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Swantje Berndt

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Beschreibung

Inmitten der Grenzkriege zwischen der Glasstadt und dem Felsenreich Khatalah wird ein Mädchen geboren. Seine goldenen Iriden zeichnen es als Lichte aus, doch das dunkle Erbe seines Vaters begleitet es wie ein Fluch. Um es vor der Grausamkeit der Nachtfresser zu schützen, wird es in die Welt jenseits des Tores gesandt. Die sechzehnjährige Fiona führt ein unspektakuläres Leben zwischen der Gärtnerei ihres Großvaters und den Ärgernissen des Schulalltags.  Sie flüchtet sich in ihre Träume und lauscht der Sehnsucht, die ihr eine seltsame Melodie in die Seele wispert. Eines Tages begegnet ihr ein Fremder mit nachtschwarzen Augen. Er behauptet, das Mädchen aus Licht und Schatten zu suchen, um es in seine Heimat zurückzubringen.

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1. Das verbotene Kind
2. Bei Feuer und Blut
3. Die Regenkatze
4. Nur ein Tanz
5. Jenseits des Tores
6. Nach Norden
7. Eilige Nachrichten
8. Verdächtigungen
9. Ein Rabe in der Nacht
10. Weitere Romane von Swantje Berndt

Swantje Berndt

DAS SCHLEHENTOR

Lieder von Schatten und Licht

Erste Strophe

Copyright © 2020 Swantje Berndt

2. Auflage Januar 2020

1. Auflage 2016

www.swantje-berndt.de

Bildmaterial: shutterstock.com, ©Africa Studio, ©Nebula Cordata,

©Marcin Perkowski

Korrektorat: Ingrid Kunantz, Corinna Vexborg

Covergestaltung: Swantje Berndt

Hinweis: Der Roman war von 2012 bis zum Sommer 2016 unter dem Titel ›Equilibirium – Der khatalahische Eid‹ in einer ersten, unlektorierten und stark verkürzten Version im AAVAA Verlag erschienen.

1. Das verbotene Kind

 

 

– Liane, Tochter des Ersten Rektors des Hohen Rates der Lichten –

 

Der Schmerz war unerträglich. Es zerriss ihr den Leib. Liane sank auf die Knie, presste die Hände in den Rücken.

»Halte aus«, flehte Martha. »Hörst du das Wiehern der Pferde? Nicht weit vor uns lagern die Grenzgänger. Sie werden Heiler mit sich führen.« Sie hob die Laterne, leuchtete in die Nacht.

»Es ist zu spät.« Wasser lief ihr zwischen den Beinen entlang. »Es kommt.« Mochte die Weisheit der Wissenden sie trotz ihrer Sünde beschützen und das Licht die Schwärze aus ihrem Bauch verdrängen.

Was auch immer aus ihr herauskriechen würde, jemand musste es erschlagen.

Wenn sie wenigstens nicht in diesem finsteren Wald, wenn es nicht so eiskalt wäre. Der Frost drang ihr bis in die Knochen. Beim Licht! Nie zuvor hatte sie so gefroren.

Erneut erfasste sie eine Schmerzwelle. Liane lauschte ihren eigenen Schreien. Sie klangen unwirklich, wie einem Albtraum entsprungen. Unerträglich langsam ebbte die Qual ab.

Sie hatte sie verdient.

Hätte sie die Mauern der Glasstadt doch niemals verlassen. Wäre sie den Märkten der Steppe doch ferngeblieben. Stets war sie davor gewarnt worden, dieses Territorium zu betreten. Die Nomaden, die dort lebten, wären ein zwielichtiges Volk. Aber die Gaukler in ihrer bunten Tracht hatten sie ebenso verlockt wie die Gewürzhändler und Wahrsagerinnen, wie die Musikanten und Schauspieler mit ihren grell geschminkten Gesichtern, ihren derben, durch und durch verruchten Witzen. Die Gerüchte, dass Horden von Nachtfressern mordend und brennend durch die Wälder des Grünen Landes zogen, immer weiter nach Süden, immer näher zu den gläsernen Mauern ihrer Heimat, hatte sie mit einem flauen Gefühl der Angst ignoriert.

Nur einmal frei sein. Einmal tanzen, lachen, süßen Wein trinken und sämtliche Lektionen der Wissenden vergessen dürfen.

Sie hatte grausam dafür bezahlt.

Niemand hatte die Bestien aus dem Norden bemerkt, die wie ein Unwetter über das Markttreiben hereingebrochen waren. Wen sie nicht erschlugen, den nahmen sie gefangen. Einer von ihnen, kantig wie ein Felsen, riss ihr die Kleider vom Leib. Er erstickte ihr Flehen in der Finsternis seiner nachtblauen Augen, zerquetschte die Hoffnung auf Gnade unter seinem massigen Körper.

Als sie erwachte, zerfielen die Marktbuden zu Asche und der Geruch gerinnenden Blutes mischte sich mit dem Rauch.

Martha fand sie. Ihre alte Amme hatte sich ins Chaos gewagt, um nach ihrem Schützling zu suchen, während sich der Rest der Lichten hinter transparenten Mauern verbarrikadierte. Grenzgänger wären unterwegs. Sie würden die Krieger aus dem Norden zurückdrängen und die Glasstadt beschützen.

Marthas Trost war von Liane abgeprallt. Ihr Geist erfasste ihn nicht. Er war ebenso zerschunden wie ihr Körper. Niemals konnte sie sich vor den Augen ihres Vaters blicken lassen. Liane, Tochter des Ersten Rektors des Hohen Rates, hatte sich den Anweisungen der Wissenden widersetzt und unter primitiven Nomaden und Waldleuten unwürdige Vergnügungen gesucht. Allein das genügte, um sie für ewig in die Leere zwischen den Welten zu verbannen.

Damals war ihr der Gedanke unerträglich erschienen und sie war mit Martha tiefer ins Grenzland geflohen. Verborgen in der schäbigen Kluft der Waldbauern hatten sie sich durch die Reihen der Nachtfresser hindurchgeschlichen. Ein Holzfäller hatte sie bei sich aufgenommen, doch als es in den Wäldern vor Spähern aus dem Norden wimmelte, ergab er sich seiner Angst. Ausgerechnet zwei Lichte vor den Invasoren zu beschützen, würde deren Zorn nach sich ziehen. Er hatte sie mit guten Worten und dem Segen der endlosen Wälder vor die Tür gesetzt.

Hätte sie sich doch dem Rat gestellt. In der Leere wäre nicht nur sie, sondern auch der Schmerz und das unsägliche Kind vergessen worden.

»Du musst weiterlaufen«, flehte Martha und half ihr auf die Beine. »Ich kann die Lagerfeuer riechen.«

»Und wenn es die Nachtfresser sind?« Der Gedanke, diesen Bestien ein zweites Mal in die Hände zu fallen, verschlang ihr letztes bisschen Mut.

»Der Holzfäller sagte uns, Nehrits Horde würde in der Nähe lagern.« Martha strich ihr die nassen Haare aus dem Gesicht. »Er brächte Nachschub und frische Kämpfer für die Verteidigung der Glasstadt.«

Ein paar Schritte, weiter kam Liane nicht. Ihr wurde schwarz vor Augen, während sie sich die Seele aus dem Leib schrie. Ein Ungeheuer fraß sich seinen Weg aus ihr heraus. Nichts anderes konnte es sein.

Pferdegetrappel. Eine dunkle Stimme mit hartem Akzent. Marthas Schluchzen zwischen ihrem eigenen. Beruhigende Worte des Fremden, die sie nur am Rand wahrnahm.

Hoffentlich starb sie. Dann endete die Qual.

Sie zwang sich, die Lider zu öffnen.

Pechschwarzes Haar fiel über breite Schultern. Nachtblaue Augen leuchteten im Dämmerlicht des Waldes.

Diese Augen …

Beim Licht!

Der Nachtfresser erstickte ihren Schrei mit der Hand. »Ich bin nicht, wofür du mich hältst.«

Einem wie ihm verdankte sie ihr Elend! Einer wie er hatte ihr Gewalt angetan und sie zum Sterben zurückgelassen.

Sie war nicht gestorben. Ein Fluch, der sich als Wunder tarnte.

»Ich gehöre zu den Grenzgängern.« Er nahm die Hand von ihrem Mund.

»Du bist eine Bestie aus dem Norden!« Ihr Herz raste vor Angst.

»Ich entstamme Khatalah, wenn du das meinst. Dennoch diene ich Nehrit.« Ein schmerzliches Zucken spielte um die Mundwinkel. »Die Geschichte ist zu kompliziert, um sie zwischen zwei Wehen zu erklären.«

Das Mitgefühl in seinem Blick musste eine Lüge sein. Die Augen eines Nachtfressers waren nur fähig, Gier und Grausamkeit zu spiegeln.

»Mir ist nicht viel heilig, aber ich schwöre dir bei dem Wenigen, dass ich dir kein Leid antun werde.«

Er klang aufrichtiger als ihr Vater während der Lektionen. Konnte sie ihm trauen? Einem Clankrieger? Sie logen, mordeten, brannten, wie es ihnen beliebte.

In den nachtblauen Augen zeigte sich kein Verrat. Nur Mitleid und verletzter Stolz.

»Ich kann dir helfen. Doch du musst mir vertrauen.«

»Nein.« Das Bestienkind würde sie ohnehin zerreißen. »Ich werde sterben! Wegen einem wie dir!« Wenn sie nicht vorher an ihrer Angst erstickte.

»Vielleicht.« Sacht legte er die Hände auf ihren prallen Leib. »Vielleicht auch nicht.« Er senkte die Lider, atmete ruhig, als würde er schlafen.

Der Krampf löste sich. Wärme flutete ihren Bauch, floss wie Wasser in den Rest ihres gepeinigten Körpers. Ihr schmerzender Rücken entspannte sich, die Angst gab ihre Kehle frei, ließ Liane tiefer atmen.

»Dein Kind ist längst auf dem Weg.« Eine Falte zeigte sich auf der jugendlich glatten Stirn. »Wir müssen uns beeilen, sonst bekommst du es in Dunkelheit und Kälte.« Er öffnete die Augen, lächelte. »Ihr Lichten hasst beides. Was hat dich so weit ins Grüne Land verschlagen?«

»Eine Heimat, die mich nicht mehr will.« Ihr Vater würde ihren Anblick nicht ertragen.

Der Nachtfresser blickte zu Boden. »Dann teilen wir ein Schicksal.«

»Aber du bist nicht von einer Bestie bezwungen worden!« Wie konnte er es wagen, ihre Schicksale zu vergleichen?

»Mein Vater starb unter den Hieben einer Bestie.« Die dunklen Iriden schienen die Nacht zu trinken. »Mein Volk ist nicht nur zu seinen Feinden grausam. Auch zu seinesgleichen.«

Gefasel! »Wenn das Kind kommt, töte es.« Keinen Atemzug für das Monster in ihr. »Und danach mich.«

Im Schein der Laterne verengten sich die Pupillen. »Du bist rasend vor Angst. Sonst würdest du das niemals von mir verlangen.«

Wie sanft die Stimme klang.

Dieser Mann war ein Nachtfresser? Ein Geschöpf des Chaos und der Finsternis?

Seine Züge wurden weich vor Mitgefühl. »Ich verteidige dein Volk schon eine ganze Weile gegen die Übergriffe aus dem Norden, doch nie bin ich einem von euch begegnet.« Beinahe zärtlich strichen seine Hände über ihren Leib, als wollten sie das Kind darin beruhigen. »Ihr verschanzt euch hinter euren Glasmauern und lasst nur unsere Boten passieren.« Seine Miene wurde ernst. »Ihr seid viel zierlicher, als ich dachte. Aber dein Bauch ist fast größer als du. Bist du sicher, dass du bloß ein Baby in dir trägst?«

»Ich weiß nur, dass es ein Monster ist.« Tränen strömten ihr aus den Augen. Sie würde einen Chaosbastard gebären. Ein Schwarzblut. Die Schande verschloss ihre Kehle erneut. Licht und Schatten teilten niemals denselben Platz. Die erste Lektion der Wissenden über das Wesen des Lebens. Unendlich oft hatte es ihr Vater rezitiert.

Die Lektion war eine Lüge. Das Wesen in ihr war der Beweis. Gewoben aus Schatten und Licht. Wie konnte es existieren? Liane war nicht die Erste, die während der Grenzkriege einem Nachtfresser in die Hände gefallen war. Nie hatte sich aus dieser ruchlosen Tat Leben gezeugt. Im Gegenteil. Entsetzt von dem Frevel hatte es die Frauen für immer verlassen. Leere Hüllen mit gebrochenen Blicken. Kein Licht, kein Atem.

Ach wäre dieses Schicksal doch ihres.

»Dann ist der Vater keiner deines Volkes?« Seine Finger liebkosten trotz der unerhörten Frage weiterhin ihren Bauch. »War er ein Grenzgänger?«

»Nein.« Sie würde die Wahrheit mit ins Grab nehmen.

Wieder wuchs eine tiefe Falte zwischen den Brauen. »Ich bringe dich zu unserem Heiler. Er ist ein guter Mann, der sein Handwerk versteht. Was auch aus dir herauswill, es kommt in dieser Nacht.«

Bevor sie ihm danken konnte, krampfte sich ihr Leib erneut zusammen. Unerträglich heftig. Es würde sie zerreißen.

Schmerz.

Ihre Schreie gellten ihr in den Ohren.

Flackern vor den Augen.

Sie fiel in Schwärze.

 

 

– Cordic, Sohn von Merut und Krieger der Grenzgänger –

 

»Sie wird sterben«, jammerte die Alte und rang die Hände. »Mein armes Täubchen!«

»Noch atmet sie.« Cordic hob die Lichte auf den Arm, rannte zum Zeltlager zurück. »Komm mir nach!«, rief er der Frau zu, deren Schluchzen und Keuchen hinter ihm mit jedem Schritt leiser wurde.

Was hatte die beiden hierher verschlagen? Bis zur Grenze des Steppenlandes waren es viele Tagesmärsche. Bis zur Wüste und zur Glasstadt weitere zwei. Seit Rag die Clans um sich geschart hatte, um das Grüne Land zu verwüsten und bis vor die gläsernen Mauern vorzudringen, verschanzten sich die Lichten dahinter und flehten unablässig um Hilfe. Die Grenzgänger kamen ihrem Flehen nach. Es war ihre Pflicht, den Süden vor dem Norden zu schützen. Rag begnügte sich normalerweise damit, das nördliche Grenzland zu überfallen und die Waldleute zu knechten und auszuplündern. Bis zur Glasstadt hatte er sich nie vorgewagt. Er trieb Handel mit den Lichten. Stahl und Gold gegen filigrane Glaskunst und schimmernde Seidenstoffe. Ohne den Norden wären die Lichten nicht in der Lage, ihre unzähligen Fenster zu rahmen oder ihre Pforten in den Mauern anzubringen. Es war khatalahischer Stahl, der die Scheiben in den Angeln hielt, und es war khatalahisches Gold, aus dem die Lichten die Geburtsreifen für ihre Kinder schmiedeten.

Rag. Er knechtete seine Feinde ebenso wie die Clans, die sich seiner Herrschaft widersetzten. Während er aus Glaspokalen trank und seinen wuchtigen Körper in bunte Seide hüllte, stürzte er alles Leben unter dem Himmel in Finsternis.

Cordic rannte schneller. Die dunkle Wahrheit holte ihn dennoch ein. Bald musste er sich seinen Brüdern stellen. Als Ausgestoßener. Ohne Ehre. Als Sohn eines Verräters, der bei den Feinden seines Volkes untergekrochen war, um sich von ihnen ebenso hassen zu lassen.

Der Gedanke vergiftete jeden Atemzug.

Sein Vater hätte ihn lieber die Felsen hinabstoßen sollen, als ihn in die Obhut eines Grenzgängers zu geben.

Zwischen den Baumstämmen schimmerten die Feuer der Wachen. Trotz seiner Last huschte er unbemerkt an den Männern vorbei. Die Waldleute würden es nie lernen, der Dunkelheit zu lauschen. Ob sie sich Grenzgänger nannten oder nicht. Ein khatalahischer Krieger hätte ihm längst den Kopf abgeschlagen.

Deshalb verachteten ihn die Grenzgänger, weil sie wussten, dass er ihnen überlegen war und sie ihn fürchteten.

Der trotzige Stolz tat gut. Er legte sich wie Balsam auf die Wunden, die ihm Nehrits Krieger täglich in die Seele schlugen.

Cordic rannte bis zur Mitte des Lagers. Das Lazarettzelt war noch nicht errichtet worden. Das lohnte sich lediglich vor Beginn einer Schlacht. Ohrat würde mit Nehrit Wein trinken. Der Heiler gehörte zu den engsten Freunden des Ersten Mannes.

»Bleib stehen.« Ratil trat ihm mit gezogener Klinge in den Weg. Bei jedem Wort klaffte sein gespaltenes Kinn. »Nehrit empfängt keine Nachtfresser.«

»Hast du dir das Hirn zersoffen? Ich bin’s!« Wie konnte Nehrit einem halb blinden und tauben Kerl wie Ratil sein Leben anvertrauen?

»Cordic?« Der Alte kniff die Augen zusammen. »Ich hätte dir fast deinen Bauch durchlöchert.«

»Einen Dreck hättest du.« Dazu war er zu langsam.

»Komm mir nicht frech.« Misstrauisch glitt sein Blick zu der Lichten. »Wer ist das und was will sie hier?«

»Denkst du, sie vertraut sich einem wie mir an?« Das Entsetzen in den goldenen Iriden war ihm nicht entgangen. »Ich muss zu Ohrat. Sie bekommt ein Kind und braucht seine Hilfe.«

»Verarsch mich nicht.« Der Gardist baute sich vor dem Eingang des Zeltes auf. »Die blonden Haare sind ein Trick. Die Lichten sind zu feige, um sich in die Wälder zu wagen.«

»Sieh dir ihre Augen an, verdammt!« Am liebsten hätte er den Kerl niedergeschlagen.

Ratil klappte eines der blassen Lider hinauf. »Verflucht noch eins. Die sind golden.«

»Warum sollte ich lügen?«

»Weil du ein verderbter Nachtfresser bist und nicht einmal weißt, wie Wahrheit geschrieben wird.«

»Wenn du nicht sofort beiseitetrittst, schneide ich dir in den Zeichen meines Volkes Wahrheit so tief in die Stirn, bis dein Gehirn raustropft!« Wollte Ratil die Lichte sterben lassen?

Der Alte musterte ihn von oben bis unten. »Du bist bloß hier, weil uns Nehrit dazu zwingt. Sonst würde keiner von uns sein Brot mit dir teilen.« Er spuckte aus. »Mir ist ein Rätsel, woher du deine Arroganz nimmst. Nicht einmal die Bastarde ertragen dich. Das sollte dir zu denken geben.«

»Ich bin ein Clankrieger!« Langsam wurde die Last in seinem Arm schwer. »Natürlich hassen mich die Schwarzblüter.« Reiner Neid. Sie würden nie zu einem Clan gehören. Deshalb verdingten sie sich bei den Grenzgängern. Sie kannten kein Zuhause, besaßen niemanden, der sich um sie scherte.

Ebenso wie er. Jeder Einzelne seiner Sippe war von Rag ausgelöscht worden.

Ein Stein senkte sich auf sein Herz.

»Ein Clankrieger?« Ratil lachte heiser auf. »Das Balg eines Verräters bist du. Das wissen alle.«

Eines Tages würde er Ratils Kinn bis zum Nasenbein spalten.

»Was ist da draußen los?«, donnerte Nehrits Stimme aus dem Inneren des Zeltes. »Wie soll ich mich bei dem Lärm gepflegt besaufen?«

»Cordic hat eine halb tote Lichte angeschleppt«, brüllte Ratil zurück. »Er will zu dir!«

»Eine Lichte?«

»Kann auch ein Trick sein.«

»Scheiß auf dein Misstrauen, Ratil! Lass den Jungen rein!«

»Junge«, murmelte Ratil und spuckte erneut aus. »Mir ein Rätsel, dass Nehrit bei dir beide Augen zudrückt.« Mit verzogenem Mund schleuderte er die Plane zurück.

Cordic stürmte an ihm vorbei. Der Geruch nach altem Schweiß überdeckte den Duft des Weines bei Weitem.

»Immer derselbe, der Ärger macht«, brummte der Erste Mann, ohne ihn dabei anzusehen. »Es scheint, deine Dienste werden gebraucht.« Er stieß Ohrat an, dessen Kopf auf die Brust gesunken war.

Der zuckte zusammen, sah sich schmatzend um. »Was ist los?«

Er war betrunken.

Verfluchte Disziplinlosigkeit der Waldleute. Der Erste Mann eines khatalahischen Clans hätte es niemals gewagt, während eines Kriegszuges auch nur am Hals einer Weinflasche zu riechen. Dasselbe galt für den Heiler.

Ohrat rappelte sich auf. »Leg sie dorthin.« Er wies auf Nehrits Lagerstatt. »Die Lichten sind zerbrechlich. Der harte Boden ist nichts für sie.«

Immerhin hatte er sie als das erkannt, was sie war.

»Das Weib soll mein Bett vollbluten?« Rülpsend wedelte Nehrit mit der Hand, als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Wag es ja nicht!«

Cordic ignorierte ihn. »Das Kind ist zu groß.« Vorsichtig bettete er die Frau auf weiche Felle. »Ich habe es gefühlt.«

Ohrat hob die Brauen. »Schade um die Kleine. Dann wird sie uns kaputtgehen.« Er fasste in den Ausschnitt ihres Kleides, zerriss es bis unten hin.

Wie ein blasser Berg wölbte sich der Bauch in die Höhe.

»Da sie nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen, wirst du mir sagen, wen ich im Zweifel retten soll.« Ohrat sah ihn von der Seite an. »Mutter oder Kind?«

»Beide.« Sie war so zerbrechlich wie ein gläsernes Windspiel.

»Man kann nicht alles haben.« Ohrat tauchte die Hände in Nehrits Wasserbecken, seifte sie sich bis über die Gelenke ein. »Noch einmal: Mutter oder Kind?« Er spülte den Schaum ab und schleuderte die Tropfen von seinen Fingern. Sein Rausch schien verflogen zu sein.

»Bemühe dich um beide. Wird es eng, rette die Frau.« Es fiel leichter, Mitgefühl für jemanden zu empfinden, den man bereits kannte.

»Na dann wollen wir mal.« Der Heiler stellte die dünnen Beine der Lichten auf. »Setz dich hinter sie. Du wirst mir assistieren.«

»Was?« Er war ein Krieger. Keine Hebamme.

»Hinsetzen«, befahl Ohrat. »Lehne ihren Oberkörper an deine Brust und greife ihr unter die Kniekehlen.«

»Ich geh dann mal«, brummte Nehrit und erhob sich schwerfällig. »Viel Spaß beim Vollgeblutetwerden. Wenn euch von ihren Schreien die Ohren klingeln, beschwert euch nicht bei mir.« Fluchend schlurfte er aus seinem Zelt.

Ohrat sah ihm nach. »Seine Frau ist auch eine Lichte. Sie hat ihm einen Sohn geboren, aber frag nicht, wie. Ich dachte, sie stirbt mir unter den Händen. Nehrit hat gedroht, mir in dem Moment den Kopf abzuschlagen, in dem ihr Herz aufhört zu schlagen.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Junge, ich habe in diesem Augenblick um drei Leben gekämpft.«

»Dein Kopf steckt zwischen den Schultern.« Demnach lebte Nehrits Frau.

»Zum Glück.« Ohrat schlug der Lichten unsanft auf die Wange. »Hey, Mädchen! Du musst ein bisschen mithelfen.«

Ihre Lider flatterten.

»Augen auf!« Ohrat klatschte ihr auf die andere Seite. »Wie heißt du?«, fragte er, kaum dass sie zu sich gekommen war.

»Liane«, kam es schwach zwischen ihren blassen Lippen hervor. »Wo bin ich?«

»In mehr oder weniger fähigen Händen.« Der Heiler nickte zu ihm. »Das da ist Cordic. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass dir ein Nachtfresser die Schenkel spreizt.« Er griff zum Weinkelch, nahm einen großen Schluck. »Keine Angst, es dient einem guten Zweck.« Mit dem Handrücken wischte er sich die tropfenden Lippen.

Liana sah zu Cordic, und er lächelte nur, um sie zu beruhigen. Sein Herz donnerte in seiner Brust. Er war nie bei einer Geburt dabei gewesen, geschweige denn hatte er geholfen, ein Kind auf die Welt zu bringen.

Wie ihm Ohrat befohlen hatte, fasste er unter Lianes Knie und zog ihre Beine näher zu sich.

»Ich habe Angst«, flüsterte sie. »So furchtbare Angst.«

»Es wird alles gut werden.« Sie würde die Lüge nicht erkennen. Niemand log besser als ein Clankrieger.

Ohrats Hand verschwand in ihrem Schoß.

Liane keuchte erschrocken.

»Gemach, Teuerste. Ich kontrolliere bloß die Lage deines Kindes. Wenn du bereits jetzt vor Scham vergehst, wird das Folgende kein Vergnügen für dich.« Er zwinkerte ihr über den dicken Leib hinweg zu. »Das wird es zwar ohnehin nicht, aber na ja.«

Ein Beben fuhr durch ihren Körper. Sie schnappte nach Luft, schrie, bis Cordics Ohren klingelten.

Davon hatte Nehrit also gesprochen.

»Pressen«, brüllte Ohrat. »Und nicht in den Kopf, du Verrückte!«

Liane lief dunkelrot an, schien seine Worte nicht zu hören.

Cordic ließ ihre Beine los, legte beide Hände auf ihren Bauch. Vorhin hatte er das Kind erspürt. Hatte gefühlt, wie die kleine, eigenwillige Seele durch seine Fingerspitzen kribbelte.

»Nach unten«, flüsterte er Liane und dem Baby zu.

Liane wimmerte, hob die Arme über ihren Kopf und schlang sie fest um seinen Nacken. »Hilf mir«, flehte sie. »Und lass um aller Weisheit willen deine Hände auf mir liegen.«

Es tat ihr gut. Trotz seiner Nervosität musste er lächeln. Die Gabe seines Volkes wurde selten dazu benutzt, Linderung zu verschaffen.

»Hör mal, Liebchen.« Ohrat schleuderte sich die verfilzten Haare zurück. »Wenn ich das nächste Mal pressen sage, machst du das auch. Aber nach unten, oder willst du dein Kind aus deinen Ohren quetschen?«

Liane nickte, holte tief Luft. »Es fängt wieder an«, schluchzte sie und wurde steif in Cordics Umarmung.

Er blendete ihre Schreie und Ohrats Fluchen ebenso aus wie seine Angst. Unter seinen Fingern bewegte sich taufrisches Leben. Energisch kämpfte es sich durch Enge und Dunkelheit, geführt von Lianes Schmerzen und seiner Berührung.

Er zählte nicht mit, wie oft Liane mit ihrem Hinterkopf an sein Kinn schlug, nahm nur am Rande den Blutgeschmack auf seiner Zunge wahr.

Er fühlte ihren Herzschlag an seiner Brust und einen schnellen, kraftvollen Puls an seinen Fingerkuppen. Ihr Kind war so viel stärker als sie. Es würde leben, gleichgültig, was mit seiner Mutter geschah.

Liane verstummte. Schlaff fiel sie zurück in seinen Arm. Auch wenn ihr Herz schwächer pochte, er spürte es nach wie vor.

»Sie hat sich eine Pause verdient.« Ohrat wischte sich über die schweißnasse Stirn und verteilte dabei rote Schlieren. »Ein Mädchen.«

Ein blutbeschmiertes Bündel ballte die Fäustchen, holte Luft und krähte aus voller Kehle.

Ohrat lachte. »Die schafft das. Aber du siehst ziemlich blass aus.«

Cordics Hände zitterten, als er hinter Liane wegrutschte und sie vorsichtig hinlegte. »Gib mir deinen Wein.« Er hatte ihn bitter nötig.

Ohne den Blick von dem Baby zu nehmen, reichte ihm Ohrat den Krug. »Sie hat goldene Iriden.«

Weshalb sah er plötzlich so erschrocken aus? Die Mutter des Mädchens war eine Lichte. Natürlich strahlten die Augen des Kindes in der Sonnenfarbe ihres Volkes.

Ohrat wischte mit einem Lappen das Blut von dem kleinen Kopf.

Tiefschwarz, wie die Federn eines Raben, standen verschmierte Haare in alle Richtungen ab.

»Das kann nicht sein«, sagte Ohrat leise. »Nehrits Sohn ist schon ein halbes Wunder. Normalerweise pflanzen sich die Lichten nur untereinander fort, und das bloß mit jeder Menge Glück. Nicht umsonst schwindet ihr Volk von Jahr zu Jahr mehr. Aber dass in einer Lichten der Same eines Nachtfressers gedeiht, ist unmöglich.«

»Und wenn es ein Schwarzblut gewesen ist?« Die Bastarde, die auf Rags Seite kämpften, nahmen sich an Frauen alles, was ihnen über den Weg stolperte. Wer wusste, was danach mit ihren Opfern geschah? Überlebten sie, würden sie ihre Schmach nicht an die große Glocke hängen, sondern das Kind nach der Geburt ertränken.

Etwas Ähnliches hatte Liane von ihm verlangt.

Ihm wurde kalt.

»Auch davon habe ich nie gehört.« Langsam schüttelte Ohrat den Kopf. »Licht und Schatten teilen nie denselben Platz. Das weißt du.«

»In der Theorie.« Das Leben war Praxis, und die machte, was sie wollte.

»Hast du mir nicht zugehört?«, donnerte der Heiler und hievte dadurch das Krähen des Säuglings auf ein ohrenbetäubendes Niveau an. »Was da liegt und brüllt, dürfte nicht existieren. Es widerspricht den Gesetzen der Natur!«

»Es liegt aber vor uns und brüllt.« Demnach scherte es sich einen Dreck um Gesetze. »Befrei es von seiner Mutter und finde dich damit ab.«

»Er versteht mich nicht«, murmelte Ohrat und wickelte einen dünnen Flachsfaden um die Nabelschnur. »Wie sollte er? Seit wann wissen Nachtfresser etwas von Wissenschaft?«

»Redest du mit mir?«

»Nein, ich rede über dich.« Er durchschnitt die Nabelschnur.

Cordic wurde flau.

»Die Lichten sind anders als du und ich. Zwar hängt an ihren Knochen Fleisch, und sie bluten, wie man sieht.« Er nickte zu Lianes verschmierten Schenkeln. »Aber es heißt, sie beherrschen das Licht der Sonne. Können es lenken, darüber befehlen.« Er wickelte die Kleine in ein Tuch. »Manche behaupten, sie bestehen daraus.«

Das ungute Gefühl in Cordics Magen verstärkte sich. Seltsam, er hatte oft die Verletzungen anderer Krieger versorgt. Dabei war ihm nie übel geworden. Doch der Anblick des blutenden Schoßes ließ seine Knie weich werden.

Er setzte den Krug an, leerte ihn, bis er den Grund durch den Wein schimmern sah.

»Das ist ein Gerücht.« Dasselbe in leichter Abwandlung erzählten die Wald- und Steppenleute über die Khatalaher. Sie wären aus Finsternis erschaffen worden, und wenn man nachts alle Laternen und Fackeln entzündete, könnten sie einem nichts antun.

Schwachsinn. Jeder Clankrieger liebte das Feuer. Es war ein verlässlicher Verbündeter gegen Dunkelheit und Kälte, und nichts schüchterte mehr ein als eine Horde Khatalaher, die, Fackeln vor sich hertragend und Schlachtgesänge brüllend, einen immer enger werdenden Kreis um den Feind zogen.

»Halt mal.« Ohrat drückte ihm das Baby in den Arm. »Ich muss mich um die Mutter kümmern.«

Die goldenen Iriden fanden Cordics Blick sofort. Das Kind zog eine Schnute, presste sein Fäustchen dagegen und begann daran zu nuckeln.

Das dunkle Blut Khatalahs strömte ihm so kraftvoll durch die Adern, dass Cordic erschauderte. Es war kein Bastard gewesen, der das Mädchen gezeugt hatte, sondern ein überaus mächtiger Krieger.

Sacht wiegte er das Kind im Arm.

Dass etwas Schrumpliges und Schmieriges so wunderschön sein konnte.

»Als wir durch Silberbach ritten, hörte ich ein Gerücht.« Ohrat tauchte einen Lappen in das Wasserbecken und wrang ihn aus. »Die Tochter des Ersten Rektors der Lichten wäre aus der Glasstadt geflohen und beim Angriff der Clankrieger umgekommen. Das war vor etwa neun Monaten. Zur selben Zeit, als uns der erste Hilferuf der Lichten erreichte.« Vorsichtig begann er, Liane zu reinigen. »Rate, wie Mahkis’ Tochter heißt.«

»Liane?« Bei allen Finsternissen! Offenbar hatte sie trotz des Gerüchtes überlebt.

»Wenn Mahkis von seiner Enkelin erfährt, wird er alles Mögliche mit ihr anstellen, doch ihr sicherlich nicht verzückt in die Apfelbäckchen kneifen.«

»Was meinst du damit?« Sacht streichelte Cordic mit dem Daumen über die rosigen Wangen. »Die Lichten sind friedfertig.« Schon deshalb, weil sie zu schwach waren, ein Schwert auch nur anzuheben.

»Physisch ja.« Ohrat hielt inne, betrachtete die Kleine versonnen. »Aber mental?« Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich habe seltsame Dinge von den Methoden der Rektoren gehört. Frag Nehrit dazu. Der hält nicht das Geringste von deren Weisheitslehren und Erziehungsmethoden.«

»Du denkst, ihr Großvater würde ihr etwas antun?« Das Kind konnte nichts für die Verwerflichkeit des Vaters.

»Ich denke, er wird seine Enkelin entweder in die Wüste verbannen, bis sich der kleine Körper in Sand verwandelt, oder er wird ihren Geist solange dem Licht aussetzen, bis es den letzten Rest Finsternis aus ihm herausgebrannt hat.«

Cordic drückte Lianes Tochter fester an sich. »Das einzige Licht, das wir lieben, ist der Widerschein der Flammen auf unseren Klingen.« Die Worte seines Vaters verstärkten die Sehnsucht nach ihm, bis es schmerzte. Unter Meruts Führung hätte sich kein Clankrieger auf den Weg in den Süden gemacht. Schon gar nicht, um ein schwaches Volk zu knechten. Kämpfe brachten nur Ruhm und Ehre ein, wenn der Gegner ebenbürtig war.

»Wie ein wahrer Krieger gesprochen.« Ohrat lachte. »Aber so schlimm ist es nicht. Ich besuchte einst das nördliche Grenzland und weiß, wie betörend schön eure Sonnenaufgänge sind.«

»Das ist etwas anders.« Jeder Strahl wurde durch die Schatten der Felswände gemildert. Ebenso wie die endlosen Wälder des Grünen Landes das Licht filterten. Die Stadt aus Glas jedoch lag inmitten einer Wüste. Nur gleißendes Leuchten von einem wolkenlosen Himmel, das die Augen versengte und mit Tränen flutete.

Rags Horden verbargen sich in den Steppen des Umlands und griffen meist während der Nacht an. Selbst die Schwarzblüter vermochten es nicht, der Helligkeit standzuhalten.

»Das Mädchen ist ein Wunder.« Ohrat klang ungewohnt mild. »Oder ein Verhängnis. Wir werden sehen.«

»Ich zeige ihm die Nacht.« Lianes Tochter gehörte zur Hälfte zu seinem Volk. Sie würde die sanfte Dunkelheit lieben und es genießen, wenn ihr das Licht der Sterne über die Wangen streichelte.

Er schnappte sich einen vollen Krug und überhörte Ohrats unflätigen Protest. Er galt dem entwendeten Wein, nicht der Entführung des Kindes.

Draußen empfing ihn klare Nachtluft. Eine Wohltat nach der stickigen Wärme des Zeltes.

Er ignorierte Ratils Gefasel, durchschritt das Lager bis zu dessen Rand, und setzte sich an den Stamm einer Linde.

»Ich werde mit deiner Mutter über deine Zukunft sprechen müssen, Goldaugenmädchen.« Er hatte geholfen, das Kind auf die Welt zu holen. Also war er auch ein Stück weit verantwortlich für sein Wohl. »Niemand wird dir ein Leid antun. Weder dein Großvater noch dein Vater.« Ob er den Krieger kannte, der Liane unter sich gezwungen hatte? Fand er heraus, wer es gewesen war, würde er ihm den Dolch bis zum Heft ins Herz rammen.

Die Kleine nuckelte so heftig an ihrem Fäustchen, dass es schmatzte.

»Soll ich dir ein Lied vorsingen? Mein Volk liebt Lieder. Je schauriger und blutrünstiger, desto besser.« Obwohl, ein Schlachtengesang wäre die falsche Wahl. Eine Weise, um die Liebste zu umwerben, ebenfalls. Ein Baby hatte keine Verwendung für die in Verse gebannte Glut khatalahischer Leidenschaft. Auch dann nicht, wenn sein Erbe zur Hälfte aus dem Norden stammte.

Das Lied von Schatten und Licht. Es passte perfekt zu dem Mädchen.

»Hör mir zu. Ich singe dir von den Mysterien unserer Heimat vor.«

Das Schmatzen verstummte.

Cordic räusperte sich. Es war schwierig, leise zu singen. Die meisten Lieder, die er kannte, wurden geschmettert. Bis auf die Liebeshymnen, doch dazu hatte sich bisher bei ihm keine Gelegenheit ergeben.

 

»Licht und Schatten verließen das Nichts.

Sie umschlangen einander, liebten sich.

Aus ihrer Mitte heraus wurde ein Vogel geboren,

Die Schwingen aus Freiheit, die Krallen aus Gier.

Er legte ein Ei und gebot dem Wind, es auszubrüten.

Der spielte damit, ließ es fallen.

Ein Traum fing es auf. Umschlang und hütete es.

Bis es in der Mitte zersprang.

Zwei Brüder entstiegen den Scherben.

Der eine trank Schatten, der andere Licht.

Sie fingen den Wind ein zur Strafe für seine Unachtsamkeit.

Seine Tränen schwemmten das Leben aus dem Nirgends ins Hier.

Es fühlte sich einsam und weckte den ungeborenen Tod.

Der streckte sich von Nord nach Süd, von Osten nach Westen, von den Tiefen bis zu den Himmelshöhen und verschlang alles, was der Traum gebar.

Der Wind grämte sich mehr und mehr.

Lausche seinem Wehklagen über den Gipfeln Khatalahs.«

 

»Ist das nicht zu schwere Kost für einen Säugling?« Ahfid setzte sich neben ihn. »Kennst du keine Wiegenlieder?« Er steckte sich eine der braunen, mit Silber durchzogenen Strähnen hinters Ohr und grinste spöttisch. »Nehrit lässt verkünden, du hättest deinen Posten als Späher aufgegeben und wärst Hebamme geworden.« Er linste in das Bündel in Cordics Arm. »Ein Lichtenkind, aber verdammt proper. Den Gerüchten nach bekommen deren Frauen nur kleine Elfen.«

Cordic streifte das Tuch von dem Köpfchen. Auch im dämmrigen Schein der Lagerfeuer würde Ahfid die schwarzen Haare erkennen.

»Beim ewigen Grün«, murmelte der und strich mit dem Finger über die weichen Stacheln. »Deshalb ist die Frau in den Norden geflohen.«

Das Baby schob das Fäustchen tiefer in den Mund.

»Und ein ungewöhnlich dunkelhaariger Mann aus dem Waldvolk kann es nicht gewesen sein?«

So zweifelnd wie er klang, nahm Ahfid die Frage selbst nicht ernst.

Die Waldleute glichen den Bäumen ihrer Heimat. Groß, kräftig, die Gesichter wie geschnitzt und die Haare in allen erdenklichen Holztönen. Kein Blond, kein Schwarz. Manchmal ein sanfter Rotton, der sich ins Braun mischte, so wie bei Ahfid.

Er kitzelte die runde Wange, und plötzlich wurde sein Finger von einem angesabberten Fäustchen geschnappt. »Hey, die ist stark.« Ahfid lachte.

»Wie ihr Blut.«

»Sag das nicht zu laut.« Er befreite sich aus der winzigen Umklammerung. »Sonst heißt es, das Kind wäre von dir. Du weißt, wie zäh sich schwachsinnige Gerüchte halten. Vor allem in einer Kriegerhorde. Und wenn einer der anderen sieht, wie verliebt du der Kleinen zulächelst, ist das Wasser auf den Mühlen der Lästermäuler.«

»Unsinn.« Er war zu vielem bereit, was bei den Waldleuten als verwerflich galt. Aber er würde niemals eine Frau unter sich zwingen.

»Wie dem auch sei. Weder die Mutter noch das Kind haben hier etwas verloren.« Ahfid runzelte die Stirn. »Je länger ich dem Mädchen in die Goldaugen sehe, desto mehr beschleicht mich ein seltsames Gefühl. Ich könnte wetten, dass es Ärger nach sich zieht.«

»Es ist nur ein Baby.«

»Ein unmögliches Baby.«

»Es ist winzig.«

»Lass uns wetten.« Ahfid tippte auf Cordics Handgelenk. »Um diesen Goldreifen.«

»Vergiss es.« Sein Freund wusste, dass es sich um den Geburtsreif einer Lichten handelte.

Die Erinnerung, auf welche Weise er das Schmuckstück erhalten hatte, senkte sich wie ein Schatten auf seine Seele.

»Hey, es war ein Scherz.« Ahfid stieß ihn in die Seite. »Einer deiner Silberringe reicht mir, du eitler Pfau.«

»Du bist neidisch, dass ich als geächteter Clankrieger mehr Schmuck besitze als du.« Was keine Kunst war. Ahfid war ein Ausbund an Bescheidenheit. Selbst seine Gürtelschnalle war so schlicht, als gehörte sie an die Hose eines Stallknechtes.

»Ja genau.« Ahfid schnaubte. »Ich beneide dich brennend um deine Klunker. Gleich nach deinen langen Haaren. Wieso macht ihr euch wie Mädchen zurecht?«

Hätte Cordic eine Hand freigehabt, hätte er sie seinem Freund aufs Kinn geschmettert.

Der schien es zu ahnen, denn er duckte sich feixend. »Schon gut, ich weiß, dass das eine ein Zeichen eurer Männlichkeit ist und das andere euren Wert als Krieger symbolisiert. Dummerweise wird dir niemand hier einen Ring anstecken. Gleichgültig wie viele Feinde du in den Staub wirfst.«

In einem khatalahischen Clan gebührte es dem Ersten Mann, seine Krieger nach einer erfolgreichen Schlacht mit einem Schmuckstück auszuzeichnen. Je ruhmreicher sie gekämpft hatten, umso größer und prachtvoller fiel das Geschmeide aus. Es gab Männer, die sich mit breiten Goldarmbändern schmückten, die bis zu den Ellbogen reichten.

Cordic besaß lediglich ein paar Silberringe an den Fingern. Abschiedsgeschenke seines Vaters.

Bis auf den goldenen Reif.

»Der! Der ist es!«, kreischte eine hohe Frauenstimme. »Der hat mein Täubchen entführt!« Gefolgt von einer der Wachen eilte die alte Lichte heran.

»Siehst du«, sagte Ahfid leise. »Der Ärger beginnt bereits. Ring her.«

Fluchend streckte Cordic den Finger aus.

Ahfid zog mit einem überheblichen Grinsen den Schmuck ab und steckte ihn sich auf.

»Wo ist Liane?«, wetterte die Frau. »Wo ist mein Täubchen?«

»Ich habe deiner Herrin geholfen.« Das wusste das Weib.

»Du hast sie geschnappt und bist weggerannt!« Die Frau ballte die Fäuste.

Woher stammten die Gerüchte, dass die Lichten friedfertig wären?

Ihr Blick fiel auf das Bündel in seinem Arm. »Ist das ihr Kind?«

»Na, was denkst du?« In Nehrits Horde war niemand jünger als der kleinste Knappe und auch dem sprossen bereits Flusen am Kinn.

Sie wollte es ihm abnehmen.

Cordic hielt es fest. Das Mädchen war etwas Besonderes. Es benötigte Schutz. In den dürren Armen der Lichten fand es den nie und nimmer.

Die Frau funkelte ihn wütend von unten an.

Sie war mutig.

»Gib es ihr. Sie fordert dich sonst heraus.« Ahfids Mundwinkel zuckten.

Alles in ihm sträubte sich, das Bündel abzugeben.

Die kleine Stirn zerfurchte sich, die Beinchen strampelten in den Tüchern. Ein zorniges Krähen erfüllte die Nacht, kaum dass die Alte das Kind in ihren Händen hielt.

»Siehst du? Es will nicht zu dir.« Bei ihm war das Mädchen friedlich gewesen.

Ahfid lachte. »Komm, ich führe dich zu deiner Herrin.« Er warf Cordic einen Spottblick über die Schulter zu, während er mit der Frau auf Nehrits Zelt zusteuerte.

Das Krähen wurde leiser, doch es endete nicht.

Sollte das Mädchen allein mit den Frauen in den Wäldern umherirren? Fiel es khatalahischen Spähern in die Hände, war es verloren. Wegen seiner Einzigartigkeit würden sie es zum Grauen Horn schleppen und es Rag vor die Füße legen. In Khatalah wurden Bastarde weit weniger nachsichtig behandelt als im Grünen Land. Das Kind würde entweder seinen ersten Geburtstag nicht erleben oder eine Zukunft zwischen Demütigungen und Knechtschaft vor sich haben.

»Was soll ich tun?«, fragte er die Nacht.

»Es mir geben.«

Cordic fuhr zusammen. Wie aus dem Boden gewachsen stand eine Alte vor ihm. Grau wie ein Eissee, gebeugt wie ein Sturmbaum. Ein Gesicht, als hätte der Winter Furchen durchs Fleisch gezogen. Auf ihrer knochigen Schulter hockte ein Rabe. Größer, als er je einen dieser Vögel gesehen hatte.

»Ich folge den beiden Lichten seit langem durch die Wälder«, krächzte sie. »Der Wind hat mir das Kind angekündigt, seit es der Vater in den zerbrechlichen Schoß gerammt hat.«

»Wer bist du?«

»Jetsuba.« Ahfid trat aus den Schatten. Sein Blick glitt über die dürre Erscheinung, eine Falte teilte seine Stirn. »Eine Hexe, eine Heilerin, eine Verrückte. Such dir was aus.« Seine Worte waren an Cordic gerichtet, obwohl er Jetsuba nicht aus den Augen ließ. »Eine Zeit lang hat sie in der Nähe des Hortes gewohnt, in dem ich geboren worden bin.«

»Ahfid!«, rief die Frau erfreut. »Wie geht es deinem Großvater?«

»Er ist tot.«

»Das ist sein gutes Recht. Er war damals schon alt.« Sie stützte sich auf ihren Stock, musterte sie beide abwechselnd. »Ich bin gekommen, um das Schattenlichtkind in Sicherheit zu bringen. Weder bei den Lichten noch im Norden wird es überleben, doch eines Tages werden wir es brauchen. Unversehrt und stark.«

»Wovon redest du?« Die Frau war ihm unheimlich.

»Von den Gerüchten, die mir der Herbstwind zugetragen hat«, wisperte sie. »Von einem tödlichen Gleißen im Süden. Die Lichten sind es leid, die Opferlämmer für Rags Gier zu sein. Sie vertrauen nicht mehr den Grenzgängern, die immer öfter den dunklen Horden unterliegen. Sie haben etwas erschaffen.« Sie humpelte auf Cordic zu. »Etwas, das du bald spüren wirst, mein stolzer Nachtfresser.«

»Nenn mich noch einmal Nachtfresser, und ich schneide dir deine welke Zunge aus dem Mund.« Es war demütigend genug, wenn ihn die Grenzgänger mit dem Schmähwort bedachten. Ahfid hatte es nie benutzt. Auch einer der Gründe, weshalb Cordic ihn schätzte.

Die Alte hob die Brauen. »Ist dir Clankrieger lieber? Oder Khatalaher? Das Wort rollt schlecht über die Lippen, findest du nicht?« Sie runzelte die Stirn. »Khatalaher«, murmelte sie und betonte dabei jede Silbe. »Eindeutig zu viele h’s an den falschen Stellen. Zu kompliziert. Warum nennt ihr euch nicht Nordvolk? Das ist simpel und einprägsam.«

Die Frau spielte mit ihrer Gesundheit. »Khatalah bedeutet, aus dem Chaos geboren.« Und dorthin würde er dieses Weib schicken, wenn sie nicht endlich ihren faltigen Mund hielt.

»Tut es das?« Eben jener Mund verzog sich im Spott. »Als ob ich das nicht wüsste, Junge!« Ihre dunklen Augen schienen Funken zu sprühen. »Ich trage endlose Jahre mit mir. Kenne das Nordland ebenso wie den Süden, bin übers Meer bis zum Ende der Welt gesegelt, um zu begreifen, dass es kein Ende gibt. Also spare dir deine Erläuterungen und höre mir zu. Denn was ich dir zu sagen habe, betrifft das Schicksal deines Volkes.«

Sie war übers Meer gesegelt? Das war unmöglich. Man stürzte am Rand in die Tiefe. Das wusste jeder.

»Als Liane verschwand und ihr Vater sie für tot hielt, flehte er die Wissenden an, die Lichten zu beschützen.«

»Die Wissenden?« Wer sollte das sein?

»Die Wanderer«, fauchte Jetsuba ungeduldig. »Jedes Ding hat so viele Namen, wie ihm die Menschen geben wollen.«

Die Wanderer. Es herrschten Gerüchte, dass sie aus Nebel bestanden und wie dieser in das Leben hinein- und hinaussickern konnten. Geister. Fahlhäutig, mit farblosen Haaren und Augen.

Cordic schauderte.

»Du fürchtest dich zu Recht, Clankrieger.« Die wie welkes Laub raschelnde Stimme senkte sich. »Nichts und Niemand ist gefährlicher als das diffuse, stets flüsternde und wispernde Volk. Es spaziert zwischen den Welten, wie es ihm beliebt, und pflanzt seltsame Gedanken in dumme Schädel.«

»Sprich deutlicher.« Ahfids Hand lag auf dem Schwertgriff. »Dein Gefasel hilft uns nicht.«

»Ich rede von den Taten eines verzweifelten Vaters«, sagte Jetsuba ernst. »Ich rede von der Verbohrtheit übereifriger Rektoren. Von ihrem Bündnis mit den Wanderern und von einem Gleißen, das alles töten wird, was du kennst und liebst.«

Ahfid trat einen Schritt zurück. »Was ist das für ein Gleißen?«

»Eine Mauer aus Licht.« Ihr Kopf wackelte auf dem dürren Hals, als wollte er jeden Augenblick hinabrollen. »Sie schützt die Glasstadt und tröstet einen alten Narren über den Verlust seiner Tochter hinweg.«

»Seine Tochter lebt.« Nehrit musste nur einen Boten schicken, um Mahkis die Nachricht zu überbringen.

»Noch.« Die faltigen Lider der Frau senkten sich. »Der Winter steht vor der Tür. Er wird seine Frostfinger um das Waldland schließen und es lange Zeit nicht freigeben. Keine Lichte erträgt Kälte und Dunkelheit.«

»Moment.« Ahfid hob die Hand. »Was hat Mahkis’ voreilige Trauer mit dem tödlichen Leuchten zu tun, von dem du sprachst?«

»Alles.«

Der Rabe schwang sich mit lautem Krächzen in die Luft, ließ sich auf Nehrits Zeltstange nieder.

»Er erstickt seine Angst dahinter, sperrt Feinde aus und Freunde ein.«

»Auch gut.« Dann mussten die Grenzgänger nicht mehr ihr Leben lassen, um die Lichten vor Rags Horden zu beschützen.

»Du dummer Nachtfresser!« Jetsuba schlug mit dem Stock nach ihm. »Ein loderndes Feuer frisst Holz, sonst gibt es weder Wärme noch Licht her. Mahkis muss seine Mauer ebenfalls füttern. Die Frage ist, mit was?«

»Und was hat das Mädchen damit zu tun?« In Cordics Kopf schwirrten abstruse Gedanken. Allein die Alte hatte sie ihm eingeschwatzt.

»Das wirst du sehen.« Sie schürzte die Lippen, nickte. »Oh ja, mein junger Clankrieger, Sohn des Merut, der Rag verraten wollte und scheiterte.«

Verflucht sollte sie sein! War seine Schmach bereits zu den Waldhexen vorgedrungen?

»Schicksalsfäden knüpfen sich niemals umsonst umeinander. Eines Tages erfährst du, wer am anderen Ende auf dich wartet.« Sie humpelte zu Nehrits Zelt.

Verrücktes Weib.

»Wenn sie dem Kind etwas antut …« Er würde sie in Scheiben schneiden.

»Wird sie nicht.« Ahfid sah ihr nach. »Sie schätzt das Leben zu hoch, um es auszulöschen. Viel mehr beunruhigt mich das Gerücht von der Lichtmauer. Ein Stoßtrupp muss sich die Sache ansehen und versuchen, einen Blick auf diese Wanderer zu werfen.«

»Geister lassen sich nicht ausspionieren.« Ein leichter Schmerz zog sich von Cordics einer Schläfe zur anderen. Er massierte sie mit den Handballen, und das Ziehen ließ nach.

»Keine Geister.« So, wie Ahfid sprach, schienen die ihm lieber zu sein. »Sie öffnen die Tore zwischen den Welten.«

»Von welchen Welten, außer unserer, sprichst du?« Nahm ihn sein Freund auf den Arm?

»Keine Ahnung.« Ahfid zuckte mit der Schulter. »Wir sollten es herausfinden.«

»Erst morgen.« Das Ziehen in seinem Kopf wurde stärker. »Ich leg mich aufs Ohr.« Es war ein harter Tag gewesen.

Ahfid schlug ihm auf die Schulter und wünschte ihm eine friedliche Nacht.

Cordic ging zu dem Zelt, das er sich mit den Schwarzblütern aus Nehrits Horde teilte. Weder er noch sie freuten sich darüber, aber nach zahlreichen gebrochenen Nasen und zwei gewonnenen Duellen hielten sie ihren Hass auf ihn hinter den Lippen verschlossen. Letztendlich teilten sie sein Schicksal. Er war heimatlos, weil sein Clan ausgelöscht worden war, sie, weil sie als Bastarde nie zu einem gehört hatten.

Wie das Mädchen.

Nur ein Bastard.

Dennoch rauschte das dunkle Blut Khatalahs in einer Intensität durch den kleinen Körper, wie er sie nie zuvor gespürt hatte. Auch nicht bei den Mitgliedern der ältesten Clans.

Das Gemurmel verstummte, als er das Zelt betrat.

Feindselige Blicke hefteten sich auf ihn, hielten seinem jedoch nur einen Wimpernschlag lang stand.

Er legte sich auf sein Lager, drehte sich zur Plane. Kaum berührte sein Kopf das weiche Mufflonfell, fielen ihm die Augen zu.

Ein Kind mit goldenen Iriden und rabenschwarzen Haaren durchzog seine Träume wie eine längst vergessene Melodie.

 

 

– Liane –

 

Licht schimmerte auf dunklem Grün. Eine Zeltbahn.

Ein würziger Duft stieg ihr in die Nase. Jemand schob ihr eine Hand in den Nacken, hob ihren Kopf an.

»Trink etwas«, sagte eine vertraute Stimme.

Martha hielt ihr einen Becher an die Lippen. Während sie lächelte, rollte ihr eine Träne über die Wange. »Der Heiler meint, der Kräuteraufguss wäre gut für dich.«

Heiß und bitter rann es durch Lianes Kehle.

»Willst du dein Kind betrachten?«

»Nein.« Sie hatte genug Abscheulichkeiten in ihrem Leben ertragen müssen.

»Aber, aber.« Martha hob ein Bündel aus einem Korb. »Es hat deine Augen.«

»Dem Licht sei Dank.« Nie wieder wollte sie in Finsternis trinkende Iriden sehen müssen.

»Ein Mädchen.« Martha legte das Baby neben sie. »Gesund und munter.«

Fäustchen strampelten sich aus der Decke, der Blick der goldenen Augen suchte ihren.

Der Wunsch, einen Kuss auf die runde Stirn zu geben, streifte Liane nur flüchtig. Sie würde ihr Herz niemals an das kleine Wesen hängen. Allein seine Existenz widersprach sämtlichen Lehren ihres Volkes. Licht und Schatten vereinten sich nicht. Aus Ordnung und Chaos entsprang kein Leben, sondern Untergang und Tod.

Ihre Tochter hatte sich nicht darum gekümmert. Sie lag vor ihr, gluckste vergnügt, als befände sie sich in Sicherheit.

Eine Illusion.

Martha kniff zärtlich in die Pfirsichwange, als wäre die Kleine ein Geschenk, aber das war sie nicht. Das Chaos hatte sie geformt, und die Erinnerung daran ließ Liane verzweifeln.

Auf den ersten Blick erinnerte nichts an den Vater. Doch hätte er Haare besessen, wären sie schwarz gewesen wie die weichen Igelstacheln.

»Ich wünschte, ich könnte es hassen.« Dann wäre es möglich, das Kind im Wald den Tieren zu überlassen.

Erschrocken sog Martha die Luft ein. »Sag das nicht! Hass zerfrisst unsere Seele und verstümmelt unseren Geist«, wiederholte sie die Lehren der Wissenden. »Leidenschaft quält uns, und unser Herz der Illusion der Liebe zu opfern, verhindert unser Aufsteigen zum Licht.«

Was wusste Martha von den Abgründen aus Hass und Leidenschaft, die in Lianes Herz tobten? Martha war alt und stets fügsam gewesen. Nie hatte sie sich etwas zuschulden kommen lassen. Nie hatte sie gegen die hehren Gebote des Hohen Rates verstoßen, geschweige denn die Lektionen der Wissenden ignoriert.

Aber Liane hatte es getan. Der Preis dafür war hoch.

»Lichtaugen.« Behutsam nahm Martha das Kind auf den Arm. »Wir könnten der Kleinen den Kopf scheren, dann merkt Mahkis …«

»Lege Hand an das Kind und ich schneide sie dir ab!«

Liane fuhr zusammen.

Eine Frau betrat das Zelt. Ein Gesicht wie ein Schädel. Auf der knochigen Schulter hockte ein Rabe und klackerte mit dem Schnabel.

»Du hast es geboren, aber es gehört dir nicht.« Die Alte wand das Baby aus Marthas Arm.

»Wer bist du?« Martha wurde blass. Dennoch brachte sie den Mut auf, die Fäuste in die Seiten zu stemmen. »Gehörst du zu der Grenzgängerhorde?«

»Ich gehöre zu niemandem«, sagte die Frau mit einer Stimme, die Liane Schauder über den Rücken jagte. »Nur den Wäldern, dem Wind und dem Leben. Ebenso wie das Kind.«

Der schreckliche Rabe wippte auf und ab. Sein Anblick verscheuchte jeden vernünftigen Gedanken aus Lianes Geist.

»Wenn du einen Namen brauchst, nenne mich Jetsuba.« Sie kicherte, als stünde sie kurz davor, den Verstand zu verlieren. »Das Mädchen ist knackig wie ein Apfel.« Sie kniff ihm grob in die Wangen.

Es krähte wütend.

Ein Lächeln huschte über das Schädelgesicht. »So stark«, murmelte sie. »So sonnig und dunkel wie die schwärzeste Nacht. Kein Sturm vermag es, deine Wurzeln auszureißen, kein Frost ist kalt genug, um das Feuer deines Herzens zu löschen. Du wirst dem Licht die Hand reichen und im selben Moment die Finsternis küssen. Deine Schritte senken Leben in verdorrten Boden, dein Anblick weckt Hoffnung in den verstocktesten Seelen.«

»Was redest du da?« Liane raufte sich die Haare. Ein Gegenschmerz zu dem Druck in ihrem Inneren. »Verschwinde!«

»Nur mit dem Mädchen.« Der Blick der dunklen Augen senkte sich in Lianes Sein. »Ich weiß, wer der Vater ist.«

Liane ertrank in Schatten.

»Wenn er davon erfährt, wird er alles daran setzen, seiner Tochter habhaft zu werden. Ein Kind, das Licht und Finsternis in sich vereint, ist ein machtvolles Werkzeug.«

»Nimm es.« Liane wandte sich ab. Sie brachte es nicht über sich, die Alte länger anzusehen.

»Dann gib dem Mädchen, was ihm zusteht.« Die Frau streckte die Hand aus. »Deinen Geburtsreif.«

»Niemals.« Ihre Mutter hatte ihn ihr geschenkt. Jedes Kind der Lichten erhielt einen solchen Goldreif. Die Segenssprüche ihres Volkes waren darin eingraviert. »Ebensogut kannst du mein Leben fordern!«

»Das ist nichts mehr wert, Kindchen.« Knochige Finger hoben ihr Kinn an. »Der Tod hat dich bereits vor Monaten berührt. Nur weil er ein geduldiger Geselle ist, heißt das nicht, dass er dich entkommen lässt. Und jetzt gib mir den Reif. Du wirst kein zweites Kind gebären, dem du ihn schenken kannst.«

Liane streifte den Schmuck ab, schleuderte ihn von sich. »Nimm ihn und verschwinde!« Das Zelt drehte sich um sie. Kalter Schweiß lief ihr über die Stirn.

»Du wirst blass«, hörte sie die krächzende Stimme sagen. »Dein letzter Atemzug wartet auf dich. Genieße ihn in der Gewissheit, dass ich das Schattenlichtmädchen in Sicherheit bringen werde.«

Schwere legte sich auf Lianes Brust. Vor ihren Augen wurde es dunkel.

 

 

– Ahfid, Krieger der Grenzgänger –

 

Die Alte humpelte aus dem Zelt, sah sich um und drückte das Kind an sich. Wie ein böser Traum hockte der Rabe auf ihrer Schulter. Sie flüsterte ihm etwas zu, und er stieg mit rauschendem Flügelschlag in die Finsternis.

Ahfid trat tiefer in die Schatten der Nacht. Jetsuba war ihm stets unheimlich gewesen. Was hatte sie mit dem Baby vor?

Ratil versperrte ihr den Weg. »Du bleibst, bis Nehrit entschieden hat, was mit dir geschehen soll.«

Jetsuba lachte dem Krieger ins Gesicht. »Nehrit entscheidet über dich. Nicht über mich. Und jetzt weg mit dir. Ich habe zu tun.«

»Das Kind bleibt.« Ratil warf sich in die Brust. »Solange, bis mir Nehrit etwas anderes sagt.«

Schwere Schritte näherten sich.

Nehrit tauchte aus der Dunkelheit auf, um gleich wieder darin zu verschwinden. Als er erneut auftauchte, stand er direkt neben Ahfid.

»Lauscht es sich gut?« Nehrits vernarbter Mund zog sich zu einem Grinsen. Genau genommen wurde das gesamte, zerrüttete Gesicht davon in Mitleidenschaft gezogen. Die Anzahl seiner Narben war beeindruckend. »Mach dir nichts vor«, raunte der Erste Mann. »Sie weiß, dass wir beide uns wie die Idioten vor ihr verstecken. Diesem Mistweib entgeht rein gar nichts.«

»Woher kennst du sie?«

»Ich kenne sie nicht. Niemand tut das. Doch sie kennt mich und dich und den restlichen Sauhaufen, aus dem sich meine Horde zusammensetzt.« Nehrit kratzte sich am Bart, schüttelte den Kopf. »Da ist was im Gange, Ahfid. Ich spüre es in meinen Knochen, und es ist nichts Gutes. Es heißt, die Nachtfresser würden sich in den Norden zurückziehen. Völlig ungeordnet und überstürzt. Dabei hatten sie Rakti und ihre Kriegerinnen fast in die Knie gezwungen.«

Wenn Jetsuba bisher nichts davon bemerkt hatte, belauscht zu werden, Nehrits Schnalzen änderte das.

»Und das will was heißen«, wisperte er dennoch. »Rakti mag ein Schwarzblut sein, aber sie ist unübertroffen als Strategin und als Schwertkämpferin.« Das Zwinkern war nur zu ahnen. »Von ihrer Schönheit abgesehen, doch damit schmücken sich diese Bastarde ja allesamt.«

»Weißt du, was der Auslöser für die Flucht der Khatalaher war?«

»Nein.« Nehrit zog den Rotz hoch, spuckte aus.

Beides geschah laut genug, dass ein Schlafender aufgeschreckt wäre.

Jetsuba verdrehte die Augen.

Ahfid bildete sich ein, sie seufzen zu hören.

»Sie sprach von einem geheimnisvollen Licht, das die Glasstadt umschließt.« Ahfid nickte in Jetsubas Richtung. »Es sei gefährlich. Insbesondere für die Clanleute.«

»Aha, dann sollten wir …«

»Kommt raus.« Die Alte schloss die Lider, winkte genervt mit ihrer dürren Hand. »Man muss ohrenlos geboren worden sein, um euch ignorieren zu können.«

»Was habe ich dir gesagt?« Nehrit straffte die Schultern. »Diesem Mistweib entgeht nichts.«

»Du hättest leiser rotzen sollen.«

»Das hat damit nichts zu tun.« Nehrit setzte für seine Verhältnisse ein charmantes Lächeln auf und ging mit ausgebreiteten Armen auf Jetsuba zu. »Meine Teure! Welch Freude, dich zu sehen.«

Eine der eisgrauen Brauen schnellte in die Höhe. »Du kannst mich nicht ausstehen.«

»Macht ja nichts.« Nehrit verbeugte sich vor ihr und winkte hinter seinem Rücken Ahfid heran.

Nur ungern kam Ahfid dem gestikulierten Befehl nach.

Jetsuba hinkte auf ihn zu. Ihre Augen fixierten ihn, dass er ihren Blick bis in seine Seele spürte. »Ich brauche dich.« Ihre dürre Hand packte ihn am Mantelkragen und zog ihn nahe an ihr Gesicht. »Eines Tages schicke ich dir meinen Raben. Er wird dich zu mir führen.«

Hätte er bloß das Versteck nie verlassen. »Wohin bringst du das Kind?« Die Kleine rührte ihn. Selbst jetzt fühlte er ihren festen Griff um seinen Finger.

»Magst du Schlehen?« Die Alte ließ ihn los.

»Nicht unbedingt. Sie sind mir zu bitter.«

»Bitter ist gut«, murmelte sie. »Bitter ist Medizin und heilt. Genauso, wie das Mädchen das Waldland heilen wird.« Ohne sich von ihm oder Nehrit zu verabschieden, schleppte sie sich in die Dunkelheit.

Ahfid wollte ihr nach.

Nehrit hielt ihn zurück. »Sie ist eine grässliche Vettel, die mir Albträume beschert. Trotzdem haben ihre Pläne Hand und Fuß.«

»Ich weiß immer noch nicht, wohin sie mit dem Kind will.«

Nehrit zuckte mit den mächtigen Schultern. »Ist besser so.«

»Ein Grund mehr …«

Lautes Wehklagen unterbrach ihn.

Die Lichte, die er zu Liane geführt hatte.

»War klar, dass es die Frau nicht schafft.« Nehrit runzelte die Stirn. »Ich werde eine Amsel zu Mahkis schicken. Ein Vater sollte vom Tod seiner Tochter erfahren.«

»Wirst du ihm von seiner Enkelin erzählen?«

Nehrit fuhr sich über den vernarbten Mund. »Ich wäre ein Schurke, hielte ich damit hinterm Berg. Er ist ihr Großvater, verdammt.« Er stapfte in sein Zelt.

Das Weinen darin wurde leiser.

 

 

– Mahkis, Erster Rektor des Hohen Rates der Lichten –

 

»Es ist ein Segen.« Er legte die Hände auf die gläserne Brüstung seines Balkons. Unter ihm lag die Stadt dank der Mauer aus Licht friedlich und still. »Wie lange wird es dauern, bis das Licht die Dächer erreicht hat?«

»Ein paar Wochen, vielleicht auch einige Monate.« Der Wissende breitete eine Karte aus.

Ohne seine Hilfe wären die Lichten den dunklen Horden Khatalahs längst zum Opfer gefallen.

»Es kommt darauf an, wie viel Energie wir zufügen können, um den Großen Schutz zu speisen.«

»Der Große Schutz?« Welch treffende Bezeichnung.

Der Wissende lächelte. »Städte tragen Namen, ebenso berühmte Schwerter. Da dachte ich, der Große Schutz wäre passend.«

»Sehr passend.« Der strahlende Ring, der die Glasstadt weiträumig umschloss, behütete sein Volk vor Vandalismus und Tod. Immer, wenn er in das gleißende Flimmern blickte, schlug sein Herz höher und er war von Dankbarkeit durchdrungen.

Der Große Schutz. Er schenkte Frieden und Sicherheit vor den Gefahren außerhalb. Gier, Brutalität, niedere Belange, mit denen grobschlächtige Menschen den Geist der Lichten vergiften wollten.

Wahrlich, die Nachtfresser waren nicht die einzige Bedrohung. Es existierte jenseits der Wüste zu viel, das es darauf anlegte, jede Spur Kultur und Wissen hinweg zu schwemmen. Doch das war nun vorbei. Der Infektion von außen war Einhalt geboten worden, und der geistigen Entwicklung der Lichten stand nichts mehr im Weg. Jahrelang hatte er sich dafür aufgeopfert, hatte sich nie geschont. Selbst dann nicht, als Liane verschwand. Auf den Märkten im Steppenland hätte man sie gesehen. Sie hätte getanzt und sich unter die Gaffer gemischt, die ihre Zeit mit dem Ansehen frivoler Schauspiele und oberflächlicher Zaubertricks verschwendeten. Plötzlich waren die Horden wie ein Sturm über die Menschen hereingebrochen. Einer der Markttreibenden hatte sich hinter die Glasmauern gerettet. Er hätte Liane zwischen Staub und Asche liegen sehen. Tot. Ihre sonnenhellen Haare wären von Unrat besudelt gewesen, ihre seidenen Kleider von Blut beschmutzt, ihr zierlicher Leib geschändet.

Mahkis fasste sich an die schmerzende Brust.

Einst hatten ihn alle um seine Tochter beneidet. Schön wie der Tag, als wäre sie den Lenden des Urvaters entsprungen.

Sein einziges Kind. Wie hatte es ihn enttäuscht.

Er hatte sich verboten zu trauern und sich stattdessen stärker auf seine Aufgaben fokussiert. Im Bestreben, jeden Bewohner der Glasstadt zu einem vollkommeneren Menschen zu erziehen, war er dornige Wege gegangen. Doch seine Arbeit war leichter geworden, seitdem die Wissenden ihm beiseitestanden.

Welch ein würdiges Volk! Ein Vorreiter für sein eigenes?

Sein Herz klopfte schneller.

Ein Leben in Gleichmut und Mäßigung. Jedes Wort Wahrheit, jeder Gedanke Gerechtigkeit und Sinn. Aber dazu würde es nur kommen, wenn die Gefahren von außerhalb für immer gebannt wären.

»Es ist möglich, die unterirdischen Energieadern anzuzapfen.« Der Wissende strich sich die farblosen Haare hinters Ohr, beugte sich tiefer über die Karte. »Diejenigen, die ich aufspüren konnte, habe ich eingezeichnet. Es sind fünf Hauptadern, die von Nord nach Süd verlaufen. Ihre zahllosen Verästelungen lasse ich außen vor. Eine davon fließt unter der Glasstadt entlang. Sollte es mir gelingen, auf der Höhe des Großen Schutzes ein Loch zu öffnen, strömt die Energie ungebremst in die Lichtmauer.«

»Löcher?« Das klang eindeutig nach Makel.

»Es ist ähnlich wie bei den Toren zwischen den Welten«, erklärte der Wissende. »Man kann sie zwingen, sich zu öffnen. Das trifft sowohl für die kleineren zu, die sich innerhalb einer Welt befinden, als auch für die großen, die in andere Dimensionen führen.«

Mahkis glitten ehrfürchtige Schauder den Rücken hinunter.

»Stell es dir wie eine Ader vor.« Der Wissende tippte auf die gelb eingezeichnete Linie der Karte. »Wir stechen hinein und das Blut läuft heraus und versorgt den Großen Schutz. Nur dass es kein Blut, sondern Lebensenergie ist.« Er faltete die Karte zusammen. »Allerdings dürfen wir es nicht übertreiben, sonst blutet das Land nördlich der Glasstadt aus. Ein Jahr oder zwei. Dann müssen wir das Loch schließen.«

»Und ertragen, dass die Nachtfresser erneut über uns herfallen?« Das würde er niemals zulassen.

»Ein Zuviel ist ebenso schädlich wie ein Zuwenig«, sagte der Wissende so gleichgültig, als spräche er nicht über das Überleben eines Volkes. »Das Experiment ist neu. Es birgt Risiken.«

»Wir stehen unter eurem Schutz.« Mahkis hob die Hände zum Himmel. »Ihr habt uns für würdig befunden und wir werden euch nicht enttäuschen.« Die Mauer aus Licht musste leuchten und sämtliches Ungeziefer fernhalten. Bis in die Ewigkeit.

Er verneigte sich vor dem Weltenwanderer. »Bitte, beginne mit deiner Arbeit.«

Der deutete ebenfalls eine Verneigung an und entfernte sich.

Die Glasstadt war gerettet.

Ein Volk, eine Seele und vor allem: Ein Geist!

Mahkis ließ den Blick über die transparenten Gebäude der Stadt streifen; eine Sinfonie aus Perfektion und Helligkeit, Gradlinigkeit und Schwerelosigkeit. Jede Mauer aus Glas, jeder Raum eine Einladung ans Licht. Nichts konnte verborgen werden. Wenn jeder alles sah, wurden Lügen überflüssig.

Ein Schatten glitt über den Großen Schutz. Ein Vogel?

Dem Licht sei Dank, dass Khatalahs Horden keine Flügel besaßen.

Er näherte sich. Schwarz und bedrohlich. Ein Unglücksbote in Rabengestalt.

Mahkis trat einen Schritt zurück, doch der Vogel hatte ihn erspäht und setzte sich auf die Brüstung. An seinem Bein befand sich ein Röhrchen. Eine Nachricht.

Mit zitternden Händen öffnete Mahkis die Befestigung, streifte das kleine Behältnis ab.

Der Vogel erhob sich, flog Richtung Norden davon. Demnach sollte er keine Antwort abwarten.

Mahkis zog eine zwei Finger breite Pergamentrolle hervor. Die Zeichen darauf waren winzig.

Er eilte in sein Gemach, nahm eine Lupe zu Hilfe.

 

Gib Dich nicht der Illusion hin, das Leben einsperren zu können. Weder innerhalb des Lichtes noch außerhalb. Dein eigen Fleisch und Blut wird es befreien. Um seiner selbst willen wird ihm das Chaos in Deine wohlgehütete Ordnung folgen und nur geschmolzenes Glas zurücklassen. Zweifle nicht an meinen Worten, es wird geschehen.

 

Jetsuba, Hüterin des Windes

 

Mahkis zerriss den Streifen, warf die Fetzen aus dem Fenster. Sie taumelten in die Tiefe, verloren sich zwischen Wänden und Gassen.

Wer wagte es, seiner Tochter zu spotten? Sie hatte sich ihrer Schwäche ergeben und dafür bezahlt. Nie wieder würde sie zurückkehren. Wer war diese Jetsuba? Er hatte nie von ihr gehört.

»Rektor Mahkis?«

Sein Sekretär war hinter ihn getreten. Er reichte ihm eine ähnliche Pergamentrolle wie diejenige, die er zerrissen hatte. »Eine Botschaft von Nehrit. Eben brachte sie eine Amsel.«

Hoffentlich hielt der Große Schutz auch dieses lästige, gefiederte Ungeziefer ab, wenn er sich weit über die Dächer der Stadt erhob.

 

Erster Rektor Mahkis. Es schmerzt mich, Dir mitteilen zu müssen, dass Liane kurz nach der Geburt ihrer Tochter gestorben ist. Sie suchte Hilfe in meiner Horde, und der Heiler hat sich ihrer angenommen, aber das Kind war zu stark für sie. Das Erbe seines khatalahischen Vaters forderte seinen Tribut. Dein Einverständnis vorausgesetzt, haben wir es den Händen einer Frau überlassen. Sie wird sich um das Kind kümmern.

 

In tiefem Mitgefühl, Nehrit, Erster Mann der Grenzgänger.

 

Seine Beine verweigerten ihm den Dienst. Er sank zusammen, die Worte verschwammen vor seinen Augen.

Liane hatte den Angriff überlebt. Doch wie hatte sie das Kind eines Nachtfressers empfangen können? Eine Lüge. Nichts anderes konnte es sein. Die Wissenden lehrten es. Herrschte die Finsternis, glomm kein Licht. Leuchtete das Licht, existierte keine Finsternis. So simpel, so wahr.

Und nun behauptete Nehrit, Liane hätte einen Bastard geboren. Ein Ungetüm, das Licht und Schatten in sich vereinte.

Davon hatte die Rabennachricht gesprochen.

Sein eigen Fleisch und Blut.

Er würde nicht zulassen, dass die Glasstadt im Chaos versank.

Ein Stich in die Ader, um den Großen Schutz zu speisen?

Er würde ein Loch hineinschneiden, das niemals mehr heilte.

 

 

Drei Jahre später

 

– Rag, Herrscher über das Felsenreich Khatalah –

 

»Meine Bastarde haben ihn gefunden!« Parvaks Rattenaugen leuchteten vor Stolz. »Er ist hier, nach so vielen Jahren.«