Das Rad der Zeit ... ein Stück Ewigkeit - Thorsten E. Meier - E-Book

Das Rad der Zeit ... ein Stück Ewigkeit E-Book

Thorsten E. Meier

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Beschreibung

Hinter uns liegen schwere Wochen und Monate und wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Ein Virus beherrscht die Welt, ein Krieg bricht aus, den es nie hätte geben dürfen. Wer hätte noch vor wenigen Jahren gedacht, dass es so etwas je geben würde?! Sind viele von uns bislang unbeschwert durchs Leben gegangen, so haben wir seit Ausbruch der Pandemie und des Krieges in der Ukraine feststellen müssen, dass wir manchen Dingen fast hilflos ausgeliefert sind. Die Geschichten in diesem Buch berichten von tragischen Schicksalen, aber auch von Hoffnung und Zuversicht. Sie können Trost spenden in schweren Stunden, zum Nach- und vielleicht sogar zum Umdenken anregen. Sie erzählen von der Vergangenheit, der Gegenwart ... und einer guten Zukunft.

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Das Rad der Zeit ... ein Stück Ewigkeit

Thorsten E. Meier (Hrsg.)

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Impressum

Impressum:

Besuchen Sie uns im Internet:

www.herzsprung-verlag.de

Herausgegeben von CAT creativ - www.cat-creativ.at

Lektorat und Gestaltung

im Auftrag von

© 2022 – Herzsprung-Verlag

Mühlstraße 10 – 88085 Langenargen

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Erstauflage 2022

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Cover gestaltet von Papierfresserchens MTM-Verlag mit einem Bild von © hacohob - Adobe Stock lizenziert.

ISBN: 978-3-99051-085-8 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-99051-102-2 - E-Book

*

Inhalt

Kartenhaus

Die vier Elemente zur Lage der Menschheit

Rand

Die Erde brennt

Corona 2021

Fliegende Blätter

Telefonanrufe

Vorbei oder BPS

Der Hundertjährige

Rota Temporis

Am Ende des Maskenballs

Corona-Blues

Neustart

Herbstblues

Habt ihr mich vergessen?!

Die Therapie

Parkinson

In unserer Straße ...

Der Tag, der mein Leben veränderte

Mir wird schwindelig vom Drehen am Rad der Zeit

Es war einmal ...

Erinnerungen meiner Kindheit

Kreise

Wusste nicht genau, was dann geschah

Gespalten

Traum der realen Welt

Fahrstuhl der Zeiten

Herzschlag

Ein neues Leben

Erschreckend

Das letzte Leben, das ich habe

Corona-Zyklus

In Vergessenheit

Das Lied der Amsel

Wenn zwei Welten aufeinanderprallen …

Die Waschbärenbande

Dr. Diary hilft: Erinnerungen an Robert

Das Jahr, das es nicht gab

Charly

Wenn ein Leben verlischt

Vielleicht

Die Erde ist ein Planspiel von den Kreationisten der Zeit

Kuck mal!

Meilensteine im Möbelhaus

Carpe diem

Raus aus der Warteschlange, hinein ins Glück

Die Dämonen in dir

Hikikomori

Die Zeitdiebe

Die Uhrzeit

Der Faden der Ewigkeit

der beschützer als angreifer

Schicksalsschlag

Als das Lachen starb

selbsttäuschende gewissheitwettter

Wenn die Dunkelheit hereinbricht

Oha!

Bundeswehr

Johannas Kampf

Eine entscheidende Wende

Aussichtslose Lage

Miss you

Debatte

#stayhome

Reanimation

Millis Mutter

Die Zeit der Einsamkeit

Die Leiter des Lebens

Die Gefährten und der Fährmann

kriegsbeute

Die Taufe

Emotionen

Wolkengucker

Unser Buchtipp

*

Kartenhaus

Der Moment zerbricht.

Das Schicksal

wirft die Karten

auf den Tisch.

Verzweifelt schreit

die Vernunft.

Eisige Stille

im Spiegel

der Emotionen.

Akzeptanz verteilt

die Karten neu.

Umarme deine Seele

und stelle

dein Kartenhaus

wieder auf,

damit es in anderer

Landschaft

erstrahlen kann.

Kathleen Scholz:1976 im südöstlichsten Zipfel Deutschlands geboren, hat sie ihr Lebensweg 2009 nach Bad Berleburg geführt. Dort, wo sich Wisent und Hase „Gute Nacht“ sagen, lebt die Autorin und Erzieherin mit ihrer Familie. Als Grundschulbetreuerin half sie ihren Schützlingen, selbst Texte für die Schülerzeitung zu verfassen. Leidenschaftlich gern schreibt sie bunte Alltagsgeschichten für Kinder und berührende Gedichte zum Beispiel für das Schreiber-Netzwerk.

*

Die vier Elemente zur Lage der Menschheit

Mit vier Weingläsern in der linken und einer Karaffe Rotwein in der rechten Hand tritt Florian Feuer in den Raum. „Kolleginnen, Kollege“, nickt er zur Begrüßung in die Runde, „seid herzlich willkommen.“ Nach einem sanften Tritt mit der Ferse des rechten Fußes fällt die Türe ins Schloss. Er stellt den Wein und die Gläser auf den großen Eichentisch und sagt: „Ich denke, es ist in Ordnung, wenn wir das Essen nach unserer Besprechung auf der Veranda einnehmen.“

Die Runde nickt zustimmend.

„Dankeschön, Kollege Feuer“, bedankt sich Anemoi Luft stellvertretend, hustet und stützt sich auf einen der mit Schnitzereien verzierten und mit Leder bezogenen Sessel. Schwer atmend nestelt sie ein Inhalationsspray aus der Handtasche und führt es zu Mund.

Zaghaft klopft ihr Apollinaris Wasser auf den Rücken. „Kollegin Luft, geht es?“, fragt er besorgt und stellt an die beiden anderen gewandt fest: „Es ist höchste, allerhöchste Zeit, dass unsere Konferenz der Elemente endlich stattfindet. Wenn wir die Menschheit so weiter wursteln lassen, stellt es ihr und uns über kurz oder lang definitiv die Luft ab.“

Mara Erde nickt. „Mir geht es auch echt misslich“, sagt sie, „die Leute sind maßlos. Was nicht zubetoniert wird, wird verschachert.“

Feuer schenkt Wein in sein Glas, kostet und nickt. „Ganz köstlich“, sagt er, füllt auch die Gläser der Gäste und lädt zum Platznehmen ein. Er hebt sein Glas. „Prosit.“

Die anderen tun es ihm gleich.

Zum Wohl – chin-chin – Gesundheit.

„Dann los. Beginnen wir. Das Wort ist frei.“

Wasser meldet sich als Erster: „Das kann man laut sagen, Mara. Ich fühle mich ebenfalls miserabel. Pestizide im Trinkwasser sind alltäglich geworden. Wie die riesigen Plastikinseln auf den Weltmeeren.“

Luft: „Es ist traurig, aber wahr, Handlungsbedarf ist mehr als gegeben. Aber richtig, nicht so ein Wischiwaschi-Zeug, wie rund um den Erdball debattiert wird und für das lauthals auf den Straßen Fahnen geschwungen werden.“

„Bescheuert ist das. Befeuert von der irrigen Idee, den Tiger reiten zu können“, meldet sich Erde zu Wort.

Eine angeregte Diskussion kommt in die Gänge. Man ist sich einig.

„Nein, es braucht wieder einmal Nägel mit Köpfen“, bringt Wasser den Diskurs auf den Punkt.

Für Luft ist es klar: „Ein Schuss vor den Bug genügt längst nicht mehr.“

„Gibt es Vorschläge, was wir tun könnten?“, fordert Erde Konkretes.

„He, he“, macht Wasser einen ersten Vorschlag, „man könnte wieder einmal Feuer vom Himmel regnen lassen. Das Inferno von Sodom und Gomorrha liegt ja schon einige Zeit zurück.“ Er stupst Feuer mit dem rechten Ellenbogen an und sagt: „Was denkst du?“

Feuer: „Wie gerne würde ich … aber der Sache zuliebe … eher nicht ... bei den Waldbränden der letzten Zeit zeigte sich die Untauglichkeit dieser Maßnahme. Es erwischte voll die Falschen. Flora und Fauna. Und die, die etwas lernen sollten, kommen mit dem Schrecken davon.“

Luft belustigt: „Und die Versicherungen kommen für den Schaden auf.“

Erde in die Runde schauend: „Dann lieber Wasser? Wie bei Noah in der Bibel – oder Nuh, wie er im Koran genannt wird – und seiner Arche?“

Wasser: „Jeep! War das eine Aktion. Radikal.“

Feuer mahnt: „Das waren doch krasse Rundumschläge. Ich denke, es braucht etwas Subtileres. Das babylonische Sprachgewirr finde ich ein gutes Beispiel. Der Turmbau zu Babel als ein Versuch der Menschen, Gott gleich zu werden. Und – wie intervenierte dieser? Nicht, indem er den im Entstehen begriffenen Turm mit brachialer Gewalt zusammenhämmerte. Nein, er setzte dem Tun ein Ende, indem er von einer Sekunde auf die andere alle eine andere Sprache sprechen ließ. Diese Verwirrung der Sprachen setzte jeglicher Kommunikation und damit auch der Fertigstellung des Turms ein Ende.“

„Ein cleverer Schachzug“, nickt Erde anerkennend. „So etwas wäre auch heute gut. Aber was, wie …?“

Feuer: „Zum Beispiel etwas Medizinisches? Man könnte einmal den umgekehrten Weg gehen. Statt Prozeduren und Heilmittel zu entwickeln, welche zur Gesundung von Mensch und Tier führen, könnte man etwas Krankmachendes in die Welt setzen. Zum Beispiel ein Virus, ein Bakterium oder sonst einen Käfer, der in der Lage ist, eine Pandemie auszulösen.“

Hmm – Schulterzucken – Werweißen.

„Ist das ethisch vertretbar?“, äußert Erde Zweifel.

Luft fällt ihr ins Wort: „Was sollen jetzt diese Spitzfindigkeiten? Ist etwa das Verhalten der Menschen vertretbar? Wer schert sich von denen um Ethik?“

„Wenn der Zapfen einmal ab ist, ist er ab“, gibt ihr Feuer recht.

Erde widerspricht: „Auf die Gefahr hin, dass es auch hier die Falschen trifft?“

„Was heißt denn da die Falschen?“ Luft winkt entnervt ab. „Diese Frage ersparen wir uns. Ob man etwas tut oder nicht tut, alles hat irgendwo und irgendwie Konsequenzen. Ohne Kollateralschäden geht es nie ab. Nur trifft es einmal diese und einmal jene.“

„Pah“, gibt Erde nicht klein bei. „Hat überhaupt jemand eine Vorstellung, wie das konkret von sich gehen soll?“

„Vielleicht“, schmunzelt Wasser, „so wie Georg Kreisler1 es in einem seiner makabren Lieder prophezeit hat.“ Er beginnt zu singen: „Wie schön wär mein Wien ohne Wiener, wie ein Hauch, der im All balanciert. Vielleicht gibt’s wo a fesche Angina, die ein Wohltäter hinexportiert. Lala, lalala lalala …“

„Hör doch mit diesem Schmarren auf“, unterbricht sie Wasser genervt, „so etwas …“

„Wer weiß“, grinst Feuer: „Ich habe mir erlaubt, etwas vorzusorgen. Äskulap kommt gleich. Mit ihm können wir einmal darüber sprechen.“

„Äskulap, der griechische Gott der Heilkunde?“

Feuer: „Ja, jemand Kompetenteren gibt es nicht.“ Er steht auf, stellt ein fünftes Glas mit Wein auf den Tisch und kehrt in Begleitung des Gastes zurück.

„Kalimera“, grüßt dieser, fasst das Weinglas und hebt dieses. „Da haben Sie sich aber etwas vorgenommen.“

Feuer: „Schon, aber die Lage ist auch ernst.“

Luft, erneut hustend, sich räuspernd und auf die Brust klopfend: „Das Wasser steht uns bis zum Halse.“

Äskulap nickt. „Ich teile ihre Sorgen. Und zur von Ihnen angedachten Strategie kann ich Sie nur beglückwünschen.“

Er räuspert sich. „Viren und Bakterien sind sehr leistungsfähig. Das erste Mal 3500 vor Christus. Da suchte die Pest zwischen der Iberischen Halbinsel im Westen und dem Baikalsee im Osten den ganzen europäischen Kontinent heim.“

Er macht erneut eine Pause, nimmt einen Schluck Wein und fährt fort: „Pestilenzen, Pocken, Fleckfieber, Cholera gab und gibt es immer.“

Erde entrüstet: „Angesichts der Abermillionen von Toten, welche es wegen solcher Krankheiten in all den Jahrtausenden gegeben hat, ist ein solcher Leistungsausweis makaber, schändlich.“

Äskulap: „Ja und nein. Vielleicht wäre es aber auch an der Zeit, sich von dieser Diesseitsorientiertheit zu verabschieden.“

Luft: „Richtig, meines Erachtens wäre mehr Transzendenz schon heilsam.“

Wasser indigniert: „Oh Schreck, ich habe gemeint, die Zeit sei vorbei, in der man den Menschen in ihrem irdischen Elend von himmlischen Zuständen vorschwadronierte, wo einmal alles besser sein soll.“

Äskulap: „Wie auch immer … aber wer sagt, dass der aktuelle Status quo der Normalfall ist? Das steht nirgends geschrieben.“

Betretenes Schweigen – lange Blicke – Schulterzucken.

Feuer ergreift das Wort als Erster wieder: „Auf was würden wir uns da konkret einlassen?“

„Ruhe gäbe es“, meldet sich Luft zu Wort, „vor allem Ruhe.“ Dabei lässt sie keine Zweifel aufkommen, was sie von einem weiteren Werweißen hält. „Dieser globale Trubel ist nicht mehr auszuhalten. Einmal so richtig runterzufahren, wird unter dem Strich mehr Gutes als Schlechtes bringen.“

„Ohne Folgen würde das aber nicht sein“, gibt Erde zu bedenken. „Wer könnte noch einen kulturellen, geselligen oder sportlichen Anlass besuchen? Tenor Jonas Kaufmann auf der Berliner Waldbühne vor noch 500 statt 20000 Zuhörern. Und im Westfalenstadion in Dortmund wird die gelbe Wand der Südkurve zu einem löchrigen Emmentaler-Käse.“

Wasser: „Und was würde in den Arztpraxen und Spitälern, auf den Märkten, den Rummelplätzen oder in den Einkaufsläden laufen? Die einen würden in der Arbeit untergehen, für nicht wenige würde aber wohl die wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel stehen.“

Luft, langsam ungeduldig werdend: „Aber es würde sicher mehr positive als negative Auswirkungen haben.“

„Und vor allem wäre es eine Chance, seit Jahrzehnten unwidersprochene Dogmen zu hinterfragen“, sieht auch Feuer Positives. Er zählt auf: „Der Globalisierungswahn, der Glaube, dass es die Märkte schon richten, die Allmacht der Technik. Und wem und was man sonst unkritisch nachbetet.“

„Ja“, verspürt Luft Oberwasser, „man denke beispielsweise an den unsäglichen Öko-Ablasshandel mit diesen Klimazertifikaten. Sobald das Geld im Klima-Kasten klingt, die rußige Seele aus dem ...“ Sie lacht. „... mit Ökoenergie beheizten Fegefeuer springt.“

Feuer winkt ab: „In die Niederungen der irdischen Politik wollen wir uns nicht hinablassen.“

Luft: „Aber die Leute im guten Glauben zu lassen, dass das Heil nicht im Verzicht, sondern in der Substitution liegt, das ist Bauernfängerei.“

Feuer: „Das hat was. Da kommt mir Aldous Huxley2 in den Sinn.“

Erwartungsvolle Stille.

Erde, Wasser, Luft erwartungsvoll: „Und?“

Feuer: „Er befürchtete, die perfekte Diktatur werde den Anschein einer Demokratie machen, einem Gefängnis ohne Mauern, in dem die Gefangenen nicht einmal davon träumen, auszubrechen. Ein System der Sklaverei, bei dem die Sklaven dank Konsum und Unterhaltung ihre Liebe zu dieser entwickeln werden.“

Erneut betretenes Schweigen.

Luft drängt: „Na und, was machen wir?“

„Essen“, sagt Wasser, „ich habe Hunger.“

„Übrigens, Herr Äskulap“, erkundigt sich Feuer, „mit welchen Kosten müssten wir rechnen?“

Äskulap: „Das ginge schon in Ordnung – man hilft ja gerne, wenn man kann.“

1 Wien ohne Wiener, Georg Kreisler, Album Unheilbar gesund, 1999

2 Schöne neue Welt, Aldous Leonard Huxley, (1894-1963)

Hans Peter Flückiger: (Text und Bild), 1952 geboren, aus Solothurn (Schweiz). Erst Heimleiter/Spitalverwaltungsfachmann. Später freischaffender Journalist. Erste literarische Texte 2016. Diverse Publikationen in Anthologien und für Blogs. www.geschichten-gegen-lange-weile.com.

*

*

Rand

Im Grunde ist es gar nicht der Hass auf jene Menschen von der gegnerischen Seite, die die Vertreibung aus ihrer Heimat veranlassten, und all jene, die dabei halfen, diese in die Tat umzusetzen.

Es ist nicht einmal die sie der Verzweiflung nahe bringende Strenge des Schicksals, die sie bereits des einen Sohnes beraubt hatte, sie über den anderen in quälende Ungewissheit stürzte und sie dann noch damit strafte, dass sich der geliebte Mann, der die vielen Jahre hindurch treu an ihrer Seite strebte, vor ihren Augen das Leben nahm.

Es ist schlicht der ihr in endloser Folge entgegengeschobene Bahnstreckenrand, der ihr, die wie gebannt das gesenkte Antlitz gegen das Waggonfenster presst, den bis zum heutigen Tage im fünfundsechzigsten Jahr des Daseins stets vorbildlich praktizierten Lebensmut zu zermürben droht.

Es ist der ihre Reise in neue, ungewissere Umstände so weithin flankierende schmale Streifen aus entlangfliehender Begrenztheit, diese wie sich selbst betrauernde Belagerung von stetig, aber unerkannt bekriegter niederer Vegetation, deren ineinanderwuchernde Wüchse dem Fahrtwind des ächzenden Zuges ihre spöttische Acht erweisen und sich dann bei jedem Anhalten in gefährdendem Anschein zu ihr aufrecken.

Wolfgang Rödiglebt in Mitterfels. Er hat seit 2003 mehr als 500 belle-tristische Kurztexte in Anthologien, Literaturzeitschriften und Tageszeitungen veröffentlicht.

*

Die Erde brennt

Ein weiterer Tag ist vergangen im Nu,

ich setze mich nieder, mach die Augen kurz zu.

Die Arbeit ist stressig, das Wetter ist schlecht,

doch man muss funktionieren, ich mach’s jedem recht.

Den Anschein bewahren, galant sein und lächeln,

immer auf ein Neues, mag’s in mir auch stechen.

Die Seele, sie lodert, doch ich lächle heiter,

setz auf meine Maske und mach einfach weiter.

Und wenn auch mein wahres Gesicht keiner kennt

Das lodernde Feuer tief in mir – es brennt!

Die Nachrichten bringen auch heut nichts Gescheites,

vom Klimawandel wissen wir alle bereits.

Hitzewelle in der Arktis, in Texas ist’s kalt,

speit der Vulkan wieder Feuer, hat die Erde kaum Halt.

Woanders ist’s trocken, kommt dann noch der Wind,

verbreitet sich Feuer ganz rasch und geschwind.

Ob Heuschreckenplage, Stürme und Flut,

die Politiker schwätzen, der Papst, der macht Mut.

Es wird immer schlimmer, dies jeder erkennt,

es wird immer wärmer, die Erde sie brennt!

Und von Lampedusa wird auch noch berichtet:

Erneut wurden Flüchtlinge wieder gesichtet.

Vor Elend und Krieg in Scharen man flieht

Und ganz voller Hoffnung in die Fremde es sie zieht.

Wie viele Leben das Wasser schon nahm,

nicht jeder es schaffte, der übers Meer kam.

In ihrer Not haben sie sich getrennt

von ihrer Heimat – die Verzweiflung, sie brennt!

Humanitäre Katastrophe in Afghanistan,

erneut regiert dort der Taliban.

Und Terroranschläge mal hier und mal dort,

es scheint mir, als gäbe es keinen sicheren Ort.

Verrückte, sie treten wohl überall auf,

erschütternd, kommt es zum Amoklauf.

Beschützt, das sind wir in keinem Moment,

sieh nur da draußen, die Angst in mir brennt!

Die Studien besagen, der Mensch, der wird alt

Man hält ihn am Leben mit aller Gewalt.

Und kann man noch nicht jede Krankheit besiegen,

so kann man gewiss bald den Weltraum befliegen.

Der Fortschritt ist wichtig, wir sind digital,

was man dafür zahlen muss, das bleibt egal.

Wohin’s dieser Wahnsinn noch bringt, bleibt mir fremd.

Wacht endlich auf! Diese Erde, sie brennt!

Und weiter geht’s dann mit der Pandemie,

ich glaube so langsam, das endet wohl nie.

Was irgendwann ganz selbstverständlich erschien,

nun geht’s nur noch online bei jedem Termin.

Egal wo wir hingehen, die Maske, sie sitzt,

und gegen Corona ist fast jeder gespritzt.

Auf Abstand wir achten, wir bleiben getrennt

und passen uns an, egal wie es brennt.

In weiteren Themen geht’s um Macht und um Geld,

es ist stets das Gleiche, überall auf der Welt.

Da ist mancher Staatschef ein wenig verrückt,

der nächste ist korrupt, der andere unterdrückt.

Verfällt auch das Land, ist’s für den Bürger die Qual.

Hauptsache herrschen – der Rest ist egal.

Ein jeder von uns solche Machthaber kennt.

Ich frage mich oft, was in ihnen nur brennt.

Vom Artensterben man auch wieder hört,

Der Urwald wird abgeholzt – ist fast schon zerstört.

Das Meer ist voll Plastik und andrer Chemie.

Der Abfall nimmt zu, wir brauchen mehr Energie.

Das Wasser wird knapp, der Meeresspiegel, der steigt.

Ich glaube, der Mensch, der hat’s ganz schön vergeigt.

Es gleicht einer Bombe, der Uhrzeiger rennt,

Hörst du das Ticken, die Mine, sie brennt!

So vieles geschieht auf diesem Planeten,

wovor uns schon warnten die weisen Propheten.

Betrachtet man nun einmal alles global

Erscheinen die Alltagsprobleme banal.

Was mir bis vor Kurzem erschien noch so wichtig,

wirkt plötzlich belanglos, ja, nahezu nichtig.

Drum schätze im Leben so jeden Moment

und mach draus das Beste, damit die Hoffnung stets brennt.

Pamela Murtas wurde 1975 in Frankfurt-Höchst geboren, lebte jedoch seit ihrem zehnten Lebensjahr in Italien, wo sie an der Deutschen Schule Mailand ihr Abitur absolvierte. Nach drei Jahren Moskauaufenthalt kehrte sie nach Italien zurück, um in Rom professionellen Reitsport zu betreiben. Seit 2007 wohnt sie erneut in Deutschland. Veröffentlicht hat sie bisher den vierteiligen Abenteuerroman „Destini“, außerdem weitere Kurzgeschichten und Gedichte in verschiedenen Anthologien.

*

Corona 2021

„Alles spricht immer über Corona“, dachte sie. „Ich kenne niemanden, der daran erkrankt ist. Wieso auch sollte ich mir deswegen überhaupt Gedanken machen? Die Sonne scheint, den Hunden geht es gut, meiner Familie und mir auch. Keine Termine. Ich werde den Tag in vollen Zügen genießen und meinem Hobby frönen.“

Sie brühte sich, nachdem sie mit den Hunden Gassi war, eine Tasse ihres Lieblingstees auf, nahm die Tageszeitung, kuschelte sich in ihren Sessel, schlug die Zeitung auf, die Beine übereinander und begann, zu lesen.

Wie immer von hinten nach vorn. Sport interessierte sie nicht, der Teil konnte schon mal weg. Todesanzeigen musste sie auch nicht haben, also weg damit. Politik, na ja, da gab es auch nichts Neues. Da blieb ihr Blick auf der Corona-Statistik des Tages hängen. „Das sind ja verdammt viel, die erkrankt sind. Trotzdem kenne ich keinen mit dieser Krankheit. Ist das überhaupt so dramatisch, wie es versucht wird, uns nahe zu bringen, oder nur große Politik?“ Diese Frage konnte sich Ira nicht beantworten. Sie nahm einen Schluck Tee und wollte gerade weiterlesen, als ihr Handy sich meldete.

Wer störte? Ira griff mürrisch zum Handy und sah, dass ihr ihre beste Freundin, ihr Hosenbein, eine Nachricht geschickt hatte. „Super, muss ich gleich lesen“, freute sie sich. Ira machte die Nachricht auf und las. Aber was sie las, wollte sie nicht wirklich wissen und schon gar nicht von ihrem Hosenbein lesen. Eben noch war Corona so weit weg gewesen, so unendlich weit weg – und nun hatte es Margit erwischt, das konnte nicht sein.

Sie musste unwillkürlich an Margits Oma denken. Als Margit und sie junge Frauen gewesen waren, waren sie unzertrennlich und trafen sich jeden Tag. Selbst als sie Kinder hatten, war das so. Eines Tages, Margit und Ira tranken gerade Kaffee, gesellte sich Margits Oma dazu.

„Na, ihr beiden, ihr seid unzertrennlich wie ein altes Paar Schuhe. Noch besser, ihr seid wie eine alte, graue, geflickte Hose, jede ist ein Hosenbein.“ Damals lachten sie darüber. Den Kosenamen aber hatten sie über all die Jahre beibehalten.

„Margit ist und bleibt mein Hosenbein und ich ihres, auch wenn wir uns heute nicht mehr täglich sehen können, so ist diese Freundschaft etwas Wunderbares und sehr Wichtiges für mich“, dachte Ira.

Aber es stand da schwarz auf weiß.

Liebes Hosenbein,

ich habe Corona und liege zu Haus richtig flach. Ich kann gerade vom Sofa bis ins Bad und zurück, dann bin ich fix und alle. Ich habe Fieber und bekomme sehr schlecht Luft. Hoffentlich wird es nicht noch schlimmer und ich muss in die Klinik. Ich bin froh, dass Frank gerade Rentner geworden ist und mich nun, da er den ganzen Tag zu Hause ist, betreuen kann. Es ist für mich ganz schrecklich momentan, ständig auf Hilfe angewiesen zu sein. Ich hoffe, es geht mir bald besser, und wir können telefonieren. Im Moment kann ich das leider nicht, die Luft fehlt.

Bleib gesund. Bis hoffentlich bald.

Dein Hosenbein Margit.

„Ach du lieber Himmel, was tu ich jetzt?“, dachte sie. „Ich muss doch helfen, aber wie? Schade, dass ich so weit entfernt von dir wohne. Aber 500 Kilometer kann ich nicht einfach mal so eben fahren, um dich zu besuchen, mein Hosenbein.“

Ira sah auf die App und überlegte: „Was kann ich dir Gutes tun, um dich aufzumuntern, um vielleicht einen kleinen Beitrag zu deiner Genesung beizutragen?“ Blumen! Margit liebte Blumen und besonders Sonnenblumen. „Ich werde dir einen Strauß Sonnenblumen schicken“, dachte Ira.

Sie ging zum Computer und suchte nach einer Floristikfirma, die Blumen auslieferte. Natürlich fand sie eine, im Internet ist ja fast alles möglich. „Und in dem Fall ist das auch gut so“, überlegte Ira.

Schnell war der Strauß mitsamt einer Karte mit den besten Genesungswünschen gekauft und bezahlt. „So, nun muss ich nur noch warten, bis du übermorgen den Blumengruß bekommst, mein liebes Hosenbein.“ Ira nahm ihr Handy und schrieb Margit.

Liebes Hosenbein,

es tut mir leid, dass du krank bist. Ich bin mit meinen Gedanken und meinem Herzen bei dir und wünsche dir gute Besserung. Wenn ich etwas für dich tun kann, außer singen, wie du weißt, kann das jeder Dampfkessel besser, dann teile es mir bitte mit. Ich hoffe, dir geht es Ende der Woche besser und wir können etwas plauschen. Bis dahin, liebe Grüße an Frank und ich drück dich, liebes Hosenbein. Deine Ira.

Hoffentlich klappte es, Ira schickte die Nachricht an Margit. In den folgenden beiden Tagen dachte sie viel an ihre Freundin, die in ihrem Wohnzimmer fiebernd auf dem Sofa lag.

Ira war gerade vom Einkaufen zurück, als ihr Handy klingelte.

„Hallo, hier ist dein Hosenbein, Margit. Mir geht es heute etwas besser, das Fieber ist weg, das muss ich dir sofort mitteilen. Ich weiß ja, dass du dir große Sorgen um mich machst. Du weißt aber schon, Unkraut vergeht nicht, kleine Kröten haben am meisten Gift und eine Hexe bleibt eine Hexe.“ Margit musste husten.

Ira standen Tränen in den Augen. „Hosenbein geht es besser, sie macht schon wieder Scherze, der blöde Husten, hoffentlich ist der auch bald weg. So wie das blöde Fieber“, schoss es ihr durch den Kopf.

„Hallo, Hosenbein, ich freue mich wahnsinnig, dass es dir wieder besser geht. Den Husten und die Kurzatmigkeit bekommst du auch noch in den Griff, du hast ja einen guten Pfleger.“

„Ja, Frank ist wirklich toll. Er hat sich testen lassen und ist coronafrei, Gott sei Dank. So kann ich mich ganz auf mich konzentrieren. Allerdings war Frank gestern einkaufen und da musste ich mich von dem Sofa aufrappeln und zur Tür gehe, da es nicht aufhörte, zu klingeln. Im Gedanken habe ich den Menschen gehasst, der mich dazu mehr oder weniger gezwungen hat. Eigentlich wollte ich ihm etwas Unhöfliches sagen, als ich aber den wunderschönen Strauß in seinen Händen sah und er ihn mir noch sehr freundlich überreichte, habe ich mich nur höflich bedankt und bin zurück zu meinem Sofa. Ich war in dem Moment so erschöpft, dass ich den Strauß auf den Tisch gelegt habe und eingeschlafen bin. Als ich aufwachte, standen die Blumen auf dem Tisch in der Vase. Frank hatte sich derer erbarmt. Er hatte die Karte danebengelegt. Also, liebes Hosenbein, ich danke dir von Herzen für diese nette, supertolle Überraschung. Es ist ein wunderschöner Strauß Sonnenblumen. Ich liebe Sonnenblumen. Ja, Freude und Glück tragen viel zur Besserung bei. Ich habe mich darüber gefreut und es ist ein großes Geschenk dich, als Freundin zu haben. So, ich glaube, für heute muss ich Schluss machen, ich merke, dass ich schon wieder ganz fertig bin. Bis bald und bleib gesund.“

„Dito, Hosenbein. Ich hoffe, du bist bald wieder ganz gesund und wir hören und sehen uns in diesem Jahr. Tschüss.“

„Heute, vier Wochen später, bin ich der festen Überzeugung, dass, wenn mein Hosenbein Margit nicht die Zweitimpfung gehabt hätte, als sie an Corona erkrankte, wäre der Verlauf mit großer Sicherheit anders verlaufen. Und vielleicht würden wir beide nicht mehr drei- bis viermal in der Woche telefonieren. So wie wir es tun, von Hosenbein zu Hosenbein. Schön, dass es dich gibt, liebe Margit“, dachte Ira und wählte die Nummer der Freundin.

Olyvia Noak-Christ:Jahrgang 1957, lebt in Kransmoor bei Bremerhaven, verheiratet, drei Kinder und drei Hunde, nach dem Ausscheiden aus dem Lehrerberuf hat sie heute Freiraum für ihre Kreativität. Sie schreibt mit wachsender Begeisterung Kurzgeschichten, davon gibt es auch schon Veröffentlichungen, sie malt und töpfert. Sie liest sehr viel und gern, liebt ihre langen Wald-Spaziergänge mit den Hunden.

*

Fliegende Blätter

Keuchend setzte sich Jannes auf eine Bank. Den Oberkörper nach vorne gebeugt, senkte er erschöpft den Kopf. Eine Zeit lang starrte er auf den sandigen Boden und hörte im Geiste immer wieder dieselben Worte seines Vaters. Der Himmel war wolkenverhangen und trübe, als ob es jeden Moment regnen würde. Ein kleiner Vogel hüpfte nicht weit von ihm entfernt auf einer anderen Parkbank herum, so lange, bis er die Aufmerksamkeit des Jungen erweckte. Jannes wedelte mit den Armen, um ihn zu verscheuchen.

„Verschwinde, du blöder Vogel, und lass mich in Ruhe!“, schimpfte er. Er konnte Vögel nicht leiden. Sie waren ihm unheimlich. Einmal hatte er einen Film im Fernsehen mit seinen Eltern geschaut, bei dem es reihenweise zu schrecklichen Angriffen durch die Tiere kam. Zahlreiche Menschen wurden von ihnen verletzt und sogar getötet. Zwar war er schon in der vierten Schulklasse und alt genug, um zu wissen, dass es nicht der Wirklichkeit entsprach, was er dort gesehen hatte. Dennoch war er seitdem davon beeindruckt gewesen.

Erschreckt von dem Gewedel des Jungen, flog der Vogel weg. Doch kurze Zeit später kam er zurück und ließ sich auf den Boden nieder, direkt vor Jannes. Er breitete seine Flügel aus und schlug damit ein paar Mal in die Luft, als ob er gleich wieder losfliegen wollte. Jannes beobachtete den Vogel. Nun konnte er erkennen, dass er vorne an der Brust eine rot gefiederte Stelle besaß.

„Dann bist du also ein Rotkehlchen, von dem mir meine Mutter früher mal Geschichten vorgelesen hat“, sagte Jannes und starrte auf den Vogel. „Hatte das Rotkehlchen gerade geblinzelt?“, fragte er sich. Mit größter Sorgfalt, damit er ihn nicht wieder verscheuchte, streckte Jannes die Hand nach dem Rotkehlchen aus und hoffte, dass es sich ihm auf diese Weise nähern würde. Doch der Vogel flog augenblicklich fort und verschwand in der Baumkrone einer nahe gelegenen Kastanie. Sofort hüpfte der Junge von der Bank und rannte zum Baum, aber er konnte den Vogel nicht mehr entdecken, so sehr er sich auch bemühte.

Enttäuscht setzte sich Jannes wieder auf die Bank und schaute sich um. Nun bemerkte er, wie leer es im Stadtpark war. Ein kühler Wind blies ihm um die Nase. Er knöpfte seine Jacke zu, damit er nicht mehr fror. Der Herbst hatte das Laub der Kastanie an einigen Stellen gelb gefärbt. Ab und zu fiel ein Blatt herunter und wurde mit dem Wind meterhoch aufgewirbelt, sodass es aussah, als wenn ein Vogel umherflog. Das Rotkehlchen blieb verschwunden. Auf dem Boden entdeckte Jannes ein paar Kastanien, die heruntergefallen waren, und er musste an seine Zeit im Kindergarten denken, als sie daraus mit Streichhölzern und Klebestiften Figuren bastelten.

„Pah“, dachte Jannes. „Das ist was für kleine Kinder und nichts mehr für mich.“

Vor einem Monat war sein zehnter Geburtstag. Sie hatten ihn nicht so richtig feiern können, wie es sich Jannes gewünscht hatte – mit der ganzen Familie, Oma und Opa, Tante und Onkel, Cousin und Cousine. Und es war mehr als ein Jahr her, dass seine Mutter einen Sportkurs besucht hatte oder sein Vater sich mit seinen Freunden zum Fußballgucken treffen konnte. Jeder hatte lernen müssen, miteinander klarzukommen, auf engem Raum.

Sein Vater arbeitete jetzt öfter von zu Hause aus. Er brauchte viel Platz für seine Bürosachen. Das war schwierig. Die Küche war der größte Raum in ihrem Heim und so hielt er sich die meiste Zeit dort auf, wenn er arbeiten musste. Andauernd telefonierte er oder hatte Videokonferenzen. Dann musste Jannes immer leise sein, wenn er im Raum war.

Seine Mutter hatte sich zur Aufgabe gemacht, mehrmals am Tag die Wohnung zu lüften, wegen der Aerosole. Jannes wusste nicht, was das genau war, aber gute Luft und Sauerstoff waren gesund und erst recht in Zeiten mit dem Coronavirus, wie ihm seine Mutter immer wieder erklärte. Es kam vor, dass manchmal alle Fenster gleichzeitig angelweit offenstanden. Dann gab es einen Durchzug und davon knallten die Türen zu.

Eines Tages kehrte Jannes von der Schule zurück und öffnete nichts ahnend die Küchentür, um seine Eltern zu begrüßen. Plötzlich kam ein Windstoß hinein und die Arbeitspapiere, die der Vater auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte, wirbelten durch den Sog im Zimmer herum bis an die Decke. Einige segelten hinaus durch die geöffnete Balkontür. Sogleich versuchte Jannes, die Blätter einzufangen, und rannte auf den Balkon. Im nächsten Moment hatte er sich auf die Fußspitzen gestellt und sich im Eifer weit über das Eisengeländer gebeugt, um eines der Blätter noch zu erwischen.

Sein Vater stürmte sofort hinter ihm her. Kurzerhand zerrte er ihn vom Balkon zurück in die Wohnung. „Was ist in dich gefahren? Willst du uns alle unglücklich machen?“, schrie ihn der Vater kreidebleich an und kniete sich vor ihm hin. Er riss Jannes die Papiere aus der Hand und begutachtete hastig die zerknitterten Ausdrucke und Dokumente.

„Er wollte doch nur helfen“, sagte die Mutter und fing an, die restlichen Papiere vom Fußboden aufzuheben. „Jannes hatte es doch nur gut gemeint.“ Und damit lächelte sie ihren Sohn an.

„Das kann ja sein“, erwiderte der Vater prompt, der nun ebenfalls auf allen vieren auf dem Boden herumkroch. „Diese Zirkusnummer da draußen ist ja noch mal, Gott sei Dank, glimpflich abgelaufen. Doch wie stehe ich jetzt da in diesem Chaos? In einer Stunde beginnt das Meeting!“

Jannes fühlte, wie sich sein Puls vor Ärger und Enttäuschung beschleunigte. Warum konnte sein Vater es nie verstehen, wie es von ihm gemeint war? Und warum musste er immer so übertreiben? Er war doch kein kleines Kind mehr und hätte aufgepasst, nicht vom Balkon hinunterzufallen. Jannes nahm sich seine Jacke und rannte aus der Wohnung.

Es raschelte neben ihm in der großen Kastanie. Neugierig drehte sich Jannes um und schaute hinauf. Er konnte nichts erkennen. Wo war das Rotkehlchen abgeblieben? Dann hatte er eine Idee. Leise ging er zum Baum und lehnte sich an den Stamm. Hart und knorrig spürte er die Rinde an seinem Rücken. So stand er eine Weile bewegungslos und wartete. Auf einmal hörte er eine zarte Melodie ganz in seiner Nähe. Jannes hob den Kopf und erblickte zu seiner großen Freude das Rotkehlchen am äußersten Ende eines dicken Astes der Kastanie, schräg über ihm. Weit sperrte der Vogel seinen Schnabel auf und zwitscherte in den höchsten Tönen. Jannes rührte sich nicht und lauschte dem Gesang. Kurz darauf gesellten sich noch eine Amsel und ein Buchfink hinzu, die ihr Lied abwechselnd sangen, als ob sie ein wenig miteinander plauderten. Bald wurde es dunkel und die Vögel verstummten. Die Straßenlaternen gingen an und Jannes machte sich schnell auf den Nachhauseweg.

Inzwischen hatten seine Eltern die halbe Stadt nach ihm abgesucht, als er nach einer Stunde nicht wieder zurückgekehrt war. Sogar im Park waren sie und waren die Wege vergeblich mehrmals abgelaufen und hatten schon mit dem Schlimmsten gerechnet. Schließlich wollte der Vater seinen Sohn als vermisst bei der Polizei melden. In dem Moment, als er mit einem Beamten am Telefon sprach, kam Jannes zur Tür herein.

Seine Mutter stürzte sich vor Freude auf ihn und hätte ihn fast dabei umgeworfen. Schluchzend hielt sie sich an seiner Jacke fest, die sich von der herbstlichen Witterung schon klamm anfühlte. Währenddessen lehnte Jannes’ Vater am Türrahmen und schaute ihnen zu. Dann legte er das Mobiltelefon aus der Hand und ging aus dem Zimmer. Im Vorbeigehen strich er seinem Sohn liebevoll über den Kopf.

Als Jannes abends frisch gebadet und müde in seinem Bett lag und seinen Eltern von den Erlebnissen im Stadtpark erzählte, nahm ihn seine Mutter noch einmal fest in ihre Arme und drückte ihn. Dann erzählte sie ihm eine Gutenachtgeschichte über das Rotkehlchen und summte dazu ein Lied und blieb so lange an seinem Bett, bis er eingeschlafen war.

Christina Müller:Jahrgang 1971, Musikerin aus Bremen, studierte Kunst- und Musikwissenschaft an der Uni Bremen. Sie schreibt Tagebücher, Gedichte und Kurzgeschichten.

*

Telefonanrufe

„Ist halt auch nicht mehr das, was es mal war.“ Zeit für eine Antwort bleibt nicht mehr. Durch das Telefon ist im Hintergrund ein Rufen zu hören und der Rest des Gesprächs wird hastig abgewickelt. Wörter bleiben ungehört in der Leitung stecken, die Aufmerksamkeit hat sich gleich einer Fahne im Wind gedreht und abgewendet – zu etwas mehr Realität, als ein Telefonat bieten kann.

„Tschüss meine Liebe, bis bald.“

„Ja, hoffentlich bis bald.“

Dann Stille. Der rote Hörer wird gedrückt und Stille kehrt ein. Voller Wehmut denkt die Frau an ihre Enkelin. Das Gesicht, auf dem die Zeit ihre Spuren hinterlassen hat, verzieht sich zu einer Grimasse. Bloß nicht weinen. Zu viele Tränen wurden in den letzten Wochen, Monaten, ja, im letzten ganzen Jahr vergossen. Langsam zieht sie sich von ihrem Stuhl hoch, die Tischkante dabei als Stütze nehmend. Knochige Finger krallen sich in das Holz. Die Frau schlurft schwerfällig in die Küche, die Füße in Filzhausschuhen und ein Bein schleppend nachziehend. Schon lange wartet sie auf einen Termin beim Spezialisten. Der Hüftschmerz, die Tabletten, das Hinken. All das ist inzwischen zum Alltag geworden, hat sich in ihrem Leben fest verankert. Auch die Einschränkungen.

Sie setzt Wasser auf und nimmt sich eine Tasse aus dem Küchenschrank. Die blaue mit den Pinguinen. Ein Geschenk der Familie zum letzten Weihnachten. Es kam mit der Post. Morning hug in a mug steht in großen Buchstaben auf dem Porzellan. Eine morgendliche Umarmung in der Tasse, hat sie sich von ihrer Enkelin sagen lassen. „Damit du jeden Morgen an uns denkst und nicht alleine bist.“ Es dampft, der Wasserkocher pfeift.

„Vor zwei Jahren konnten wir unsere Geschenke noch zusammen auspacken“, denkt die Frau, während sie das kochende Wasser in ihre Tasse gießt, den Teebeutel dabei festhaltend. Sie legt beide Hände um das Getränk und spürt die Wärme, vom heißen Wasser ausgehend und sich über das Porzellan auf die Haut ausbreitend. Schon lange hat sie keine fremde Nähe mehr gespürt. All ihre Kinder ausgeflogen, direkt nach der Schule in die weite Welt gezogen. Telefonate in wechselnder Frequenz, seit Kurzem kann sie sogar per Video telefonieren. Eine Nachbarin hat es ihr gezeigt. Besuche, vor allem an Festtagen – Weihnachten, der Geburtstag – hin und wieder auch ein spontaner Kaffee und Kuchen am Nachmittag. Und jetzt: Die Türklingel läutet nicht mehr erschreckend laut, die Treppen knarzen nicht mehr von all den Kinderfüßen, die hinauf und hinunter rennen. Es herrscht kein Stimmengewirr mehr im Wohnzimmer und niemand isst die Kreationen aus dem Backofen.

Das Radio läuft, um die Stille zu übertönen, die lauter scheint als jeder Kinderstreit und jede hitzige Diskussion, die je in den Räumen geführt wurden. Sie traut sich nicht mehr nach draußen. Die Nachrichten, ihr täglicher Kontakt zur Außenwelt, halten die alte Frau davon ab, diese zu betreten. Ein Teufelskreis, der jeden Morgen mit der Hoffnung beginnt, den Tag mit Optimismus starten zu können. Doch auch wenn ihre Welt gerade still zu stehen scheint, so dreht sich das Rad der Zeit dennoch ständig weiter.

Müde hebt die Frau ihren Kopf und betrachtet mit liebevollem, melancholischem Blick die Landschaft an Fotos und Briefen, die sich ihr am Küchenschrank bietet. Ihre Söhne, deren Kinder, deren Freunde, deren Erlebnisse. Momentaufnahmen aus einer anderen Welt. Gekritzelte Bilder der ganz Kleinen, geschickt, um Freude zu teilen. Die Zeugnisvergabe ihrer Enkelin, das Lächeln scheint vor lauter Glück gar nicht auf das Gesicht zu passen. Bisher hatte sie immer bei allen Verleihungen teilnehmen können, saß stolz im Publikum, zwischen all den anderen Eltern und Großeltern, in stickigen Aulen, auf unbequemen Stühlen. Vor Begeisterung klatschend, bis die Hände schmerzten.

Beim Öffnen des Briefumschlages hat sie dieses Jahr alleine geklatscht. Eine Geburt. Gewicht und Größe hat sie sich genau gemerkt. Auch die Uhrzeit – 19.47 Uhr. Ein Mittwoch. Doch in den Armen halten konnte sie das Baby noch nicht. Meilensteine, die sie nur auf Papier erleben durfte, aus der Ferne, einsam in ihrer Wohnung. Beim ersten Treffen wird der Urenkel schon nicht mehr dem Kind auf dem Foto ähneln. Die Zeit vergeht, die Kinder wachsen. So schnell, dass man es in den jungen Jahren fast schon beobachten könnte.

Das Radio läuft im Hintergrund noch immer. Beim Wechsel von Musik zu Moderation horcht die alte Frau auf. Die Zahl der Toten. Inzidenz. Einschätzungen von Experten. Kommentare von anderen Experten. Jeder hat etwas zu sagen. Die Frau hört zu. Der Sprecher führt über zum Wetter. Sonnenschein und zwanzig Grad. Keine Wolken. Blauer Himmel. Das Nachmittagslicht der Sonne scheint durch das staubige Fenster, wie um zu beweisen, dass die Vorhersage recht hat. Noch ein Blick auf die Fotos.

Entschlossen hinkt die Frau zurück zum Esstisch und greift das Telefon. Zweimal die grüne Taste. Wahlwiederholung. Sie muss ihrer Enkelin noch einmal sagen, wie stolz sie ist. Dass sie das Leben genießen soll, die freie Zeit. Dass sie es gar nicht erwarten kann, sie bald wieder in die Arme zu nehmen. Sie hört, wie gewählt wird und gewählt wird und gewählt wird. Der Anruf geht ins Leere. Bevor der Anrufbeantworter anspringt, legt die alte Frau auf. Sie möchte nicht zur Last fallen.

Sara Schwarz,23, kommt aus der Nähe von Stuttgart und studiert in Tübingen die Fächer Deutsch und Englisch, um später als Lehrerin arbeiten zu können. Sie liebt alles, was mit Büchern, Literatur und Wörtern zu tun hat.

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Vorbei oder BPS

„Lass gut sein. Die haben mehr als genug“, sagt dein Vater jedes Mal, wenn ich zum Gießen komme und bedankt sich. Aber er weiß nicht, wie viel Wasser benötigt wird, sonst bräuchte ich das nicht zu machen. Dann bringt dein Vater mir immer einen Schwarzen Tee und ich setze mich in den Strandkorb in eurem Garten. Ich mag es, wenn der Regen über mir auf das Dach prasselt und der Weg langsam von den Tropfen übersät wird.

Ich frage mich, wie es bei dir in Italien ist. Oder bist du schon weitergereist nach Spanien? Mittlerweile solltest du einiges gelernt haben. Du bist bestimmt die beste Köchin geworden, die man sich nur vorstellen kann. Ich habe deine Lasagne geliebt, die du manchmal gemacht hast. Dafür hättest du nicht so weit weggehen müssen. Die war so perfekt, wie sie war.

Wann kommst du wieder?

Ich weiß noch, als du mir erzählt hast, dass du wegmüsstest. Einfach raus und Abstand gewinnen. Mal etwas anderes sehen. Alles würde dich einengen und der Druck auf deiner Brust würde zunehmen. Ich habe das damals nicht ganz verstanden, denn hier in unserer Gegend ist es doch schön. Ich hatte dir angeboten, zu mir zu ziehen. Du hattest gelächelt und mir einen Kuss gegeben. Wenn der Flieder wieder blüht, bist du zurück, sagtest du. Wir standen hier im Garten. Du hattest auf die riesige Hecke gedeutet und meintest, ich müsste mir keine Sorgen machen. Im Sommer wärst du spätestens wieder da. Mittlerweile hat der Flieder geblüht.

Ich habe deinen Eltern nicht erzählt, dass du nach Italien wolltest. Das ist noch immer unser Geheimnis. Vielleicht sollte ich mich einfach auf den Weg zum Stiefel machen. Einfach meine Sachen packen und losfahren. Mit dem Auto wird es allerdings schwierig, denn es ist derzeit in der Werkstatt. Die Sitze habe ich so gelassen, auch wenn diese mal neu bezogen werden müssten. Der Kratzer ist immer noch im Lack, aber der bleibt dort auch. Dann komme ich eben mit dem Zug, auch wenn das teuer wird.

Wahrscheinlich bist du in Rom. Wo auch sonst? Alle Wege führen schließlich dorthin. Bestimmt würde ich dich finden.

Die Liste habe ich noch ergänzt, die wir mal angefangen haben. Ich habe einige Orte hinzugefügt, zu denen wir reisen müssen. Nach Machu Picchu und Wellington. Alle reisen nach Neuseeland. Warum sollten wir das nicht auch tun? Und nach New York. Die Stadt, die niemals schläft. Liberty Island. Du wolltest doch immer frei sein.

Deine Eltern sagen, du wärst tot, aber das glaube ich nicht. Sie haben mir das Bild einer Leiche gezeigt, doch das warst du nicht. So hast du nicht ausgesehen.

Warum solltest du tot sein?

Hin und wieder sitze ich nachts auf der Bank am Kiosk und höre der Nacht mit zu. Manchmal fährt ein Auto die Straße entlang und ich frage mich dann, wo diese Person war oder hinmöchte. Eigentlich ist das offensichtlich, oder?

Letztens lief eine Frau dort an mir vorbei und grüßte mich im Vorübergehen. Sie trug die gleiche rote Jacke, wie du sie hattest. Die Frau arbeitet in der Buchhandlung am Marktplatz. Daher kenne ich sie. Du warst nie in diesem Laden. Du wolltest ja nie mitkommen, weil du nicht gerne liest.

Am Tag darauf lief ich durch die Fußgängerzone. Ich brauchte etwas Essbares, denn ich habe seit Längerem keine Lust mehr, zu kochen. Ich kam an der Buchhandlung vorbei und sah mir eine Weile die Auslage im Schaufenster an. Ein Buch zu kaufen, machte keinen Sinn. Für das Lesen fehlt mir mittlerweile einfach die Konzentration. Als ich weitergehen wollte, kam plötzlich jemand heraus. Es war die Frau, der ich nachts begegnet war.

„Warten Sie!“, rief sie mir hinterher und ich drehte mich um. „Wir haben uns gestern gesehen, oder?“

Ich nickte nur.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie weiter und knotete das Band ihres Cardigans.

„Zurzeit schlafe ich leider nicht so gut. Dann spaziere ich manchmal durch die Nacht. Das hilft etwas“, antwortete ich.

„Sie können auch nicht richtig schlafen? Das ist bei mir ähnlich“, meinte sie und fuhr mit einem Lächeln fort. „Sie lesen doch gerne Kehlmann, oder?“

Erneut nickte ich. „Daran erinnern Sie sich?“, fragte ich erstaunt. „Das ist bestimmt ein halbes Jahr her, dass ich das letzte Mal in der Buchhandlung war.“

Die Frau grinste. „Na klar, das weiß ich doch noch“, sagte sie leise. „Das ist ein guter.“

Wir standen uns gegenüber und sprachen einige Sekunden nichts.

„Warum können Sie nicht schlafen?“, fragte ich sie schließlich.

Sie zuckte mit den Schultern. „Jeder trägt sein Päckchen mit sich herum. Vielleicht lag es auch am Vollmond“, meinte sie und zeigte nach oben. Ich folgte ihrem Finger und sah in die blendende Mittagssonne. Die Frau fing an, zu lachen.

Sie heißt übrigens Victoria.

Weißt du noch, als wir nachts auf den Kirchturm gestiegen sind? Die aufgebrochene Tür war lange Thema im Ort. Als wäre es gestern gewesen, erinnere ich mich. Ich war nie so angespannt und nervös wie in dieser Nacht. Nicht davor und nicht danach.

Das Brecheisen hatte ich extra dafür gekauft. Viel zu schade eigentlich, denn noch in der Nacht habe ich es in die Mülltonne geworfen. Aber das weißt du ja. Der Widerhall beim Aufstieg war unheimlich laut. Immer, wenn ich in den Keller gehe, denke ich daran.

Oben mussten wir dann die Leiter heraufsteigen. Erinnerst du dich? Meine Höhenangst war kaum auszuhalten, als wir dann draußen standen. Du hast deine Hand in meine gelegt und ich habe tapfer gegen meine Panik angekämpft.

Du hattest recht behalten: Die Aussicht war unglaublich. Bis zu dem Haus deiner Eltern konnten wir sehen. Sogar die Graffiti-Scheune sah man von hier. Nie konnte man besser den Nachthimmel beobachten, denn von meiner Wohnung sah man nicht die bekannten Sternbilder. Nicht den Großen Wagen und nicht den Kleinen Wagen und auch nicht den Großen Bären. Aber von hier konnte man sie alle sehen. Ich weiß, du machst dir nichts daraus. Aber mich interessiert das.

Wenn ich nur an den Kirchturm denke, kribbelt es in mir.

Wessen Idee war das eigentlich? Deine oder meine?

Ich müsste mal bei mir in der Wohnung aufräumen. Die Notenblätter liegen seit drei Wochen auf dem Boden verstreut herum, zusammen mit den weißen und schwarzen Tasten des Klaviers. Musik hilft nicht, habe ich festgestellt.

Die Splitter habe ich aufgekehrt, aber ich finde immer wieder welche. Wenn man nicht aufpasst, tritt man hinein. Meine Ferse schmerzt davon stark. Das Fenster hat es auch erwischt, aber die Scherben liegen auf dem Balkon. Der Fernseher ist hin, aber ich wollte mir ohnehin einen neuen kaufen, auch wenn ich ihn kaum noch anschalte.

Sogar zwei Polizisten waren da. Die Nachbarn hatten sie gerufen. Es war nicht einfach, ihnen zu erklären, dass niemand eingebrochen, sondern ich dafür verantwortlich war. Manchmal passiert so was eben.

Die Wagners von gegenüber habe ich seitdem nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Der Messerblock in der Küche starrt mich schon eine ganze Weile an. Vielleicht sollte ich ihn entsorgen. Ich mache mir sowieso nichts zu essen.

Gestern war ich im Baumarkt. Victoria war dabei und hat sich viele Blumen gekauft. Geranien und Petunien und Fleißiges Lieschen. Und dann noch Pantoffelblumen. Hast du solche schon mal gesehen? Das ganze Auto war beladen. Sie hat einen grünen Daumen und überlegt, ob sie eine Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau machen soll. Aber so lange sie gerne von Büchern umgeben ist, wird daraus wohl nichts werden.

Ich war auch in der Gartenabteilung und habe mir eine Säge besorgt.

Alexander Da Re,geboren 1997 und wohnhaft im hessischen Niedernhausen, ist gelernter Industriekaufmann und Verwaltungsfachangestellter. Er war Preisträger des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen im Jahre 2019 und veröffentlichte u. a. seine Kurzgeschichten in der Anthologie „Nagelprobe 36“ (2019), in der Textsammlung des „7. Bubenreuther Literaturwettbewerbes“ (2021) und in verschiedenen Anthologien.

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Der Hundertjährige

Es war einmal ein großes Land, in dem es den Menschen schon lange Zeit gut gegangen war. Das Volk war lustig und gesellig. Die Menschen aßen und tranken zusammen, sie tanzten und feierten. Man nannte es darum auch das Land der Freudigen.

Dennoch war keineswegs alles rosig im Land der Freudigen, denn schon seit Jahrzehnten häuften sich an den Grenzen Wetterextreme und Naturkatastrophen, verschwanden Pflanzenarten und starben Tiere aus. Die Landschaft veränderte sich nachweislich, doch die Menschen verdrängten diese schlechten Nachrichten. Sie tanzten und feierten einfach weiter, doch in Wahrheit war es ein Tanz auf dem Vulkan.

Eines Tages brach eine Krankheit aus, die den Menschen bis dahin unbekannt war und gegen die kein Kraut gewachsen schien. Die Krankheit befiel Junge und Alte, Arme und Reiche! Sie drang selbst bis in die entlegensten Dörfer vor. Die Menschen erfuhren, dass es in den Nachbarländern nicht anders war. Die Krankheit verbreitete sich geschwind über den gesamten Erdball.

Bei den jungen und gesunden Menschen verlief die Krankheit oft recht harmlos wie eine Sommergrippe, deshalb lachten einige und verkündeten, die Seuche wäre gar nicht so verheerend. Andere aber erholten sich nicht mehr und rangen verzweifelt nach Luft. Wenn das geschah, starben sie oft binnen kürzester Zeit. Die Ärzte wussten sich bald keinen Rat mehr, denn sie befürchteten, die vielen kranken Leute in absehbarer Zeit nicht mehr versorgen zu können. Sie taten zwar weiterhin alles, was ihnen nur möglich war, aber es war einfach nicht genug!

Um sich vor der geheimnisvollen Krankheit zu schützen, verhüllten die Menschen ihre Gesichter und zogen sich in ihre Häuser zurück. Sie tanzten und feierten nicht mehr. Es galt sogar als Wagnis, das Haus zu verlassen, nur um seiner Arbeit nachzugehen. Wer es einrichten konnte, schottete sich deshalb ab. Sogar die Kinder gingen nicht mehr zur Schule, sondern erledigten ihre Aufgaben zu Hause, um sich nicht anzustecken. Dabei fehlten ihnen ihre Freunde sehr.

Eines Tages begab sich ein hundertjähriger Mann auf einen weiten Weg. Er wollte eine blinde Seherin aufsuchen, von der er sich Rat und Weissagung erhoffte. Um sie zu finden, musste der alte Mann auf seinen schwachen Beinen Hügel überwinden und einen reißenden Fluss durchqueren. Doch alle Hindernisse und Gefahren konnten den Alten, der in seinem Leben schon so viel gesehen und erlebt hatte, nicht von seinem Weg abbringen. Als er nach der langen und beschwerliche Reise die Seherin in einem finsteren Walde schließlich fand, sagte er zu ihr: „Wie du bestimmt weißt, grassiert hier eine schlimme Krankheit. Die Leute lachen nicht mehr. Sie tanzen nicht mehr. Manche können nicht einmal mehr arbeiten und geraten dadurch in Not.“

„Ja, ich weiß es! Du willst jetzt bestimmt von mir hören, ob jemand diese Krankheit aufhalten kann, die selbst die entlegensten Winkel des Landes erreicht hat?“

„Ja, das möchte ich, denn die Menschen sind mutlos und verzweifelt. Ich will ihnen gerne helfen, aber ich bin gewiss zu alt, um noch hilfreich zu sein. Ich bin gebrechlich und kann nur noch an einem Stock gehen. Aber wenn du mir sagst, wer aus meiner Heimat noch fähig ist, gegen die Hoffnungslosigkeit etwas auszurichten, so will ich diese Person gerne finden.“

„Kein Einzelner ist in der Lage, das Unglück aufzuhalten. Doch ich kenne einen Menschen, der viele andere begeistern wird. Bei allem, was er tut, denkt er stets an alle und niemals nur an sich selbst. Er scheut keine Kraft und Mühen. Er ging sogar den weiten Weg bis zu mir, obgleich seine Beine mittlerweile alt und schwach sind“, sagte sie und zwinkerte ihm lächelnd zu.

„Wen meinst du?“, fragte der alte Mann verwirrt.

„Ich spreche von einem edlen Ritter. Kennst du ihn vielleicht?“

„Es gibt nur einen Ritter in meiner Gegend und der bin ich selbst. Aber es ist viele Jahrzehnte her, dass ich als Ritter große Taten vollbrachte. Ich kann nicht mehr kämpfen.“

„Ich will dir gerne sagen, was du tun kannst“, sagte sie und holte ein Instrument hervor. „Hier, dieses Saiteninstrument mit seinen hundert Saiten schenke ich dir! Wenn du hundert Stunden darauf spielst, ohne zu schlafen, dann werden danach hunderttausend Menschen zu dir kommen und gemeinsam mit dir gegen die Krankheit kämpfen.“

Der Mann nahm das Instrument und fing begeistert an, darauf zu spielen. Obwohl er nie ein Instrument besessen hatte, beherrschte er es auf Anhieb. „Möchtest du, dass ich ein bestimmtes Lied spiele?“, fragte er die Seherin.

Sie lächelte. „Kennst du das Lied You’ll never walk alone?“

„Natürlich!“

„Kennst du auch die Bedeutung des Liedes?“

„Ja, ich kenne sie!“

Er sagte der Seherin noch einmal Dank und verabschiedete sich von ihr. Musizierend begab sich der Hundertjährige daraufhin auf den Rückweg. Durch die Musik wurde ihm selbst leichter ums Herz und der Weg kam ihm weniger beschwerlich vor. Es war wie Magie!

Es wurde Nacht und es wurde Tag, doch er hörte nicht auf, zu spielen. Wo er vorbeikam, fingen die Menschen an, zu summen. Nach langer Zeit waren sie endlich wieder froh. Weil der Alte ihnen die Freude und die Hoffnung zurückgegeben hatte, wollten sie ihm auch gerne etwas schenken.

Er aber winkte ab und sagte nur: „Nicht mir sollt ihr helfen, sondern lasst uns lieber gemeinsam denen helfen, die die Kranken pflegen! Viele arbeiten tagein, tagaus und finden kaum in den Schlaf.“

Und tatsächlich waren alle sofort bereit, mitzuhelfen. Es waren nicht hundert Menschen, es waren nicht tausend Menschen, sondern es waren tatsächlich hunderttausend Menschen, die ihre Hilfe anboten. Sie alle gaben Gold- und Silbertaler, um die Kranken mit Essen und Medizin zu versorgen. Am Ende hatten sie mehr Säcke mit Gold und Silber beisammen, als hundert Gäule tragen konnten.

Zeit ist eine Heilerin.

Allerdings zogen zwei Jahre ins Land und nichts veränderte sich! Die Kraft der Menschen war bald aufgezehrt. Sie waren müde der Anstrengung und der Entbehrungen, die ihnen noch immer abverlangt wurden. Der alte Mann war in der Zwischenzeit selbst an der Seuche gestorben und die Leute trauerten um ihn. Er war ihnen Vorbild und Inspiration gewesen, doch nun war er nicht mehr da! Betrübt und mutlos gingen sie zur Seherin und fragten: „Was sollen wir jetzt tun? Der, der uns helfen wollte, ist gestorben!“

Da sagte die Seherin: „Alles, was ihr geschafft habt, habt ihr gemeinsam geschafft! Denn das sollt ihr erkennen, dass nicht einer allein das Übel besiegen kann. Der Hundertjährige ist nicht mehr unter euch, aber sein Beispiel lebt fort! Er hat bewiesen, dass jeder helfen kann, wenn er nur Mut und das Herz am rechten Fleck hat. Sogar einer, der schon steinalt ist und an einem Stock gehen muss, kann noch viel bewegen. Habt Mut und kämpft, so wie er es getan hat. Es spielt keine Rolle, ob ihr jung oder alt, stark oder schwach seid! Jeder kann und soll seinen Teil beitragen, denn nur vereint könnt ihr es schaffen.“

Da fiel es den Menschen wie Schuppen von den Augen, was sie bereits zusammen erreicht hatten und noch erreichen würden, sofern sie nur ihre Kräfte vereinten und Seite an Seite kämpften. Das war schließlich die Botschaft, die das Lied des alten Mannes ihnen vermitteln sollte.

Ihr fragt euch nun sicher, wie diese Geschichte für das Land und seine Bewohner am Ende ausgegangen ist? Die Wahrheit ist: Nicht einmal die Seherin wusste es! Manchmal hörte sie Gerüchte, dass die Menschen einsichtig geworden waren und vor den gewaltigen Problemen nicht mehr die Augen verschlossen. Es gab Mittel, die Seuche einzudämmen. Nachdem sie ihre Gesichter nicht mehr verhüllen mussten und endlich wieder das Lächeln der anderen sahen, wandten sich die Menschen als Nächstes der verwundeten Mutter Erde zu. An diesen guten Tagen blickte die Seherin nach Sonnenuntergang froh zum leuchtenden Sternenhimmel empor, denn jeder helle Stern symbolisierte einen Menschen, der ein kleines Licht in diese Welt gesetzt hatte.

An den anderen Tagen aber hörte sie davon, dass zu viele Menschen gedankenlos weitertanzten. Dann wurde sie traurig, denn sie befürchtete, dass der Vulkan, auf dem sie tanzten, in naher Zukunft ausbrechen würde. Wenn sie in solch dunklen Nächten zum Himmel sah, dann wusste sie, dass die Menschen ihre guten Vorsätze vergessen hatten.

Seht in der Nacht einmal zum Himmel hinauf und merkt, wie alles sich verändert. Gibt es viele helle Punkte oder nicht? Fragt euch selbst, ob euer Stern dort oben leuchtet. Am Ende der Nacht erwacht für die Menschheit ein noch unbekannter, neuer Tag.

***

Dieses Märchen wurde zum Andenken von Tom Moore (1920-2021) verfasst. Tom Moore hatte zu Beginn der Corona-Pandemie im Rollator wenige Wochen vor seinem 100. Geburtstag 100 Runden im eigenen Garten zurückgelegt und damit etliche Millionen Spendengelder für das britische Gesundheitssystem gesammelt. Es war die höchste Summe, die je bei einem Spendenlauf zusammenkam. Für seine Leistung wurde er 2020 von der Queen zum Ritter geschlagen. Weitere Spendengelder sammelte er durch seine Version der Fußball-Hymne You’ll never walk alone, die als Chor gesungen wurde. Der Song stürmte unmittelbar an die Spitze der britischen Charts. Tom Moore starb nur einige Monate später selbst an Covid 19.

Olivia Stahlenburg wurde 1971 geboren. Die Förderschullehrerin und Autorin lebt, lehrt und schreibt in der Metropolregion Rhein-Ruhr. Sie hat in mehreren Anthologien unterschiedlicher Verlage Kurzprosa für Kinder und Erwachsene veröffentlicht. Als Sprechchormitglied ist sie Teil des Dortmunder Schauspielensembles. Mehr unter www.oliviastahlenburg.de.

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Rota Temporis

Das Rad der Zeit dreht seine Kreise,

in der ihm eigenen Art und Weise.

Glück und Unglück wechseln sich ab,

zurückdrehen lässt es sich nicht, das Rad.

Das Rad der Zeit nagt an uns allen,

wir leben, um dann zu verfallen.

Der Mensch vermag es nicht zu lenken,

darf seine Zeit deshalb nicht verschwenden.

Das Rad der Zeit bestimmt jeden Moment,

strukturiert das Leben, gestaltet die Welt.

Denn kostbar und rar ist dieses Gut,

beeinflusst Zeit doch Geburt und Tod.

Das Rad der Zeit spinnt in seinem Rhythmus,

die Melodie des gesamten Globus’.

Das ist der Kreislauf unseres Seins,

so wertvoll das Leben, deins und meins.

Kathinka Reusswig, geboren am 06.10.1980 in Hessen. Abitur und danach studiert. Hobbys unter anderem Nähen und Gitarre spielen. Kathinka Reusswig hat bereits in mehreren Anthologien veröffentlicht.

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Am Ende des Maskenballs

Am Ende des Maskenballs stehen sie

Demaskiert, verblüfft und stumm.

Die Musik ist verklungen. Vis-à-vis

Ein Gesicht, man fragt: Warum

Ist mir der jetzt plötzlich so fremd?

In der großen Halle bewegen sich die Menschen hin und her, kauern schlafend auf dem Boden oder sitzen dort, wo keiner so genau hinsieht, feiernd beisammen. Denn die Nähe brauchen sie. Die vertreibt die Traurigkeit und macht daraus Vertrautheit. Nämlich: trau – der Wortteil steckt in traurig genauso wie in vertraut. Die Vertrautheit war verschwunden, Traurigkeit hatte sich breitgemacht.

Der riesige Raum ist so ausgestattet worden, dass man sich in Normalität und im Draußen wähnt und das Ganze für ein riesiges Fest hält. Dort, wo jemand sagt: „Ich fühle mich eingesperrt“, werden kleine Notausgänge an die Wand gemalt, die aussehen, als geriete man von dort direkt in eine Sommerwiese oder in eine winterliche Schneelandschaft.

Immer wenn zu oft: „Ich halte diese Zeiten nicht mehr aus!“, gesagt wird, projiziert jemand an die Wand Filme, die so gestaltet sind, dass man sich sofort selbst mittendrin fühlt. Dass zwischenzeitlich Leute abgeholt werden und in die im Versteckten liegenden Krankenlager kommen, die manche im Sarg verlassen werden, soll möglichst unbemerkt bleiben. Es gibt Sport, Musik und Schauspiel. Die auf der Bühne sind genauso wenig frei wie die anderen, zwischen ihnen und dem Publikum ist eine Glaswand aufgestellt worden.

Expertinnen und Experten werfen von Zeit zu Zeit Hoffnungsschnipsel ins Volk: „Die Zahl der Infizierten ist zurückgegangen!“, heißt es dann. Oder: „Neues Medikament lässt ein Ende der Schreckenszeit erwarten.“ Die Menschen brauchen die Aussicht auf ein Wunder, den Glauben an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft und deren Fortschritt sowie die Versicherung, dass der Mensch doch ein vernunftbegabtes Wesen sei.

Am Fließband werden Masken erzeugt – sie sollten vor der Krankheit schützen und ermöglichen, dass man darunter sein Gesicht wahren kann. Unbemerkt von allen jedoch arbeiten kleine Wesen unter den Masken und fräsen in die Haut der Trägerinnen und Träger deutlich das ein, was die Situation aus dem jeweiligen Menschen hervorgebracht hat. Im Spiegel ist davon nichts zu sehen; besonders deshalb, weil man an sich selbst stets doch nur sieht, was man sehen will.

Der Tag X beginnt wie jeder andere auch. Jemand ruft: „Die Sonne geht auf, schaltet das Radio ein!“ Denn jeden Morgen wurden Nachrichten verkündet, denen alle lauschen. Jetzt sagt die Sprecherin mit brüchiger Stimme und bemüht darum, nicht vor Rührung in Tränen auszubrechen: „Es ist vorbei, runter mit den Masken und hinaus in die Freiheit!“

Die Gefangenschaft endet abrupt. Das ist es, was sich alle seit Jahren gewünscht hatten. Doch: Wie umgehen mit einer Botschaft, die man erwartet und ersehnt, aber doch nicht für möglich gehalten hätte? Wie oft hatte man sich den Moment vorgestellt. Und nun? Nach rechts oder links gehen? Gleich hinausstürmen oder sich von den anderen verabschieden?

Einen Moment lang ist es völlig still. Nur einer hüstelt. Dann ruft jemand: „Halleluja!“ Die Begeisterung steckt die Umstehenden an und schließlich fallen unter großem Jubel die Masken. Zwinkernd im grellen Sonnenlicht bleibt man vorerst im Schatten, um die anderen aus dem Dunkel heraus zu beobachten, die Beine zu strecken und vorsichtig die ersten Schritte zu machen.

„Wer ist das da neben mir?“

„Wo sind die, mit denen ich gekommen bin, die sehe ich gar nicht mehr? Sind wir denn voneinander abgerückt?“

„Mit wem gehe ich heim?“

Solche Fragen stellten sich die Menschen jetzt. Es haben sich neue Gruppen gebildet, denn manche Freundschaften, ja sogar Familienbande sind zerbröckelt.

Unter den Masken sind die Gesichter fremd geworden. Am meisten das eigene: „Was, so bin ich?!“ Das lange Maskiertsein hat wohl die Haut irritiert. Sind da kleine Dellen und Falten, Pusteln und Furunkel, Härchen und Flecken entstanden? Nein, das sieht aus wie Zeichen, genauer gesagt, wie Buchstaben – die sind lesbar, zierlich, klein, wie eingestanzt. Da gibt es nichts umzudeuten: Es ist, was es ist. Wer einem gegenübersteht, kann es sehen, vom Gesicht ablesen, manchmal sogar laut, sodass der Gezeichnete es hören kann. Mancher schaut nur verblüfft, enttäuscht, entsetzt. Es beginnt ein verzweifeltes Schrubben, Rubbeln und Putzen: „Nein, nein, die Zeichen gehen nicht ab!“ Panik macht sich breit und jeder versucht, sich vom anderen abzuwenden. Da man sich in einer Menschenmenge befindet, hilft auch das Hin-und Herwenden nichts, denn da steht wieder einer, der oder die sich eben auch von jemand anderem abgewendet hatte.

Und was es da zu lesen gibt! In einer Mischung aus Neugier, Abscheu und einer kleinen Portion Scham – denn es ist doch sehr intim, was den Menschen ins Gesicht geschrieben steht, die man so gut zu kennen geglaubt hatte – buchstabiert man und machte sich ein Bild.

Beim einen steht geschrieben: Ich will Freiheit für mich, die anderen sind mir egal. Stimmt: Das ist der, der für sich in Anspruch genommen hat, sich nicht impfen zu lassen, weil sein Körper ihm gehört. Er ist als Pfleger in einem Altenheim tätig und hat den Leichenbestattern immer höflich die Tür aufgehalten.

Eine andere trägt um die Ohrläppchen eintätowiert: Nur Idioten halten sich an Vorschriften. Sie hat in einer Whatsapp-Nachricht geschrieben: