an meinen Bruder heraus, daß dieser die ganzen Wochen im Lateinunterricht geträumt haben mußte.
Der Lateinlehrer Klotten, den wir Jumbo nannten, war von erschreckender Erscheinung: ein kugelförmiger Körper, ein Bein aus Holz, herunterhängende Arme wie bei einem Gorilla, Hände so groß wie Schaufeln, ein Kopf völlig ohne Hals, dazu völlig kahl, und vor den Augen eine schwere Starbrille mit Gläsern so dick wie starke Lupen. Er muß praktisch blind gewesen sein, denn es gab Schüler, die sich trauten, ihm eine lange Nase zu machen, ohne daß er reagierte. Aber Ohren hatte er wie eine Fledermaus. Wenn es irgendwo raschelte, sprang er auf von seinem Stuhl, wankte durch die Bankreihen, seinen Stock über dem Haupt schwingend wie ein japanischer Krieger, schlug mit Brutalität in das Raschelnest hinein, und dann hagelte es links und rechts Ohrfeigen.
Die Wochen vergingen, ich verfolgte den immer wiederkehrenden gleichen Aufbau der lateinischen Sätze. Eines Tages war es dann soweit. Der Spruch unter dem lateinischen Stück enthielt einen Infinitiv Perfekt. Keiner der Klassenkameraden konnte den Spruch übersetzen, der im Deutschen lautete: „Acht Stunden geschlafen zu haben, ist für einen Knaben genug.“ Ich hob zum allerersten Mal im Lateinunterricht die Hand. Mein Bruder versuchte sie herunterzuziehen und flüsterte:
„Der schlägt dich tot!“
Im selben Moment erreichte die Schallwelle das Ohr des Lateinlehrers, er griff zum Stock.
„Herr Studienrat, ich kann den Satz übersetzen“, sagte ich tapfer. Ein Gelächter, eher schon ein Gebrüll, war die Folge. Dann übersetzte ich. Einen Moment blieb es totenstill. Da flog der Stuhl des Jumbo um, ich wurde gepackt, mit den Fäusten bearbeitet:
„Gestehe“, donnerte es durch die Schule, „daß du diesen Satz nicht alleine übersetzt hast!“
„Ich kenne niemanden, der mir dabei hätte helfen können“, erwiderte ich. Ein Schwall von Ohrfeigen war die Folge. Jetzt begann auch ich zu brüllen: „Prüfen Sie mich doch die Lateinstücke rauf und runter!“
Nun folgte eine ausführliche Prüfung in Grammatik und Vokabelkenntnissen. Als ich sie fehlerlos bestanden hatte, breitete sich ein wohlgefälliges Lächeln im Gesicht des Tyrannen aus.
„Das“, brüllte er, indem er beide Arme weit nach hinten ausstreckte, „ist mein bestes Pferd im Stall!“
Paul und ich waren zehn Jahre alt, das Durchschnittsalter der Klasse betrug dreizehn Jahre. Die Klassenkameraden hatten mir den Spitznamen Professor gegeben, der mir wie ein Schimpfname erschien. Es ist sehr schwer, einen solchen Spitznamen loszuwerden. Ich schaffte es auf folgende Weise: Ich wurde einer der wildesten Schüler der ganzen Schule. Da verschwand das scheußliche Wort von alleine.
Die Lehrer waren fast alle in Kriegsgefangenschaft gewesen. Sie nannten uns Proleten. Meine Sexta hatte neunundsechzig Schüler. Kein Junge kam aus einer Akademikerfamilie, Oberbilk war damals Arbeiterviertel.
Während des ersten Jahres im Gymnasium saßen mein Bruder und ich in der ersten Reihe nebeneinander. Nachdem Paul eine Reihe von Sechsen geschrieben hatte, ließ ich ihn von mir abschreiben. Doch damit bahnte sich eine Katastrophe an. Er schrieb ab, ohne auch nur den Sinn des Geschriebenen zu verstehen. Ich mußte eine Entscheidung treffen. Die Eltern konnte ich nicht fragen. Ich wußte, der Paul mußte sitzenbleiben. Er mußte die Sexta ein zweites Mal beginnen, ohne die Hilfe seines Bruders neben sich auf der Schulbank. Ich ließ ihn nicht mehr abschreiben. Die Eltern, der Paul, die Klassenkameraden waren empört.
Ich wußte genau, daß ich dadurch verhindern konnte, daß Paul später ein zweites Mal sitzenbleiben würde. Dann nämlich hätte er die Schule verlassen müssen und wäre vom Vater in die Lehre gesteckt worden. Nach langen Diskussionen begriffen die Eltern meinen Plan. Ich schlug vor, daß Paul die Sexta ein zweites Mal machen und dann in allen Fächern von mir Nachhilfeunterricht erhalten sollte, da ich ihm dann jeweils ein Jahr voraus sein würde. Nur so sei die mittlere Reife für Paul zu erlangen, Pauls mittlere Reife – Herzenswunsch meiner Mutter und ein Ziel ihres Lebens.
Das neue Haus hatte einen großen Garten und war von hohen Mauern umgeben. Paul und ich bekamen im ersten Stock ein gemeinsames Zimmer, eingerichtet mit den Schlafzimmermöbeln der Großmutter, die sich zur großen Erleichterung der ganzen Familie entschlossen hatte, in ein katholisches Altersheim, die Villa Sonnenhügel, zu ziehen. Uns ging es gut: Der Vater hatte einen Chauffeur und einen Gärtner gestellt bekommen, die Mutter eine Putzfrau, mit der sie täglich von morgens acht bis nachmittags fünf das gesamte Haus putzte.
Eines Tages entdeckte ich im Schreibtisch meines Vaters kleine Päckchen mit Papierstreifen und der Aufschrift
Merck Lackmuspapier
Ich fragte meinen Vater, was das sei. Der ging mit mir in die Küche, nahm ein Glas Wasser und gab Essig hinzu. Dann holte er aus Mutters Spülschrank einen Brocken Soda und verrührte ihn mit Wasser. Jetzt nahm er Lackmuspapierstreifen Rot bzw. Blau und tauchte sie abwechselnd in die saure und basische Lösung. Ich beobachtete fasziniert die Farbumschläge.
„Was ist das?“ wollte ich wissen, „wie nennt man das?“
Er lächelte und antwortete:
Dieses Wort hatte ich noch niemals gehört. Doch schon ein paar Tage später tauchte es zum zweiten Mal auf.
Die Eltern waren mit Paul und mir am Rande der Düsseldorfer Altstadt spazierengegangen, und im Schaufenster eines Ladens für optische Geräte und Spielzeugartikel, wie elektrische Eisenbahnen und Baukästen, las ich zum ersten Mal das Wort „Chemie“. Ausgestellt war ein Chemiebaukasten der Firma Kosmos zum Preis von zwanzig Mark. Glücklicherweise näherte sich mein Geburtstag. Ich konnte den Tag kaum erwarten und lebte in großer Sorge, daß es bis dahin noch einen ordentlichen Streit geben könnte, so wie häufig in meinem Elternhaus, und dann das Geburtstagsgeschenk gestrichen würde.
Aber alles verlief, wie ich’s mir erträumt hatte: In der Mittagspause fuhr der Vater mit mir zu Optik Ziem und kaufte mir den Baukasten. Anschließend setzte er mich am Lessing-Gymnasium ab, denn wir hatten Nachmittagsunterricht in wöchentlichem Tausch mit einer anderen Schule.
Ich kam zu spät und schoß mitten in die Lateinstunde mit dem Schrei:
„Paul, ich hab’ den Chemiebaukasten!“
Wie durch ein Wunder lächelte der Jumbo mild dazu.
Abends begann ich sofort mit den Versuchen, aber bereits nach wenigen Tagen war ich tief enttäuscht. Irgend etwas fehlte in dem Anleitungsbuch, etwas, was ich nicht kennen konnte, aber ahnte. Es fehlten die chemischen Formeln. Doch die Begegnung mit einem älteren Schüler half mir weiter. Er lieh mir das Standardwerk aller jugendlichen deutschen Chemiker,
Römpp: Chemische Experimente, die gelingen.
Da waren sie, die chemischen Formeln. Jetzt war ich zufrieden.
Wenig später hatte ich das erste richtige Lehrbuch der Chemie in der Hand. Ich las, daß alle Materie gekörnt ist, daß alles aus Atomen besteht und daß es verschiedene Atomarten gibt. Mit dem Erfassen des Elementbegriffes verstand ich diese Welt. Ich las wochenlang in diesem Buch, alles über Salpetersäuren, seltene Erden, Radioaktivität. Mir war, als ob ich den gesamten Stoff schon kannte und nur eine Zeitlang vergessen hatte – als würde ich mich nur wiedererinnern.
Der Junge, dem ich das Glück des ersten Chemiebuches verdankte, war eines Tages nicht mehr da. Ich konnte mit niemandem mehr über Chemie reden, außer mit mir selbst. Es hätte auch niemanden interessiert, weder den Vater noch die Lehrer, wenn ich als knapp zwölfjähriger Junge behauptet hätte, ich könne mit chemischen Formeln umgehen wie der kleine Mozart mit seinen Noten.
Ein Jahr später erhielt ich einen Radiobaukasten und eine Radioröhre mit einer Anodenspannung von etwa 16 Volt. So interessant die Versuche mit der Röhre auch waren, der kleine Siliziumkristall des Baukastens fesselte mich mehr. Durch Berühren mit einer Drahtspitze war es nämlich möglich, diesem Kristalldetektor ganz ohne Batteriestrom ferne Radiosender zu entlocken. Ich beschäftigte mich mit der Frage, warum man anstelle des schwerfälligen Radioröhrenverfahrens nicht die Fähigkeit des Siliziumkristalls ausnutzte, hochfrequente Wechselströme gleichzurichten.
Einige Jahre später erfuhr ich, daß J. Bardeen, ein amerikanischer Physiker, diese Idee in Form des Transistors verwirklicht hatte, wofür er 1956 den Nobelpreis erhielt. Er wechselte sein Arbeitsgebiet und erhielt 1972 für seine Leistung auf dem Gebiet der Kernresonanzspektroskopie den Nobelpreis ein zweites Mal.
Mit dieser Methode der Spektroskopie sollte es mir 1968 gelingen, als erster asymmetrische Zwillingsatome bei Silizium-Wasserstoff- und Germanium-Wasserstoff-Verbindungen nachzuweisen, wichtige Voraussetzung für meine spätere theoretische Arbeit. Während dieser Messungen mußte ich an meinen kleinen Siliziumkristall zurückdenken – Transistoren werden nämlich aus Silizium oder Germanium hergestellt.
Auch Paul entwickelte reges Interesse für den Radiobaukasten, wobei er allerdings streng vermied, das Anleitungsbuch zu lesen. Doch ich erzählte ihm viel von jener zauberhaften Eleganz, mit der die Elektronen in Metalldrähten tanzen und Verursacher der Radiowellen sind. Sein Interesse ging so weit, daß wir uns beide später, zum fünfzehnten Geburtstag, für das Geld, das wir während der Sommerferien in einer Metallfabrik selbst verdient hatten, einen großen Radiobaukasten wünschten.
Das Geld hatte mein Vater an sich genommen. Er hatte sich bereit erklärt, uns das Anleitungsbuch für zwölf Mark bei Ziem zu kaufen. Doch unser Trick mißlang. Als ich nämlich, als der Mutigere, dem Vater im Laden erklärte, daß wir uns ja eigentlich den Baukasten mit Zubehör wünschten – er kostete einhundertzwanzig Mark –, gab’s vor der verblüfften Verkäuferin „eins in die Schnauzen“ des „schulischen Versagers“ Paul und des „Großkotzes“ Peter.
Gekauft wurde nur das Anleitungsbuch. Und damit konnte Paul aus den erwähnten Gründen überhaupt nichts anfangen. Da hatte ich meinen Bruder ein einziges Mal für Physik interessieren können, und durch zwei kräftige Ohrfeigen wurde alles zunichte gemacht.
Der fast elfjährige Junge hatte das Wort Chemie kennengelernt, und meine ersten Jugendjahre, bis zum 15. Lebensjahr etwa, sind charakterisiert durch die Entdeckung und Beschäftigung mit dieser Wissenschaft. Selbst der entsetzliche Geiz meines Vaters konnte mich nicht davon abhalten, überhaupt nichts auf der ganzen Welt. Voller Freude über den kleinen Chemiebaukasten war ich mitten in den Lateinunterricht gestürmt. Als Zwölfjähriger hatte ich mir dann den großen Chemiebaukasten gewünscht, den der Kosmosverlag damals zum Preis von achtzig Mark herausbrachte, ein schöner Holzbaukasten mit gut gelungenem Anleitungsbuch, der Traum eines kleinen Chemikers. Aber 80 Mark Anfang der fünfziger Jahre, einen derartig kostspieligen Wunsch meinem Vater gegenüber auch nur auszusprechen, war völlig unmöglich, ohne auf die klare Absage des Vaters gefaßt zu sein. Ich bestand jedoch auf meinem Weihnachtswunsch und wußte ganz genau, daß ich den Vater damit in arge Verlegenheit brachte. Der alte Geizhals fand eine Notlösung. Gekauft wurde schon damals nur das Anleitungsbuch. Die Fuhrparkschreinerei baute einen Holzkasten, beim Wasseruntersuchungsamt wurden Chemikalien und Glasgeräte abgezweigt, die ein befreundeter Kollege des Amtes entsprechend dem Anleitungsbuch auswählte, und schon war der Kosmosbaukasten nachgebaut, kostenlos und gratis für den Vater. Weihnachten kam, ich stand vor meinem Chemiebaukasten. Der Nachbau war gut gelungen. Aber die Auswahl der chemischen Geräte war haarsträubend. Die Eltern standen strahlend neben dem Weihnachtsbaum, ich biß die Zähne zusammen und überschlug schnell, daß der Austausch der Geräte nur eine Frage der Zeit sei.
Das Experimentierbuch des Chemiebaukastens dient dazu, junge Menschen mit den Grundzügen der chemischen Experimentierkunst vertraut zu machen. Ähnlich ist auch ein Chemiestudium aufgebaut. Handwerkliches Arbeiten wird geübt und eine Fülle von Wissen gepaukt, ohne daß die Frage, warum etwas gerade so ist, auch nur angeschnitten wird.
Die Chemie ist die Lehre von den Stoffen. Mag man in der Physik über Raum und Zeit diskutieren, in den anderen Wissenschaften mit Begriffen und Worten umgehen wie Leben und Stoffwechsel oder gar Liebe, Gott und Transzendenz der Zahl e – Chemiker lassen sich dadurch nicht irritieren. Sie schütten Stoffe zusammen, erhitzen die Gemische, rühren darin herum, stehen daneben und sind zufrieden, wenn sich der erwartete Erfolg hinsichtlich der Bildung neuer Stoffe oder deren Ausbeute zeigt.
Ein chemischer Versuch, den ein Junge mit seinem Chemiebaukasten ausführt, unterscheidet sich in nichts von dem gleichen Vorgang, der im Vorlesungssaal eines chemischen Institutes durchgeführt wird. Da wird zum Beispiel die farblose Lösung eines Stoffes A mit der farblosen Lösung des Stoffes B gemischt, und sofort fällt ein dicker blauer Niederschlag aus. Dann wird postuliert, das sei so, weil A mit B reagiert. Warum das so ist, warum das auch am anderen Ende des Weltalls so ist und in unendlich ferner Zukunft immer so bleiben wird, findet keine Antwort. Denn danach wird überhaupt nicht gefragt. Ich kannte diese Frage damals noch nicht. Es gab so viel Neues zu lesen in Chemie, es stand so viel geschrieben von dem, was wir alles wissen, daß mir eine Zeitlang gar nicht auffiel, was wir alles nicht wissen.
Durch mein zunehmendes Interesse auch an der Physik stieß ich etwa mit fünfzehn auf ein ganz ungewöhnliches Problem, das Problem der Elektronen. Wenn sich zwei Atome chemisch binden, dann verbindet sie der Chemiker gedanklich oder zeichnerisch mit einem Strich. Was da wirklich die chemische Bindung ausmacht, sind zwei Elektronen, die sich festhalten. Man nennt sie Elektronenpaarzwillinge. Diese Elektronenpaarbindung ist eine der Grundlagen der Chemie. Elektronenpaarbindung ist die Ursache dafür, daß sich Elemente zu Molekülen verbinden. In der Physik ist es aber genau umgekehrt. Dort sind Elektronen elektrisch gleich geladene Teilchen, die sich gegenseitig abstoßen und gar nicht auf die Idee kämen, sich gegenseitig festzuhalten, also Elektronenpaarzwillinge zu bilden. Elektronen, die etwa Strom durch einen Draht transportieren oder durch den leeren Raum fliegen, sind immer etwas Einzelnes. Das ist eine der Grundlagen der Physik.
Als ich diese Widersprüchlichkeit erstmals voll erkannt hatte, begriff ich etwas sehr Wichtiges. Wäre ich nur Chemiker, wäre mir die Physik der Elektronen völlig gleichgültig, denn die Elektronenpaarbindung läßt sich beweisen. Wäre ich hingegen nur Physiker, wäre mir die Chemie der Elektronen gleichgültig, denn die abstoßenden Kräfte zweier Elektronen lassen sich ebenfalls beweisen. Auffallenderweise verhalten sich Elektronen aber nur dann seltsam chemisch, wenn sie sich schalenförmig auf Bahnen befinden, die sich um Atomkerne bewegen. Mein Problem tauchte offensichtlich dadurch auf, daß ich beides zu werden ahnte: Chemiker und Physiker.
Alle Stoffe in diesem Universum setzen sich aus einer bestimmten Anzahl von Elementen zusammen, die von den Chemikern mit Ordnungszahlen numeriert worden sind und ein Puzzlespiel der ganzen Zahlen
1, 2, 3, … bis 83
ergeben. Es wäre viel einfacher, diesen Elementen nicht Namen und chemische Symbole zu geben, sondern für die Elemente nur Zahlen zu benutzen. Denn die Elemente bauen sich in der Tat nach Zahlen auf, so daß das Element 1 aus einem Kügelchen – Proton – besteht, das Element 2 aus zwei Kügelchen und das letzte Element eben aus 83. Da sich bei den 83 Elementen bestimmte Eigenschaften wiederholen, hat man die Elemente im sogenannten Periodensystem in acht Gruppen angeordnet. Die zahlenmäßige Gesetzmäßigkeit des Aufbaues der Elemente ist so einfach, daß man sich wundern könnte, warum nicht bereits jedes Kind im Mathematikunterricht damit bekannt gemacht wird.
Eigentümlicherweise existieren zwei Elemente nicht, nämlich die Elemente mit den Ordnungszahlen
43 und 61
Sie existieren auch außerhalb der Erde nicht, also auch nicht im Planetensystem, was erst während meiner Jugendzeit erkannt wurde1. Da man diese beiden Elemente jedoch in den neugebauten Kernreaktoren künstlich herstellen konnte, gab man ihnen Namen, auch wenn diese künstlichen Elemente sehr schnell wieder in andere Elemente zerfallen. So hielten sie Einzug in die Chemie- und Physikbücher. Aus welchem Grunde sie in der Natur fehlen, ist völlig unbekannt2. Man hat nicht die geringste Vermutung, warum das so ist. Sollte das Fehlen der beiden Elemente etwa Zufall sein?
Tabelle der 81 stabilen chemischen Elemente
Die Hauptgruppenelemente sind fett, die Nebengruppenelemente sind klein gedruckt. Die beiden in der Natur nicht vorkommenden Elemente 43 und 61 sind mit fehlt gekennzeichnet. Auf den Wasserstoff folgen 19 Hauptgruppenelemente, anschließend (mit Unterbrechungen durch 10, wieder 10, und dann 24 Nebengruppenelemente) weitere 19 Hauptgruppenelemente.
Sollte es wirklich einmal vorkommen, daß ein Student in einer Vorlesung fragt: „Warum fehlen eigentlich die Elemente 43 und 61, Technetium und Promethium?“, würde ihm der Professor die Antwort geben: „Weil sie instabil sind.“ Damit stünde der fragende Student als Dummkopf da, nicht der Professor.
Nach dem letzten stabilen Element 83 dürften eigentlich keine weiteren Elemente in der Natur existieren, da ab dem Element 84 alle Isotope so radioaktiv sind, daß sie schon bald nach Entstehen des Planetensystems hätten verschwunden sein müssen. Aus einem unbekannten Grund besitzen aber zwei Elemente oberhalb des Elementes 83, und zwar
90 (Thorium) und 92 (Uran)
eine Lebensdauer von Milliarden Jahren. Von diesen beiden Elementen sind seit ihrer Entstehung große Mengen übriggeblieben. Sie wurden bereits im vorigen Jahrhundert analytisch untersucht und chemisch rein dargestellt. Beide Elemente zerfallen ständig und sind dadurch selbst die Lieferanten der Elemente
91, 89, 88, 87, 86, 85 und 84
Wir verdanken dem Ehepaar Curie, daß erstmals winzige Mengen der Elemente 84 (Polonium) und 88 (Radium) isoliert wurden. Aber daß es stabile Elemente nur bis zum Element 83 gibt und außer diesen noch eine zweite Sorte Elemente, die sich von den Elementen 92 und 90 ableiten und heute natürliche radioaktive Elemente genannt werden, dieser klare Unterschied wurde schon damals nicht erfaßt.
Schon während des Zweiten Weltkrieges war man in der Lage, aus dem Element 92 die künstlichen Elemente 93 und 94 und bald darauf noch höhere zu gewinnen, und zwar in solchen Mengen, daß sie auch sichtbar wurden. Allerdings erwies sich kein Isotop dieser Elemente als stabil, das heißt, auch für sie galt, daß sie kurz nach der Entstehung des Planetensystems wieder verschwanden. Sie stellen die dritte Sorte von Elementen dar. Es gibt also
1. Stabile Elemente (1–83) [ohne 43 und 61]
2. Natürliche radioaktive Elemente (84–92)
3. Ausschließlich künstliche Elemente (93–106)
Diese Dreiteilung der Bausteine unseres Universums ist aber nie klar erkannt bzw. formuliert worden. Allzu leicht fällt es, solche Unterscheidungen zu verwischen.
Bis zum Zweiten Weltkrieg lernten die Studenten, daß Elemente bis zur Ordnungszahl 92 existieren, während sie heute lernen müssen, daß es 106 Elemente gibt. Diese wissenschaftliche Oberflächlichkeit ist noch gepaart mit der Eitelkeit der Wissenschaftler. Die Elemente 104, 105, 106 etwa lassen sich gar nicht in sichtbaren Mengen herstellen, weil die wenigen Atome, die nachgewiesen wurden, in Bruchteilen von Sekunden zerplatzten. Mit der Sucht, neue Elemente zu entdecken und ihnen Namen zu geben, weicht man geradezu der Frage aus, warum die Elemente immer instabiler werden. So werden denn in all den Tabellen unserer Lehrbücher und auf den Tafeln des Periodensystems 106 Elemente benannt und abgebildet, und kaum jemandem fällt auf, daß die Elemente 43 und 61 nicht existieren.
Die dreifache Natur der Bausteine des Universums war die wichtigste Erkenntnis meiner Jugend. Dieses Wissen ließ sich nicht durch Lesen erwerben. Ich kam dahinter, indem ich mich jahrelang mit dem Problem der Radioaktivität beschäftigte. Das Ehepaar Curie und eine Reihe weiterer Forscher hatten herausgefunden, daß die Elemente 92 und 90 über
drei radioaktive Zerfallsreihen
in die drei stabilen Isotope des Bleis
206, 207, 208
zerfallen und daß dieser Vorgang stattfindet, indem Strahlen abgegeben werden, die dreifacher Art sind,
α-Strahlen
β-Strahlen
γ-Strahlen
Da seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts feststeht, daß alle Elemente aus nur insgesamt drei Arten Kernteilchen zusammengesetzt sind, aus
Protonen
Neutronen
Elektronen
wäre es nötig gewesen, diese merkwürdige Dreifachheit zu diskutieren. Diese wissenschaftliche Diskussion hat nie stattgefunden.
Nach und nach war mir klar geworden, wie viele ungelöste Fragen durch die Beschäftigung mit Chemie überhaupt erst auftauchten, während die vielen Bücher lediglich von den Erfolgen berichten. Aber ich freute mich auf mein späteres Chemiestudium und wollte mir diese Vorfreude nicht verderben.
Meine Neigung zu theoretischen Überlegungen war immer gekoppelt mit großer Experimentierfreude. Da liegen ja auch die eigentlichen Erfolge der Chemiker des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Wie in der Renaissance mit einer auffälligen Kunstfertigkeit der Handwerker, Künstler, Architekten und Ingenieure eine neue Epoche begann, so hat in den letzten beiden Jahrhunderten die Experimentalchemie unsere Welt verändert. Da hatte sich der Peter Plichta von der Icklack 17 geschworen, kräftig mitzumischen mit Hilfe seiner Hände, von denen später der Direktor eines chemischen Institutes sagen sollte, sie seien denen von Emil Fischer ähnlich – und der sei bekanntlich fähig gewesen, sogar Schweizer Käse umzukristallisieren.
Mit diesen Händen lernte ich schon sehr früh die Kraft kennen, die bei chemischen Explosionen frei wird. Immer wieder liest man, daß junge Menschen Chemikalien miteinander mischen und daß sich dabei schwerste Unfälle ereignen. Ich hatte das Glück, als kleiner Junge einen wirklich dummen Fehler zu begehen und dadurch zu begreifen, daß es nicht die Gefährlichkeit der Chemikalien ist, die unterschätzt wird, sondern die Dummheit und die manuelle Ungeschicklichkeit.
Paul und ich hatten auf der Kirmes vom Vater den ersten Luftballon geschenkt bekommen. Ich vermutete, daß die Gasfüllung nicht aus dem teuren Helium bestand, sondern aus dem preiswerten Wasserstoff, dem Element Nummer 1. Am nächsten Tag überprüfte ich, welches Gas in dem Ballon war. Als nachmittags die Eltern ihren Mittagsschlaf hielten, entknotete ich den Gummiverschluß des Ballons, öffnete die Tür des Küchenofens, in dem ein Brikettfeuer glimmte, und ließ vorsichtig zunächst einen kleinen Teil des Gases in den Ofen strömen und dann – als nichts passierte – etwa den Gasinhalt des halben Ballons. Da gab’s einen fürchterlichen Knall. Die schwere Stahlplatte, die den Ofen über eine Fläche von einem halben Quadratmeter bedeckte, wurde von der Wucht der Explosion hochgeschleudert. Ich flog durch die Küche unter den Tisch. Da lag ich, schwarz wie ein Bergarbeiter, und wußte, warum eine Wasserstoff-Luft-Mischung Knallgas genannt wird. Vorsichtig wurde die Tür zwischen Küche und Schlafzimmer einen kleinen Spalt weit geöffnet, der Vater steckte nur gerade seine Nase hindurch und rief dann:
„Herta, er lebt noch!“
Vor Freude, daß mir nichts passiert war, vergaßen die Eltern sogar, mich zu verhauen.
Von nun an hatte ich zu Explosivstoffen ein ganz bestimmtes Verhältnis. Ohne die in der Jugend gewonnene Erfahrung mit Sprengstoffen und Raketentreibstoffen hätte ich meine Arbeiten mit Silizium-Wasserstoffen später an der Universität niemals so gelassen durchführen können. Chemiker lernen in ihrer Ausbildung nichts über Explosivstoffe. So hat kaum einer einen Bezug dazu.
Ich sprengte gleich zu Beginn meiner Experimente mit selbstgebauten elektrischen Zündern, da mir klar war, daß Zündschnüre anzuzünden viel zu gefährlich ist. Der große Garten und das Werksgelände hinter unserem Haus waren in den Abendstunden und an den Wochenenden der ideale Übungsplatz. Ich fand es damals urkomisch, wenn ich am Küchentisch damit beschäftigt war, eine neue Bombe anzufertigen und zum Schluß alles schön mit Isolierband umwickelte, während meine Mutter gleichzeitig am Ofen stand und kochte. Ich nahm dann meine Schalttafel und das aufgerollte Kabel, steckte mir Werkzeug in die Hosentasche und ging zur Haustüre hinaus. Sie rief hinter mir her:
„Peter, wir essen gleich!“
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