Herr über Fels und Stein - Swantje Berndt - E-Book

Herr über Fels und Stein E-Book

Swantje Berndt

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Beschreibung

Die Schlacht gegen die Clankrieger ist gewonnen, doch der ausgehandelte Frieden zwischen den ungleichen Völkern steht auf wackeligen Beinen. Cordic sieht sich verpflichtet, die ihm zugedachte Rolle in dem Spiel der Mächte einzunehmen, und fordert von Fiona ein Opfer, das ihr Vertrauen in ihn zutiefst erschüttert. Sie verweigert sich seinen Plänen, aber Cordic ist nicht bereit, das zu akzeptieren. Zwischen den Intrigen Khatalahs und seinem Kampf um ihre Liebe hin- und hergerissen, trifft er eine bittere Entscheidung und riskiert, Fiona endgültig zu verlieren.

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1. Prolog
2. Schutt und Asche
3. Ein Geschenk in der Dunkelheit
4. Die Trauer der Lebenden
5. Eine Aussicht auf Zukunft
6. Eine Nacht, ein Morgen
7. Abschied von Freunden
8. Von Totenschiffen und anderen sonderbaren Ereignissen
9. Vor Worat und Artalis Füßen
10. Epilog
11. Weitere Romane von Swantje Berndt

Swantje Berndt

Herr über Fels und Stein

Lieder von Schatten und Licht

– Dritte Strophe –

Copyright © 2020 Swantje Berndt

www.swantje-berndt.de

1. Prolog

– Der Meister der Wissenden –

Am Rande des Geschehens besaß es durchaus einen ästhetischen Wert. Die Lichtwogen, die sich wabernd durch Straßen und Mauern fraßen, waren beeindruckend, ihre gleißende Wucht, die weder Glas noch Fleisch verschonte, weckte eine tiefe Demut in ihm.

So sehr er den Anblick genoss, er war der Beweis seines Versagens.

Das Volk der Lichten in der Stadt aus Glas. Ein Experiment. Gewagt, doch vielversprechend. Es war gescheitert. Der Auslöser dieser Katastrophe war Mahkis selbst gewesen. Er und eine penetrante Bitte um einen stärkeren Schild. Der Große Schutz war zusammengebrochen und das Licht, bestohlen um sein Futter, fraß sich durch die Stadt.

Das Entsetzen und der Tod der Menschen, die verzweifelt versuchten, sich vor seinem Hunger in Sicherheit zu bringen, ihre verhallenden Schreie, nachdem sie über jedes erträgliche Maß hinaus erklungen waren. Ihr sinnloses Hin- und Herhetzen, ihr Flehen um Gnade und Schutz.

Einer nach dem anderen verstummte, wurde eins mit der zäh fließenden Masse.

Der Meister befahl der Öffnung zwischen der Leere und dem Konstrukt aus Raum und Zeit, sich weiter zu öffnen. Zu seinen Füßen wurde die Geschichte einer Welt geschrieben. Es galt, die Vorgänge mit Bedacht zu beobachten.

Seltsam. Letztendlich erfüllte das Licht die Wünsche dieses Volkes. Es brachte ihm Ruhe und Frieden. Wo das Leben herrschte, existierte weder das eine noch das andere. Nur der Tod schenkte Stille. Er vereinnahmte diesen sonderbaren Ort, bis das Tosen verstummte und der letzte Schrei verhallt war. Der Nahrung beraubt erlosch das gleißende Licht. Ruhe breitete sich aus, legte sich friedlich über den See aus geschmolzenem Glas. Wie Insekten in Bernstein, so waren die Körper der Menschen darin eingeschlossen. Ewigkeiten würden vergehen, ohne dass es jemand vermochte, ihnen ein Leid zuzufügen.

Eventuell war dieses Experiment kein Desaster, sondern hatte lediglich einen unerwarteten Ausgang genommen. Zurück blieb die Erinnerung an ein ausgelöschtes Volk. Die wenigsten waren bereit gewesen, sich ein paar Kindern anzuschließen, um die Mauer aus Licht zu verlassen. Im letzten Augenblick, ehe das große Sterben seinen Lauf genommen hatte. Die Flüchtenden schleppten sich durch das Ödland nach Norden. Sie konnten den Untergang ihres Volkes nicht aufhalten. Sie waren zu schwach, zu sehr darauf bedacht, der einen Gefahr zu entkommen, um sich in den Rachen der anderen zu werfen. Der Norden barg dunkles, wildes Grauen. Die Lichten waren dieser Herausforderung nicht gewachsen. Nicht umsonst hatten sie sich all die Jahre hinter dem Großen Schutz verborgen.

Sie siechten dahin. Schon jetzt. Verwundet von dem Licht, gezeichnet von Hunger und Schrecken, nicht ahnend, dass sie bei jedem Schritt von den Namenlosen beobachtet wurden.

Noch eine kleine Weile. Ein unbedeutender Wimpernschlag im Dasein, und die Seelen erloschen wie ihre Stadt. Dieses Volk spielte keine Rolle mehr. Wozu Sorgen daran verschwenden? Es sich selbst zu überlassen, hieß es dem Tod zu überantworten.

Eine besonnene Lösung.

Es genügte ein Gedanke von ihm und die Namenlosen wandten sich von dem armseligen Tross ab. Ob die Lichten es spürten? Die plötzliche Einsamkeit? Die Haltlosigkeit? Wie welke Blätter im Herbstwind. Ihr Schicksal würde sie in die Vergessenheit wehen.

Wenn nur dasselbe mit dem Schattenlichtmädchen geschähe.

Lun hatte es gewagt, sie aus der Leere zu befreien. Dieses unverzeihliche Vergehen glich einer Gräueltat. Es war seine Schuld, dass Sur im Nichts zwischen hier und dort zerschellt war.

Ein leichtes Unbehagen breitete sich in dem Meister aus. Surs Todesschreie hatten die Festen der Welten erschüttert. Sein Verlust war kaum auszugleichen.

Nun wandelte Rags Tochter auf freiem Fuß und mit gefährlichen Verbündeten an ihrer Seite. Wie ihrem Vater, so würden auch ihr Chaos und Finsternis folgen.

Wohin? Dank Lun standen ihr die Welten offen.

Der Meister war verpflichtet, den Schaden zu begrenzen. Darauf zu hoffen, dass sie in den Kriegswirren um Khatalah ihr Leben verlor, wäre leichtfertig, obwohl die Möglichkeit immens war.

Schritte in der Leere. Er spürte sie, ohne sie zu hören.

Eri trat an seine Seite. Er blickte zu aufgewühlt für einen Wissenden in die erstarrten Gesichter der Toten. Ihr maßloser Schrecken spiegelte sich in seinem.

Und verging.

Ein Echo. Bedeutungslos.

»Vergebt mir die Störung Eurer kontemplativen Betrachtungen, doch etwas ist vorgefallen, das Ihr wissen solltet.« Sein Augenlid zuckte.

Er war noch weit von der notwendigen Gelassenheit entfernt. Die bedrohliche Unruhe in seinem Inneren verdankte er seinem letzten Auftrag. Das Schattenlichtmädchen hatte ihn gezeichnet.

»Der Abtrünnige hat Rags Tochter soeben durch das Tor im Grauen Horn zurück in ihre Exilwelt gebracht.« Eri senkte den Blick. »Einem Namenlosen ist es gelungen, Lun zurückzustoßen, doch das Mädchen entkam.«

Lun. Wieder hatte er sich eingemischt. Der erste und einzige, der gegen den Willen des Meisters agierte. Das Schattenlichtmädchen besaß eine nicht zu unterschätzende Macht, wenn es ihm gelang, einen Wissenden derart zu manipulieren. Dennoch, es hätte schlimmer kommen können. Die Exilwelt des Mädchens war für den Fortbestand der Ordnung des Universums bedeutungslos. Ein blinder Fleck zwischen den Welten. Solange sie dortblieb, konnte sie keinen Schaden anrichten.

»Rags Tochter darf ihr Exil nicht mehr verlassen.«

Eri nickte. »Meister, aber was geschieht, wenn Lun noch einmal für sie die Pforten zwischen den Welten öffnet?«

»Die Namenlosen werde es verhindern.« Und seine Befehle würden eindeutig sein. Im Vergleich zu Sur war der Verlust des Abtrünnigen hinzunehmen.

~*~

2. Schutt und Asche

 

 

– Ahfid –

 

Rauschen. In seinem Kopf. Sein Schädel zerbarst.

Ahfid presste die Hände gegen die Schläfen, rang nach Luft, schluckte Staub. Vor Husten rannen ihm Tränen übers Gesicht, doch sie wuschen seine Augen nicht aus. Die brannten und weigerten sich, mehr als empordrängende Wolken und Nebel zu erkennen. Er bauschte sich im blassen Schein der Lichtsphäre zu wulstigen Ungetümen.

Dumpfes Poltern, das Geräusch rollender Steine. Etwas Hartes stieß an seinen Kopf, nahm ihm das letzte bisschen Klarheit, das ihm der ohrenbetäubende Knall gelassen hatte.

Er kauerte sich zusammen, verbarg seinen Kopf unter den Armen.

Lebendig begraben zu werden. Kein guter Tod.

Stille. Dick und undurchdringlich wie der Staub. War es vorbei?

Er setzte sich hin, starrte in graue Schwaden. Sie senkten sich unerträglich langsam, gaben nur zögernd Schemen preis.

Jemand lag reglos zwischen den Steinen. Nur ein paar Schritte von ihm entfernt.

Veta.

Nein, bitte …

»Veta!«

Sie rührte sich nicht.

»Veta!« Zu ihr kriechen, sie berühren.

Keine Regung, kein Pochen, gar nichts bis auf Kälte. Sie steckte in seinen Fingern, ließ ihn nichts fühlen außer erbärmlicher Angst. Sie würgte ihn stärker als der Dreck in der Kehle.

»Veta, bitte …« Er brauchte Licht!

Die Sphäre. Zu weit weg. Wie sollte er Veta alleinlassen? Nein, keinen einzigen Herzschlag lang. Vorsichtig drehte er sie auf den Rücken.

Eine Maske aus Grau und Rot. Ihr Gesicht?

Kälte fraß sich durch sein Herz, ließ es erstarren. Wie die Hand an ihrer Wange, wie jede Regung in ihm.

Er würde Nehrit töten. Wegen dieser Frau. Weil er …

»Ahfid?« Die staubigen Lider flatterten, öffneten sich. »Keine Sorge, mir geht’s gut.«

Sie lebte.

Sein Kopf sank nach unten. Ganz von allein. Erst als seine Stirn ihre Brust berührte, verharrte er. Beim Grün der ewigen Wälder. Sie lebte.

»Du blutest«, nuschelte er in die Falten ihres Kleides. »Sag mir, dass es nur Kratzer sind.«

»Es sind nur Kratzer.« Sie klang heiser, leise.

Das lag am Staub. Ganz sicher. An nichts anderem.

Er schlang die Arme um sie, richtete sich mit ihr zusammen auf. »Bist du sicher, dass dir nichts wehtut?«

»Mir tut alles weh.« Sie lachte rau. »Mach dir trotzdem keine Sorgen um mich.«

Er drückte sie fester an sich. Wenn er sie verloren hätte. Nein. Der Gedanke war verboten. Ebenso wie das Gefühl, das er in ihm weckte.

»Du zerdrückst mich.«

Ahfid schloss die Lider. Sie lebte. Das war gut. So unendlich gut.

Wie sacht ihre Fingerspitzen über seine Wangen strichen. »Du weinst ja.«

»Mir ist was ins Auge gekommen.«

Ihr Blick entlarvte ihn als Lügner, ihr Lächeln schenkte ihm die Wärme seines Herzens zurück.

Er ließ sie nie wieder los und Nehrit war so oder so ein toter Mann. Schon wegen der ausgestandenen Angst.

Das Rot ihrer Haare hatte sich in Grau verwandelt.

Er fuhr mit den Fingern hindurch, Wolken stiegen auf. »Wenn du nicht willst, dass ich vor Sorge sterbe, lieg nie wieder wie tot auf dem Boden herum.«

Sie bettete ihren Kopf an seine Brust. »Hat Cordics Plan funktioniert?«

Cordic!

»Bleib ruhig.« Sie sah über seine Schulter hinweg. »Er steht da hinten neben dem Wanderer.«

Die Steine, die dieses Mal hinab polterten, stammten von seinem Herzen.

Cordic und Lun starrten auf einen Schuttwall. Dahinter lag das Tor, nur durch einen schmalen Spalt zwischen Geröll und Tunnelwand zu erreichen. Lun hatte Fiona hindurchbringen sollen. In dem Moment, als die Decke herabgestürzt war. Weshalb stand er davor, und wo war sie?

Der Anblick der Brocken schnürte ihm den Atem ab.

Veta befreite sich aus seiner Umarmung, erhob sich. »Lun?«

Der reagierte nicht.

Bei allen Finsternissen!

Ahfid quälte sich auf die Beine, humpelte zu den beiden Männern, die wie eingefroren schienen. »Lun, bitte sag, dass es geklappt hat!«

Lun nickte, doch sein Blick haftete weiterhin auf den Trümmern.

»Rede mit mir!« Ahfid packte ihn an der Schulter. »Du bist in den Durchgang gesprungen, hast Fiona mit dir gerissen. Dennoch bist du hier! Wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht.« Lun hob ratlos die Hände. »Sie wehrte sich mit jedem Gedanken. Also blieb mir nichts übrig, als sie auf der anderen Seite hindurchzustoßen.« Er wischte sich übers Gesicht, als ob er seinen Augen immer noch nicht trauen könnte. »Ich wäre ihr liebend gern gefolgt, aber der Durchgang verschloss sich so plötzlich vor mir, dass ich zurückprallte.«

»Ich tue so, als hätte ich überhört, dass du uns liebend gern im Stich gelassen hättest.« Veta musterte ihn mit gerunzelter Stirn, was Staubbröckchen von ihren Brauen rieseln ließ. »Was ist, wenn sie irgendwo im Waldland herauskommt oder noch schlimmer: Im Süden vor der Glasstadt? Hast du nicht gesagt, das Tor sei ein Springer?«

»Das hätte ich gefühlt.«

»Wenn du das sagst, Wanderer.« Ihr Spott ging in einem Hustenanfall unter.

»Es ist so«, beteuerte Lun. »Der Durchgang schmeckte und roch nach ihrer Welt. Eine unangenehme Mischung aus Müll und Kuhweide.«

Veta zog die Brauen hinauf, löste damit weitere Staublawinen in ihrem Gesicht aus.

»Wir müssen ihm vertrauen.« Ahfid schlang die Arme um sie, küsste sie auf die staubige Wange. »Er macht so was öfter.«

Luns Seitenblick strafte ihn ab.

Wofür?

Veta stieß ihn an, nickte zu Cordic.

Der stand mit hängenden Armen da, starrte nach wie vor auf die Trümmer. Seine Finger umschlangen Fionas Halstuch. Sie hatte es ihm auf die Wunde an seiner Wange gedrückt. Cordics Gesicht war angeschwollen und blutverschmiert, aber wirkliche Sorgen bereitete ihm die Leere in Cordics Augen.

Ahfid ging zu ihm. »Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Bei Karl ist sie in Sicherheit.«

Endlose Momente vergingen, ehe Cordic den Blick hob, doch er galt Lun. »Du wirst sie nicht zurückholen.«

Woher kam die Kälte in seiner Stimme?

»Keiner von euch.«

»Das lässt sich einrichten.« Lun brachte ein winziges Lächeln zustande. »Wir Wissenden schrieben Karls Welt vor Ewigkeiten ab. Was dort geschieht, interessiert uns nicht mehr. Fiona ist für uns offiziell ein Ärgernis. Glaub mir, der Meister wird sehr zufrieden mit dieser Lösung sein.«

Cordic nickte mit zusammengebissenen Zähnen.

Er liebte sie, hatte die Hoffnung gehegt, eine Verbindung mit ihr einzugehen. Der Moment, als er mit ihm die Passstraße hinaufspaziert und Ahfid Zeuge seiner Gefühle geworden war, schien unendlich weit entfernt.

Es war zu viel geschehen. Wahrscheinlich hatte Cordic nie damit gerechnet, das Wiedersehen mit Rag zu überleben. Bevor er sich mit Fiona auf den Weg zu ihrem Vater begeben hatte, hatte er Ahfid den Geburtsreif überlassen. Eine in Gold gefasste Erinnerung eines unglücklichen Vaters, der seine einzige Tochter an die Clankrieger verloren hatte. Cordic hatte das Mädchen nie gefunden. Vielleicht war ihm der Schmuck deshalb so wertvoll.

Er gab Cordic den Armreif zurück.

Der streifte ihn über, ohne den Blick zu heben.

»Wir müssen hier weg.« Veta nickte zu dem Berg aus herabgebrochenen Trümmern. »Wir klettern darüber und Lun bringt uns durch das Tor nach draußen.«

»Geht nicht.« Lun ließ den Kopf hängen. »Das Tor braucht Zeit, um sich zu erholen.«

»Zeit?« Veta lachte bitter auf. »Sieh dich um, Wanderer! Jeden Moment kann die Decke über uns einbrechen!« Sie bückte sich nach der Lichtsphäre. »Dann lasst uns hoffen, dass wir einen Weg nach draußen finden, der noch nicht verschüttet wurde.« Sie hielt die Lichtkugel vor sich und leuchtete das von dem Gang aus, was übrig war. »Im Moment bleibt uns nur dieser Tunnel, danach muss uns Cordic führen. Er ist der Einzige, der sich hier unten auskennt.« Sie marschierte entschlossen in die Dunkelheit.

Cordic unternahm keine Anstalten, ihr zu folgen.

»Du musst mitkommen.« Ahfid packte ihn am Arm. »Fiona lebt, und das ist das Wichtigste!«

Er reagierte nicht.

Bei allen Finsternissen! »Sie hat hier keine Zukunft!« Er riss ihn zu sich herum, schüttelte ihn. »Du schon!« Sollten sie dieses verdammte Chaos verlassen können.

Die dunklen Lider wirkten zu schwer, um sich jemals zu heben. Als sie es dennoch taten, traf ihn ein Blick, der sein Herz zucken ließ.

Etwas in Cordic war zerbrochen. Vielleicht war es auch niemals heil gewesen. Nun lag es endgültig in Scherben.

Mitgefühl und Wut. Wie oft hatte er beide Gefühle in Cordics Gegenwart gleichzeitig erlebt?

»Fiona braucht keinen Mann, der sein Leben wegen zermürbender Clanfehden riskiert und nur Zeit für Kämpfe und Eroberungsstrategien aufbringt.« Es war gut, dass sie zu Karl zurückgekehrt war. Und zwar bevor es zwischen ihr und Cordic ernster werden konnte. Was Vookit mit Cordic plante, hätte ihr ohnehin nicht gefallen. Sie hätte versucht, sich querzustellen, und sämtliche Verhandlungen damit behindert. Sie mochte ein Kind dieser Welt sein, seinethalben auch Rags Tochter, doch aufgewachsen war sie an einem Ort, der weder Halbwesen noch Nebelwölfe kannte. Von plündernden und mordenden Clankriegern ganz zu schweigen. »Vor ihr liegt ein friedliches, glückerfülltes Leben!« Das musste Cordic einsehen. »Weit weg von Chaos und Finsternis.«

Der dunkle Blick strafte ihn einen Narren.

Fiona war die Tochter von Chaos und Finsternis. Früher oder später würde Rags Erbe das lichte Blut ihrer Mutter niederringen, und dann?

Er weigerte sich, diese Frage zu beantworten.

»Entweder ihr folgt mir«, rief Veta aus der Dunkelheit des Tunnels, »oder wir begraben uns gegenseitig.«

»Komm schon!« Er packte Cordic am Kragen, zog ihn hinter sich her.

Der leistete keinen Widerstand, stolperte mit ihnen über die Trümmer.

 

 

– Fiona –

 

Kälte. Nicht klar und schneidend, eher feucht und schwer. Der Gestank nach Fäulnis war verschwunden. Wintergeruch, doch anders als in Khatalah. Süßlich, gefüllt mit welkem Laub und nasser Erde.

Dröhnen im Kopf, Pfeifen in den Ohren.

Die Explosionen.

Ihre Augen tränten, sie konnte kaum etwas erkennen. Überall war Staub in ihrem Gesicht und warum war es plötzlich so still?

Vor ihr lag etwas Blaues, Pralles in dreckigem Schnee. Es stank. Eine gammelige Bananenschale, benutzte Windeln und leere Babybreigläschen quollen hervor.

Ein Müllsack?

Das war nicht mehr in Khatalah.

Die Schlehenhecke am Fließ. Die alte Eiche, die Skaterbahn. Karls Welt.

Ihre Gedanken rasten.

Lun hatte sie durch das Tor gestoßen. Ein Springer. Es konnte sich an unterschiedlichen Orten öffnen. Kein festes Ziel. Er hatte es gesagt.

Wann? Egal!

Es hatte sich hier geöffnet. Genau dort, wo Cordic, Ahfid und Lun vor über einem Jahr Karls Welt betreten hatten.

Um sie zu suchen.

Sie waren weg. Fiona war allein. In Sicherheit.

Während ihre Freunde im Grauen Horn starben.

»Nein!« Sie musste zurück! Sofort!

Das Tor. War es noch offen? Sie tastete in der Luft, Zweige kratzten über ihre Hände. Ein Kribbeln, irgendetwas spüren, das ihr den Durchgang verriet.

Nichts.

Die großen Tore brauchen Zeit, um sich aufzuladen.

Luns Worte. Das Tor in dem Tunnel war klein gewesen, aber dieses nicht. Es brauchte viele Tage, um sich wieder öffnen zu können. Deshalb hatte Lun damals eines im Wald gewählt, als er sie mit Cordic und Ahfid zusammen entführt hatte.

Das Tor am Waldrand. Sie musste dorthin.

Ihr Herz überschlug sich.

Ihre Freunde starben. In diesem Augenblick. Die Tunneldecken brachen herab. Nehrit sprengte. Zu früh, viel zu früh!

Und sie saß zwischen beschissenen Müllsäcken fest!

Sie trat einen aus dem Weg, wühlte sich aus den Zweigen.

»Alles klar mit dir?« Ein Mann stützte sich auf seinem Gehstock ab. »Ist eine Sauerei, dass die Leute ihren Abfall in die Büsche schmeißen.«

Cordic war verletzt. Ein Steinsplitter hatte ihn getroffen. Im Gesicht.

»Kenne ich dich?«

Kleine Augen hinter dicken Brillengläsern.

»Nein.« Niemand kannte sie. Nicht mehr.

Sie musste ihre Freunde retten.

Fiona rannte los, schlitterte durch den Schneematsch, stürzte, rannte weiter. Alles, nur nicht langsamer werden. Ihr Kopf dröhnte, ihre Muskeln schmerzten.

Der Sturz die Treppe hinab? Oder hatten Steine sie getroffen, als die Tunneldecke herabgestürzt war? Cordic war verletzt. Blut lief ihm übers Gesicht. Sie musste zu ihm!

Wo war das zweite Tor? Sie war betäubt gewesen. Ein Waldrand, eine Wiese im Dunkeln. Es konnte überall sein.

Karl hatte sie hingefahren. Er wusste wo.

In ihrer Brust brannte es. Sie hustete den Staub einer anderen Welt aus den Lungen. Cordic würde darin ersticken, unter den Trümmern begraben werden. Nein!

Die braun-weiße Welt versank hinter Tränenschleiern.

Warum hatte er Lun gezwungen, das Tor nur für sie zu öffnen? Sie hätten gemeinsam den Gängen entfliehen können. Weshalb hatte Lun sie ausgerechnet hierher geschickt? So weit weg von Khatalah?

Ich bringe dich zurück in deine Welt. Und dann wird für dich alles wieder gut.

Lun hatte sie aus der Glasstadt gerettet, wollte sie schon damals zu Karl zurückbringen, aber das hier war nicht ihre Welt! Nur ein Exil, um sie vor Rag zu schützen. Scheiß auf Rag! Sie gehörte zu Cordic, zu Ahfid, zu den Grenzgängern. Sie gehörte in dieses felsige, kalte Land und nicht auf eine Skaterbahn, die sich durch matschige Felder schlängelte!

Die Kegelbahn, die Mauer des Tierparks, erste Häuser.

Keines glich der Felsenfestung, in der Cordic sie gefunden hatte. Über dem Abgrund. Mit ausgebreiteten Armen.

Seine Angst, sie könnte springen.

Fiona hatte in seiner Seele gewütet und sie gesehen. Eben erst, in Rags verdammter Residenzhöhle. Cordic verachtete sie deswegen.

War sie deshalb hier? Hatte er Lun gezwungen, sie durch das Tor zu stoßen, weil er ihren Anblick nicht mehr ertrug?

Eine unsichtbare Faust schlug ihr in den Magen.

Nein, sie schlug auf ihr Herz ein. Immer wieder. Es stolperte und tat weh.

Ihr blieb die Luft weg.

Cordic durfte sie hassen, aber er durfte nicht sterben.

Ein Auto hupte. Fiona sprang zur Seite. Das Gesicht hinter der Scheibe kam ihr bekannt vor. Herr Lehmann.

Das Seitenfenster glitt hinab.

»Fiona?« Er starrte sie entgeistert an. »Wo kommst du denn her?«

Aus Chaos und Finsternis, und genau dorthin musste sie zurück.

Sie schlitterte um die Motorhaube, riss die Beifahrertür auf. »Nehmen Sie mich mit! Ich muss zu Karl!«

»Der wird sich freuen.« Sein Mund verzog sich nach unten. »Aber warum siehst du aus wie aus dem Schlamm gezogen?«

»Weil ich das wurde.« Weshalb fuhr er nicht los?

»Ist dir etwas passiert?« Sein Blick wurde ernst. »Mädchen, du siehst aus, als …«

»Mir ist eine Menge passiert. Und jetzt fahren Sie!« Seit wann war ihr ehemaliger Chef so langsam im Kapieren?

»England scheint dir nicht gut bekommen zu sein.«

»England?«

»Karl sagte, die Schule dort würde dir so gut gefallen, dass du deinen Abschluss in Oxford machen wolltest.«

»Oxford? Ich?« Was war in ihn gefahren?

»Kann auch eine andere Stadt gewesen sein. Jedenfalls kam sie mir vom Namen her bekannt vor.« Lehmann zuckte mit den Schultern. »Auch wenn du furchtbar aussiehst, er wird sich freuen. Seit du weggefahren bist, ist er nicht mehr der Alte. Die Leute haben sich Sorgen um ihn gemacht. Mich eingeschlossen.«

Karl. Er hatte über ein Jahr nichts von ihr gehört. Wusste nicht einmal, ob sie noch lebte.

Sie musste zu ihm, ihn beruhigen.

Und ihn wieder verlassen.

Statt endlich Gas zu geben, starrte Lehmann sie immer noch an. »Die Narbe in deinem Gesicht sieht furchtbar aus. Was um Himmels willen ist dir geschehen?«

Zu viel.

»Und warum bist du dermaßen dreckig?«

»Fahren Sie, verdammt!«

Er zuckte zusammen. »Es ist rot!«

Fiona starrte auf das Ampellicht, sah jedoch nur Felsbrocken, die sich zu Bergen auftürmten und ihre Freunde unter sich begruben.

»Woher stammt die Verletzung«, bohrte er weiter. »Warst du im Rugby-Team?«

»Ein Zombieangriff.« Gemarterte Seelen, entstellte Körper. Gier, Hunger, Verzweiflung. Alles in einem Augenblick. Der Stock hatte den Schädel zertrümmert.

Der Angriff der Halbwesen lag unendlich weit zurück. Damals war sie neu in Cordics Welt gewesen. Ihre erste, schreckliche Erfahrung. Andere, weitaus schlimmere, waren gefolgt.

Warum lachte Lehmann?

»Deinen Humor hast du dir bewahrt, immerhin.«

Die Ampel sprang auf Gelb.

»Fahren Sie!« Fiona schlug ihm aufs Bein. »Bitte!«

»Mädchen, du machst mir Angst!«

»Bitte, einfach nur fahren!« Sie schluchzte zwischen den Worten, die Tränen nahmen ihr die Sicht.

Karl musste ihr helfen. Einen Weg zurückfinden. Irgendetwas tun, dass alles gut wurde. Er konnte das. Das hatte er immer. Er hatte sie damals zum Tor gefahren. Cordic hatte behauptet, er hätte gewusst, dass sie Fiona mitnehmen würden.

Wahrheit? Lüge? Cordic log gut.

Sie auch.

Der alte Bahnhof. Die Gärtnerei, beides.

Karl.

Sie sprang aus dem Wagen, kaum dass Lehmann abgebremst hatte.

Kapitän Schmidt rannte ihr entgegen. Seine Ohren flatterten, er bellte wie verrückt, schmiss sie beinahe um.

Die Arme um ihn schlingen, die Finger ins Fell graben. Die ganze Zeit über hatte sie keinen Gedanken an ihn verschwendet.

»Es tut mir leid!« Er war ihr bester Freund gewesen, und sie hatte ihn einfach vergessen. Sie heulte seine weichen Ohren nass. Winselnd leckte er ihr über die Wangen, fiel fast um vor Schwanzwedeln.

»Was zum Henker …«

Karl!

Er kam aus dem Gewächshaus, erstarrte. Seine Lippen formten ihren Namen, doch da war keine Stimme. Er wurde blass, hielt sich am Türstock fest.

Was hatte sie ihm angetan?

Sie rannte zu ihm, schlang die Arme um ihn. »Ich bin okay«, schluchzte sie. »Auch wenn ich nicht so aussehe, mir geht’s gut, ehrlich!« Die Nase in den dicken Rollkragenpullover stecken, in dem Duft von Blumenerde, Friesentee und Irish Moos eintauchen. Sie atmete so tief ein, wie sie konnte. »Du hast mir gefehlt!« So sehr!

Ihr lief es aus den Augen, wollte nicht mehr aufhören.

Karl stand da, rührte sich nicht. Nicht einmal die Arme legte er um sie.

Sie musste es ihm erklären.

Der Kloß in ihrer Kehle erstickte jedes Wort.

»Du bist zurück.« Er klang furchtbar leise. »Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.« Behutsam strich er über ihren Rücken, ihren Kopf. Dicke Tränen rollten ihm über die Wangen. Er ließ es einfach geschehen.

Sie waren ihr näher als früher. Auch sein Kinn. Es kratzte an ihrer Schläfe, obwohl er kerzengerade vor ihr stand.

»Du bist gewachsen.« Seine rauen Hände umfassten ihr Gesicht. »Und du siehst anders aus.« Sein Blick suchte in ihrem nach dem Grund.

»Es ist viel passiert.« Ihre Stimme erstickte. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass du dir furchtbare Sorgen gemacht hast, aber ich bin nur hier, um wieder fortzugehen.«

»Nein.« Er schloss sie so fest in seine Arme, dass sie kaum atmen konnte. »Du gehst nicht mehr fort.«

Er verstand nicht. Wie sollte er?

Sie drückte sich von ihm ab. Hinter dem ständig nachfließenden Schleier konnte sie kaum sein Gesicht erkennen. »Du musst mich sofort zu diesem Waldweg fahren. Das ist auch ein Tor, erinnerst du dich?«

»Ob ich mich erinnere?« Er fasste sie an den Schultern, hielt sie ein Stück weg von sich. »Die Kerle haben mich betäubt! Dich entführt! Hundertmal am Tag wollte ich die Polizei einschalten, bis mir einfiel, dass das nichts bringen würde.« Er zog die Nase hoch. »In die Klapse hätten die mich gesteckt bei der Geschichte!«

Wut, Resignation, Traurigkeit, Hoffnung. So viele Gefühle in seinen Augen, in seiner Stimme.

Würde er doch lospoltern wie früher, wenn sie mit einer Fünf nach Hause gekommen war.

»Fiona!« Er rüttelte sie. »Rede, Mädchen!«

Sie hob den Arm. Der Geburtsreif ihrer Mutter schimmerte unter dem dreckigen Hemdsärmel hervor. Karl kannte ihn, hatte ihn für sie aufgehoben, als er sie in demselben Schlehenstrauch gefunden hatte, wo sie eben herausgestolpert war.

Vor siebzehn Jahren.

»Es gibt keine Entschuldigung für das, was wir dir angetan haben.« Sie legte die Hände an seine Wangen. »Aber es war richtig. Das hier ist nicht meine Heimat. Nie gewesen und du wusstest es von Beginn an.« Er hätte früher mit ihr darüber reden müssen, statt zu warten, bis Cordic, Ahfid und Lun hier aufgetaucht waren und ihn allein durch ihre Anwesenheit dazu gezwungen hatten. Deshalb war es ihm leichtgefallen, Ahfids Geschichte zu glauben, lange bevor sie selbst dazu bereit gewesen war.

»Ich kann dich nicht gehenlassen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann es einfach nicht.« Zittrig holte er Luft. »Dass du weg warst, hat mir das Herz gebrochen. Ich habe mir tausendmal gewünscht, dich nie im Schlehenstrauch gefunden zu haben und mich ebenso oft dafür geschämt.«

»Ich hab dich lieb.« Verdammte Schluchzerei! »Und du hast mir so gefehlt, aber wenn ich hierbleibe, sterben meine Freunde.« Vielleicht waren sie es schon.

Der Gedanke nahm ihr den Atem.

Karl schüttelte den Kopf. »Mädchen, verlang das nicht von mir.«

»Die Gewölbe des Grauen Horns stürzen ein!« Sie grub die Hände in seinen Pullover, zerrte an ihm. »Karl, bitte! Sie sterben! Meine Freunde sterben!«

»Du warst so lange fort.« Er fuhr sich über die Augen. »Ich wusste nicht, ob du noch lebst oder tot bist.« So heiser hatte er nie geklungen. »Du warst immer bei mir, all die Jahre Tag für Tag. Und plötzlich …«

Er sah schlecht aus. Viel zu dünn, viel zu blass. Er hatte zu viele Falten. Sie bedeckten sein ganzes Gesicht, ließen seine Lider schwer erscheinen.

Das vergangene Jahr hatte ihm ebenso zugesetzt wie ihr.

Wer zwischen die Fronten von Licht und Schatten geriet, wurde aufgerieben, egal ob hier oder in einer anderen Welt. Diese Lektion hatte sie gründlich gelernt.

»Ich werde wiederkommen. Ich verspreche es dir.« Irgendwann, wenn dieser Irrsinn vorbei war. »Nicht für immer, aber um mich in Ruhe von dir zu verabschieden und um dir alles zu erklären.«

Cordic hatte sie vor Versprechen gewarnt.

Das hier würde sie halten. Dazu brauchte sie keinen Eid.

Karl legte die Finger unter ihr Kinn, hob es an.

Er war der einzige Mensch, dem sie die Geste in Zukunft durchgehenlassen würde.

»Wer zum Spaten greift, bekommt Schwielen.« Sacht strich sein Daumen über ihre Narbe. »Diese Welt, von der Ahfid erzählt hat, sie hat dich nicht geschont.« Er zog sie in seinen Arm zurück, wiegte sie hin und her. »Die Webheimer hat recht. Du bist ein Unruhestifter.«

»Und was für einer.« Wegen ihr wurden Kriege geführt und Berge gesprengt. »Bitte, fahr mich zu dem Waldweg.« Je länger sie zögerte, desto schwerer würde ihnen beiden der Abschied fallen.

»Damit auch du unter den Felsen begraben wirst?« Diese leise traurige Stimme. »Mädchen, warum tust du mir das an?«

»Du bist nicht der Erste, der wegen mir leidet.« Es war ihr Schicksal, Hoffnungen zu enttäuschen. »Fahr mich zu dem Weltentor, oder du lässt zu, dass andere sterben, weil ich versagt habe.« Der Gedanke fühlte sich widerlich vertraut an.

»Und dann?« Seine Finger verirrten sich zu den Resten ihrer bunten Strähne. »Du bist kein Weltenwanderer wie Lun. Wie willst du es öffnen?«

»Nur ein Versuch.« Wenn er misslang, würde sie verzweifeln. »Der Gedanke, ich hätte etwas ausrichten können und hab es aus Angst vor dem Versagen nicht einmal versucht …« Ihre Stimme gab den Geist auf.

»So, wie du aussiehst, hast du genug ausgerichtet.«

»Nein, hab ich nicht! Ich habe bloß Chaos und Verwirrung gestiftet!« Es war alles ihre Schuld. »Jeder hat gedacht, dass ich etwas Besonderes bin!«

»Das bist du.«

»Ich habe versagt! Habe alles schlimmer gemacht!« Jetsuba hatte sich geirrt! Wulf hatte sich geirrt! Nehrit, Mahkis, Rag, sie alle!

Karl schunkelte sie wieder hin und her, aber sie war kein kleines Mädchen mehr, das es verdient hatte, getröstet zu werden. Niemand konnte ihr die Verantwortung für ihre Taten abnehmen.

Fiona befreite sich aus seiner Umarmung. »Sie sterben wegen mir. In einem Kampf, den sie wegen mir begonnen haben.«

»Hast du ihnen gesagt, dass sie ihn führen sollen?«

Nein, das hatte sie nicht.

»Also haben sie sich selbst dazu entschieden.«

»Ja, aber das ist nicht …«

»Dann ist das nicht dein Schuh, den du dir da anziehen willst.« Wieder die Finger unter ihrem Kinn, wieder der strenge Blick.

Er irrte sich. »Er passt mir, Karl.« Sie sah ihm in die müden Augen. »Er passt wie angegossen. Ich weiß nur noch nicht, wie man darin geht, ohne sich die Knöchel zu brechen.«

»Ich will nicht, dass du darin laufen lernst.« Er schüttelte den Kopf, schluckte. »Ich will nicht, dass du dort dein Leben verlierst.«

Fiona nahm seine Hände. »Ich habe Dinge überstanden, die kannst du dir nicht vorstellen.« Seltsam, dass das Schlimmste ein lichtdurchflutetes Zimmer gewesen war. »Und ich habe Dinge getan, die ich mir nie verzeihen werde. Aber wenn ich meine Freunde jetzt im Stich lasse, verzweifle ich.«

»Wer lebt, lädt Schuld auf sich«, sagte er leise. »So war es immer und das wird sich nicht ändern. Nur Feiglinge versuchen, sich davor zu drücken.« Er sah sie lange an. Zart strichen seine schwieligen Finger über ihre Narbe. »Ich sehe dich zum ersten Mal, wie du wirklich bist.« Ein winziges Lächeln. »Pass auf dich auf.«

Er verstand sie. »Du fährst mich?«

Karl nickte. »Vorher gehst du dich kärchern und umziehen.«

»Duschen?« Jetzt? »Karl, bitte!«

»Kein Widerwort! Hast du dich angesehen?«

»Mir ist scheißegal, wie ich aussehe!« Da wo sie hinwollte, gab es weder Spiegel noch Badezimmer. »Schmeiß den Pick-up an!« Alles, was sie brauchte, war etwas zu essen und zu trinken. Und einen Rucksack!

Sie rannte durch den Laden in die Wohnung, nahm die nach Luft schnappende Webheimer bloß aus den Augenwinkeln wahr.

Hoch in ihr Zimmer.

Es war zu klein. Zu unbedarft. Keine offene Feuerstelle, keine Tonkrüge, zu wenig Kerzen, zu viel bunter Plastikkram. Tausend Dinge, die sie nicht mehr brauchte. Sie lenkten den Blick ab, machten nervös.

Ihr Rucksack. Sie kippte ihre Schulsachen auf den Boden, zerrte eine Handvoll Slips und dicker Socken aus der Schublade, rannte ins Bad.

Keine Binden. Verdammt! Die gaben gute Wundkompressen ab. Dafür eine Packung Tampons. Sie würden nur einen Zweck erfüllen, aber immerhin.

Seit Mahkis sie eingesperrt hatte, hatte sie ihre Regel nicht mehr bekommen.

Der Oberste Rektor des Hohen Rates der Lichten und Vater ihrer Mutter. Weit davon entfernt, ihr Großvater zu sein.

Sie hätte ihn beinahe umgebracht.

Vielleicht hätte es Jetsubas Raben gefallen, ihm noch mehr Löcher in die faltige Haut zu hacken. Doch Sur hatte den Raum aufgerissen, um Fiona in die Leere zu bringen. Ohne Lun wäre sie jetzt dort.

Ihr wurde schlecht. Sie klammerte sich an das Waschbecken, kämpfte mit der Übelkeit.

Sur war Geschichte. Mahkis hoffentlich auch. Niemand würde sie jemals wieder in die Leere sperren.

Sie spülte sich den Mund aus, sah der fremden Frau im Spiegel in die Augen. Keine Spur von Rags Tochter. Die konnte sich gut verstecken, aber wehe, wenn sie auftauchte.

Sie musste los.

Fiona rannte runter in die Küche. Eine Wasserflasche stand auf dem Tisch. Sie trank sie in riesigen Schlucken aus. Während sie versuchte, zwei Bananen gleichzeitig zu schälen und zu essen, durchwühlte sie die Küchenschublade. Sie musste etwas finden, was leicht war und sich gut transportieren ließ. Außer einer Tüte Studentenfutter und zwei Päckchen getrockneter Datteln war nichts Passendes dabei. Mit Reis und Nudeln konnte sie ebenso wenig anfangen wie mit Marmelade, Hundeleckerlis, sauren Gurken oder Senf.

Stulle schmieren? Dauerte zu lange.

Fluchend schüttete sie alles Sofort-Essbare in den Rucksack und stopfte zwei Wasserflaschen hinzu.

Draußen knatterte der Motor von Karls Uralt-Pick-up.

Sie brauchte eine Jacke. Ihr Mantel lag irgendwo im Lager der Grenzgänger.

An der Garderobe hing ihr Anorak. Besser als nichts. Sie schnappte ihn, rannte raus, drückte Kapitän Schmidt einen Kuss auf den felligen Kopf, riss die Beifahrertür auf und sprang auf den Sitz. »Warum hast du nie Butterkekse oder Knäckebrot auf Vorrat, oder wenigstens eingeschweißte Würstchen?«

Bedächtig hoben sich Karls buschige Brauen. »Willst du ein Picknick veranstalten?«

Wütend knallte sie die Autotür zu.

»Ich kann dir ein paar Eier kochen.«

»Du weißt, was ich meine! Nie hast du Schokoriegel oder Kekse da oder irgendetwas, was Opas halt so horten, wenn ihre Enkelin zu Besuch kommt.«

»Bei mir gibt es natürliche Nahrung. Keinen Mist.«

»Ich will eine Welt retten!« Schwach vor Hunger funktionierte das nicht!

»Umso wichtiger ist gesundes Essen.«

»Fahr!« Bei allen Finsternissen!

»Schnall dich an.« Er beobachtete sie dabei, wie sie fahrig am Gurt zerrte. »Du musst langsam ziehen, sonst blockiert er.«

»Karl!« Verfluchter Scheißgurt!

»Hast du was zu trinken eingesteckt?« Er nickte zu ihrem Rucksack.

»Ja.«

»Frische Wäsche zum Wechseln?«

Himmel!

»Dicke Socken?«

»Karl!«

»Taschentücher?«

»Wo ich hin will, benutzt niemand Tempos!« Im Notfall musste der Hemdsärmel dran glauben.

Entsetzlich langsam zog Karl ein sorgfältig gebügeltes und zusammengelegtes Stofftaschentuch aus der Innenseite seiner Jacke. »Hier.«

»Niemand auf der Welt schnäuzt sich noch in diese Bettlaken. Spätestens beim zweiten Mal ist das eklig!«

»Aber umweltfreundlich.«

Sie pflückte es ihm aus der Hand, stopfte es in ihren Rucksack.

Endlich setzte sich der Pick-up in Bewegung.

Sie schafften die Hauptstraße ohne rote Ampeln, doch kaum lag die Stadt hinter ihnen, dümpelte ein Traktor vor ihnen lang.

»Karl, überhol die Schnecken einfach!«

Nach einem resignierten Luftholen quälte er den Pick-up gefühlte Stunden an dem fahrenden Hindernis vorbei.

Ihre Hände waren schweißnass. Jede Sekunde, die verging, konnte zwischen Leben und Tod entscheiden, und Karl hielt sich an die beschissenen Verkehrsregeln!

Als ein Milchlaster gemächlich vor ihnen auf die Landstraße abbog und Karl es wagte, einen Gang runterzuschalten, biss sie sich in die Faust.

»Dein Risikobewusstsein in allen Ehren.« Karl strafte sie mit einem tadelnden Seitenblick. »Aber wenn ich dich schon wieder gehenlassen soll, dann in lebendigem Zustand.«

»Das Leben ist ein Risiko.« Die Zahnabdrücke auf ihrer Hand färbten sich violett. »Gib Gas!«

Seufzend setzte Karl den Blinker, schlich nur einen Deut schneller an dem Laster vorbei. »Die alte Kiste gibt nichts mehr her«, erinnerte er sie an unleugbare Tatsachen. »Sei froh, wenn sie nicht auseinanderfällt.«

Ihr war nach Schreien.

Ewigkeiten später verließen sie die Straße und folgten einem Landwirtschaftsweg. Nach weiteren Unendlichkeiten lenkte Karl den Wagen auf einen Feldweg, fuhr bis zu dem Rand eines Waldes und hielt an.

»Hier hat mich Henner damals aufgegabelt. Wo du warst, weiß ich nicht. Dieser schwarzhaarige Mistkerl hatte mich ausgeknockt.«

»Cordic.« Sie musste in den Wald. Den Weg finden, auf dem sich das Tor geöffnet hatte. »Es tut ihm leid.« Das hoffte sie zumindest.

Sie wollte Karl einen Kuss geben.

Er wandte sich ab. »Keinen Abschiedskuss.« Er klang, als wäre seine Kehle so eng wie ihre. »Ich habe dein Versprechen. Du kommst zurück.«

Fiona nickte und versuchte, trotz eingeschnürter Brust weiter zu atmen. Sie traute sich kaum, ihm in die Augen zu sehen.

Als sie die Autotür hinter sich zuschlug, blickte sie sich nicht um.

Sie kam zurück. Ganz bestimmt. Irgendwann, wenn alles gut geworden war, und dann würden sie ihm alles erzählen. Bei Tee und Kluntjes. Und erst, wenn sie tagelang mit Kapitän Schmidt spazieren gegangen und Karl tausendmal umarmt hätte, würde sie ihn wieder verlassen.

Sie begann zu rennen. Die Traurigkeit des Abschiedes wich haufenweise Sorgen, die wie auf Knopfdruck ihren Verstand stürmten.

Was wäre, wenn sie auf der anderen Seite nicht in Rags Festung, sondern wie beim ersten Mal auf der großen Wiese neben dem Wald herauskommen würde? Sie würde Wochen brauchen, um in den Norden vorzudringen. Bis dahin wären alle längst tot.

Und wenn sich das Tor nicht öffnete? Vorher musste sie es finden.

Sie erreichte den Waldweg. Damals war es Nacht und sie so verwirrt gewesen, dass sie nicht auf die Stelle geachtet hatte.

Sie streckte die Hände aus, tastete wie eine Blinde in der Luft und ging dabei hin und her.

Kein Kribbeln, kein gar nichts.

Das Tor konnte überall und nirgends sein. Wie sollte sie es ohne Luns Gemurmel öffnen? Seine seltsamen Gesten, die eigenartigen Laute, die er dabei geflüstert hatte. Nichts davon beherrschte sie. Sie war bloß eine Idiotin, die heulend durch die Gegend stolperte.

Karl hatte recht.

Zu ihm zurückgehen, sich neben ihn ins Auto setzen, nach Hause fahren und die vergangenen Monate vergessen? Alles verdrängen und ignorieren, was ihre Freunde in diesem Moment durchmachten?

Sie würde den Verstand verlieren.

»Ich muss durch dieses beschissene Tor!« Wo war es? »Fuck!«

Cordic zerschmettert unter Felsmassen. Das Bild krallte sich in ihren Verstand.

Die Hand auf den Mund pressen, runterwürgen, was hochwollte, nach Luft ringen und Angst atmen.

»Hilf mir!« Irgendjemand. »Bitte, lass mich zu ihm!«

Da war ein Knacken, direkt über ihr. Ein Rabe. Krächzend warf er sich von einem dürren Zweig, zog Kreise über den kahlen Wipfeln.

Die Physikstunde. Ewig her. Er hatte hinter der Scheibe gesessen, auf dem Fenstersims. Er hatte den Kopf geneigt und mit dem Schnabel gegen das Glas geklopft. Rabenmorsen. Es lag so lang zurück.

Dann in Vetas Hütte, bevor die Wissenden den Raum zwischen den Welten aufgerissen hatten, um Cordic, Dano, Veta und sie zu entführen. Er hatte sie in der Leere aufgesucht, war ihr in die Glasstadt gefolgt. Auf ihren Befehl hin hatte er Mahkis attackiert.

Jetsubas Bote. Er musste ihr helfen. Wozu sonst war er hier?

Das irrwitzige Gefühl von Hoffnung sprang sie an. »Los! Mach was!«, schrie sie ihm zu. »Ich muss zurück!«

Langsam schraubte sich der Vogel herab, segelte vor ihr her zwischen den Stämmen entlang.

Zeigte er ihr den Weg?

Ihr Herz pochte immer schneller. Sie rannte dem Vogel hinterher, stolperte, fing sich, rannte weiter.

Ein Schlehenstrauch. Da vorn am Wegesrand. Schwarz und dornig. Mit lautem Krächzen flog der Rabe darauf zu, verschwand zwischen den Zweigen. Kein Knacken, kein Rascheln, als wäre er im Nichts verschwunden.

Das Weltentor.

Einfach darauf zugehen und ebenso verschwinden wie der Rabe.

Ihre Füße verwuchsen mit dem Boden. Kein Schritt möglich. Der Weg auf die andere Seite führte durch die Leere. Umgeben von ihren Freunden kam sie damit klar. Von Lun gestoßen war ihr nichts anderes übrig geblieben, aber allein? Was, wenn es sich nicht in Khatalah oder dem Grünen Land öffnete? Wenn sie in der Leere feststeckte?

Ihr brach kalter Schweiß aus. Niemand würde wissen, wo sie war. Für die Ewigkeit gefangen im Nichts. Wie damals.

Sterne flackerten ihr vor den Augen. Ihre Muskeln krampften, alles an ihr begann zu zittern.

Mahkis hatte sie dort einsperren wollen. Für immer. Mit all seinem Hass und seiner Angst vor ihr.

Was sie vorhatte, war Wahnsinn. Sie sank auf die Knie, schlotterte am ganzen Körper. Ihre Freunde starben, weil sie ein Feigling war. Sie starben, weil sie es nicht schaffte, durch ein geöffnetes Tor zu gehen.

Rabenkrächzen. Aus weiter Ferne. Es rief sie. Die Frage war, wohin.

Sie würgte, spuckte Schleim, kroch darüber. Das Gefühl, vor Schluchzen zu ersticken. Weiterkriechen.

Aufrichten und laufen? Ihre Beine würden ihr nie wieder gehorchen.

Sei kein Verräter, bitte!

Sie fühlte ihre Finger kaum noch.

Weiter. Das Tor durfte sich nicht schließen. Lieber mit Cordic unter Gesteinsmassen begraben werden, als allein in der Leere zurückbleiben. Ihn um Verzeihung bitten. Ihm helfen. Ahfid helfen. Veta, Lun. Sie alle hatten ihr Leben für Fiona riskiert.

Und sie kauerte angststarr vor einem Schlehenstrauch.

Ein Kribbeln auf ihrem Gesicht, als wäre sie in ein Spinnennetz gekrochen. Es breitete sich aus, sickerte in ihren Magen.

Ruhe, Gelassenheit, hindurchgleiten wollen. Luns Worte ätzten in ihrem Hirn. Der pure Hohn. Sie war jenseits von allem, was Ruhe auch nur hätte sein können.

Wieder das Krächzen des Raben.

Sie musste weiter.

 

 

– Thul –

 

Der Berg stürzte ein und von Rakti keine Spur. Sie durfte sich nicht mehr in den Tunneln befinden. Sie nicht und auch kein anderer der Grenzgänger. Thul kämpfte sich näher zum Eingang des Grauen Horns. Seine Klinge prallte an den Schwertern der Feinde ab, schnitt durch Fleisch ebenso oft wie durch die Luft.

Keine geschwächten Clankrieger, wie Nehrit gehofft hatte. Was über die Bergflanke auf ihn zu rannte, war pure Kampfeslust.

Er wischte sich das Blut aus den Augen. In dem Getümmel konnte er kaum Freund von Feind unterscheiden. Er musste das Graue Horn erreichen, erfahren, was geschehen war. Die Explosionen hatten zu früh eingesetzt. Rakti und ihre Kriegerinnen wurden in den Trümmern begraben und mit ihnen die Sprengleute, die sie beschützen sollten.

Ein Schwert sauste auf ihn nieder, Thul fing es mit seiner Klinge ab, erkannte durch roten Nebel das vor wilder Entschlossenheit verzerrte Gesicht eines Clankriegers.

Das Klirren der Waffen, das Kampfgebrüll um ihn her, alles schmolz zu einem Rauschen. Er musste es durchdringen, ins Graue Horn gelangen und nach den Verschütteten suchen. Die Gegner wurden zu lästigen Hindernissen auf dem Weg zum Ziel. Es galt, sie beiseite zu räumen und vorwärts zu dringen.

Vor ihm wuchs die Felswand immer höher.

Bendras Gesicht tauchte zwischen den Kämpfenden auf. »Ich weiß, was du vorhast!«, brüllte er ihm entgegen. »Wir müssen nach Osten! Zum Versorgungstunnel!«

Der Eingang, durch den die Sprengleute ins Graue Horn geschlichen waren.

Zu zweit konnten sie nichts ausrichten. »Ich brauche Freiwillige!«, brüllte er zurück.

Bendra rammte seine Klinge in einen Mann. »Bekommst du!« Er zog sie heraus, parierte den Schlag seines nächsten Angreifers. »Aber nicht viele. Wer will dir schon in einen Tod in Finsternis folgen, wenn er ihm hier draußen im Sonnenlicht erliegen kann?« Er kämpfte sich mit Thul an den Rand des lang gezogenen, von tiefen Spalten durchsetzen Schlachtfeldes. »Es sieht gut für uns aus«, keuchte er und stützte sich auf den Knien ab. »Mir scheint, der Berg hat die meisten Nachtfresser verschluckt.« Das raue Lachen blieb ihm im Hals stecken. Erschrocken sah er zu Thul auf. »Bei allen Finsternissen! Unsere Leute wohl ebenfalls.«

»Komm!« Zum Ausruhen war keine Zeit. Thul rannte hart an dem aufragenden Felsen gen Osten. Sie mussten den Tunneleingang finden!

»Erster Mann!«, rief es hinter ihm. »Wo willst du hin?«

Mati. Ihm folgten zwei Handvoll weiterer Krieger. Darunter Wolfrick, der alte Gronin, Tamoe und dessen Bruder Isep.

Bendra erklärte in knappen Worten, dass sie den Sprengleuten und Raktis Horde zu Hilfe kommen mussten.

Wo befand sich der Tunneleingang? Er konnte nicht mehr weit sein. War er verborgen? Nein, die Grenzgänger waren dort eingedrungen, hatten Spuren hinterlassen.

Eine Spalte im Fels. Breit genug für einen Mann.

Thul hob die Hand. »Hier, ich habe es …«

Ein ohrenbetäubendes Krachen, der Berg wankte.

»Achtung!«, brüllte Bendra und wies nach oben.

Thul presste sich an die Felswand, hob schützend die Arme über den Kopf. Das Donnern herabstürzender Steine verschlang alles andere.

Auf Nehrits Gewissen lastete jeder, den er in diesen elenden Berg geschickt hatte.

Das Poltern verstummte, während der Felsspalt eine mächtige Staubwolke ausspie.

»Ich fresse mein eigenes Schwert, wenn wir dadrin auch nur einen passierbaren Tunnel finden.« Bendra stieg über den Schuttberg. Seine Augen glühten durch das staubige Grau seines Gesichtes. »Wir sind Freiwillige.« Er warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Du befiehlst uns nicht da rein, verstanden?«

»Willst du mir die Verantwortung für euer Leben absprechen?«

»Und die Schuld, die du dir sonst aufladen würdest.«

Unter anderen Umständen hätte Thul gelacht. Es grenzte an Wahnsinn, auch nur einen einzigen Mann in die Tunnel zu schicken.

Bendra nickte grimmig zum Eingang. »Los, ehe ich es mir anders überlege. Und bilde dir nicht ein, ich riskiere meinen Arsch für deine Süße.« Er packte Thul am Kragen. »Ich mache das für jeden von uns, der da drin ist.«

Bendra konnte sich einreden, was immer er wollte. Nicht er war der Erste Mann, sondern Thul. Wenn etwas geschah, lastete die Schuld allein auf ihm.

Sollte Nehrit hiervon erfahren, würde er toben. Sein Sohn verschwendete gute Männer an den Tod, statt sie gegen die Clankrieger kämpfen zu lassen.

Männer. Keine Jungen. Mati war noch nicht bereit zum Sterben.

»Du bleibst hier«, befahl er ihm und wischte Bendras Hand von sich. »Sieh zu, dass du in kein Schwert rennst!«

»Du bist mein Erster Mann.« Mati baute sich vor ihm auf, reckte stolz das Kinn. »Und ob ich dir folge!«

»Das Graue Horn wird dich schlucken und nie mehr ausspucken!« Und wenn es zehnmal seine Pflicht war, nach den Sprengleuten zu suchen, dieses Unterfangen war Wahnsinn.

»Seine Entscheidung«, knurrte Bendra und verschwand in dem Tunneleingang. »Beeilung!«

Der Berg erzitterte erneut.

Mati zuckte zusammen, nickte Thul jedoch entschlossen zu. »Ich komme mit.«

Beim Licht! »Ich schwor deinem Vater, auf dich aufzupassen! Er hätte dich mir sonst niemals anvertraut!«

»Ich wollte in deine Horde. Er hätte nichts dagegen tun können. Und jetzt will ich mit dir da rein und Rakti und ihren Kriegerinnen helfen. Ich weiß, wie sehr du an diesem Schwarzblut hängst.«

»Jeder, der Augen und Ohren im Kopf hat, weiß das«, hallte Bendras Stimme aus der Dunkelheit. »Seid ihr endlich so weit oder diskutiert ihr noch eine Weile? Ich lass mich in der Zwischenzeit verschütten, wenn’s Recht ist.«

Thul stieß Mati in den Tunnel, folgte ihm. Staub wälzte sich ihnen entgegen. Er schob sich das Halstuch über Mund und Nase.

»Die Lichtsphären taugen nichts in diesem Dunst«, erschallte es von vorn. »Ihr Leuchten macht die Staubwolken nur undurchdringlicher für unsere Augen!«

Thul zog eine der Karten hervor, die Cordic gezeichnet hatte, und drängte sich an seinen Männern vorbei. »Ich gehe vor.« Cordic hatte die Residenzhalle und die dorthin führenden Gänge markiert. Vielleicht war es Rakti gelungen, Rag zu stellen, bevor dieser sich in die Schlacht gestürzt hatte. Es war ihr Plan gewesen, doch was bedeuteten Pläne? Gerade zerbarsten sie in dumpfem Grollen und krachenden Donnerschlägen.

Diese verfluchten Explosivwaffen! Sein Vater hätte sich niemals dazu hinreißen lassen dürfen. Sie waren Grenzgänger, kämpften mit Schwertern gegen ihre Feinde. Von Angesicht zu Angesicht. Nicht aus dem Hinterhalt und nicht, in dem sie die Clankrieger unter Trümmern begruben.

Und sich selbst.

Für einen Moment flimmerte es vor seinen Augen.

Rakti musste es schaffen. Lebendig.

Thul versuchte, die Angst um seine Geliebte zu verdrängen.

Sinnlos. Mehr, als sie zu suchen, konnte er nicht. Allein damit widersetzte er sich Nehrits Befehlen. Sah er jemals wieder Tageslicht, würde er seinen Vater zur Rechenschaft für diesen Wahnsinn ziehen.

Er hätte ihn aufhalten müssen.

Zu spät für Reue.

Sie trabten endlos scheinende Tunnel entlang, eilten Treppengänge hinab, kontrollierten an jedem Abzweig, welche Richtung sie einschlagen mussten. Ein Labyrinth, dessen Dunkelheit durch die angeleuchteten Staubschwaden nur undurchdringlicher wurde.

»Nachtfresser!« Bendra hielt ihn zurück, machte den anderen hinter ihnen ein Zeichen, still zu sein.

Thul stopfte die Lichtsphäre unter den Mantel.

Bendra tat es ihm nach. »Da vorn«, zischte er und wies in den Eingang eines der Haupttunnel.

Zwei Clankrieger. Sie rannten in entgegengesetzter Richtung zu ihnen. Sie wollten das Graue Horn verlassen. Das lag auf der Hand.

»Nicht Meruts Sohn«, zischte der eine und schlug beim Laufen nach dem anderen. »Ich gab euch exakte Befehle! Rag wollte nur das Mädchen gefangen nehmen. Auf keinen Fall die Verräterbrut!«

»Gab ich so weiter«, keuchte der andere. »Aber die Wächter haben sich nicht daran gehalten.«

»Wenn Rag davon erfährt, ist es aus mit mir!«

»Das ist es ohnehin, Parvak! Schaffen wir es ins Freie, laufen wir Nehrits Männern in die Arme!«

Thul kauerte sich zusammen, als die Krieger fluchend an ihnen vorbeirannten.

Cordic und Fiona. Beide waren vor allen anderen ins Graue Horn eingedrungen. Der Wanderer hatte sie durch ein Weltentor eingeschleust. Sie sollten Rag von den Sprengleuten ablenken. Offenbar war es ihnen gelungen.

»Sie halten das Mädchen gefangen«, flüsterte Bendra neben ihm. »Was machen wir jetzt?«

»Uns aufteilen.« Bestand nur die geringste Möglichkeit, dass die Kerker noch nicht eingestürzt waren, mussten sie versuchen, Fiona und Cordic zu befreien. »Wer von euch besitzt eine Karte?«

»Ich.« Wolfrick wühlte in seinem Ärmel, zog das Stück Pergament hervor. »Du, du, du und du.« Sein Fingerzeig sprang von Mann zu Mann. »Runter zu den Kerkern.«

Laut Cordics Skizze lagen sie unterhalb der Residenzhöhle. Dort würde kein Stein mehr auf dem anderen stehen.

»Dann bleibt der Rest von uns, um Rakti zu finden.« Bendra sah sie der Reihe nach an. »Also los.«

Thul rang die Hoffnungslosigkeit nieder, straffte ihr zum Trotz die Schultern nur umso stärker. »Ich werde nach …«

Es krachte. Zu nah. Der Boden schwankte.

 

 

– Rakti –

 

Ein Gesicht. Die Augen aufgerissen, von Staub bedeckt. Ein Arm, der Zipfel einer Kriegsrobe. Das sonnengelbe Leuchten des Stoffes mehr eine Erinnerung verborgen unter Grau. Wohin sie auch sah, überall Trümmer, Verletzte, Tote. Nur von Rag keine Spur.

Rakti setzte sich auf ihre Fersen, wischte sich den Dreck aus dem Gesicht. Sie spürte ihre Hände kaum noch. Die scharfkantigen Felsbrocken hatten ihre Finger aufgeschnitten. Dennoch hatte sie nichts ausrichten können. Die Trümmer hatten Rag unter sich begraben.

»Er ist tot.« Ohsa blickte sie durch verfilzte Strähnen heraus an. »Nicht einmal er kann das hier überleben.«

In dem Deckengewölbe der Residenzhöhle klafften riesige Löcher. Sie gaben den Blick in den Gang darüber frei.

Nehrits verfluchte Waffe. Sie hatte die Halle in einen Trümmerhaufen verwandelt und würde es mit dem Rest des Berges ebenfalls. Erschreckend schnell hatten sich die Zündfunken an den Schnüren entlanggefressen. Die Sprengleute waren entsetzt zu den Ausgängen gerannt. Niemals hätten sie die in der kurzen Zeit erreichen können. Wie viele von ihnen lebten noch und irrten durch die Tunnel auf der Suche nach Rettung?

»Wenn es Nehrit wagt, mir unter die Augen zu treten, ist er ein toter Mann.« Ohsa schleuderte sich die staubigen Haare aus dem Gesicht. »Das hier hat er zu verantworten. Hättest du die Horde nicht aufgeteilt, wären die meisten von uns jetzt tot.« Von ihrer Stirn lief Blut, doch sie schien es nicht zu bemerken. »Wohin hast du Sali mit dem Rest von uns geschickt?«

»Das erfährst du früh genug.« Rakti erhob sich, ging zu ihrer Zweiten Frau und half ihr auf die Beine. »Überlass Nehrit mir.« Ihre Klinge war noch lange nicht satt. Die Handvoll Clankrieger, die ihr auf dem Weg zur Residenzhalle zum Opfer gefallen waren, galten nicht. Ihr Schwert gierte nach Rags Blut. Nehrit war kein angemessener Ersatz. Sein Tod stillte ihren Rachedurst nicht im Geringsten, doch er hatte das Recht auf Leben verwirkt. Trotz der mahnenden Stimmen hatten ihm seine Krieger vertraut und er hatte sie an die Zusagen eines dürren Fremden verraten, der sich selbst Sprengmeister nannte. Entweder verstand dieser Kerl nicht das Geringste von seiner Arbeit, oder er hatte das Verhängnis absichtlich über sie hereinbrechen lassen.

Rakti riss einen Fetzen aus ihrer Kriegsrobe, wickelte ihn fest um Ohsas Kopf. »Kümmere dich um die Verletzten und schaff sie mit den anderen nach draußen.« Wenn es für sie noch ein draußen gab.

»Was ist mit dir?«

»Ich warte auf Sali und suche unterdessen weiter nach Rag.« Allein der Anblick seiner zerschmetterten Leiche würde ihrer Seele Ruhe schenken und die nagenden Zweifel zum Schweigen bringen. Rag war der Preis für den Wahnsinn, sich lebendig unter herabfallenden Felsen begraben zu lassen und das Einzige, das ihr die Tatsache versüßte, gleich drei Clans auf einmal verschonen zu müssen.

Sie ballte die Fäuste. Vookit, Junktal und Ronin. Als Cordic ihr den verfluchten Plan erklärt hatte, hatte sie erst gelacht. Danach war das Bedürfnis, ihm an die Kehle zu springen, kaum zu zügeln gewesen.

Vookit wollte ihn an Sohnes statt in seinen Clan aufnehmen. Ihn zu seinem Zweiten Mann und damit zum Nachfolger ernennen. Die Bedingung war, dass sein, Junktals und Ronins Clan verschont würden.

Vookit war ein Fuchs. Während er zusah, wie die Grenzgänger ihn von Rag und dessen loyalen Clans befreiten, plante er das Aufsteigen seines eigenen bis zur Spitze und Cordic wäre sein Nachfolger.

Zwischen ihren zusammengepressten Kiefern knirschten die Zähne.

Sie schuldete Vookit einen Gefallen und den forderte er ein. Ohne seinen Schutz hätte sie ihre Kindheit in den Sklavenquartieren nicht überlebt. Er hatte sich mehr als einmal zwischen sie und den Mistkerl gestellt, der ihre Mutter während eines Raubzuges unter sich gezwungen und damit Rakti gezeugt hatte.

Vater. Dieses Wort kam keinem Schwarzblut leicht über die Lippen.

Vookit mochte sie vor der grausamen Willkür gerettet haben, doch nur, um ihr seine eigene zuzumuten. Weniger grausam, gewiss. Aber das verschonte ihn nicht vor ihrem Hass. Dennoch, sie schuldete ihm ihr Leben und nun würde sie diese Schuld tilgen.

»Da kommt Sali.« Ohsa nickte zum Eingang dessen, was längst keine Residenzhalle mehr war. »Sie hat Gefangene gemacht?« Sie schnaubte. »Das sieht ihr nicht ähnlich.«

Sali zerrte einen Clankrieger hinter sich her. Wie ein Tier an einer Kette. So, wie er aussah, war es erstaunlich, dass er überhaupt noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Er blutete aus zahlreichen Wunden. Erst, als er vor ihr stand, erkannte sie Vookit. Das ehemals nachtschwarze Haar war ergraut, die Linien in dem kantigen Gesicht hatten sich tiefer gegraben.

»Geh.« Sie musste allein mit dem Ersten Mann reden.

»Wie du meinst«, murmelte Ohsa. Ihren misstrauischen Blick spürte Rakti überdeutlich.

Sie ignorierte ihn.

»Rakti!« Sali kämpfte sich zwischen den Geröllhaufen zu ihr. »Sie waren dort. Alle drei Clans.«

Es gehörte zur Absprache, dass sich Vookit mit seinen Verbündeten in seinem Territorium aufhalten würde.

»Sie ergaben sich uns ohne Gegenwehr.« Salis Miene war anzusehen, was sie davon hielt. »Wir mussten uns mit ihnen durch einen einstürzenden Tunnel retten. Viele von uns sind verwundet worden.« Sie klang nicht nach Rechtfertigung, sondern nach Bedauern. Ihr wäre es zweifellos lieber gewesen, selbst für die Blessuren des Gefangenen verantwortlich zu sein. »Irisa versucht, die anderen nach draußen zu bringen, doch dieser hier verlangte, dich zu sprechen.« Sie riss an der Kette.

Vookit stolperte nach vorn. Der dunkle Glanz in seinem Blick erlosch.

»Nimm ihm die Ketten ab.« Vookit war der Erste Mann seines Clans. Ihm gebührte Respekt. Ob er ihren Hass verdient hatte oder nicht.

Widerwillig gehorchte Sali.

»Geh zu den anderen. Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun.«

»Warum Gefangene?«, zischte Sali zwischen den Zähnen hervor. »Wir sollten sie töten. Allesamt. So eine Gelegenheit ergibt sich kein zweites Mal, oder hast du vergessen, was uns unsere Väter angetan haben?«

»Nein.« Wie könnte sie? Die meisten ihrer Narben stammten nicht aus den Grenzkriegen, sondern aus ihrer Kindheit. »Ich sagte dir bereits, dass ich meine Gründe habe, seinen Clan zu verschonen.«

»Das wird Nehrit nicht gefallen.«

»Gefällt dir das hier?« Rakti zeigte um sich her. »Das haben wir Nehrit zu verdanken, also kümmere dich nicht um ihn.«

»Du bist die Erste Frau.« Sali straffte die Schultern, statt den Kopf einzuziehen. »Ich muss dir gehorchen, auch wenn es mir nicht passt.«

»So ist es und jetzt hilf Ohsa mit den Verwundeten und schafft sie nach draußen.«

Eine Handvoll Atemzüge lang hielt Sali ihrem Blick stand, bevor sie gehorchte.

Erst, als sie außer Hörweite war, richtete Rakti das Wort an den Gefangenen. »Als wir uns das letzte Mal trafen, steckte mein Schwert in der Brust deines Bruders.« Einer der unzähligen Kämpfe um das nördliche Grenzland. Ihr Anblick hatte Vookit zaudern lassen. Sein Bruder hatte die Gelegenheit genutzt, sie anzugreifen und es mit dem Leben bezahlt.

Sie legte die Spitze ihrer Klinge an das kantige Kinn, hob es an. »Die Lage hat sich für dich nicht verbessert.«

Vookits Blick suchte Eintritt in ihre Seele.

Wie konnte er es wagen! Sie war keine naive Frau der grünen Wälder. Ihre Wurzeln senkten sich in dieselben Felsen wie seine.

Er nahm ihre Weigerung mit regloser Miene hin.

»Ich verschone dich nur, um meine Schuld abzutragen. Sobald ich dich Nehrits Gnade übergeben habe, rate ich dir, meine Wege nie wieder zu kreuzen.«

»Du irrst.« Auf seinen Lippen bildete sich ein trauriges Lächeln. »Du verschonst mich, weil ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Deiner stolzen Seele schmeckt kein Sieg über einen unterlegenen Gegner.« Er trat einen Schritt beiseite. Die Klinge glitt von seinem Kinn. »Auch meine Seele ist stolz. Bitte beende die für mich kaum zu ertragende Situation und bring mich zu meinem Clan zurück.«

Sie könnte ihn töten. Es wäre leicht. Sie könnte ihren Stolz unterdrücken, ihr Wort Cordic gegenüber brechen und ihren Instinkten folgen.

Vookits Tod würde keine der Erinnerungen auslöschen.

Wären sie doch allesamt in Hass getaucht.

Die Scham kroch in ihr empor, erreichte ihr Herz, doch vermochte nicht, es auszufüllen. Es war wie damals. Ihre Gefühle verrieten sie.

»Du verweigerst mir den Zutritt in deine Seele. Das ist dein Recht.« Ein langsamer Schritt auf sie zu. »Erweise mir die Gunst und sieh dich in meiner um. Vielleicht verstehen wir einander dann besser.« Zögernd legte er die Hand in ihren Nacken. In seinem Blick stand die stumme Bitte um Duldung.

Rakti nickte, obwohl ihr das Herz im Hals schlug.

Vookit lehnte die Stirn an ihre. Während er tief ausatmete, glitt ihre Seele in seine.

Verzweiflung in dunkler Enge. Hoffnung, nicht mehr als eine Kerzenflamme, nur für seine Kinder täglich geschürt. Die Demütigung des Gestankes, beinahe gebrochener Stolz durchsetzt mit dem glühenden Zorn auf den Mann, der für dieses unwürdige Leben verantwortlich war. Die vage Bitte um Vergebung, zögerndes Fallenlassen blinden Hochmuts. Vookit verbarg nichts vor ihr. All die Jahre in der Finsternis, fernab des weiten Himmels und des Kreischens der ewig freien Adler, gefangen in einem Labyrinth, das er aus Angst vor dem Licht nicht zu verlassen wagte. Er offenbarte sich ihr bis in die hintersten Winkel seiner zermürbten Seele, hielt nicht einmal die Gefühle zurück, die er für sie empfand. Ohne die brennende Gier seines Blickes, ohne das fordernde Drängen seines Körpers, erschienen sie zart und zerbrechlich.

Er lieferte sich ihr aus. Mit allem, was er war.

Der Wunsch, die längst verletzte Seele zu martern, kam und ging. Vor ihr stand ein gebrochener Mann, der mit einer Intrige verzweifelt versuchte, die Zukunft seines Volkes zu retten.

Ihr Herz rebellierte, als ihre Hand den Weg in den breiten Nacken fand. Es ängstigte sich davor, Vergangenes an die Oberfläche zu zerren.

Vookit folgte der Einladung. Behutsam, langsam. Als fürchtete er, sie zu erschrecken.

Diese Zeiten waren vorbei. Sie war stark, mutig. Niemand zwang ihr mehr seinen Willen auf. Sie hatte Ruhm erlang. War die einzige Erste Frau unter den Grenzgängern, führte ihre eigene Horde an. Schwarzblüter wie sie, allesamt. Sie hatte bewiesen, zu was ein Bastard fähig war. Vookit sollte es sehen. Diese Genugtuung war er ihr schuldig.

Es schmerzte nicht, seine Seele in ihrer zu spüren. Still nahm er Anteil an den Erlebnissen, die sie ihm zeigte, dankte ihr Vertrauen mit einem sachten Streicheln. Nicht mehr, als wäre ein Lufthauch an ihrem Nacken vorbeigeglitten.

Nach einer Weile löste er die Verbindung. In seinem Blick lag eine unerwartete Wärme. »Sollte dein Platz in Nehrits Horde wegen dieses Verrates verloren sein, findest du einen neuen in meinem Clan.«

»Und welcher soll das sein?« Sie wollte ihre Stimme höhnisch und hart klingen lassen, doch stattdessen lag Bitterkeit in ihr. »Die Clankrieger respektierten Schwarzblutfrauen nur auf einem Platz und auf den lasse ich mich von niemandem mehr zurückzwingen.«

Vookit senkte die Lider, schwieg.

Seine Seele hatte sie um Vergebung gebeten. Seine Lippen würden es niemals.

Rakti schluckte gegen das Gefühl an, das ihre Kehle zu verschließen drohte.

Thul würde Nehrit bald als Erster Mann sämtlicher Grenzgänger folgen. Es wäre eine Freude, für ihn zu kämpfen. Sollte er sie aufgrund dieser Intrige verstoßen, fand sie eigene Wege. Doch welche es auch wären, keiner führte nach Khatalah.

»Rakti!« Ein mit Dreck überzogener Krieger blickte auf sie herab. »Raus mit dir!« Er kletterte zwischen den Resten der Gewölbedecke hinunter, sprang das letzte Stück in den Staub. »Es ist kaum noch ein Tunnel passierbar. Wir müssen uns beeilen.«

»Irat?« Er gehörte zu Kimris Horde und war einer der Sprengleute. »Du lebst?« Wie war das möglich?

»Ich bin einer von zweien, die schnell genug rennen konnten.« Sein Blick verfinsterte sich. »Doch auch ich habe es nicht nach draußen geschafft, nur in eine Höhle, die mich vor dem Tod bewahrte.« Er blickte zu Vookit. »Dein Gefangener?«

Rakti nickte.

»Warum hast du ihn nicht getötet?«

»Meine Entscheidung.«

Irat zuckte mit der Schulter. »Dann pack ihn unter den Arm und verschwinde hier. Jeder Stein wackelt und bevor die Gewölbe vollständig einbrechen, will ich dich hier raus haben.«

Sie winkte Ohsa zu sich. »Kümmere dich um ihn.«