Die Mumins (9). Herbst im Mumintal - Tove Jansson - E-Book

Die Mumins (9). Herbst im Mumintal E-Book

Tove Jansson

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Beschreibung

Es ist November, grau und regnerisch, und plötzlich halten sie es alle nicht mehr allein zu Hause aus: die ängstliche Filijonka, der übereifrige Hemul, der uralte Onkelschrompel und der scheue kleine Homsa. Sie alle sehnen sich nach der Wärme und Geborgenheit der Muminfamilie. Doch als sie im Mumintal ankommen, sind die Mumins ausgeflogen. Was nun? 

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Seitenzahl: 154

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Tove Jansson

HERBST IM MUMINTAL

Aus dem Schwedischen übersetzt von Birgitta Kicherer

Mit Bildern von Tove Jansson

Lies auch die anderen Abenteuer mit den Mumins von Tove Jansson: Die Mumins. Mumins lange Reise Die Mumins. Komet im Mumintal Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft Die Mumins. Muminvaters wildbewegte JugendDie Mumins. Sturm im Mumintal Die Mumins. Winter im Mumintal Die Mumins. Geschichten aus dem Mumintal Die Mumins. Mumins wundersame Inselabenteuer

 

 

 

 

 

 

 

 

Tove Jansson (1914–2001)ist über die Malerei zur Schriftstellerei gekommen. Für ihre in zahlreiche Sprachen übersetzten Bücher wurde sie mit vielen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit der Nils-Holgersson-Medaille und dem Hans-Christian-Andersen-Preis.

Für meinen Bruder Lasse

1. Auflage 2017 Die Originalausgabe erschien 1970 unter dem Titel »Sent i November«bei Schildts Förlags Ab, Esbo, Finnland © Tove Jansson, 1970, Moomin Characters™ © für die deutschsprachige Ausgabe: Arena Verlag GmbH, Würzburg 2006 Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer Alle Rechte vorbehalten Umschlag- und Innenillustrationen: Tove Jansson ISBN 978-3-401-80735-5

Besuche uns unter: www.arena-verlag.dewww.twitter.com/arenaverlagwww.facebook.com/arenaverlagfans

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Erstes Kapitel

Eines frühen Morgens im Mumintal wachte der Schnupferich in seinem Zelt auf und spürte, dass Herbst in der Luft lag, Herbst und Aufbruch.

Ein Aufbruch, das ist so etwas wie ein Sprung! Auf einmal ist alles verändert. Wer aufbrechen will, nützt jede Minute, hastig zieht er die Zeltpflöcke aus dem Boden und löscht die Glut, schnell, schnell, bevor er aufgehalten und ausgefragt wird; im Laufschritt streift er sich den Rucksack über, dann ist er endlich unterwegs und wird plötzlich ruhig wie ein wandernder Baum mit reglosen Blättern. Der Zeltplatz bleibt als leeres Rechteck aus vergilbtem Gras zurück. Und später am Morgen, wenn die Freunde aufwachen, werden sie sagen: »Er hat sich auf den Weg gemacht, es wird Herbst.«

Mit ruhigen, weichen Schritten ging der Schnupferich auf den Waldrand zu. Dann umfing ihn der Wald und es begann zu regnen. Es regnete auf seinen grünen Hut und auf seinen Regenmantel, der ebenfalls grün war. Ringsum hörte er es tropfen und flüstern und der Wald hüllte ihn ein in sanfte, köstliche Einsamkeit.

Entlang der Küste gab es viele Täler. In feierlich geschwungenen Bögen folgten die Berge dem Meer und bildeten Landzungen und Buchten, die tief ins wilde Hinterland einschnitten. In einem dieser Täler wohnte eine Filifjonka ganz für sich allein. Der Schnupferich hatte schon viele Filifjonkas kennengelernt und wusste, dass ihr Tun von eigenen schwierigen Gesetzen bestimmt war. Wenn er am Haus einer Filifjonka vorbeiging, waren seine Schritte immer ganz besonders lautlos.

Der Zaun der Filifjonka bestand aus geraden, oben zugespitzten Latten, das Tor war verschlossen und der Garten leer. Die Wäscheleine war abgenommen, der Holzstapel verschwunden. Keine Hängematte, keine Gartenmöbel. Nirgends eine Spur von diesem liebenswerten Durcheinander, das eigentlich zu einem Sommerhaus gehört – ein Rechen und ein Eimer, ein vergessener Hut, die Milchschüssel für die Katze und die vielen anderen zufälligen Dinge, die auf den nächsten Morgen warten und zeigen, dass das Haus offen und bewohnt ist.

Der Herbst stand vor der Tür, das wusste die Filifjonka, und sie hatte alles verriegelt. Ihr Haus wirkte verschlossen und leer. Aber drinnen, hinter den hohen, undurchdringlichen Hauswänden und hinter der Mauer aus Tannen, die sämtliche Fenster verbarg, war sie da.

Der ruhige Übergang vom Herbst zum Winter ist keine schlechte Zeit. Man verwahrt und sichert sein Hab und Gut und legt möglichst große Vorräte an. Man sammelt, was man an Wärme und Gedanken hat, und gräbt sich eine sichere Höhle, einen Kern aus Geborgenheit, wo man alles, was einem gehört und wichtig und kostbar ist, gut hütet. Dann können Kälte, Stürme und Finsternis ruhig kommen und auf der Suche nach Einlass über die Wände tasten. Sie werden keinen finden, weil alles verriegelt ist. Und wer Vorsorge getroffen hat, sitzt drin und lacht in seiner Wärme und seiner Einsamkeit.

Manche bleiben und manche brechen auf, so ist es immer gewesen. Jeder hat die Wahl, muss seine Wahl jedoch zur rechten Zeit treffen und darf sie niemals bereuen.

Die Filifjonka begann, hinterm Haus Teppiche zu klopfen. Taktfest ging sie wie eine Wilde auf die Teppiche los und ein jeder konnte hören, wie gern sie Teppiche klopfte. Der Schnupferich ging weiter, er steckte sich seine Pfeife an und dachte: Inzwischen sind sie im Mumintal aufgewacht. Der Muminvater zieht die Uhr auf und klopft ans Barometer. Die Muminmutter macht Feuer im Herd. Mumin tritt auf die Veranda und sieht, dass der Zeltplatz leer ist. Er guckt in den Briefkasten neben der Brücke, und der ist auch leer. Ich hab den Abschiedsbrief vergessen, hab es allzu eilig gehabt. Aber alle meine Briefe sind eh immer gleich. Komme im April zurück, lass dir’s gut gehn. Mache mich auf den Weg, bin im Frühling wieder da, pass auf dich auf. Mumin weiß ja Bescheid.

Und damit vergaß der Schnupferich seinen Freund Mumin vorläufig erst mal.

Als es dämmerte, erreichte er eine lang gestreckte Bucht, die in immerwährendem Schatten zwischen den Bergen lag. Weit hinten in der Bucht leuchteten vereinzelte Lichter, dort schmiegten sich mehrere Häusereng aneinander. Niemand war draußen im Regen unterwegs.

Hier wohnten der Hemul, die Mymla und die Gafsa. Unter jedem Dach wohnte jemand, der sich zum Bleiben entschlossen hatte, lauter Leute, die sich gern im Haus aufhielten. Der Schnupferich schlich an den Hinterhöfen entlang, glitt leise durch die Schatten und wollte mit niemandem sprechen. Kleine und große Häuser, alle dicht beieinander. Manche waren zusammengebaut und hatten gemeinsame Regenrinnen und Mülltonnen. Die Bewohner konnten sich gegenseitig in die Fenster gucken und sogar riechen, was die Nachbarn kochten. Schornsteine, hohe Giebel und Brunnenschwengel, weiter unten ausgetretene Wege von Tür zu Tür.

Der Schnupferich lief rasch und lautlos vorbei und dachte: Ach, ihr Häuser, ich finde euch einfach grässlich.

Inzwischen war es fast dunkel. Das Boot des Hemuls lag unter den Erlen am Ufer, mit einer grauen Persenning zugedeckt. Etwas weiter oben lagen der Mast, die Riemen und das Ruder. Im Laufe vieler Sommer waren sie schwarz und rissig geworden, benutzt worden waren sie jedoch nie. Der Schnupferich schüttelte sich und ging weiter.

Aber der kleine Homsa im Boot des Hemuls hörte die Schritte des Schnupferichs und hielt den Atem an. Die Schritte entfernten sich, jetzt war es wieder still, nur der Regen fiel noch auf die Persenning.

Das allerletzte Haus lag etwas abseits unterhalb der grünen Wand des Tannenwalds, hier fing die wirkliche Wildnis an. Der Schnupferich ging schneller, auf den Wald zu. Da glitt im letzten Haus ein Türspalt auf und eine sehr alte Stimme rief: »Wohin gehst du?«

»Ich weiß nicht«, antwortete der Schnupferich.

Die Tür schloss sich wieder und der Schnupferich betrat seinen Wald. Vor ihm lagen Hunderte von Meilen voller Stille.

Zweites Kapitel

Die Zeit verging und der Regen fiel. Noch nie hatte es im Herbst so viel geregnet. Das viele Wasser, das über Hügel und Berge herabströmte, verwandelte die Täler in Sümpfe und die Pflanzen verfaulten, statt zu welken. Der Sommer lag unendlich weit zurück. Es war, als hätte es ihn nie gegeben. Der Weg von Haus zu Haus wurde endlos und ein jeder verkroch sich in seinen vier Wänden.

Vorn im Bug des Bootes, das dem Hemul gehörte, wohnte der kleine Homsa, Toft genannt. Niemand wusste, dass er dort wohnte. Nur einmal im Jahr, wenn es aufs Frühjahr zuging, wurde die Persenning abgenommen, dann kam jemand, um das Boot zu teeren und die schlimmsten Risse abzudichten. Danach wurde die Persenning erneut über das Boot gezogen und dann lag das Boot wieder da und wartete. Der Hemul war immer viel zu beschäftigt, um sich aufs Meer hinauszubegeben. Außerdem konnte er nicht segeln.

Der Teergeruch gefiel dem Homsa Toft. Er achtete immer sehr darauf, dass es dort, wo er wohnte, gut roch. Die Taurolle, die ihn fest umarmt hielt, und das ständige Geräusch des Regens waren ihm lieb und vertraut. In den langen Herbstnächten kam ihm sein eigener großer, weiter Mantel sehr zupass.

Abends, wenn alle nach Hause gegangen waren und in der Bucht Stille herrschte, pflegte der Homsa sich selbst eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte handelte von der glücklichen Familie. Er erzählte so lange, bis er einschlief, und am nächsten Abend setzte er die Geschichte fort oder fing wieder von vorn an.

Meistens begann der Homsa damit, dass er das glückliche Mumintal beschrieb. Er ging langsam die Hänge hinab, lief durch dunklen Nadelwald und sehr helle Birkenwäldchen. Es wurde wärmer. Er versuchte zu beschreiben, was er empfand, als das Tal sich öffnete und ein grüner wilder Garten vor ihm lag, ein von Sonne durchfluteter Garten, in dem grünes Laub in der Sommerbrise schaukelte. Ringsum grünes Gras, das ihm bis über den Kopf reichte, die Sonnenflecken im Gras, das Summen der Hummeln, es roch gut und er ging langsam weiter, bis er den Fluss rauschen hörte.

Es war wichtig, dass keine noch so winzige Einzelheit verändert wurde: Einmal hatte er einen Pavillon neben den Fluss gesetzt. Das war verkehrt gewesen. Außer der Brücke und dem Briefkasten gehörte dort nichts hin. Dann kamen die Fliederbüsche und der Holzplatz des Muminvaters, beide mit ihrem speziellen Duft nach Geborgenheit und Sommer.

Es war sehr still und ziemlich früh am Morgen. Jetzt konnte Toft die Gartenkugel aus blauem Glas sehen, die hinten im Garten auf ihrer Säule lag. Die Glaskugel gehörte dem Muminvater und war das Schönste im ganzen Tal. Es war eine Zauberkugel.

Das hohe Gras war voller Blumen. Der Homsa beschrieb sie alle. Er erzählte von den geharkten Gartenwegen, die säuberlich mit Muscheln und kleineren Goldklümpchen eingefasst waren, und hielt sich eine Weile bei den Sonnenflecken auf, die ihm ganz besonders lieb waren. Er ließ den Wind hoch über das Tal einhersausen und durch den Wald auf den Hängen brausen und schließlich verstummen, damit die Stille wieder vollkommen wurde.

Die Apfelbäume blühten. Der Homsa versah ein paar Bäume mit Äpfeln, nahm sie dann aber wieder weg. Er hängte die Hängematte auf und streute gelbe Sägespäne vor den Holzschuppen. Inzwischen war das Haus schon ganz nah. Dort lag das Beet mit den Pfingstrosen, jetzt kam die Veranda … Die Veranda badete in der Morgensonne und sah genauso aus, wie der Homsa sie sich vorgestellt hatte: das Geländer mit dem Laubsägemuster, das Geißblatt, der Schaukelstuhl, einfach alles …

Der Homsa Toft erlaubte es sich nie, das Haus zu betreten, sondern wartete draußen. Er wartete darauf, dass die Muminmutter auf die Treppe heraustrat.

Leider schlief er an dieser Stelle immer ein. Nur ein einziges Mal war ihre Schnauze kurz in der Türöffnung aufgetaucht, eine runde, freundliche Schnauze, ja, die ganze Muminmutter war rund, so, wie Mütter es sein sollen.

Jetzt wanderte Toft erneut durch das Tal. Viele Hundert Male war er denselben Weg gegangen und mit jeder Wiederholung war die Spannung gestiegen. Plötzlich strich ein grauer Nebel über die Landschaft, sie wurde weggewischt. Hinter seinen geschlossenen Lidern sah er nur Dunkelheit und hörte nur noch den endlosen Herbstregen auf der Persenning. Der Homsa versuchte zurückzukehren, doch das ging nicht.

Das war im Laufe der letzten Woche immer wieder passiert und jedes Mal war der Nebel ein bisschen früher aufgetaucht. Gestern war es beim Holzschuppen neblig geworden, heute wurde es bereits vor den Fliederbüschen dunkel. Der Homsa Toft verkroch sich noch tiefer in seinen Mantel und dachte: Morgen schaffe ich es vielleicht nicht einmal bis zum Fluss. Ich kann nicht mehr so erzählen, dass das Tal sichtbar wird, alles läuft rückwärts.

Der Homsa schlief ein Weilchen. Als er in der Dunkelheit aufwachte, wusste er, was er zu tun hatte. Er würde das Boot des Hemuls verlassen, den Weg ins Tal suchen, die Veranda betreten, die Tür öffnen und sagen, wer er war. Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, schlief der Homsa Toft wieder ein. Er schlief die ganze Nacht fest und ohne Träume.

Drittes Kapitel

An einem Donnerstag im November hörte der Regen auf, worauf die Filifjonka beschloss, im Dachgeschoss die Fenster zu putzen. Sie wärmte Wasser auf dem Herd und gab ein bisschen Seife dazu, nicht zu viel, dann trug sie die Schüssel nach oben, stellte sie auf einen Schemel und öffnete das Fenster. Im selben Moment löste sich etwas vom Fensterrahmen und fiel neben ihre Pfote. Es sah aus wie ein kleiner Wattebausch, doch die Filifjonka wusste sofort, was es war. Es war eine verpuppte Raupe, in der Hülle befand sich ein bleicher weißer Wurm. Die Filifjonka erschauerte und zog die Pfoten zurück. Wohin sie auch ging, was sie auch tat, immer stieß sie auf etwas Kriechendes und Krabbelndes, es war einfach überall! Sie nahm ihren Putzlappen, mit einer hastigen Bewegung fegte sie die Raupe hinaus und sah sie übers Dach rollen, über die Dachkante hüpfen und verschwinden.

»Ekelhaft«, flüsterte die Filifjonka und schüttelte ihren Lappen aus. Sie nahm die Schüssel und kletterte durchs Fenster, um die Scheiben von außen zu putzen.

Die Füße der Filifjonka steckten in Filzpantoffeln. Kaum hatte sie das steile, nasse Dach betreten, glitt sie auch schon rückwärts nach unten. Das ging so schnell, dass sie gar nicht erst dazu kam, Angst zu haben. Ihr magerer Körper warf sich blitzschnell nach vorn und glitt eine atemlose Sekunde lang bäuchlings abwärts, bis ihre Pantoffeln gegen die Dachkante stießen, und dann lag sie da. Und nun kam die Angst! Die Angst kroch durch die Filifjonka nach oben und blieb ihr wie Tintengeschmack im Hals stecken. Sie schloss die Augen, sah aber dennoch den tief unten liegenden Erdboden. Vor Schreck und Überraschung war sie so erstarrt, dass sie nicht einmal schreien konnte.

Übrigens gab es niemanden, der ihre Schreie gehört hätte. Die Filifjonka war nämlich endlich ihre ganze Verwandtschaft und alle lästigen Bekannten losgeworden. Sie hatte alle Zeit der Welt, um ihr Haus und ihre Einsamkeit zu pflegen, alle Zeit der Welt, um mutterseelenallein von ihrem Dach zu fallen und inmitten von grässlichen Käfern und unbeschreiblichen Raupen im Garten zu landen.

Die Filifjonka tastete ängstlich mit den Pfoten über das nasse Blech, um nach oben zu kriechen, dann glitt sie wieder zurück und alles war wie zuvor. Das offene Fenster schlug im Wind, der Garten rauschte, die Zeit verging. Ein paar Regentropfen prallten aufs Dach.

Da erinnerte sie sich an den Blitzableiter, der hinterm Haus zum Dachgeschoss hinauflief. Sehr, sehr langsam begann sie, die Dachkante entlangzurutschen, erst mit dem einen Fuß, dann mit dem andern; die Augen fest geschlossen, den Bauch ans Dach gepresst, so kroch die Filifjonka um ihr großes Haus und immerzu musste sie daran denken, wie leicht ihr schwindelig wurde, und daran, wie schlimm es ist, wenn der Schwindel einen überfällt. Jetzt fühlte sie den Blitzableiter unter der Pfote, sie packte ihn krampfhaft und zog sich sachte, mit fest zusammengekniffenen Augen, ins zweite Stockwerk hinauf und auf der ganzen Welt gab es nichts als einen dünnen Faden und eine Filifjonka, die daran hing.

Sie erwischte den schmalen Sims, der ums Dachgeschoss lief, kroch hinauf und blieb regungslos liegen. Langsam erhob sie sich auf alle viere und wartete, bis ihre Beine nicht mehr zitterten. Zentimeter um Zentimeter bewegte sie sich weiter, immer mit dem Gesicht zur Wand. Ein Fenster nach dem andern, alle geschlossen. Ihre Schnauze war zu lang, war im Weg, ihr Haar fiel ihr in die Augen und kitzelte ihre Schnauze. Ich darf nicht niesen, dann verlier ich das Gleichgewicht … Ich darf nicht runterschauen, darf nicht denken. Der eine Pantoffel ist hinten an der Ferse umgeklappt, niemand fragt nach mir, mein Korsett hat sich irgendwo verhakt, alles ist ganz entsetzlich und jeden Moment kann …

Jetzt setzte der Regen wieder ein. Die Filifjonka öffnete die Augen und erblickte schräg hinter der Schulter das abschüssige Dach, sah die Kante weiter unten, stellte sich den Fall durchs Nichts vor und ihre Beine fingen wieder an zu zittern. Die ganze Welt begann, sich zu drehen, das war der Schwindel! Der Schwindel sog sie nach außen, weg von der Wand; die Kante, auf der sie stand, wurde schmal und dünn wie eine Sichel und eine endlose Sekunde lang stürzte sie durch ihr ganzes Filifjonka-Leben. Sehr langsam kippte sie nach außen, weg von der sicheren Kante, auf den unerbittlichen Fallwinkel zu, verharrte dort eine Ewigkeit lang – und sank wieder zurück.

Inzwischen war sie keine Filifjonka mehr, sondern nur noch etwas, das sich so platt wie möglich machte und weiterzurutschen versuchte. Da war das Fenster. Der Wind hatte es fest zugeschlagen. Der Fensterrahmen war glatt und leer, da gab es nichts, das man hätte packen und aufziehen können, nicht den kleinsten Nagel. Die Filifjonka versuchte es mit einer Haarnadel, doch die verbog sich. Hinter den Scheiben sah sie die Schüssel mit dem Seifenwasser und den Putzlappen, ein alltägliches Bild, ruhig und unberührt, eine unerreichbare Welt.

Der Lappen! Er war im Fensterrahmen eingeklemmt … Das Herz der Filifjonka begann zu pochen. Ein kleiner Zipfel hing heraus, sie griff danach, behutsam, vorsichtig, zog sachte daran … Bitte, lass ihn halten, bitte, mach, dass es der schöne, neue Lappen ist und nicht der alte … Ich will auch nie mehr alte Lappen sammeln, ich will nie mehr irgendwas sammeln, ich will verschwenderisch sein, ich will nie mehr sauber machen, ich mache viel zu viel sauber, ich bin pedantisch … Ich will etwas ganz anderes werden als eine Filifjonka …

Das alles dachte die Filifjonka, flehentlich und hoffnungslos, denn eine Filifjonka kann natürlich nie etwas anderes werden als eine Filifjonka.

Und der Lappen hielt. Langsam öffnete sich das Fenster, der Wind packte es und schlug es weit auf, worauf die Filifjonka sich kopfüber in die Sicherheit des Zimmers stürzte. Dort blieb sie auf dem Boden liegen und spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Ihr war schrecklich übel.

Über ihr schaukelte die Deckenlampe im Wind, alle Troddeln wippten in regelmäßigen Abständen, eine jede mit einer kleinen Perle am Ende. Die Filifjonka betrachtete sie aufmerksam und staunte über diese kleinen Troddeln, die sie bisher nie wahrgenommen hatte. Und bisher hatte sie auch noch nie bemerkt, dass der Lampenschirm aus roter Seide war, eine sehr schöne rote Farbe, die an Sonnenuntergang erinnerte. Auch der Haken an der Decke hatte eine neue, ungewöhnliche Form.