Das rote Haus - Mark Haddon - E-Book

Das rote Haus E-Book

Mark Haddon

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Beschreibung

1 Haus + 2 Familien = 100 Dramen

In den letzten 15 Jahren haben Angela und ihr Bruder Richard nur einen Nachmittag miteinander verbracht. Denn sie leben in unterschiedlichen Welten: er als erfolgreicher Radiologe in Edinburgh, sie als Lehrerin, die nicht nur ihre drei Kinder, sondern auch noch ihren Mann, einen Luftikus, ernähren muss. Doch jetzt, nach dem Tod ihrer Mutter, mietet Richard für eine Woche ein altes, rotes Herrenhaus in Herefordshire und lädt seine Schwester und deren Familie ein. Richard selbst kommt mit seiner zweiten Ehefrau und seiner Stieftochter Melissa, einer hübschen, selbstbewussten, permanent auf Flirt gepolten 15-Jährigen, die Angelas ältestem Sohn den Kopf verdreht. Und nicht nur ihm, sondern zur Verwirrung aller auch noch Angelas Tochter, die gerade erst zu einer religiösen Schwärmerin mutiert war.

Eine moderne Patchworkfamilie trifft auf eine Großfamilie traditionellen Stils, Generation Facebook steht den Rockopas gegenüber. Das Ergebnis: Allenthalben lauern Abgründe, schwelen komische und ernste Konflikte – bis ein lang zurückreichendes Trauma, das Angelas gesamtes Familienleben überschattet hat, endlich aufbricht.

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Seitenzahl: 431

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Mark Haddon

Das rote Haus

Roman

Aus dem Englischen

von Dietlind Falk

Karl Blessing Verlag

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Originaltitel: The Red House Originalverlag: Jonathan Cape, London
Copyright © der Übersetzung by Karl Blessing Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich Layout und Herstellung: Gabriele Kutscha

Für Clare

Mit Dank an Mary Gawne-Cain

Freitag

Kühltürme und Rieselfelder. Finstock, Charlbury, Ascott-under-Wychwood heißen die Orte. Siebzig Meilen pro Stunde, der Zug durchtrennt die Felder wie ein Reißverschluss. Neben der Flusswindung zwei pistolengraue Geraden. Aufblitzende Sonnenstrahlen auf beschlagenem Metall. Ein Hauch von Dampfbetrieb, noch heute. Hogwarts und Adlestrop. Die Nachtpost überquert die Grenze. Cheyenne jagen den Gebirgsgrat hinunter. Delta Blues aus dem Güterwagen. Irgendwo jene geheimen Weichen, die jederzeit umspringen können, um dich in die Welt uniformierter Gepäckjungen und Großtanten und eines Sommers am See abbiegen zu lassen.

Angela lehnte sich an das kalte Fenster und ließ sich von den Oberleitungen hypnotisieren, die von Strommast zu Strommast sanken und stiegen, wieder und wieder und wieder. Gewächshausanlagen wie silberne Matratzen, nicht entzifferbare Graffiti-Kurven auf einer Backsteinmauer. Vor sechs Wochen hatte sie ihre Mutter beerdigt. Ein bärtiger Mann im abgewetzten Anzug spielte Danny Boy auf einem nordenglischen Dudelsack. Alles ein wenig schräg, der Verband an der Hand des Vikars, die Frau, die ihrem davongewehten Hut zwischen den Grabsteinen nachjagte, der Hund, der niemandem gehörte. Sie hatte gedacht, dass ihre Mutter diese Welt schon vor langer Zeit verlassen hatte, dass die wöchentlichen Besuche bei ihr eher um Angela selbst willen stattfanden. Geschmortes Hammelfleisch. Klassik-Radio und ein Nachttopf aus hautfarbenem Plastik. Ihr Tod hätte eine Erleichterung sein sollen. Doch dann fiel die erste Schippe Erde auf den Sarg, eine Blase war in ihrer Brust hochgestiegen, und ihr war klar geworden, dass ihre Mutter … was? Ein Grundpfeiler gewesen war? Ein Wellenbrecher?

Eine Woche nach der Beerdigung stand Dominic gerade am Waschbecken und putzte mit einer Flaschenbürste eine grüne Vase. Reste des viel zu früh gefallenen Schnees türmten sich noch neben dem Schuppen, und die Wäschespinne drehte sich im Wind. Angela kam herein und hielt das Telefon wie ein obskures Objekt in der Hand, das sie gerade auf dem Flurtisch gefunden hatte. Das war Richard.

Dominic stellte die Vase umgekehrt auf das Abtropfgestell. Und was wollte er?

Er hat uns angeboten, mit ihnen in die Ferien zu fahren.

Er trocknete sich die Hände ab. Redest du von deinem Bruder oder einem anderen Richard?

Ich rede tatsächlich von meinem Bruder.

Dominic wusste beim besten Willen nicht, was er dazu sagen sollte. In den letzten fünfzehn Jahren hatten Angela und Richard nicht mehr als einen Nachmittag miteinander verbracht und ihr Aufeinandertreffen bei der Beerdigung war allenfalls flüchtig gewesen.

An was für einen exotischen Ort will er uns denn entführen?

Er hat ein Haus an der walisischen Grenze gemietet. Bei Hay-on-Wye.

Ah, die feinen Sandstrände von Herefordshire. Er faltete das Trockentuch in der Mitte und hängte es über die Heizung.

Ich habe zugesagt.

Danke, dass du mich auch gefragt hast.

Angela hielt inne und sah ihn an. Richard weiß, dass wir uns keinen eigenen Urlaub leisten können. Ich habe dazu genauso wenig Lust wie du, aber ich hatte nicht gerade viele Alternativen, oder?

Dominic hob beschwichtigend die Hände. Schon gut. Sie hatten diesen Streit zu oft geführt. Also, auf nach Herefordshire.

Dominic klappte das pinke Cover der Landkarte nach oben und entfaltete die große Papierziehharmonika. Die Black Mountains. Schon als Junge hatte er Karten geliebt. Hier wohnen Monster. Das X markiert die Stelle, an der der Schatz vergraben ist. Der Kartenrand braun und mit einem Streichholz angekokelt, blitzende Nachrichten flackern aus dreieckigen Spiegelscherben von Gipfel zu Gipfel.

Er drehte den Kopf und sah Angela an. Kaum etwas erinnerte noch an das Mädchen in dem blauen, schulterfreien Sommerkleid in der Bar damals. Jetzt fand er sie abstoßend, ihre schlaffe Masse, die Venen in ihren Waden, fast schon eine Großmutter. Er träumte von ihrem überraschenden Tod, davon, all die Freiheiten wiederzuerlangen, die er vor zwanzig Jahren verloren hatte. Fünf Minuten später träumte er dasselbe noch einmal und erinnerte sich daran, wie wenig er mit diesen Freiheiten beim ersten Mal hatte anfangen können, und hörte wieder die quietschenden Straßenbahnräder und sah die Infusionsbeutel. All diese anderen Leben, die man niemals leben durfte.

Er blickte aus dem Fenster und sah ein Boot auf dem angrenzenden Kanal, irgend so ein bärtiger Schwachkopf am Ruder, mit Pfeife und einer Tasse Tee in der Hand. Ahoi, Matrose. Was für eine beknackte Art, seine Ferien zu verbringen, sich bei jedem Aufstehen den Kopf zu stoßen. Eine Woche auf einem Boot mit Richard. Kaum auszudenken. Gott sei Dank waren sie am Arsch der Welt. Wenn es ihm zu viel wurde, konnte er einfach einen Hügel hinauflaufen und den Himmel anschreien. Ehrlich gesagt, war es Angela, um die er sich Sorgen machte. Die ganze festverdrahtete Spannung unter Geschwistern. Kein Rückgaberecht nach Erstentzündungund so weiter.

Richards Haare, das war es. Jetzt, da er darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass dort das Böse angesiedelt war, in diesem üppigen schwarzen Hahnenkamm, wie die Hauer von einem Walross, eine Warnung an alle Beta-Männchen. Oder wie eine unbekannte Lebensform, die ihre Saugrüssel in seinen Kopf gestoßen hatte und ihn als Wirt benutzte.

Gegenüber saßen die Kinder. Alex, siebzehn, las Main Force, einen Thriller von Andy McNab. Daisy, sechzehn, war in ein Buch vertieft, das den Titel Die Kunst des täglichen Gebets trug. Benjy, acht, hatte sich so gedreht, dass seine Füße nun auf der Kopfstütze lagen und sein Kopf über den Rand der Sitzbank hing, seine Augen waren geschlossen. Angela stieß ihn mit der Schuhspitze an die Schulter. Was um Himmels willen machst du da?

Ich sitze auf einem Pferd und köpfe Nazi-Zombies.

Sie sahen aus wie drei Kinder aus unterschiedlichen Familien: Alex, der Athlet, breite Schultern und großer Bizeps, der sich beinahe jedes Wochenende mit Kanu oder Mountainbike auf ins wilde blaue Jenseits machte, Benjy, eine Art kleiner, flüssiger Junge, der sich in jede beliebige Form gießen ließ, die eben gerade zur Hand war, und Daisy … Angela fragte sich, ob ihrer Tochter im Laufe des letzten Jahres etwas ganz Schreckliches widerfahren war, etwas, das ihre arrogante Demut erklärte, diese Art, ganz demonstrativ nach nichts auszusehen.

Sie rauschten in einen Tunnel, und die Fenster dröhnten und klapperten. Einige Sekunden lang sah sie dort in der Dunkelheit eine übergewichtige Frau mittleren Alters schweben, bevor sie im plötzlichen Sonnenlicht und den Pappeln verschwand, sie war zurück in ihrem Körper, ihr Kleid kniff am Bauch und in ihrem Nacken bildeten sich Schweißperlen, dieser Zuggeruch, brennender Staub, heiße Bremsen, dumpfer Toilettengestank.

Carter stellte seinen Stiefel auf die Schulter des Mannes und drehte ihn um. Das konnte einfach nicht wahr sein. Er hatte Bunny O’Neil getötet. Vor zehn Jahren waren sie zusammen in den Cairngorms ausgebildet worden. Was hatte ein Ex-Hauptmann der SAS-Spezialeinheit der Britischen Armee in Afghanistan zu suchen, bewaffnet mit einem russischen Gewehr vom Schwarzmarkt, und warum wollte er den milliardenschweren Chef einer internationalen Baufirma ermorden?

Etwas weiter den Gang hinunter hatte sich der Kontrolleur neben einer Frau postiert, die so zerbrechlich wie ein Vogel aussah, mit langen grauen Haaren und einer Brille an einem roten Band. Also haben Sie den Zug ohne gültige Fahrkarte und ohne jedwede andere Zahlungsmöglichkeit bestiegen? Rasierter Kopf und ein verblasstes blaues Tattoo auf dem fleischigen Unterarm.

Angela wollte ihr eine Fahrkarte kaufen und sie vor diesem Rüpel bewahren.

Ihre winzigen, mit Altersflecken übersäten Hände versuchten, etwas Unsichtbares aus der Luft zu picken. Ich kann nicht …

Holt Sie jemand in Hereford ab? Eine Sanftheit in der Stimme des Kontrolleurs, die sie beim ersten Mal nicht gehört hatte. Er berührte die Frau leicht am Arm, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Ein Sohn vielleicht oder eine Tochter?

Die Frau griff wieder in die Luft. Ich bekomme es einfach nicht …

Angela spürte ein Stechen im Augenwinkel und wandte sich ab.

Richard hatte vor sechs Monaten erneut geheiratet, eine Stieftochter bekam er gratis dazu. Angela war nicht zur Hochzeit gefahren. Edinburgh war zu weit entfernt, das Schuljahr ging zu Ende und sie waren nie wie Bruder und Schwester gewesen, sie waren einfach zwei Menschen, die alle paar Wochen kurz miteinander telefonierten, um den Verfall ihrer Mutter zu managen. Sie hatte Louisa und Melissa zum ersten Mal bei der Beerdigung getroffen. Die beiden sahen aus, als hätte man sie in irgendeinem exklusiven Katalog zu einem horrenden Preis bestellt, makellose Haut und passende schwarze Lederstiefel. Das Mädchen hatte Angela angestarrt und nicht weggesehen, als sich ihre Blicke trafen. Kastanienbraunes Haar, Ponyschnitt, und ein schwarzer Jeansrock, fast zu kurz für eine Beerdigung, aber eben nur fast. So viel Glanz und Arroganz mit sechzehn. Melissa inszeniert gerade ein Theaterstück in der Schule. Den Sommernachtstraum.

Louisa hatte etwas von einer Spielerfrau. Angela konnte sich nicht vorstellen, dass sie ins Theater ging oder ein ernsthaftes Buch las, konnte sich die Gespräche nicht vorstellen, die sie und Richard führten, wenn sie allein waren. Aber seine Menschenkenntnis hatte schon immer zu wünschen übrig gelassen. Zehn Jahre Ehe mit der bösen Hexe. Die Geschenke für die Kinder, die er beim letzten Besuch mitgebracht hatte, so viel unnötiger Aufwand. Ausgerechnet ein Fußballmagazin für Benjy, und für Daisy ein Armband … Sie fragte sich, ob dies eine Neuauflage seines alten Fehlers würde, ob sie für ihn einfach eine neue Nicht-Jennifer war und er für sie nur eine weitere Stufe im sozialen Aufstieg.

Ich geh aufs Klo. Benjy stand auf. Meine Blase ist supervoll.

Verlauf dich nicht. Sie berührte ihn kurz am Ärmel.

Im Zug kann man sich nicht verlaufen.

Ein irrer Perversling könnte dich erwürgen und deine Leiche aus dem Zugfenster schmeißen.

Ich würd’ ihm in den Schrott boxen.

Schritt, sagte Alex.

Schritt, Schratt, Schrott …, sang Benjy, während er sich seinen Weg durch den Waggon bahnte.

Schließlich werden wir feststellen, dass wir keine Stille mehr brauchen. Und keine Einsamkeit mehr. Alles, was wir tun, kann heilig werden. Wir können ein Mahl für unsere Familie zubereiten, und es wird zum Gebet. Auch Spaziergang im Park wird zum Gebet.

Alex fotografierte eine Kuhherde. Wie konnten schwarze und weiße Flecken, rein evolutionär gesehen, von Vorteil sein? Wirkliche Gewalt war ihm verhasst. Noch immer hörte er, wie in jener Nacht in Crouch End Callums Bein geknackt hatte. Er konnte die Berichte aus Afghanistan oder dem Irak nicht ertragen. Das sagte er jedoch niemandem. Bei Andy McNab war das etwas anderes, weil er einen Cartoon daraus machte. Und jetzt dachte er daran, wie Melissa den Reißverschluss an ihrem Jeansrock runterzog. Er bekam einen Ständer, den er mit dem Buch verdeckte. War es in Ordnung, auf die Stieftochter seines Onkels zu stehen? Manchmal heirateten Leute ihre Cousins, und das war okay, es sei denn, beide hatten rezessive Gene für irgendwas Schlimmes und die Babys kamen völlig verkrüppelt zur Welt. Aber Mädchen, die auf Privatschulen gingen, waren insgeheim dauerscharf, mit ihrer gebräunten Haut und ihren weißen Höschen, die nach Weichspüler dufteten. Vielleicht hatten sie ja das gleiche Badezimmer, dann würde er reingehen, die Tür zur Dusche öffnen und ihre eingeseiften Titten drücken, bis sie stöhnte.

In einer heißen Wohnung über der Werft ist ein Mann eingesperrt, der für seine Frau sorgt. Sie wird ihren Lebensabend in diesem Bett verbringen, vor diesem Fernseher. Zwei Zwillingsschwestern werden mit sieben Wochen getrennt, und ihnen bleibt nichts voneinander, nur eine Leere, die auf allen Wegen an ihrer Seite läuft. Ein Mädchen wird vom Freund ihrer Mutter vergewaltigt. Ein Kind stirbt und stirbt doch nicht ganz. Familie, dieses flüchtige Wort, der Leitstern für jedes irrende Schiff, und jeder segelt unter einem anderen Himmel.

Und dann war da noch ihr viertes Kind, das Kind, das niemand sonst sehen konnte. Karen, ihr geliebter, geheimer Geist, tot geboren vor so vielen Jahren. Holoprosencephalie. Hox-Gene, die bei der Teilung des Kopfes versagten. Ihr kleines Monster, dessen Gesichtszüge in der Mitte des Kopfes ineinander verschmolzen waren. Die Ärzte hatten ihr gesagt, sie solle nicht hinsehen, aber sie hatte es trotzdem getan und geschrien, sie sollten »es« wegschaffen. In den frühen Morgenstunden, während Dominic schlief und die ganze Station still war, wünschte sie sich den kleinen, kaputten Körper zurück in ihre Arme, denn vielleicht könnte sie es doch lernen, ihn zu lieben, ja, das könnte sie wirklich, doch der Schalter hatte sich umgelegt, und Karen war in jene Parallelwelt entschwunden, die sich ihr sekundenweise offenbarte, wenn sie im Auto saß oder im Zug, von Spinnweben überzogene Hütten und Zigeunercamps, tote Gleise und Autofriedhöfe, die Welt, die sie in ihren Träumen besuchte, in der sie durch Brennnesseln und Hundekot stolperte, durch die schwere, heiße Luft, angelockt von einer Mädchenstimme und dem Aufflackern eines Sommerkleides. Und der kommende Donnerstag wäre Karens achtzehnter Geburtstag. Genau das war es, was sie auf dem Land nicht ausstehen konnte, keine Ablenkung von den grausamen, irren Regungen des Herzens. Es wird dir gefallen, hatte Dominic gesagt, inzestuöse Einheimische, die nachts das Haus mit Heugabeln und brennenden Fackel umzingeln. Er verstand es einfach nicht, wie so oft in letzter Zeit.

Dominic wischte sich die Sandwichkrümel von der Lippe und sah zu Daisy hinüber, die kurz lächelte und sich dann wieder ihrem Buch widmete. Dieser Tage war sie viel ruhiger, keine unvorhersehbaren Tränenausbrüche mehr wie im letzten Jahr, denen gegenüber er sich unbeholfen und überflüssig gefühlt hatte. Es war natürlich Quatsch, der ganze Jesus-Kram, und manche von den Kirchenleuten waren einfach unerträglich. Hässliche Klamotten und falsche Fröhlichkeit. Doch irgendwie war er merkwürdig stolz auf die Stärke ihrer Überzeugung, wie sie beharrlich gegen den Strom schwamm. Wenn sich nur ihre richtigen Freunde nicht so weit von ihr entfernt hätten. Alex würde niemals aufblicken, egal, wie sehr man ihn anstarrte. Er las, wenn er las. Er lief, wenn er lief. Er hatte sich mehr von einem Sohn versprochen. Diese ödipale Wut mit zwei bis vier Jahren. Lass Mama los. Dann, von sieben bis zehn, das goldene Zeitalter, eine verbuddelte Geldkassette mit Milchzähnen und Pokémon-Karten, Campen im New Forest, die eine Nacht, in der das Pony den Reißverschluss des Zeltes öffnete und ihre Kekse stahl. Er brachte Alex das Klavierspiel bei, Titelsongs seiner Lieblingsserien in C-Dur, mit einem einzigen Finger der linken Hand. Star Wars, Jäger des verlorenen Schatzes. Doch irgendwann langweilte Alex das Klavier, er gab Benjy den Schlüssel zur Kasse und fuhr mit seinen Freunden zelten. Devon, Peak-District-Nationalpark.

Manchmal fragte er sich, ob er Daisy nicht wegen ihrer starken Überzeugung liebte, sondern wegen ihrer Einsamkeit, wegen der Art, wie sie einen Scherbenhaufen aus ihrem Leben machte, sodass es sich auf seines reimte.

Hinter allem steht ein Haus. Hinter allem steht immer ein Haus, verglichen mit dem jedes andere Haus immer größer oder kälter oder luxuriöser ist. Verkleideter Backstein aus den Dreißigern, ein verfallenes Gewächshaus, Rhabarber und rostige Castrol-Kanister für den Rasenmäher. Ganz hinten kann man den Kaninchendraht an einer Ecke wegbiegen und runter zur Talsenke schlüpfen, wo der Zug alle halbe Stunde nach Sheffield fährt. Die teerölbehandelten Bahnschwellen, der verschlossene Stromkasten für die Elektroleitungen. Wenn man einen Penny auf die Schienen legt, verwandelt der Zug ihn in eine lange, bronzene Zunge, das Gesicht der Queen ins Nichts gepresst.

Eine Rückblende, und du kniest am Rand des Sees, weil dein Bruder gesagt hat, dass es dort Kaulquappen gibt. Du greifst gerade in die Suppe aus Stängeln und Schleim, als dich dein Bruder schubst, und schreist noch immer, als du auf die Wasseroberfläche triffst. Dein Mund füllt sich mit Wasser. Angst und Einsamkeit werden immer so schmecken. Du rennst durch den Garten, völlig durchnässt, algenübersät, du schreist, Dad … Dad … Dad … Und du siehst ihn dort in der Küchentür stehen, doch er löst sich in Luft auf, als du die rissige Veranda erreichst, schubartig wie Captain Kirk im Transporterraum, mit dem gleichen summenden Geräusch, und dann ist der Türrahmen leer, die Küche ist leer und das Haus ist leer und dir wird klar, dass er niemals wiederkommt.

Hast du nichts Besseres zum Lesen dabei?, fragte Angela.

Doch, sagte Daisy, aber jetzt gerade möchte ich genau dieses Buch lesen, falls es dich nicht stört.

Kein Grund, sarkastisch zu werden.

Ladys …, sagte Alex, was das Fass mit Sicherheit zum Überlaufen gebracht hätte, wäre in diesem Moment nicht Benjy schreiend durch den Waggon gerannt und wie eine Flipperkugel an den Sitzreihen abgeprallt. Er hatte gerade auf der Toilette gestanden, als ihm der Werwolf aus der Queen-Victoria-Episode von Dr. Who eingefallen war. Augen so groß wie schwarze Billardkugeln und heißer Atem auf seinem Nacken. Er verkroch sich unter Dads Arm und rieb den seidigen Ärmel von dessen Sonntagshemd an seiner Oberlippe. Dad fragte: Alles gut, Captain?, und er sagte Yep, weil es jetzt so war, also nahm er sich sein Heft vom Naturkundemuseum und den Stift, der in acht Farben schrieb und malte die Zombies.

Als er wieder in die normale Welt auftauchte, rannten sie gerade zu einem anderen Gleis, um einen Anschlusszug zu bekommen, der in zwei Minuten abfahren sollte. Auf halbem Wege über die Brücke fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, das Metallding mitzunehmen. Was für ein Metallding?, fragte Mum. Das Metallding, sagte er, weil er ihm keinen Namen gegeben hatte. Es handelte sich um den Verschluss einer Aktentasche und Mum würde es später als Müll bezeichnen, aber ihm gefiel die Stärke des Mechanismus und wie seine Finger danach rochen.

Dad sagte: Ich hol’s dir, weil er als Kind einen Pferdezahn in einer Golden-Virginia-Tabakdose aufbewahrt hatte und Mum sagte Grundgütiger. Aber Dad kam mit dem Metallding in der Hand zurück und sprang in letzter Sekunde auf, er gab es Benjy und sagte: Hüte es mit deinem Leben. Und als der Zug den Bahnhof verließ, sah Benjy, wie eine alte Frau mit langen grauen Haaren von zwei Polizisten in fluoreszierenden gelben Westen verhaftet wurde. Einer von ihnen trug eine Pistole. Direkt neben ihnen fuhr ein Zug mit fast gleicher Geschwindigkeit her, und Benjy dachte an ein Gedankenexperiment von Albert Einstein, wie er mit einer Fackel in der Wiener Straßenbahn saß, die mit Lichtgeschwindigkeit fuhr, sodass das Licht einfach in der Luft stand wie Zuckerwatte.

Du hasst Richard, weil er dreihundert Meilen entfernt in Edinburgh in seinem großzügigen georgianischen Apartment am Moray Place umherschlendert, während du auf diesem abgenutzten olivgrünen Stuhl sitzt und Mum dabei zuhörst, wie sie durch den Käfig ihres gebrochenen Geistes tobt. Die Schwestern verbrennen mir die Hände. Gestern gab es einen Luftangriff.Du hasst ihn, weil er das alles bezahlt, die weitläufige Wiese, das zweitklassige Cabaret am Freitagabend, Magische Erinnerungen: Große Stars aus vergangenen Zeiten. Du hasst ihn dafür, dass er diese Frau geheiratet hat, die von deinen Kindern erwartete, dass sie ihr Lammcurry aßen, und die euch dazu zwang, in einem Hotel zu übernachten. Du hasst ihn dafür, sie so zügig ersetzt zu haben, als wäre ein Ereignis, dass das Leben anderer Menschen zerstört hat, nur ein weiterer medizinischer Eingriff, Tumor raus, Wunde nähen und abtupfen. Du hasst ihn, weil er der verlorene Sohn ist. Wann kommt Richard mich besuchen? Kennen Sie Richard? Er ist so ein wunderbarer Junge.

Und dennoch, im tiefsten Innern gefällt es dir, das gute Kind zu sein, das sich kümmert. Im tiefsten Innern wartest du noch immer auf ein letztes Urteil, das dich endlich über deinen unaufhörlich erfolgreichen Bruder erhebt, obwohl die einzige Person, die ein solches Urteil hätte fällen können, gerade in ihren letzten Schlaf pendelt, die Maske erst beschlagen, dann wieder klar, ein leises Zischen des Zylinders unter dem Bett. Und dann war sie verschwunden.

M6 in südlicher Richtung, die Ausläufer von Birmingham endlich hinter ihnen. Richard schaltete einen Gang runter und fädelte sich vor einen belgischen Chemietanklaster ein. Frankley Services in zwei Meilen. Er stellte sich vor, seinen Mercedes in einer Ecke des Rasthofes zu parken, um Louisa beim Schlafen zu beobachten, die Flut ihrer butterfarbenen Mähne, ihr rosiges Ohrläppchen, ein Rätsel, warum der Anblick der einen Frau einen Mann erregte und der einer anderen nicht, etwas tief im Stammhirn, wie eine Vorliebe für Süßes oder eine Schlangenphobie. Er sah in den Rückspiegel. Melissa hörte mit ihrem iPod Musik. Wie unbeteiligt winkte sie ihm zu. Er ließ Dido und Aenaeas, dirigiert von Eliot Gardiner, in den CD-Player gleiten und drehte die Lautstärke auf.

Melissa starrte aus dem Fenster und stellte sich vor, in einem Film zu sein. Sie lief über einen Platz aus Kopfsteinpflaster, Tauben, eine Kathedrale. Sie trug die rote Lederjacke, die Dad ihr in Madrid gekauft hatte. Fünfzehn Jahre alt. Sie lief hinein, Köpfe drehten sich und plötzlich verstand sie.

Aber sie würden wollen, dass sie sich mit dem Mädchen anfreundete, nicht wahr, nur weil sie im gleichen Alter waren. So wie Mum unbedingt mit dieser Kassiererin bei Tesco befreundet sein wollte, weil sie beide siebenundvierzig waren. Das Mädchen hätte eigentlich optisch etwas aus sich machen können, hatte aber einfach keine Ahnung. Vielleicht war sie lesbisch. Sieben Tage auf dem Land mit der Sippe von jemand anderem. Für Richard ist das eine wichtige Angelegenheit. Denn Richard bei der Stange zu halten war schließlich ihre wichtigste Aufgabe im Leben.

Genau.

Schüttle die Wolke ab von deinen Brauen, Das Schicksal erhört deine Wünsche; Dein Reich wächst mächtig, §Freuden strömen, Fortuna lächelt, lächeln sollst auch du.

Ein Idiot auf einem Motorrad überholte ihn mit Überschallgeschwindigkeit. Richard stellte sich eine lang gezogene Ölspur vor, den Funken sprühenden, schlitternden Tank und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, die Eltern, die sich mit der Transplantation aller wichtigen Organe einverstanden erklärten, damit sich noch irgendetwas Gutes aus diesem so jung verwirkten Leben gewinnen ließe, obwohl mit Sicherheit ein dummer Zufall dazwischenkäme und irgendein armer Kerl die nächsten dreißig Jahre seinen Katheter ausleeren und ihm das Rührei vom Mund abwischen würde.

Dido und Aenaeas. Das mussten sie sich schon in der Schule bei Roper dem Grapscher anhören. Perlen vor die Säue. Wahrscheinlich saß er mittlerweile im Knast. Vorsicht, er wartet im Instrumentenschrank auf dich. Das war früher ihr Witz gewesen. Kinderbelästigung. Doch jetzt, im Nachhinein, fühlt es sich so an, als wäre Roper das Opfer gewesen, all die Sticheleien, die feuchten Augen. Die Art Mensch, die sich in einem verlassenen Waldstück erhängte.

Louisa wachte langsam auf. Klassische Musik und der Geruch des Duftbaumes aus Pappe am Rückspiegel. Sie war also mit Richard im Auto. Dieser Tage schwebte sie so oft zwischen den Welten, keine von ihnen die Wirklichkeit. Ihre Brüder, Carl und Dougie, arbeiteten in einer Autofabrik und wohnten sechs Häuser voneinander entfernt in einer eher ungemütlichen Wohngegend. Nicht unbedingt Autoachsen auf Pflastersteinen und alte Kühlschränke auf dem Rasen, zumindest nicht in ihren eigenen Gärten. Wenn sie zu Besuch kam, taten sie so, als seien sie stolz auf die Schwester, die sich gesellschaftlich verbessert hatte, doch was sie eigentlich empfanden, war Verachtung, und so sehr sie sich Mühe gab, ihnen ebenfalls Geringschätzung entgegenzubringen, spürte sie den verführerischen Sog einer Welt, in der du nicht ununterbrochen darauf achten musstest, wie andere dich sahen. Für Craig, ihren Ex, war es früher das Größte gewesen. Die Zwei-Welten-Schiene, im Jaguar zur Pommesbude und in der Donkeyjacke zum Elternabend.

Wales. Das hatte sie schon vergessen. O Gott. Sie war Richards Familie erst einmal begegnet. Du hast sie gemocht, und sie haben dich gemocht. Oder etwa doch nicht? Sie hatte sie mit ihrem vielen Schwarz ausgestochen. Benjamin, der kleine Junge, hatte ausgerechnet ein Simpsons-T-Shirt getragen. Sie hatte gehört, wie er seinen Vater gefragt hatte, was mit Omas Körper in den nächsten Monaten passieren würde. Und wie die Tochter die Kirchenlieder gesungen hatte. Als ob mir ihr etwas nicht in Ordnung war.

Richard war auf Tony Carborns Hochzeit neben Louisa platziert worden, gemeinsam saßen sie am »Scheidungstisch«, wie sie sehr treffend bemerkte, in einer Ecke des Pavillons, vermutlich, um den schlechten Voodoo einzudämmen. Jemandes ausrangierte Trophäe, dachte er. Er stellte sich vor, und sie sagte nur: Ersparen Sie sich und mir eine Anmache, okay? Offensichtlich war sie betrunken. Scheinbar ziehe ich die Männer heute magisch an. Er erklärte, er habe diesbezüglich keine besonderen Absichten, und sie lachte, ganz offensichtlich eher über ihn als mit ihm.

Er wandte sich ab und lauschte einem korpulenten Allgemeinmediziner, der sich über die hohe Zahl Heroinabhängiger beklagte, die er in seiner Praxis behandeln musste, doch seine Aufmerksamkeit wanderte immer wieder zu dem Gespräch an seiner anderen Seite. Es ging um Promi-Tratsch und die Fehltritte von Louisas Ex-Mann, dem wohlhabenden Bauunternehmer. Ganz offensichtlich hatte er mit ihr nicht viel gemeinsam, doch mit dem Allgemeinmediziner, der ihn zu Tode langweilte, hatte er noch viel weniger gemeinsam. Später beobachtete er sie auf der anderen Seite der Tanzfläche, breite, aber kompakte Hüften, sie hatte etwas Nordisches an sich, fühlte sich auf eine Art in ihrem Körper wohl, wie es Jennifer nie getan hatte. Diesbezüglich keine besonderen Absichten. Er hatte sich wie ein arrogantes Arschloch verhalten. Als sie sich wieder hinsetzte, entschuldigte er sich für seine Unhöflichkeit von vorhin, und sie sagte Erzählen Sie mir etwas von sich, und ihm fiel plötzlich auf, wie lange es her war, dass ihn jemand um so etwas gebeten hatte.

Mum lächelte Richard an und strich sich verführerisch eine Haarsträhne hinters Ohr. Unwillkürlich stellte Melissa sich die beiden beim Sex vor und ekelte sich. Sie standen im Stau und Mika sang Grace Kelly. Sie nahm sich einen schwarzen Kugelschreiber und kritzelte ein Pferd auf das Deckblatt des Romans von Ian McEwan. Merkwürdig, dass die Hand Teil des Körpers war, wie der Greifarm eines dieser Automaten auf der Kirmes, der Kuscheltiere aus einem Glaskasten hob. Man konnte sie sich mit einem Eigenleben vorstellen, wie sie dich nachts erwürgte.

Meines, selbst von Sorgenstürmen ganz zerrissen, Hat gelernt, der Elenden sich zu erbarmen. Armer Toren Leid kann rühren Meine mitfühlende, empfindsame Brust. Doch ach! Ich fürchte, ich empfinde seines zu stark!

Er dachte an das Mädchen, das in der letzten Woche in der Unfallklinik aufgetaucht war. Nikki Fallon? Hallam? Neun Jahre alt, smaragdgrüne Augen und fettiges, blondes Haar. Er wusste schon alles, bevor er die Röntgenaufnahmen gemacht hatte. Sie war irgendwie zu biegsam, zu flach, eines dieser Kinder, das nie die Möglichkeit gehabt hatte, Nein zu sagen, und aufgehört hatte, es zu versuchen. Sechs alte Frakturen und eine leere Krankenakte. Er ging zu ihrem Stiefvater, um ihm zu sagen, dass sie Nicki dabehalten würden. Der hing in einem der Plastikstühle und sah gelangweilt aus, trug eine Jogginghose und ein dreckiges schwarzes T-Shirt, auf dem BENCH stand. Der Mann, der sie misshandelt hatte oder anderen erlaubt hatte, sie zu misshandeln. Er stank nach Zigaretten und Aftershave. Richard wollte ihn niederschlagen und immer weiter auf ihn einschlagen. Ich muss mit Ihnen sprechen.

Ach ja?

Richards Wut verebbte. Denn der Typ war selbst nicht viel älter als ein Teenager. Und zu dumm, um zu verstehen, dass er im Gefängnis enden würde. Dass sie ihm dort beim Küchendienst Zucker und kochendes Wasser ins Gesicht kippen würden. Würden Sie bitte mitkommen?

Melissa krempelte die Ärmel von Dads Holzfällerhemd hoch. Selbst nach so langer Zeit roch es noch entfernt nach ihm. Mörtel und Hugo Boss. Er war ein Arsch, aber, o Mann, manchmal beobachtete sie Richard, der und sein Rennrad, oder wie er das Kreuzworträtsel zuerst mit Bleistift ausfüllte … An manchen Abenden wünschte sie sich, dass ihr Dad aus den Weiten der Prärie angeritten käme, Staub und Schweiß und Steppenläufer, dass er die Saloon-Tür auftrat und ein paar Kugeln in Richards dämliche Kunstführer jagte.

Land of hope and glory, sang Mika. Mother of the free ride, I’m leaving Kansas, baby. God save the queen.

Hereford, Heimat des Special Air Service. Richard konnte sich selbst darin sehen, im Falle eines gerechten Krieges. Ihn reizte nicht so sehr das Töten als vielmehr der Wagemut, so wie er als Junge beim Staudammbau geholfen hatte, obwohl es vielleicht aufregend wäre, einen anderen Menschen zu töten, wenn einem schon im Vorhinein die Absolution erteilt wurde. Denn die Leute dachten immer, dass man den Menschen helfen wolle, wohingegen die meisten seiner Kollegen einfach das Risiko liebten. Das Glitzern in Stevens Augen, als er zur Pädiatrie gewechselt war. Sie sterben schneller.

Louisa hatte am Grab seine Hand gedrückt. Nieselregen und über ihnen ein Polizeihubschrauber. Der herrenlose Hund, der wie ein waltender Geist zwischen den Bäumen stand, vielleicht der Geist seines Vaters. Er ließ seinen Blick über die Grabstätte schweifen. Diese Menschen. Louisa, Melissa, Angela und Dominic und ihre Kinder, sie waren jetzt seine Familie. Sie hatten die letzten zwanzig Jahre damit verbracht, einander aus dem Weg zu gehen, ohne zu wissen, warum.

Melissa drückte auf Pause und sah aus dem Fenster. Helle Sonnenstrahlen fielen auf die Straße, doch in der Ferne regnete es noch, so als habe jemand versucht, den Horizont wegzuwischen. Dieses Leuchten wie unter Wasser. Sie würden schon ein Scrabble-Spiel finden, natürlich, eine abgewetzte Box in irgendeiner Schublade, dazu ein Kartenspiel mit einundfünfzig Karten und eine Broschüre von einer Ziegenfarm.

Jetzt waren sie wirklich mitten auf dem Land, die Erde voller Hügel und Falten. Ein erhabenes Ahnen von etwas, das viel tiefer noch verwoben ist. Schroffer Wind, tanzende Baumkronen, eine Böe orangefarbener Blätter und ein schwarzer Plastiksack, der an einem Tor flattert. Die Straße war eine Kette aus Kurven und Serpentinen. Richard fuhr zu schnell. Tiefe Wolken wie Perlen. Turnastone. Upper Maes Coed. Llanveynoe. Oben auf einem der Hügel war die Aussicht plötzlich gewaltig. Offas Deich, sagte Richard. Eine dunkle Anhöhe auf halbem Weg zum Himmel. Sie bahnten sich auf der einspurigen Straße ihren Weg ins Tal, gesäumt von grasbewachsenen Berghängen wie in einer Bobbahn. Richard fuhr noch immer zu schnell, und Mum krallte die Hände in den Sitz, sagte jedoch nichts und … Scheiße!, rief Louisa und Fuck!, schrie Melissa, und der Mercedes kam schliddernd und knirschend zum Stehen, aber es waren nur eine Schafherde und ein alter Mann im dreckigen Pulli, der drohend seinen Stab schwenkte.

Zwei Segelflieger gleiten durch die frostige, graue Luft, die über den Berggrat zieht, sie fliegen so tief, dass man eine Leiter gegen den Flugzeugrumpf lehnen könnte, um hinaufzuklettern und mit dem Piloten zu reden. Horizontale Regengüsse. Heidekraut und Moorgras und kleine Krater voll sich kräuselndem, torfigem Wasser. Über dem Trigonometer taucht ein Rotmilan durch die Löcher im Wind, dann gleitet er ins Tal, während er mit den Augen den Boden nach Ratten und Kaninchen absucht.

Früher lag hier flaches Küstengebiet, bevor die großen Platten aufeinandertrafen und es in die Höhe stauchten. Kalkstein und Steinformationen. Die Täler ausgehobelt vom Geröll der Gletscher. Upper Blaen, Firs Farm, Olchon Court. Die Straßen und Wanderrouten folgen noch immer denselben Wegen wie im Mittelalter. Jeder läuft in den Fußstapfen derer, die es vor ihm gab.

Das rote Haus ist ein romano-britischer Bauernhof, erst verlassen, dem Verfall preisgegeben, von Plünderern seiner Steine beraubt, dann neu errichtet, niedergebrannt und wiederaufgebaut. Farmpächter, Untergebene der Marcher Lords, eine schwangere Tochter, die sich in den Bergen versteckte, ein Mann, der sich vor den Augen seiner Frau die Muskete in den Mund steckte und seinen halben Kopf an die Wand pustete, ein besoffener Priester, der das Haus bei einer Pferdewette verlor, wie die Leute munkeln, obwohl die Leute schon längst Vergangenheit sind. Zwei Messinglöffel unter den Dielen. Eine Reichsbanknote über 20.000 Mark. Briefe aus Florenz, horizontal und vertikal beschrieben, um Papier zu sparen, füllen nun braun und brüchig und zusammengeknüllt eine Wand. Bruder, meine Lunge ist hin. Die Söhne einer Familie wurden in Flers Courcelette und Morval niedergemetztelt. Zwei ältliche Schwestern, die dem Zweiten Weltkrieg standhalten, eine von ihnen rafft ein Tumor in der Leber dahin, die andere wird schließlich in ein Altersheim in Builth Wells verfrachtet. Cremefarbene Wände und unbehandeltes Kiefernholz. Die Löschdecke in ihrem roten Holster. Die Shentons – 22. bis 29. März – Wir haben einen Hirsch im Garten gesehen … Gerahmte Aquarelle von Malven und Pechnelken. Biologisch abbaubares Spülmittel. Eine willkürliche Ansammlung alter, gebundener Bücher aus zweiter Hand. Eine Broschüre von einer Ziegenfarm.

Dominic hatte eigentlich ein Großraumtaxi bestellt, doch stattdessen tauchte ein Wikinger mit Ohrring und einer Narbe in einem metallic grünen Vauxhall Insignia auf. Sie stapelten die Reisetaschen auf ihren Knien, und der Regen prasselte gegen die beschlagenen Scheiben. Benjy saß zwischen Mum und Daisy eingequetscht, was ihm jedoch gefiel, weil er sich dadurch sicher und warm fühlte. Zu Hause war er wegen der Woche Spielverbot mit Pavel einsam gewesen, sie hatten sich gehauen und Pavels Hose war voller Blutflecken gewesen, doch es war schön, in Urlaub zu fahren, vor allem, weil man jeden Abend Nachtisch essen durfte. Er hatte noch nie mit Onkel Richard geredet, aber er wusste, dass er ein Radiologe war, der Leuten Schläuche in den Bauch steckte und dann bis hoch in ihr Gehirn schob, um Verkalkungen zu reinigen wie ein Schornsteinfeger, und das war ein grandioser Gedanke. Ein Sattelschlepper kam wie auf einer Welle des Sprühregens an ihnen vorbeigerast und für ein paar Sekunden schien ihr Auto unter Wasser zu sein, also stellte er sich vor, in dem Hai-U-Boot aus dem Schatz Rackhams des Roten zu sitzen.

Alex rechnete aus, wie viel ihn dieser Urlaub kosten würde. Zwei Schichten weniger in der Videothek, zwei verpasste Runden mit den Hunden. Hundertdreiundzwanzig Pfund Verlust. Doch die Berge würden ihm guttun. Viele hielten ihn für einen Langweiler. Aber das war ihm schnurzpiepegal. Wenn man kein Geld verdiente, war man der Gelackmeierte. Falls er so weitermachte, würde er ohne einen Kredit durchs College kommen. Er massierte sich die Stirn. Ein Druck hinter seinem linken Auge und dieser saure Geschmack hinten in der Kehle. In fünfzehn Minuten wären die Schmerzen da, neongrüne Flecken würden über sein Sehfeld flackern. Er öffnete das Fenster einen Spaltbreit und atmete die kalte Luft ein. Er brauchte Dunkelheit. Und Ruhe.

Oi, sagte Dad, als er sich umdrehte und Alex’ Gesichtsausdruck sah. Sollen wir anhalten?

Er schüttelte den Kopf.

Noch zehn Minuten, okay?

Sie bogen von der Hauptverkehrsstraße ab und plötzlich waren sie raus aus dem Regen, die Welt schien gesäubert und glitzerte. Sie holperten über einen kleinen Hügel, als säßen sie in einer Achterbahn, und Offas Deich kam wieder in Sicht, ein goldener Einschnitt entlang des Gebirgskamms, als wäre der Himmel aufgerissen und ließe nun das Licht des Jenseits durchscheinen.

Heilige Scheiße, Batman, sagte Benjy und niemand schimpfte mit ihm.

Bohnerwachs und frische Bettbezüge. Louisa stand in der Mitte des Schlafzimmers. Ein gerade eben wahrnehmbares, unterirdisches Brummen, ein kühler Hauch. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. In diesem Zimmer hatte jemand gelitten. Sie hatte es seit ihrer Kindheit gespürt, in diesem Haus, auf jenem Flur. Dann hatte Craig Danes Scheune gekauft, und sie hielt es keine fünf Minuten darin aus. Er sagte ihr, sie führe sich lächerlich auf. Eine Woche später erfuhr sie die Geschichte von dem Jungen, der sich in der Tiefkühltruhe versteckt hatte.

Melissa lief über die kühlen Kacheln des Eingangsbereiches in das helle Rechteck des Tages. Sie nahm ihre Ohrstöpsel heraus. Diese Stille, wie ein eigenständiges Geräusch, das alle anderen Geräusche in sich vereinte, raschelndes Gras, Hundekläffen in der Ferne. Sie wischte die Bank mit einem Geschirrtuch ab und setzte sich mit Liebeswahn in der Hand darauf, doch sie konnte sich nicht auf die Worte konzentrieren, weil sie noch nie länger als fünf Tage am Stück auf dem Land gewesen war. Kellmore in der Elf. Seilrutschen und Bacardi Breezer. Kashas epileptischer Anfall in der Dusche. Hier gab es wirklich rein gar nichts zu tun. Sie hatte zwei Joints ganz unten in ihrer Tasche dabei, doch die würde sie da oben bei den Schafen rauchen müssen. Richard bekifft. O Gott. Das stelle man sich mal vor. Du liebe Güte! Mir ist vorher einfach nie aufgefallen, wie absolut fabelhaft dieses Klavierkonzert von Mozart ist. Wir haben nicht zufällig noch ein paar Kekse im Haus? Aber eigentlich war es schön hier, wenn man genauer darüber nachdachte, dieses riesige grüne Becken, die Wolken, die im Flug ihre Form änderten, der Geruch von Räucherholz. Eine bananengelbe Raupe tauchte wie ein winziges Fragezeichen auf der Armlehne der Bank auf. Sie wollte sie gerade mit dem Finger wegschnippen, doch dann stellte sie sich vor, sie trüge einen Namen in einem Kinderbuch, und plötzlich holperte ein grünes Auto durchs Tor und Alex und sein kleiner Bruder purzelten heraus wie Clowns aus einem Zirkuswagen.

… überwältigende Aussicht auf das Olchon Valley … unter Denkmalschutz … geschmackvoll restauriert … zweites Badezimmer … großer eigener Garten … Sträucher, alte Bäume … Vorsicht vorm Ertrinken … Mischbatterie … Wäschetrockner … kein Fernsehempfang … 1200 £ … mutwillige Beschädigungen … American Express … die Klärgrube …

Dominic half dem Fahrer beim Entladen des Gepäcks, während Benjy die Kofferschnalle aus einer krümeligen Ritze des Polsters rettete. Richard drückte Angela mit einem Arm, mit dem anderen hielt er eine Teetasse von ihren Körpern weg. Das Glitzern nach dem Regen, in der Ferne noch immer ein kläffender Hund. Daisy gab Richard die Hand und nervte ihn prompt mit ihrem Wieschön, dass wir uns wiedersehen, als wäre sie eine Kollegin, also wandte er sich an Benjamin. Und wie geht’s dir, junger Mann?

Melissa hielt Alex’ Blick für zwei Sekunden stand, und er vergaß kurzzeitig seine Übelkeit. Weiße Höschen. Sie sah, wie sehr er sie begehrte und wie naiv er war, und plötzlich schien ihr die Woche nicht mehr ganz so leer. Langsam lief sie auf die Haustür zu, sein Blick wie Sonnenstrahlen in ihrem Rücken. Schlampe, dachte Angela, doch Alex sah schon die ersten grünen Flecken und musste schnell ins Badezimmer. Sie hatte diesen Hochglanz-Look, dachte Daisy, irgendwie reinrassig. Wehendes Haar in Zeitlupe. Wahrscheinlich war sie die Anführerin von einem dieser eisigen kleinen Hexenzirkel in der Schule. Doch trendy und beliebt zu sein waren oberflächliche, vergängliche Dinge. Das durfte Daisy nie vergessen. Oberflächliche Menschen waren auch nur Menschen, die wie alle anderen der Liebe bedurften.

Der Vauxhall Insignia wendete in vier Anläufen und schrappte über die Unebenheiten im Boden, dann war es still im Garten, sodass der Rotmilan unter sich nur ein großes, gemähtes Wiesenviereck sah, das sich zur gegenüberliegenden Seite des Tales neigte und, sicher in seinem geometrischen Zentrum, ein Haus, herrschaftlich und streng und bestimmt nicht bloß irgendein Bauernhof. Hohe Schiebefenster und grauer Stein in langen, schmalen Reihen, ein Haus, in dem Autoren wie George Eliot oder Jane Austen einen Vikar und seine fiesen, abstinenten Schwestern hätten residieren lassen. Rund um das Grundstück verlief eine Trockensteinmauer, die von zwei Toren unterbrochen wurde, eines für Menschen, eines für Kutschen, beide aus verschnörkeltem Gusseisen und mittlerweile von Rost überzogen. Eine Wetterfahne in Form eines rennenden Fuchses. Rhododendren und ein seichter Zierteich voller Froschlaich. Im Holzschuppen lag ein Pferdeschädel.

Alex spülte sich den Mund mit kaltem Wasser aus und tastete sich mit nur einem geöffneten Auge über den Flur. Er ließ sich aufs Bett sinken, drückte das Kissen auf seinen Kopf, um das Licht und die Geräusche zu verbannen, und rollte sich zusammen.

Angela war von Louisa mit einem Glas Rotwein in der Küche abgefangen worden. Dieser teure, modrige Geschmack. Melissa ist Vegetarierin. Ich persönlich könnte gut und gerne auf Fleisch verzichten, aber Richard ist in dieser Hinsicht noch immer ein Höhlenmensch.

Warum konnte sie diese Frau nicht leiden? Der cremefarbene Rollkragenpullover, diese Art, wie sie das Glas ins Licht hielt, als wäre es eine Spritze, von der ein Menschenleben abhing. Zwiebeln zischten in der Pfanne. Sie dachte daran, wie Carl Butcher im letzten Schuljahr diese Katze getötet hatte. Die haben sie gegen die Wand gehauen, Miss. Sie kannte den Polizisten von der Fahrradprüfung. Carls hartes kleines Gesicht. All diese Jungs, die wussten, dass die Welt sie nicht wollte und dass Dummheiten ihre einzige Möglichkeit waren, eine winzige Spur zu hinterlassen. Aber Menschen essen Kühe. Das Intelligenteste, was er in diesem Schuljahr von sich gegeben hatte.

Keine Ahnung, wie sie hier überleben soll, sagte Louisa. Hundert Meilen von der nächsten Jack-Wills-Filiale entfernt.

Ein gelber Traktor und die untergehende Sonne über Offas Deich, heruntergekommene Scheunen und Wellblechdächer, der Berg so steil, dass Daisy das Gefühl hatte, als blicke sie aus dem Fenster eines Flugzeugs, der Wind das einzige Geräusch. Sie könnte den Arm ausstrecken und den Traktor mit Daumen und Zeigefinger hochheben. Das war das Paradies. Kein Märchen, sondern das Hier und Jetzt. Das war der Ort, aus dem wir verbannt wurden. Ein Raubvogel glitt über das Tal, bis er von der grünen Weite verschluckt wurde. Das prickelnde Gefühl von Schwindel in ihren Fußsohlen. Wir würden in den Jahrhunderten verschwinden, so wie der Vogel dort im Himmel verschwunden war. Sie und Melissa waren sich kurz zuvor im Flur begegnet. Sie hatte Hallo gesagt, doch Melissa hatte sie nur angestarrt, als sie sich wie in einem Italo-Western aneinander vorbeibewegten, alles in Zeitlupe.

Ein roter Volvo schlängelte sich langsam von Longtown aus die Straße hoch, er verschwand in jeder Biegung und tauchte dann wieder auf. Bergab konnte sie sehen, wie Benjy, der sich im Garten, mit einem Stock bewaffnet, im Ninjakampf übte. Uff …! Hija …! Hier draußen konnte sie niemand sehen, niemand beurteilte sie. Sie betrachtete sich im Spiegel und glaubte das Tier zu erkennen, das sie in sich gefangen hielt, das wuchs und fraß und forderte. Sie wollte ganz normal aussehen, sodass die Blicke der Menschen einfach über sie hinweg glitten. Weil Mum sich irrte. Es ging nicht darum, dieses oder jenes zu glauben, nicht um gut und böse, richtig oder falsch, es ging darum, die nötige Stärke zu finden, um das Unwohlsein zu ertragen, das es mit sich brachte, auf dieser Welt zu sein.

Hoch über ihr schoben sich die Wolken vorwärts. Melissa ging ihr nicht aus dem Kopf. Von ihr strömte eine Anziehungskraft aus, die Möglichkeit eines weichen Kerns, die Herausforderung, hinter ihre diversen Fassaden zu gelangen.

Mit einem Bier in der Hand ließen Dominic und Richard den Blick über die Gartenmauer schweifen, zwei Gentlemen an Deck, vor ihnen die ruhige, grüne See. Angela hat erzählt, dass Du jetzt in einer Buchhandlung arbeitest. Einzelhandel oder Kette?

Eine Filiale von Waterstone’s, sagte Dominic. Der beste Job, den ich je hatte, um ehrlich zu sein. Er blickte auf. Keine Kondensstreifen wegen der Vulkanasche. Wie die Felder auf halbem Weg zur Bergspitze aufhörten und es schließlich nur noch Ginster und Farne und Geröll gab, diese Dunkelheit, wo der Gipfel auf den Himmel traf, Mordor und das Auenland nur fünfzig Meter voneinander entfernt.

Ach wirklich?, fragte Richard. Wie konnte man überhaupt arbeitslos werden, wenn man selbstständig war? Wahrscheinlich hatte man einfach mal mehr und mal weniger zu tun. Ein talentierter Musiker noch dazu. Richard erinnerte sich an einen Besuch bei ihnen vor einigen Jahren, bei dem Dominic die Kinder mit einer Jazzversion von Twinkle TwinkleLittle Star unterhalten hatte und mit der Titelmelodie von Blue Peter, die er klingen ließ, als stammte sie von Mozart. Doch sein Geld verdiente er mit dem Komponieren von Werbe-Jingles, Waschmittel und Schokoriegel. Richard konnte sich nicht vorstellen, einen Karriereweg einzuschlagen, ohne es an die Spitze schaffen zu wollen. Dies galt wohl auch für Angela, doch sie war eine Frau mit Kindern, das war etwas anderes. Und nun rann ihr alles durch die Finger.

Es ist wirklich schön hier, sagte Dominic und drehte sich langsam, um das gesamte Panorama zu bewundern.

Gern geschehen, sagte Richard.

Benjy bleibt am Flurtisch stehen und blättert durch den Guardian. Zeitungen faszinieren ihn. Manchmal liest er Sätze, die ihm Angst machen, Dinge, von denen er sich wünschte, sie ungelesen machen zu können. Vergewaltigungen, Selbstmordanschläge. Doch der Sog der Erwachsenennachrichten ist zu stark. Ein Ölteppich von viertausend Quadratmeilen treibt über die Deep-Horizon-Bohrinsel … Dreißig Tote in Mogadischu … Fünfzig Tonnen Müll in Walmagen gefunden … In der letzten Zeit hat er oft an den Tod gedacht. Der Vater von Carly aus seiner Schule ist mit dreiundvierzig an einem Herzinfarkt gestorben. Grannys Beerdigung. Im Fernsehen war eine Frau mit Analkrebs.

Er legt die Zeitung weg und erkundet das Haus, er betritt jedes Zimmer auf der Suche nach Fluchtwegen und Orten, an denen sich der Feind versteckt halten könnte. Ins Schlafzimmer kann er nicht, weil Alex dort mit Migräne liegt, also geht er in die Küche, um sich ein Messer zu holen, mit dem er einen Speer schnitzen könnte, doch da ist Tante Louisa, also geht er raus und findet einen langen Ast beim Feuerholzvorrat. Er hackt einem Zombie den Kopf ab, und aus dem Stumpf des Körpers spritzt das Blut und der Kopf rollt auf den Boden und brüllt etwas auf Deutsch, bis er von dem Huf eines Pferdes zerquetscht wird.

Alex schob seine Beine über den Rand des Bettes und richtete sich langsam auf, sein T-Shirt war schweißnass. Sein Kopf fühlte sich an wie nach einem Schlag, und alle Farben waren seltsam verschoben, wie in einem Film aus den Sechzigern. Er konnte die Zwiebeln riechen, die unten gebraten wurden, und hörte, wie Benjy draußen imaginäre Feinde bekämpfte. Uff …! Hija …!

Melissa öffnete die klappernde Rotring-Dose. Bleistifte, Radierknete, Skalpell. Sie spitzte einen 3B an und ließ die geringelte Schale in den Weidenkorb fallen, dann hielt sie einen Moment inne, um einen kleinen Ort der Stille zu finden, bevor sie anfing, die Blumen zu zeichnen. Kunst zählte in der Schule nicht, weil es dir nicht dabei half, einen Studienplatz in Jura oder BWL oder Medizin zu bekommen. Es war einfach so ein luftiges Etwas, das an Design und Technik dranklebte, ein freiwilliger Fortgeschrittenenkurs für Leute, die zeichnen konnten, wie eine zweite Fremdsprache, doch sie liebte Kohle und richtig gute Gouachefarbe, es gefiel ihr, die dicke schwarze Tinte auf eine Lino-Platte zu rollen und den schweren Arm der Druckpresse hochzuheben, die Ruhe und die großen weißen Wände.

Daisy kam ins Wohnzimmer und sah Alex, der ein großes Glas Wasser mit Eiswürfeln trank und in den leeren Kamin starrte. Wie geht es dir?

Einfach fantastisch. Er hob sein Glas, um einen Toast anzudeuten, und die Eiswürfel klimperten.

Immer diese gestelzten Gespräche, wie Fremde auf einer Cocktailparty. Ich bin den Berg rauf. Da oben ist quasi Alexonien.

Für einen Moment schien er irritiert, als müsse er sich erst erinnern, wo er war. Ach so, ja, kann sein.

Vor ein paar Jahren war er ein ungebärdiges Kind gewesen, unfähig, während einer ganzen Mahlzeit still zu sitzen, er war vom Trampolin gefallen und hatte seinen eingegipsten Arm als Baseballschläger benutzt. Sie hatten mit Benjy Fangen und Verstecken und das Leiterspiel gespielt und übereinanderliegend ferngesehen wie schläfrige Löwen. Jetzt schien er einer fremden Spezies anzugehören, völlig unbeeindruckt vom Leben. Dads Zusammenbruch berührte ihn kaum. Sie hatte einmal einen Geschichtsaufsatz von ihm gelesen, irgendetwas über die wirtschaftliche Situation Deutschlands vor dem Zweiten Weltkrieg und dass die Juden als Sündenböcke hatten herhalten müssen, und hatte verblüfft festgestellt, dass da eine eigenständige Person in ihm war, die dachte und fühlte. Wie findest du Melissa?

Ganz okay.

Blödsinn. Natürlich stand er auf sie, weil Jungs an nichts anderes denken konnten. Sie wollte lachen und ihn an den Haaren ziehen, einen dieser spielerischen Kämpfe vom Zaun brechen, die sie früher ausgetragen hatten, doch da war ein Energiefeld, und die Regeln hatten sich geändert. Sie streckte die Hand aus, um seinen Nacken zu berühren, stoppte jedoch wenige Zentimeter von ihm entfernt. Wir sehen uns beim Abendessen.

Das werden wir.

Richard öffnete die quietschende Eisentür des Ofens. Einige Aschepartikel wurden aufgewirbelt und sanken am Knie auf seine Hose. Er knüllte eine Zeitung aus dem großen Korb zusammen. PORT-AU-PRINCE IN TRÜMMERN. Ein unscharfes Foto von einem kleinen Jungen, der aus dem Schutt gezogen wurde. Niemand interessierte sich wirklich dafür, solange keine Kinder litten. All die kleinen blonden Mädchen mit Leukämie, während in London tagtäglich farbige Kids abgestochen wurden. Für einen Moment liebäugelte er mit der Möglichkeit eines Feueranzünders, doch sie schien ihm wenig männlich, also baute er ein kleines Tipi aus Kleinholz um die zusammengeknüllte Zeitung herum. Ein Bild des Sharne-Mädchens flackerte durch seinen Kopf. Sie hat für Upper Thames gerudert. Denk an was anderes. Er entzündete ein Streichholz. Swan Vestas. Die Art, wie die Streichhölzer dieser Marke quer in der Packung lagen, erinnerte ihn an die übereinandergestapelten Baumstämme bei der Thorpe Sägemühle. Das Papier fing Feuer, und die Flamme war eine orangefarbene Flagge im Sturm.Er schloss die Tür und öffnete den Lüftungsschacht. Luft fegte hinein. Seine Knie taten weh. Er musste sich mehr bewegen. Er dachte daran, wie er später mit Louisa schlafen würde, an die Sauberkeit ihrer Haut nach einer Dusche, an das Kakaobutter-Duschgel, das sie wie Kuchen schmecken ließ.

Sie halten sich in den Bäumen versteckt, sagte Daisy, mit Pfeil und Bogen. Und wir haben die Geheimpläne.

Geheimpläne wofür?

Sie knibbelte einen Moosklumpen vom Rand der Bank ab. Für eine Mondrakete.

Das ist langweilig, sagte Benjy.

Sie dachte an die Männer mit Pfeil und Bogen. Sie waren wirklich hier gewesen, nicht wahr, vor langer, langer Zeit. Und Mammuts und adelige Damen in Krinolinen und Spitfire-Flieger am Himmel. Die Orte überdauerten, und die Zeit wehte durch sie hindurch wie Wind durch Gras. Genau jetzt. Die Zukunft wurde zur Vergangenheit. Etwas wurde zu etwas Neuem. Wie die Flamme am Ende eines Streichholzes. Holz wurde zu Rauch. Wenn es uns nur möglich wäre, noch heller zu brennen. Wie eine Hütte nachts in Flammen zu stehen.

Angela sah aus dem Schlafzimmerfenster. Dominic und Richard unterhielten sich am Rand des Gartens, wie Männer sich eben unterhalten, in der einen Hand ein Bier, die andere Hand tief in der Hosentasche vergraben, geradeaus starrend. Sie fragte sich, worüber sie sprachen und worüber sie sich Mühe gaben, nicht zu sprechen. Mit ihren siebenundvierzig Jahren fühlte sie noch immer die Wut einer Fünfzehnjährigen über ihren jüngeren Bruder, der sich mit Mum verbündete und sie nach Dads Tod einfach ausschloss. Sie griff nach der Tafel Schokolade ganz unten in ihrer Tasche, riss das Papier und die lila Folie zurück und steckte sich den ersten Riegel in den Mund. Dieser plötzliche Kinderzimmer-Rausch. Mum und Richard hatten Dad am Tag vor seinem Tod im Krankenhaus besucht. Angela durfte nicht mitkommen und wurde monatelang von einem Albtraum gequält, in dem die beiden durch eine geheime Verschwörung seinen Tod verursacht hatten. Jemand klopfte unten lautstark gegen eine Pfanne und rief Dinner, als wären sie Gäste in einem Landhaus. Lakaien und Silbertabletts. Sie sollte runtergehen, auf in den Kampf.

Daisy, bitte. Angela wollte sie am Ärmel greifen. Nicht jetzt. Doch Dominic stand im Weg, und sie kam nicht an sie heran.

Was wolltest du sagen?, fragte Richard.

Ein Tischgebet, antwortete Daisy. Ich wollte ein Tischgebet sprechen.

Der Raum war plötzlich gestochen scharf, Weinflaschen so grün wie Bonbons, Galeonen auf den Untersetzern. Melissa klappte theatralisch die Kinnlade runter.

Schieß los, sagte Richard, der Situationen gewöhnt war, in denen sich andere Leute unwohl fühlten.

Lieber Gott … die Menschen glitten mit geschlossenen Augen durchs Leben. Man musste sie aufwecken. Wir danken Dir für diese Mahlzeit, wir danken Dir für diese Familie und wir bitten Dich, für jene zu sorgen, die ohne Essen sind und auf jene zu achten, die keine Familie haben.

Amen und Erbarmen, sagte Benjy.

Wunderbar. Richard rieb sich die Hände, Melissa murmelte leise Nicht ihr Ernst, und das Stühlerücken auf den Fliesen klang wie eine Feuerwerkssalve. Louisa lüftete den roten Emailledeckel des großen Topfes, aus dem sofort Dampf aufstieg.

Alex sah zu Daisy herüber und hielt zwei Daumen hoch. Bravo, Schwester.

Dominic schenkte Benjy zwei Zentimeter Wein ein.

Ist das nicht ein herrlicher Ort?, fragte Richard und breitete seine Arme aus, um auf das Haus, das Tal, den Landstrich, vielleicht sogar das Leben selbst zu verweisen.

Louisa hatte Angst davor, sich mit Daisy zu unterhalten. Im Umgang mit überzeugten Christen hatte sie keinerlei Erfahrung, doch Daisy sagte: Das ist ein schöner Pullover, und plötzlich verflüchtigten sich ihre Bedenken.

Richard hob sein Glas. Auf uns, und alle taten es ihm gleich. Auf uns. Benjy trank sein Glas in einem Zug leer.

Melissa sah, wie Mum und Daisy miteinander lachten. Sie wollte sie entzweien, doch das Mädchen war irgendwie hartnäckig, sie würde nicht so einfach aufgeben, was?

Alex konnte die Augen nicht von Melissa lassen. Diese furchtbare Sehnsucht in seiner Magengegend. Er stellte sie sich in der Dusche vor, mit Schaum in den Schamhaaren.

Angela betrachtete Richard und dachte