Das Puppenhaus - Tove Jansson - E-Book

Das Puppenhaus E-Book

Tove Jansson

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Beschreibung

Es sind klar und scharf beobachtete, einprägsame Figuren: der Mann mit den Lokomotiven, der Comiczeichner, der abtaucht, die Schauspielerin, die jemandes Seele stiehlt. Von Hoffnung getragen oder von starrer Besessenheit, von Hass oder Liebe, konzipieren sie ihr Leben und agieren vor uns wie in einem Puppenhaus. Doch Türen und Treppen eröffnen immer neue, geheimnisvolle Räume ... Zwölf geistreiche, aufrüttelnde und humorvolle Erzählungen stellen originelle Protagonisten vor, auf der Suche nach schöpferischer Selbstverwirklichung, nach Auseinandersetzung mit Kunst und Kunstschaffen. Sie haben Lebensentwürfe und Rollen aufgebaut und erleben, wie sie damit an Grenzen stoßen oder plötzlich neue Perspektiven gewinnen. Sie können sich verlieren, aber sie können sich auch wiederfinden. Tove Janssons feiner Humor, ihr unverwechselbarer Blick und ihre leichte, klare Sprache machen die Erzählungen zu kleinen literarischen Meisterwerken.

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Seitenzahl: 225

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Tove Jansson

Das PUPPENHAUS

ERZÄHLUNGEN

Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer

INHALT

Der Affe

Das Puppenhaus

Zeitbegriffe

Lokomotive

Eine Erzählung aus Hilo, Hawaii

Eine Erinnerung aus dem neuen Land

Der Comiczeichner

White Lady

Kunst in der Natur

Die Hauptrolle

Das Blumenkind

Die große Reise

DER AFFE

Die Zeitung kam um fünf Uhr früh wie jeden Tag. Er knipste die Nachttischlampe an und stieg in die Hausschuhe, dann schlurfte er langsam den gewohnten Weg über den glatten Zementboden, wie immer zwischen den Modellierböcken hindurch, ihre Schatten waren wie schwarze Löcher. Nach dem Gipsgießen hatte er den Fußboden poliert. Draußen war es windig, die Straßenlaterne vor dem Atelier ließ die Schatten schaukeln, scheuchte sie davon und holte sie wieder zurück, es war, als würde man bei Sturm und Mondschein einen Wald durchqueren. Das gefiel ihm. Der Affe war in seinem Käfig aufgewacht, jetzt hing er am Gitter und jammerte Mitleid heischend. »Drecksaffe«, sagte der Bildhauer, ging in den Flur und hob die Zeitung auf. Auf dem Rückweg öffnete er die Käfigtür. Der Affe sprang ihm auf die Schulter und klammerte sich fröstelnd dort an. Der Bildhauer legte ihm das Halsband um und befestigte die Leine an seinem eigenen Handgelenk. Der Affe war eine gewöhnliche Meerkatze aus Tanger, die irgendjemand billig eingekauft und teuer verkauft hatte. Ab und zu bekam er eine Lungenentzündung und brauchte Penicillin. Die Kinder in der Nachbarschaft häkelten ihm Jäckchen. Der Bildhauer kehrte zum Bett zurück und schlug die Zeitung auf. Der Affe schlang ihm die Arme um den Hals, blieb still so liegen und wärmte sich. Nach einer Weile hockte sich das Tierchen vor ihn hin, die wohlgeformten Hände über den Bauch gekreuzt, und starrte ihm in die Augen. Das schmale graue Gesicht war von unveränderlicher, trister Geduld geprägt. »Kannst mich ruhig anstarren, du verdammter OrangUtan«, brummte der Bildhauer und las weiter. Bei der zweiten oder dritten Seite sollte der Affe plötzlich und mit blitzschneller Präzision durch die Zeitung springen, aber immer nur durch die schon gelesenen Seiten. Das war ein Ritual: Die Zeitung wird aufgeschlitzt, der Affe stößt einen triumphierenden Schrei aus und legt sich dann schlafen. Es kann befreiend sein, wenn man jeden Morgen um fünf den übelsten Dreck der Welt zur Kenntnis nimmt und dann die Bestätigung erhält, dass es Dreck ist, indem das alles durchbohrt und unleserlich wird. Der Affe half ihm, den Dreck loszuwerden. Jetzt setzte der Affe zum Sprung an und hüpfte!

»Du Stinktier«, sagte der Bildhauer, »du Lump, du Schlitzohr.« Jeden Morgen dachte er sich etwas Neues aus.

Dann steckte er den Affen zum Schlafen unter die Decke und sorgte dafür, dass er genügend Luft bekam. Als der Affe zu schnarchen begann, konnte man sich der Seite mit den Kunstkritiken zuwenden. Er wusste, heute würden sie ihn niedermachen, aber in der Kritik lag diesmal eine Art herablassender Freundlichkeit, mit der er nicht gerechnet hatte. Man nahm wohl eine gewisse Rücksicht auf sein fortgeschrittenes Alter.

Ohne den Affen hätte er sich sofort und als Erstes über die Kunstkritiken hergemacht, aber so half der Kleine ihm, die Seite ganz en passant zu lesen wie irgendeine beliebige Zeitungsseite. »Schlaf nur, du Satansbraten«, sagte er, »du begreifst eh nichts, willst nur Eindruck schinden. Und zerstören.« Das stimmte, der Affe war genau wie all die anderen – der kleinste Riss, der winzigste Fleck oder Defekt genügte, und schon waren seine Finger da, um zu verschlimmern und zu zerfetzen, dem Affen entging nichts. Alles, was nur eine Andeutung von Schwäche zeigte, riss er sofort auf, um es zu zerpflücken. So ist das nun mal mit Affen, aber die wissen ja nichts, darum wird ihnen verziehen. Das Verhalten der anderen dagegen ist unverzeihlich.

Der Bildhauer ließ die Zeitung auf den Boden fallen und drehte sich zur Wand. Als er aufwachte, war es viel zu spät, und er stand mit dem üblichen unangenehmen Gefühl der Versäumnis auf. Er war sehr müde. Zuerst ließ er den Affen in den Käfig zurück. Dort saß das Tier dann regungslos in einer Ecke, sein Rücken im gestrickten Pulli sah sehr schmal aus.

Draußen brummte der Schwerverkehr, und der Aufzug lief pausenlos. Der Bildhauer wusch ein paar Lehmlappen aus und fegte den Boden. Auf geschliffenem Zement zu fegen ist leicht, ein langer Besen, der wie über Seide zwischen die Beine der Modellierböcke hineingleitet, dann alles in die Kehrschaufel und rein damit in den Eimer. Fegen, das machte er gern. Ein paarmal trat er aus alter Gewohnheit ans Fenster, aber dort konnte man nicht mehr hinausschauen, es war mit Plastikfolie abgedeckt, wegen des Lichts. Er fütterte den Affen. Ihm kam die Idee, das Bett frisch zu beziehen, dann überlegte er, ob er die Gipskiste in den Hof hinausschleppen sollte, verzichtete aber darauf und fegte noch ein wenig. Er sammelte alte Seifenstücke ein, die so klein geworden waren, dass sie sich nicht mehr gebrauchen ließen, legte sie in eine Dose und leerte Wasser darüber. Er befreite die Statuette von ihren feuchten Lappen, musterte sie, ließ die Drehscheibe eine halbe Drehung machen und drehte sie wieder zurück. Dann trat er an den Affenkäfig und sagte: »Du altes Aas, es ist zum Kotzen, wie hässlich du bist.« Der Affe schrie auffordernd und streckte die Hände durchs Gitter.

Schließlich rief er Savolainen an, legte aber den Hörer auf, bevor jemand antwortete. Eigentlich könnte man jetzt essen gehen, dann wäre das erledigt; er beschloss, den Affen mitzunehmen, damit der etwas Abwechslung hatte.

Aber der Affe wollte nicht, er schmiss sich nur zwischen den Käfigwänden hin und her. »Wie willst du’s jetzt haben?«, sagte der Bildhauer. »Willst du raus oder willst du in deinem Dreck hocken bleiben?« Er wartete. Schließlich kam der Affe heraus und hielt ganz still, während ihm der Pelz aus Katzenfell angezogen wurde. Als er ihm die Mütze unterm Kinn zuband, hob das Tier das Gesicht und sah ihn an, mit einem direkten, ausdruckslosen Blick aus gelben, eng zusammenstehenden Augen. Er sah weg, vom Ausdruck absoluter Gleichgültigkeit des regungslosen Tieres plötzlich unangenehm berührt. Sie gingen zusammen nach draußen, den Affen hatte er vorne in den Mantel gesteckt. Der Wind blies immer noch. Auf dem Platz standen die Kinder herum. Als sie ihn kommen sahen, rannten sie her und schrien: »Affe! Affe!« Da schoss der Affe hervor, raste am Halsriemen hin und her und kreischte sie an, die Kinder kreischten zurück und liefen bis zur Ecke hinterher. Dort biss er eines von ihnen, schnell und schmerzhaft. »Drecksaffe! Drecksaffe!«, johlten die Kinder. Der Bildhauer verschwand in die Kneipe, wo er den Affen auf den Boden hinunterließ.

»Der schon wieder!«, bemerkte der Türsteher. »Sie wissen doch, was letztes Mal los war. Tiere sind hier nicht gestattet.«

»Tiere?«, wiederholte der Bildhauer. »Meinen Sie damit Katzen und Hunde? Oder überhaupt alle, die sich hier irgendwie aufführen?«

Savolainen und die anderen saßen am Tisch und aßen.

»Affen«, bemerkte Savolainen, »sind für ihre Destruktivität bekannt.«

»Was redest du da?«

»Ihre Zerstörungswut. Sie machen alles kaputt.«

»Und für ihre Zärtlichkeit. Sie versuchen zu trösten.«

Lindholm grinste und sagte: »Ja, ja, das hast du heute natürlich nötig. Aber es hätte schlimmer sein können.«

Der Affe kauerte innerhalb des Mantels, der Bildhauer spürte, dass er die ganze Zeit zitterte.

»Schlimmer?«, rief Savolainen mit gespieltem Entsetzen aus. »Wie meinst du das, noch schlimmer?«

Der Bildhauer sagte: »Gib Ruhe, du Mistkerl«, und in die plötzliche Stille hinein: »Ich hab nur mit dem Affen hier geredet.«

»Hör mal«, sagte Pehrman, »diese Typen können einem doch egal sein, die sagen eben, was sie davon halten, was soll’s! Nur zu dumm, dass alle daran glauben, was die sagen. Danach ist man einfach out, ganz unten. Und sich dann wieder aufzurappeln, das ist scheißschwer.«

»Wenn man alt ist«, bemerkte Stenberg. »Was frisst der? Lehm? So sieht er jedenfalls aus. Wie nennst du ihn?«

»Verdammter Stinkstiefel«, antwortete der Bildhauer. »Saudummer Idiot.«

Plötzlich schoss der Affe auf den Tisch hinauf, warf Gläser um, biss Stenberg ins Ohr und flitzte schreiend zurück, um sich im Mantel zu verstecken.

»Zärtlichkeit«, sagte Lindholm »war das nicht deine Beschreibung? Ein äußerst zärtliches Tier.«

Der Bildhauer stand auf und erwiderte, ja, genau das seien seine Worte gewesen, und im Übrigen sage ihm die Speisekarte des Lokals nicht zu und er habe noch Dinge zu erledigen.

»Im Ritz läuft ein Tarzanfilm«, sagte der Türsteher. »Ich nehme an, da wollen Sie jetzt hin?«

»Natürlich«, antwortete der Bildhauer. »Sie sind erstaunlich intelligent.« Aus reiner Verachtung gab er ihm zu viel Trinkgeld. Der Wind hatte zugelegt. Sie durchquerten den Park, jetzt waren keine Kinder mehr da. Es lohnt sich nicht, dachte er, ich habe keine Lust mehr. Der Affe war völlig unbändig geworden. Sein Besitzer versuchte, es ihm innerhalb des Mantels warm zu machen, doch das Tier riss sich los und wäre fast von seinem eigenen Halsband erwürgt worden. Als es zu kreischen begann, befreite er es von der Leine. Einen Augenblick lang hielt es still, dann sprang es ihm mit einem Satz aus den Händen direkt in einen Baum hinauf, dort klammerte es sich wie eine verängstigte, kleine graue Ratte an den Stamm, heftig zitternd vor Kälte. Der lange Schwanz hing in Reichweite herab, der Bildhauer hätte den Affen erwischen können, aber er blieb einfach stehen und unternahm nichts. Da verschwand der Affe blitzschnell in den entlaubten Baum hinauf, dort hing er wie eine dunkle Frucht in den höchsten Zweigen. Der Bildhauer dachte: Na, du armer Teufel, du frierst, aber klettern, das tust du trotzdem.

DAS PUPPENHAUS

Alexander war ein Polsterer der alten Schule. Sein berufliches Können war sehr groß, und er besaß noch den natürlichen Stolz des Handwerkers auf die eigene Arbeit. Das, was er angefertigt hatte, besprach er nur mit Kunden, die Geschmack hatten und einen Sinn für die Schönheit der Ausführung und des Materials. Die übrigen verwies er an seine Angestellten, um seine Verachtung nicht zeigen zu müssen.

Die Werkstatt war alt, sie lag im Keller unter einer Treppe, die vom Gehweg hinunterführte, war aber recht geräumig. Sie hatten immer Arbeit. Alexander persönlich übernahm die Verantwortung für Ornamente aus Holz und komplizierte Polsterungen, einfachere Aufgaben überließ er den anderen. Es gab noch Leute, die auf handgeschnitzte Verzierungen Wert legten, zwar nur wenige, aber es gab sie. Diese Personen nahmen es zum Beispiel auch mit der Auswahl der Tapeten mitunter sehr genau. Alexander ließ ihnen Zeit. Was den richtigen Hintergrund für Stilmöbel betraf, konnte er lange, ausführliche Diskussionen führen. Ab und zu verließ er die Werkstatt, um Auktionen zu besuchen oder um durch die erstklassigen Antiquitätenläden der Stadt zu wandern, und wohin er auch kam, sei es, um etwas zu erwerben oder um seine Kritik schweigend zum Ausdruck zu bringen, war er ein angesehener Gast.

Die erlesensten Dinge fanden ihren Weg in seine eigene Wohnung, ein Ort, den nur sehr wenige hatten besuchen dürfen. Sie lag in einer ruhigen Straße im südlichen Teil der Stadt. Alexander teilte die Wohnung seit zwanzig Jahren mit seinem Freund Erik, der den schönen Dingen, die Alexander so kenntnisreich im Laufe der Zeit um sie beide angehäuft hatte, genauso große Achtung entgegenbrachte wie Alexander selbst.

Gelegentlich kam es vor, dass Alexander während der Arbeitszeit nur in der Werkstatt saß und las. Er las die Klassiker, unter anderem auch die französischen und deutschen, aber vor allem die russischen, deren Geduld und Schwere ihn verzauberte. Sie gaben ihm das Gefühl von der unerbittlichen Beständigkeit aller Dinge. Die breiten Brauen gerunzelt, der kurze, stämmige Körper Konzentration und selbst gewählte Einsamkeit ausdrückend, so saß er da und las während der Arbeitszeit, und niemand traute sich, ihn zu stören.

Als Alexander seine Werkstatt aufgab, verkaufte er sie klug und nach reiflicher Überlegung. Er nahm Warenproben verschiedenster Art mit nach Hause, Quasten, Troddeln und Posamente im alten Stil, außerdem Bücher mit Tapeten- und Ornamentikmustern. Das meiste war ziemlich überholt, besaß jedoch eine Schönheit, die nur wenige Menschen wahrnehmen konnten. Ungefähr gleichzeitig hörte Erik in der Bank auf und trat in den Ruhestand. Sie räumten Alexanders Warenproben in einen Schrank und tranken Champagner, um ihre neue Freiheit zu feiern.

Anfangs war es schwierig. Sie waren es nicht gewohnt, den ganzen Tag ohne Beschäftigung gemeinsam zu verbringen, das kam ihnen verkehrt vor. Erik bekam vom Fernsehen schmerzende Augen, und Alexander interessierte sich vor allem für russische Spielfilme. Sie legten sich eine Stereoanlage zu und testeten Kassetten und Platten, die sie vielleicht nur gekauft hatten, weil der Umschlag so schön war. Ihre Freunde Jani und Pekka gaben ihnen Tipps. Diese Musik bewunderten sie dann, aber sie gefiel ihnen nicht, jedenfalls nicht so sehr, dass sie sich danach gesehnt hätten, sie noch einmal anzuhören.

»Mach die Musik aus«, sagte Alexander. »Sie stört mich beim Lesen.« Aber eigentlich war ihm das Lesen nicht mehr so wichtig, möglicherweise hatten die Bücher ihn nur als gestohlene Kostbarkeiten während der Arbeitszeit fasziniert.

»Du blätterst ja gar nicht um«, bemerkte Erik. »Bist du wegen irgendwas traurig?« Er sprach immer mit derselben leisen Stimme, sanft und nachdenklich. Die starken Brillengläser reflektierten das Licht und verbargen den Ausdruck seiner Augen.

»Nein«, antwortete Alexander. »Ich bin nicht traurig. Kannst ruhig weiter Musik hören, wenn du Lust hast.«

»Nein«, sagte Erik. »Ich glaube, ich habe keine Lust.«

Erik war für die Pflege der Möbel zuständig, er polierte sie mit Bohnerwachs und fuhr dann jeden Morgen mit seinem Staubsauger über die Teppiche. Am besten waren die Morgenstunden. Alle Fenster wurden aufgerissen, und während sie ihren Kaffee tranken und die Zeitung teilten, dachte Erik sich schon den Lunch und das Abendessen aus, manchmal fragte er Alexander um Rat. Und Alexander lachte und sagte: »Das darfst du bestimmen, ich lasse mich überraschen. Ich bin noch nie enttäuscht worden.« Worauf Erik zum Laden an der Ecke ging oder zur etwas entfernter gelegenen Markthalle. Gelegentlich kamen Jani und Pekka zum Souper und hörten Musik. Doch dann waren da die langen Tage.

Irgendwann im September nahm Alexander das Puppenhaus in Angriff. Das heißt, er wusste noch nicht, dass es ein Puppenhaus werden würde. Er fertigte aus Mahagoni einen kleinen ovalen Tisch mit geschnitztem Fuß an und danach zwei viktorianische Stühle, die er mit rotem Samt bezog.

»So klein und trotzdem genau richtig. Ich begreife nicht, dass du das kannst. Aber eigentlich kennen wir ja keine Kinder.«

»Wie meinst du das?«, fragte Alexander.

»Ich meine, was willst du damit machen?«

»Ich mache es einfach«, antwortete Alexander. »Wie wäre es mit einem Tässchen Kaffee?«

Er machte einen Schrank mit Glastüren. Er fertigte eine Etagere mit geschnitzten Knäufen an. Der Wohnzimmertisch, auf dem er arbeitete, war mit Zeitungspapier bedeckt, und Erik fuhr ein paarmal täglich mit dem Staubsauger über die Teppiche. Schließlich vereinbarten sie, dass Alexander mit seinen Spielsachen in die Küche umziehen sollte. Jeden Morgen nach dem Frühstückskaffee im Wohnzimmer ging er direkt in die Küche und setzte dort seine Arbeit fort. Er baute ein gepolstertes Sofa und ein kleines Bett aus dünnen Messingröhrchen mit runden Knäufen, einen Moment lang dachte er, eigentlich hätte ich Erik die Matratze überlassen können. Aber Matratzen sind schwierige Dinge, die Präzision erfordern. Erik war in allem, was nicht mit Zahlen und Haushalt zu tun hatte, unpraktisch und ungeschickt. Darum sagte Alexander nichts und machte die Matratze selbst.

Mehr und mehr Möbel kamen dazu, sie wurden immer erlesener – Wohnzimmermöbel, Küchenmöbel, Verandamöbel und schließlich stilwidrige Möbel, die auf den Dachboden oder in irgendein Versteck im Treppenhaus gehörten. Alexander formte sie alle mit derselben liebevollen Sorgfalt. Dann begann er, Fenster zu fabrizieren. Französische Fenster, Dachfenster, üppig dekorierte Fenster nach karelischem Vorbild und nüchtern uninteressante Fenster, Fenster jeglicher Art. Und Türen. Vielfältig nuancierte oder ganz schlichte, Wildwest-Türen und klassische Eingangsportale.

Erik sagte: »Das mit den Möbeln kann ich ja verstehen, aber warum machst du Fenster und Türen? Die führen doch nirgends hin? Und warum kannst du nicht hinter dir aufräumen, wenn du fertig bist?«

»Weil ich eine Idee habe«, sagte Alexander. »Ich habe eine Idee!« Dann ließ er alles stehen und liegen, ging ins Wohnzimmer und legte Musik auf. »Schöne Musik«, sagte er, aber ohne zuzuhören.

»Mach das aus!«, rief Erik. Alexander machte die Musik aus und dachte weiter. Er stellte sich ein Haus vor, das vollendete Haus. Er entwarf aber keine Pläne, das Haus sollte nach Belieben wachsen dürfen, ein Zimmer nach dem anderen. Am Selbstverständlichsten wäre es, mit dem Keller anzufangen.

Alexander sammelte Material. Er fuhr zu einer stillgelegten Steinhauerei vor der Stadt und suchte schöne Splitter und Scherben für die Grundmauer aus, dann beschaffte er Baumaterial, Esche, Balsa und Fichte, und füllte das Spülbecken mit Flaschen und Dosen, die allerlei Klebstoffe, Lösungsmittel und Farben enthielten. Und er war immer mehr im Weg.

Erik bemerkte, die Küche sei schließlich kein Hobbyraum, ohne Arbeitsflächen sei es unmöglich, den Haushalt zu versorgen, und er habe keine Lust auf Sägemehl im Essen. Sie einigten sich darauf, die Küche mit einer Isolierscheibe, die fast bis zur Decke reichte, aufzuteilen. Das Fenster befand sich auf Eriks Seite, aber Alexander installierte starke Lampen in seinem Kabuff. Eine Hobelbank brachte er auch hinein. Der Küchenschrank, der auf seiner Seite stand, musste geleert werden, woraufhin alles Geschirr in der Küche auf improvisierte Regale gestapelt wurde. Dann widmete sich Alexander ausgiebig der Aufgabe, sein Werkzeug liebevoll im Küchenschrank zu arrangieren, jedes Teil leicht zugänglich und an seinem eigenen zweckdienlichen Platz. Nachdem er den Keller gebaut hatte, begann er mit dem Tischlerschuppen, einer Miniaturwerkstatt.

Mitten in die Wand, die ihre Küche durchtrennte, hatte Alexander ein kleines Fenster ausgesägt, durch das er ab und zu hinausschaute und sagte: »Und was gibt’s zum Lunch?« Oder Erik guckte durchs Fenster und fragte: »Was machst du jetzt gerade?« Alexander legte Erik dann vorsichtig den kleinsten Feinhobel der Welt in die Hand, der bewundert und kommentiert werden musste.

Der Tischlerschuppen wurde winzig klein, mit einer Dachschräge. Alexander hatte verwittertes Holz dazu genommen und sich besondere Mühe mit dem Fenster gegeben. Es sollte möglichst überzeugend verdreckt und gesprungen aussehen. Im Schuppen gab es einen Hackklotz, eine Hobelbank und sehr kleines Werkzeug, ein jedes bis ins winzigste Detail exakt. Noch nie zuvor hatte er sich so ruhig gefühlt. Die Stille tat ihm gut. Manchmal läutete das Telefon draußen in der Wohnung, wie aus einer anderen Welt.

Erik sagte: »Jani und Pekka haben angerufen. Eigentlich müssten wir sie irgendwann zum Abendessen einladen.«

»Ja, ja«, antwortete Alexander. »Wenn der Tischlerschuppen dann fertig ist.«

Er blieb oft bis tief in die Nacht wach, um weiterzuspielen, und machte nie den Fernseher an. Er aß immer viel zu schnell und verschwand danach umgehend wieder in seinem Kabuff. Erik kaufte neue Kassetten und ließ sie von Mal zu Mal lauter laufen. Wenn Alexander abends ins Schlafzimmer kam, war er abwesend und freundlich und schlief sofort ein. Frühmorgens war er sofort wieder voll im Gang, seinen Frühstückskaffee bekam er durch das Fenster.

»Wo bist du überhaupt?«, fragte Erik, als er die Kaffeetasse und die Brote übers Fensterbrett schob. Sein bekümmertes Gesicht mit der langen Nase war kaum sichtbar, und die Brillengläser verwandelten seine Augen in leere Spiegel.

»Was hast du gesagt?«, fragte Alexander.

»Wo bist du? Wo bist du in letzter Zeit?«

»In der zweiten Etage«, sagte Alexander. »Ich bin oben in der Küche. Die Sache mit der Bodenluke ist hochinteressant. Sie muss genau um die Kellertreppe passen.«

»Na klar«, sagte Erik.

»Was soll das heißen, na klar. – Mit dieser Stimme?«

Erik schwieg, dann sagte er: »Ach, nichts. Wie sieht sie eigentlich aus, diese Bodenluke?«

Alexander zeigte es ihm. Die Luke war mit winzig kleinen Scharnieren in den Küchenboden eingefügt, eine dünne Kette hinderte sie daran, aufzuklappen. Die Kellertreppe verschwand hinunter ins Dunkel, sie war minuziös eingearbeitet.

»Wie schön das ist«, sagte Erik. »Wie bist du eigentlich auf diese Idee mit der Puppenstube gekommen?«

Alexander antwortete sofort: »Das ist keine Puppenstube. Das soll ein Haus werden.«

»Für wen?«

»Einfach ein Haus. Beispielsweise für uns. Ich baue alles genau so, wie ich es haben möchte. Ich bestimme es. Die erste und zweite Etage liegen am Meer. Dann kommt das Wohnzimmer.«

»Und wo?«

Mit einem kurzen Lachen sagte Alexander: »Irgendwo in Deutschland. Das Dachgeschoss ist in Paris. Mal sehen.«

Erik schaute in die Küche hinein und bemerkte: »Eine Holzheizung.«

»Natürlich. Das ist dekorativ.«

»Um Himmels willen«, sagte Erik. »Eine Holzheizung, unvorstellbar! Das geht einfach nicht. Nicht, wenn man sich an eine moderne Küche gewöhnt hat.«

»Daran kannst du dich anpassen«, meinte Alexander.

Er fegte nie etwas zusammen. In der Werkstatt lagen Hobelspäne, Sägespäne und Steinstaub wie ein dickes Fell auf dem Fußboden, es gefiel ihm, in den weichen Untergrund zu steigen, den seine Arbeit geformt hatte, und ihn immer höher wachsen zu lassen. Das meiste schleppte er mit in die Wohnung hinaus, Erik musste die Teppiche mehrmals täglich staubsaugen.

Als das Küchendach gelegt war, kam Alexander der Gedanke an elektrische Beleuchtung. Das Haus müsste unbedingt Elektrizität bekommen. Also besorgte er Material, dünnen Kupferdraht, Lämpchen und Taschenlampenbatterien, und mühte sich lange mit den Leitungen in die erste und zweite Etage ab. Das klappte nicht so recht. Die Leitungen an der Innendecke mussten wieder abgenommen werden und dabei wurde die Treppe beschädigt. Erik fand, das Haus könnte doch ebenso gut von außen beleuchtet werden.

»Unmöglich«, sagte Alexander. »Dieses Haus muss leuchten, von innen heraus leben, begreifst du das nicht? Wir sind drinnen, und die anderen gehen außen vorbei. Aber diese Batterien werden ja im Handumdrehen leer. Oder mit den Anschlüssen stimmt etwas nicht.«

Schließlich rief er Jani an. Jani hatte einen Freund, der Elektriker war und Boy genannt wurde. Boy kam und schaute sich die Sache an. Er sagte: »Diese zusammengebastelte Installation kannst du vergessen, die klappt nie. Was du brauchst, ist ein Transformator im Erdgeschoss.« Dann erklärte er es detaillierter. Den ganzen Abend waren sie in ihr Elektrizitätswerk vertieft, und auch während des Abendessens planten sie die Beleuchtung.

»Das läuft dann wie geschmiert«, sagte Boy. »Du hast zwar gar nichts kapiert, aber ich werd’s dir erklären. Das krieg ich hin. Nur die Zwischendecke musst du wieder entfernen, wegen der Leitungen. Du kannst dein Geschäft, aber von Elektrizität hast du keine Ahnung.«

Boy kam fast jeden Abend, oft brachte er kleine Tischlämpchen mit, Lampetten und einen winzigen Kronleuchter, Sachen, die er in Hobbyläden und Spielwarenläden gefunden hatte. Er kam direkt von der Arbeit in seinen Jeans und trug Straßendreck auf die Teppiche, doch das schien Alexander nicht zu kümmern, er bewunderte nur die Sachen, die Boy mitgebracht hatte, und hörte sich Boys Vorschläge, wie man das Haus verbessern könnte, aufmerksam an.

»Eins musst du wissen«, erklärte Boy, »dieses Haus wird berühmt werden. Aber egal, was du dir noch alles ausdenkst, der absolute Hit, das wird die Beleuchtung! Vertrau mir.«

Boy war ein schmächtiger, kleiner Mann, dessen Bewegungen und Gesicht stark an ein Eichhörnchen erinnerten. Er lachte oft und zeigte dabei auffallend viel Zahnfleisch und klopfte ihnen freundlich auf den Rücken. Erik verabscheute es, auf den Rücken geklopft zu werden, vor allem von so einem Männlein mit viel zu hohen Absätzen. Wenn Boy kam, saßen sie zunächst ein Weilchen zu dritt im Wohnzimmer und unterhielten sich über Nichtigkeiten, so wie man sich eben unterhält, wenn man eigentlich gleich aufbrechen will, aber höflichkeitshalber noch ein paar Worte wechselt. Dann stand Alexander auf und sagte, jetzt sollten wir wohl allmählich anfangen, und verschwand mit Boy im Kabuff. Dort veränderte sich ihre Tonlage, wurde ruhiger und gedämpfter. Die Bemerkungen fielen mit längeren Abständen, während die beiden nachdenklich dastanden, in die Betrachtung irgendeines problematischen Details an ihrem Bau vertieft. Von der Elektrizität waren sie zu Fragen übergegangen, die mit den Stützbalken eines Erkers und der Konstruktion der Wendeltreppe zu tun hatten.

Erik bereitete in der Küche das Abendessen vor. Die Fensterluke zum Kabuff war heruntergeklappt, wegen des Holzstaubs, darum konnte er nicht unterscheiden, worüber sie sprachen, er hörte nur die Stimmen.

In dem sachlichen Austausch von Fragen und Vorschlägen lag ein ruhiges, vollkommenes Einvernehmen. Oft erinnerten diese undeutlich vernommenen, manchmal unterbrochenen Gespräche an Windstöße, die durch Laub fahren, langsamer werden und dann still, um plötzlich wieder aufzuleben. Ab und zu hörte er Boy lachen, so wie man lacht, wenn etwas zufriedenstellend geklappt hat.

Im Dezember war Alexander bis ins Wohnzimmer hinaufgelangt, er formte französische Fenster und füllte die komplizierten Bogenmuster der Scheiben mit farbigen Folien. Da kam Erik in die Werkstatt und sagte: »Also, dieser Keller da. Ich hab im Arzneischrank aufgeräumt und kleine Glasdöschen gefunden, die leer sind. In die könnte man Marmelade tun. Ich meine, irgendeine Masse, die man dann rot färbt. Und oben mit Papier schließen und dazu Etiketten.«

»Sehr schön!«, rief Alexander aus. »Ganz ausgezeichnet. Nimm Gips dafür. Ich zeige dir, wie man ihn anmischt.«

Erik musste sich mit der Spüle begnügen, um seine Marmeladengläser herzustellen. Das ging sehr gut, und immer, wenn eins fertig war und er das Etikett dazu geschrieben hatte, kam er ans Fenster, um es zu zeigen und gutheißen zu lassen. Schließlich sagte Alexander, jetzt sei es genug, und als die Marmeladengläser weiterhin ankamen, wurde er gereizt.

»Wir sind jetzt gerade an einer sehr komplizierten Sache«, sagte er. »Wir können uns nicht um Marmeladengläser kümmern. Warum denkst du dir nicht etwas anderes aus?«

Sofort verließ Erik die Küche und machte im Wohnzimmer den Fernseher an. Da lief ein Bericht über die Metallindustrie. Nach einer Weile kam Alexander und sagte, im Keller würden Äpfel fehlen. Aber nicht zu viele. Die könne man aus Ton machen, aber er solle aufpassen, dass der Ton nicht zu feucht und glitschig werde. Eriks Äpfel gerieten nicht besonders gut, seine Gurken, Bananen und Melonen auch nicht. Aber als sie angemalt und hinter die Kellertreppe gelegt wurden, wo sie nicht so deutlich zu sehen waren, war das nicht weiter schlimm.

Das Haus wuchs in die Höhe, inzwischen hatte es das Dachgeschoss erreicht und wurde immer fantastischer. Alexander war von dem, was er zu erschaffen versuchte, hingerissen, ja, annähernd besessen. Wenn er morgens aufwachte, war sein erster Gedanke ›Das Haus‹, er befand sich sofort mitten in der Lösung für eine Stützkonstruktion, eine komplizierte Treppe, eine Turmspitze. Noch nie hatte er sich so leicht und befreit gefühlt. Auch die nächtlichen Gedanken, die oft schwer von Ängsten oder Selbstvorwürfen gewesen waren, hatten sich verändert. Er musste nur die Augen schließen, sein Haus betreten und dafür sorgen, dass alles seine Ordnung hatte. Prüfend und mit aufs Äußerste geschärftem kritischen Urteilsvermögen bewegte er sich in Gedanken von Zimmer zu Zimmer, die Treppen hinauf, auf die Balkons hinaus, er prüfte jede Einzelheit und stellte fest, dass sie zufriedenstellend ausgeführt und das gesamte Ganze erstaunlich schön war. Er sah den Turm, der sich abschließend über sein Werk erheben und es triumphierend krönen würde. Irgendwann in der Nacht stand er auf, sehr leise, um Erik nicht zu wecken, schlich in die Küche hinaus und in sein Kabuff. Dort machte er eine Taschenlampe an, setzte sich auf den Küchenstuhl und schaute. Er ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe durch ein Fenster nach dem andern wandern, wie Mondschein oder der Strahl eines Leuchtturms. Alexander war von der Leidenschaft für das Vollendete gepackt. Die Gefahr des Perfektionismus, die Nähe zum Fanatismus bemerkte er nicht.

Erik durfte Fensterrahmen mit Sandpapier abschleifen und sie weiß anstreichen. Ein Mal versuchte er, im Treppenhaus ein Stück Wand zu tapezieren, doch das wurde faltig und musste wieder abgerissen werden.