Stadt aus Glas - Swantje Berndt - E-Book

Stadt aus Glas E-Book

Swantje Berndt

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Beschreibung

Von den fahlhäutigen Wissenden entführt, wird Fiona an einem Ort aus Glas und Licht gefangen gehalten. Der Erste Rektor des Hohen Rates setzt alles daran, ihren Willen zu brechen.  Cordic vermag nicht, ihr beizustehen, obschon er ihren Zustand in seiner eigenen Seele spürt. Die Macht des Großen Schutzes zwingt ihn mehr und mehr in die Knie.  Während die Grenzgänger bis zum Felsenreich Khatalah vordringen, um Rag und die Clankrieger herauszufordern, spinnt sich ein Netz aus Intrigen und Lügen um ihn und Fiona.  Es vergeht ein Jahr, ehe er sie wiedersieht. Doch sie ist nicht mehr das Mädchen, das er in seine Welt gelockt hatte. Vor ihm steht eine junge Frau, deren Seele von der Gefangenschaft gezeichnet ist.  Er versucht, ihr zu helfen und entdeckt, dass er weit mehr für sie empfindet als Freundschaft und Mitgefühl. 

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1. Gefangen in Glas und Stein
2. Stillstehende Zeit
3. Durchkreuzte Pläne
4. In Chaos und Finsternis
5. Fremde Freunde
6. Klärende Worte
7. Dunkler Horizont
8. Weitere Romane von Swantje Berndt

Swantje Berndt

STADT AUS GLAS

Lieder von Schatten und Licht

Zweite Strophe

Copyright © 2020 Swantje Berndt

2. Auflage Januar 2020

1. Auflage 2016

www.swantje-berndt.de

Bildrechte: Fotolia com. © Mopic, © Arsgera

Shutterstock.com © Lissandra Melo

Korrektorat: Ingrid Kunantz, Corinna Vexborg

Covergestaltung: Swantje Berndt

1. Gefangen in Glas und Stein

 

 

– Der Meister der Wissenden –

 

In der Leere zwischen den Welten

 

»Ihr habt mich gerufen?« Sur trat aus den Reihen der Wissenden und verneigte sich vor ihm. »Wünscht Ihr, Nachricht von dem Schattenlichtmädchen zu erfahren?«

Der Meister nickte, lehnte sich zurück. Die Disziplinierung des Mädchens gestaltete sich als schwierig. Sein Geist beharrte auf Aufruhr und Chaos. Keinesfalls durfte er es in diesem Zustand dem Ersten Rektor der Lichten zumuten. Mahkis würde an der Prüfung scheitern und mit ihm sein gesamtes Volk.

Auf seine Enkelin zu treffen, die Schuld am Tod seiner einzigen, geliebten Tochter trug, die ihn an die Bestialität desjenigen erinnerte, der eben jene geschändet hatte. Dabei Ruhe und Distanz zu bewahren, stellte eine enorme Herausforderung dar. Noch war unklar, ob Mahkis sich ihr stellen würde. Die Frist eines Jahres war ihm gesetzt worden, binnen dieser Zeit musste er eine Entscheidung treffen.

»Bedürft Ihr meines Rates?« Surs fokussierter Blick schenkte gleichermaßen Ruhe und Ordnung in einer diffizilen Situation. »Der Junge, den wir ebenfalls aus der Hütte entfernten, ist gemäßigt. Ich empfehle, ihn in die Glasstadt zu bringen. Er scheint bereit für die Lehren der Lichten. Doch was das Schattenlichtkind betrifft …« Er faltete die Hände, senkte das Haupt. »Ich rate, seinen individuellen Aufenthalt in der Leere auszudehnen. Das sollte genügen, um es zu zähmen.«

»Eine subjektive Manipulation ihrer erlebten Zeit?« Ein vortrefflicher Gedanke.

»Eine Handvoll Wimpernschläge für den Jungen, eine Ewigkeit für das Mädchen.«

»Eine brillante Idee.« Obschon sie das Schattenlichtkind gefährdete. Nicht jeder Unwissende ertrug die Disziplinierung im Nichts unbeschadet. Bisher hatten ausschließlich die Lichten von der Erziehungsmaßnahme Gebrauch gemacht. Nie länger als gefühlte Jahre, auch wenn in der Welt außerhalb nur wenige Augenblicke verstrichen waren.

Das Mädchen würde die Ewigkeit kosten.

Das Wagnis war es wert, eingegangen zu werden. Schon um des Experimentes willen. Ließ es sich zähmen, wenn es aus sämtlichen ihm bekannten logischen und emotionalen Bezügen herausgerissen wurde? Oder zerbrach es an einer Wirklichkeit, die nicht mehr die eigene war?

Der Meister gestattete sich einige tiefe Atemzüge.

Die Tochter des Chaos und der Finsternis bedurfte zweifelsfrei einer straffen Disziplinierung.

»Verzeiht.« Sur trat einen Schritt näher. »Was ist mit dem Clankrieger und dem Schwarzblut-Weib? Sollen wir sie in der Leere dem Tod anvertrauen, oder sie in die Freiheit entlassen?«

Ein todkranker Mann, eine vom Licht geschwächte Frau.

»Wir dürfen den Raum zwischen den Welten nicht mit Sterbenden besudeln. Öffne eines der Tore im Felsenreich. Ihre Heimat möge ihre letzte Ruhestätte werden.«

 

 

– Ahfid –

 

»Und du bist sicher, dass keine Nachtfresser auf uns lauern?« Lun sah sich angstvoll um. »Ich hörte Gerüchte, dass sie ihren Feinden die Schädel abhacken und sie sich als Trophäen an die Gürtel hängen.«

Ahfid kämpfte gegen den Wunsch an, Lun eins aufs Kinn zu geben. Seit der Abenddämmerung rotierte dessen Kopf, als gehörte er einer Eule. Ein Wunder, dass sich Lun bisher nicht das Genick verrenkt hatte.

»Wenn du mich das noch ein einziges Mal fragst, werde ich es sein, der dir den Schädel abreißt.« Er war das Gejammer des Wanderers leid.

»Wir sind in Khatalah!« Lun sah panisch einer Fledermaus hinterher. »Selbst die Felsen wollen uns an sich zerschmettern, ich spüre es.«

Beim Grün der unendlichen Wälder! »Khatalah ist leer!« Ahfid ließ seinen Reisesack fallen und sich gleich mit. »Zumindest an der Oberfläche. Fledermäuse und Leichengeier ausgeschlossen. Aber für die Clankrieger trifft es zu.« Es war gleichgültig, wo sie rasteten. Lun würde in jedem Fall Bedenken hegen. Hier befand sich wenigstens ein Felsvorsprung, der sie vor dem eisigen Wind schützte.

Lun setzte sich zögernd neben ihn. »Wäre es nicht klüger, in der Nähe der Passstraße zu rasten?«

»Kriegshorden marschieren auf der Passstraße. Sklaven werden auf Passstraßen ins Graue Horn gepeitscht. Todgeweihte ebenso. Wir lagern abseits.«

»Du hast gesagt, Khatalah sei leer!«

Geduld, Nachsicht, Verständnis. Sonst würde er diesen Kerl keinen Moment länger ertragen. »Im ungünstigsten Fall ist das Land nicht komplett leer, sondern …«

»Also doch! Ich hab es gewusst!«

»… sondern wird von Rags fliegenden Handlangern ausspioniert.«

»Und das sagst du mir erst jetzt?«

Wie naiv konnten Wanderer sein? »Rag ist ein Herrscher. Alle Herrscher verfügen über Spione. Manche von denen besitzen Flügel, andere fingerlange Reißzähne.«

»Beim Licht«, wisperte Lun schreckensbleich. »Ich will hier weg.«

»Theoretisch wäre es ebenfalls möglich, dass uns ein Schwarzblut über den Weg läuft.« Dass sich unter ihnen garantiert Halbwesen durchs Erdreich quälten, verschwieg er besser.

»Aber vor Halbwesen sind wir sicher, ja?«

Verdammt!

»Beim letzten Mal, als ich mit diesen Monstern zusammentraf, wollten sie mich fressen. Das ist nicht lange her.«

»Du hast am wenigsten abbekommen.« Fiona war es schlechter ergangen. Die Narbe, die sie von dem Kampf davongetragen hatte, zog sich von ihrer linken Schläfe bis hinunter zum Kinn. Sie hatte es weggesteckt, wie sie vieles wegsteckte.

Fiona war tapfer. Ihr blieb nichts anderes übrig, immerhin war sie kein gewöhnlicher Mensch, sondern die Tochter des Herrschers über Chaos und Finsternis.

Sie ahnte nicht das Geringste davon.

Wie hätte sie mit diesem Wissen leben sollen?

Rag, ihr Vater. Der Unhold dieser Welt. Das wäre der Bürde genug gewesen, doch das Schicksal spielte ein weit perfideres Spiel mit dem Mädchen. Seine Mutter war eine Lichte. Die Tochter des Ersten Rektors des Hohen Rates der Glasstadt.

Licht und Schatten teilten niemals denselben Platz. In Fiona vereinten sie sich dennoch. Der einzige Grund, weshalb Jetsuba das Kind in eine fremde Welt entführt hatte. Dort war es aufgewachsen. Geborgen und in Sicherheit. Bis zu dem Tag, als die Hexe ihm, Lun und Cordic auftrug, Fiona zurückzuholen. Sie wäre die Rettung des Waldlandes, denn niemand anderes könnte den Großen Schutz zerstören, der es ausbluten ließ. Bevor Fiona die Gelegenheit bekommen hatte, irgendetwas zu unternehmen, war sie von einem Wanderer entführt worden, der sie wahrscheinlich zu Mahkis in die Glasstadt bringen sollte.

Cordic war ihr hinterhergeeilt. Angeblich, um sie zu retten.

Er hatte sie alle getäuscht.

Er würde sie an Rag ausliefern. Deshalb waren sie hier, um ihn davon abzuhalten.

»Was ist jetzt mit den Halbwesen?«, durchbrach Lun Ahfids düstere Grübeleien. »Gibt es hier welche oder nicht?«

»Nein, keine Angst. Die sind alle weg.« Gedanklich biss sich Ahfid in die Faust. Manche Lügen waren notwendig, wenn man es mit einem überängstlichen Wanderer aushalten musste.

Lun sah ihn misstrauisch an. »Ich glaube dir kein Wort.« Wieder spähte er panisch in die Dunkelheit. »Diesen Albtraum habe ich Jetsuba zu verdanken.« Ein unartikuliertes Zischen, das entfernt einem Fluch ähnelte, kam über seine Lippen. »Nein, wenn ich ehrlich bin, und das muss ich als Wanderer, bin ich selbst dran schuld.«

»Jetsuba hat dich am Haken. Das ist mir klar, sonst hättest du dich nie mit uns abgegeben. Aber warum?« Diese Frage hatte er Lun längst stellen wollen.

»Ein Kuss«, murmelte Lun zerknirscht. »Damals, als ich für Mahkis die Energiebahnen öffnete, um den Großen Schutz zu speisen. Er hat mir eine Dienerin zugeteilt. Für meine persönlichen Belange. Und die hat mich geküsst.« Er kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf. »In einem Anflug von Irrsinn erwiderte ich ihre eigenartige Tat.«

Die Vorstellung, dass ein Wanderer, der kaum schlichte Berührungen wie Händeschütteln ertrug, ein Mädchen küsste, überforderte Ahfid.

»Es hat geschmeckt.« Lun verzog den Mund. Mit etwas Fantasie hätte es als Lächeln durchgehen können. »Ich weiß noch, wie erstaunt ich darüber gewesen war. Also beteiligte ich mich auf eine gewisse Weise an diesem Übergriff.«

»Was ist schiefgelaufen?« Ein simpler Kuss beförderte niemanden in Hexenhände.

»Ein Rabe kam vorbeigeflogen.« Lun fuhr sich durch die fahlen Haare. »Rate, welcher.«

»Jetsubas Spion.« Dem Vieh gehörte der Hals umgedreht.

Lun nickte betrübt. »Zwei Tage später fiel mir eine Nachricht in den Morgentee. Direkt aus dem Rabenschnabel. Jetsuba drohte, meinem Meister zu verraten, dass einer seiner hoffnungsvollsten Schüler dem sinnlichen Frevel anheimgefallen wäre. Da ich die Strafe dafür kennen würde, wäre ich sicherlich bereit, mich auf einen fairen Tausch einzulassen. Ihre Verschwiegenheit gegen meine Hilfe, wann immer sie danach verlangte.«

»Deshalb hast du mir geholfen, Cordic zu befreien.«

»Und deshalb habe ich euch in Fionas Exil begleitet, euch wieder hierhergeholt, mich fast von Halbwesen fressen lassen, und, und, und …«

»Was hätte dir als Strafe gedroht?«

»Verbannung in die Welt der Unwissenden. Auf Lebenszeit. Das Problem: Mein Leben währt recht lang. Jemand, der es nicht genau nimmt, würde es unendlich nennen.«

»Mit Unwissenden meinst du …«

»Alles, was hier lebt, alles, was irgendwo in irgendwelchen Universen lebt.«

Ahfid war zu verblüfft, um gekränkt zu reagieren.

»Es war mir damals unerträglich, mein Dasein inmitten emotionszerfressener Wesen zu verschwenden. Selbst unter den Lichten würde ich es nur eine begrenzte Weile aushalten, doch bis ans Ende aller Zeiten Männern wie Mahkis Gleichmut und Kontemplation predigen? Den ständigen Zweifeln lauschen? Deren Ängste und Sorgen zerstreuen? In den Irrsinn würde es mich treiben!« Hilflos hob er die Hände. »Aber nun, nach all den Beschwernissen, die mir Jetsuba aufgezwungen hat, erwäge ich hin und wieder, dass die Verbannung durchaus eine Option gewesen wäre.«

Ein Knacken aus der Dunkelheit, ein leises Fauchen folgte.

Lun schrie auf, schnappte sich hektisch einen dürren Zweig.

»Darf ich fragen, was du da machst?« Lun trug ein Schwert bei sich. Was wollte er mit dem Zweiglein? Für einen Kampfstock war es zu kläglich.

»Feuer.« Lun schluckte. »Ein großes Feuer, das sämtliche Abscheulichkeiten abhalten wird.«

»Du bist unfähig, wenn es darum geht, auch nur die Idee eines Funkens zu erzeugen.«

»Ich weiß.« Er streckte ihm den Zweig hin. »Du machst das Feuer!«

»Das bisschen wird nicht genügen.« Seit geraumer Zeit lag die Baumgrenze hinter ihnen. »Wenn du Brennholz finden willst, solltest du deinen Radius vergrößern.«

Unschlüssig sah sich der Wanderer um. »Muss ich das wirklich?«

»Nicht, wenn es für dich in Ordnung ist, die Nacht schutzlos und in völliger Dunkelheit zu verbringen.«

Lun schüttelte entschieden den Kopf.

»Na dann.«

»Ich könnte eine Lichtsphäre erschaffen.«

»Mach.«

Zitternd näherten sich zwei Handflächen, kreisten wacklig um die Finsternis dazwischen.

Kein Glimmen. Kein noch so kläglicher Schein.

»Ich hole Holz.« Lun schluckte trocken. »Kommst du mit?«

»Das schaffst du allein. Immerhin hast du ein Schwert.« Wulf hatte sie mit den Waffen ausgestattet, ohne zu bedenken, dass der Wanderer vom Gebrauch einer Klinge keinen Schimmer besaß. »Ich werde in der Zwischenzeit diese paar Zweiglein in Brand setzen und auf dich warten.«

»Wie du meinst.« Mit hochgezogenen Schultern tappte Lun in die Nacht.

Ahfid atmete auf. Mit dem Kerl durch die Schluchten Khatalahs zu stolpern, glich einer Strafe. Er hatte sie nicht verdient. Das ständige Aufgeschrecktsein, die Nervosität, all das war ihm mit Cordic als Reisegefährten fremd gewesen.

Cordic, der Verräter.

Der Betrug seines Freundes schmerzte ihn wie ein Messerstich. Für seine Freiheit hatte er Fiona an Rag verkauft, das Waldland dem Untergang geweiht und ihre jahrelange Freundschaft in den Dreck getreten. Cordics Angst vor Gefangenschaft saß tief. Das rechtfertigte jedoch niemals den Verrat am Leben selbst. Eine einzelne Seele mit dem Leid aller freizukaufen, war erbärmlich.

Luns Misstrauen war berechtigt gewesen. Die ganze Zeit über. Diese Erkenntnis quälte Ahfid am meisten. Jetsuba hatte Cordic vertraut, er hatte Cordic vertraut, nur Lun nicht.

Fiona war das Pfand für Cordics Freiheit. Also setzte er sie zu seinen Zwecken ein.

Freiheit. Nichts bedeutete einem Khatalaher mehr. Wenn die Hexe in Silberbach bloß rechtzeitig zu ihnen gestoßen wäre! Sie hätte vieles verhindern können.

Wo steckte die Alte? Hatte ihr morsches Hirn das Schattenlichtmädchen vergessen?

Er versank erneut in düsteren Grübeleien, bis ihm die Kälte den Rücken heraufkroch.

Ein Feuer. Er hatte Lun versprochen, eines zu entfachen.

Er zerbrach den dürren Zweig, opferte eine Haarsträhne als Funkenfraß für den Feuerstahl. Selbst diese alltäglichen Handgriffe erinnerten ihn an Cordic. Verdammt, wie hatte er sich in ihm täuschen können?

Ein kleines Flämmchen zitterte sich durch das Holz. Hoffentlich brachte Lun bald Nachschub und stürzte im Dunkeln nicht in eine Schlucht. Zuzutrauen wäre es ihm. Nicht einmal eine Lichtsphäre hatte er zustande gebracht. Die Angst erfüllte ihn offenbar bis obenhin.

Schritte. Hangabwärts. Sie näherten sich nur langsam.

Lun hatte es nicht lang in der Wildnis ausgehalten.

Moment. Das Geräusch stammte von keinem Einzelnen. Da kamen zwei. Mindestens.

Was? Nachtfresser? Schwarzblüter? Halbwesen?

Ahfid griff zum Schwert, erhob sich. Er musste einen Blick an dem Felsvorsprung vorbei riskieren und hoffen, dass das Licht der Sterne genügte, um etwas zu erkennen.

Drei mehr oder weniger aufrecht gehende Gestalten.

Gut, das schloss Halbwesen aus, Schwarzblüter jedoch keinesfalls.

Fahle Haare schimmerten im Mondschein. Lun. Unter seinem Arm klemmte ein Bündel Brennholz. Neben ihm ging eine Frau. Sie stützte jemanden.

Cordic!

Lun rannte ihm entgegen. »Ich habe sie in der Nähe der …«

»Wo ist Fiona?«

Lun zuckte zusammen. »Leiser! Willst du Khatalahs Kreaturen anlocken?«

Cordic stieß ein heiseres Lachen aus. »Unser Wanderer hat die Hosen voll.«

»Halt dein verräterisches Maul und sag mir, wo das Mädchen ist, oder du überlebst die Nacht nicht!« Sein Herz pochte ihm in den Schläfen.

Jeglicher Spott verschwand aus Cordics Blick. »Ich weiß es nicht.«

Diese nachtfressende Missgeburt!

Ahfid schmetterte ihm die Faust ins Gesicht.

Cordic schlug nieder wie ein gefällter Baum. Er leistete keinerlei Gegenwehr, nahm nicht einmal die Hände zum Schutz empor, als Ahfid erneut ausholte.

»Hör auf!« Die Frau stellte sich ihm in den Weg.

Ein Schwarzblut. Ihre dunklen Iriden verrieten es ebenso wie die Masse ihrer Armreifen.

»Ich habe ihn nicht am Leben gehalten, damit du ihn umbringst!«

»Er ist ein elender Verräter!«

Cordic senkte die Lider, schüttelte langsam den Kopf.

»Schließ nur die Augen vor der Wahrheit!« Wie hatte er annehmen können, dass der Nachtfresser jemals sein Freund gewesen war? »Du hast Fiona für deine Drecksseele verkauft!«

Cordic reagierte nicht. Er blieb liegen, während ihm das Blut aus der Nase lief. Er wischte es nicht einmal ab.

»Fiona war bei mir.« Die Frau reckte stolz das Kinn. »Dann erschienen diese Kerle in meiner Hütte, schnappten mich und aus war’s. Als ich wieder zu mir kam, lag ich da unten am Hang neben dem Clankrieger. Fiona war weg und Dano auch.«

»Welche Kerle?« Und wer war Dano?

Lun sah zu Boden. »Wanderer«, sagte er leise. »Angeblich haben sie Fiona und die beiden da aus ihrer Hütte entführt.«

»Angeblich?«, fauchte das Schwarzblut. »Denkst du, ich lüge?«

Ahfid musste lachen. Sogar in seinen Ohren klang es eisig. »Jeder weiß, dass ihr Bastarde lügt, sobald ihr den Mund aufmacht. Für die Nachtfresser gilt dasselbe.«

Cordic zuckte zusammen.

Mochte es ihn noch so sehr quälen. Er war der Verräter! Er allein!

»Sag mir, wo das Mädchen ist!«

»Ich weiß es nicht.« Cordic stemmte sich auf die Ellbogen. »Ich mache mir ebensolche Sorgen um sie wie du.«

»Lügner!« Die Faust ballte sich von selbst. »Wenn ich mit dir fertig bin, ist kein Zahn mehr in deinem verlogenen Maul!« Rasende Wut und die bitterste Enttäuschung, die er je erlebt hatte, schnürten ihm die Brust ein. Sie waren Freunde gewesen. Hatten ihr Leben füreinander riskiert.

Das alles zersplitterte in brennendem Zorn.

Die Faust traf erneut.

Auch dieses Mal nahm Cordic den Hieb hin. Er schlug mit dem Kopf auf, stöhnte leise. »Ich weiß nicht, wo sie ist«, nuschelte er durch die aufgeplatzten Lippen. »Ich weiß es nicht!« Sein grollender Schrei echote zwischen den Felswänden.

Er sagte die Wahrheit. Ahfid brauchte eine Weile, um den Gedanken zu akzeptieren.

»Ich hatte sie gefunden.« Cordics Finger wanderten in die Haare, zerrten daran. »Ihr ging es gut. Plötzlich riss der Raum auf. Mitten in der Hütte. Als wären die Wände, der Boden, alles darin verschwunden. Die kaltäugigen Mistkerle traten daraus hervor und stahlen Fiona vor meinen Augen!«

»Was ist mit Eri passiert?«, fragte Lun, als ob das Schicksal eines Entführers hier irgendwen interessierte. »Hast du ihn bei Fiona angetroffen?«

»Und ob ich deinen Kumpel getroffen habe!« Cordic spukte Blut aus.

Lun wandte sich angewidert ab.

»Er war im Begriff, mir die Kehle durchzuschneiden!« Er wischte sich den Mund, was seinen Anblick kaum erträglicher machte.

Lun würgte. »Das ist nicht wahr«, krächzte er, als er sich halbwegs gefangen hatte. »Ein Wanderer würde niemals …« Er starrte auf Cordics verschmiertes Gesicht, presste die Hand auf den Mund.

»Es ist wahr! Dein Kumpel wollte mich töten!«

»Dein Tod wäre kein großer Verlust!« Ahfid hielt Cordics erschüttertem Blick stand. Sollte er ruhig wissen, was er über Verräter dachte. »Lun, konzentriere dich und hör auf mit diesen ekelhaften Geräuschen!«

»Tut mir leid.« Lun würgte erneut. »Ich versuche zu schlucken, aber es will nicht unten bleiben.« Er beugte sich vornüber, stemmte die Fäuste auf die Knie. »Stress schlägt mir auf den Magen. Dass der Nachtfresser Blut rotzt, setzt eins drauf.«

»Als uns die Halbwesen anfielen, hast du dich weniger angestellt.« Sogar eine Lichtsphäre hatte er nach dem Angriff erschaffen.

»Da waren meine Nerven nicht dermaßen zerrüttet wie jetzt! Hätte ich geahnt, was auf mich zukommt, hätte ich Jetsuba zum Teufel gewünscht, als sie mich mit diesem elenden Auftrag betraute!«

»Was ist ein Teufel?« Lun sprach in Rätseln.

»Etwas Obskures aus Karls Welt.« Der Wanderer richtete sich langsam auf. »Es fehlt der endgültige Beweis, ob es ihn gibt. Wir forschen diesbezüglich seit Längerem.«

Sie besaßen genug eigene Probleme. Diejenigen aus anderen Welten mussten warten.

»Wieso tauchen Wanderer in Hütten auf und entführen Menschen?« Dass die Frau so dämlich gewesen sein könnte, ihre Behausung direkt vor einem Weltentor zu bauen, schloss er aus. »Sie sind friedlich, nerven mit ihrer Emotionslosigkeit – dich ausgenommen – und neigen zum Dauermissionieren. Aber das macht sie nicht zu Verbrechern.«

»Friedlich?« Cordic hievte sich auf die Knie. »Sie haben den Raum wie eine Wunde aufgerissen! Kein Bitten um Durchlass, kein Wispern, nur blanke Gewalt!«

»Es stimmt.« Die Frau erblasste. »Wer so handelt, schert sich einen Dreck um die Gefüge der Welt.«

Lun lachte verächtlich. »Was weiß ein Chaosbalg von den Gefügen der Welt?«

»Das, was jeder weiß, der in ihr lebt und nicht bloß von außen zusieht!« Sie fauchte wie eine Katze mit eingeklemmtem Schwanz.

»Rede was du willst, Schwarzblut.« Lun wandte sich mit verkniffener Miene ab. »So verwerflich wie du behauptest, ist niemand aus meinem Volk.«

»Ruhe!« Ein einziger, klarer Gedanke. Alles, was Ahfid brauchte.

Jetsubas Plan war gescheitert. Das lag auf der Hand. Die Wanderer hatten den Joker aus dem Spiel genommen. Nur, wo brachten sie ihn hin? Sie kooperierten ausschließlich mit den Lichten. Was, wenn sie Fiona an Mahkis auslieferten? Nehrits Warnung kam ihm in den Sinn. Was auch geschähe, sie sollten Fiona vor dem Zugriff des Ersten Rektors schützen.

»Wir müssen in den Süden.« Und zwar so nah wie möglich an die Grenze zur Glasstadt.

»Wir sind im Norden.« Die Frau sah ihn spöttisch an. »Bis du das Steppenland erreicht hast, vergeht eine Ewigkeit. Außerdem frisst der Lichtwall das Leben aus Mensch und Tier. Willst du Fiona als Leichnam retten?«

»Wir laufen nicht hin.« Für wie einfältig hielt sie ihn? »Lun, wir brauchen einen Durchgang, der uns direkt in die Stadt hineinbringt.«

Lun lachte trocken. »Das nächste Tor befindet sich am Südhang des Grauen Horns. Doch es ist winzig. Die Wahrscheinlichkeit, dass es uns zerquetscht, ist größer als das Graue Horn selbst.«

Ahfid ging ein Schauder über den Rücken. Die Erinnerung an das Gefühl, von der Leere zerdrückt zu werden, rieselte wie Eissplitter durch ihn hindurch. »Was ist mit dem im Grenzland, durch das wir damals Cordic befreit haben?«

Lun sah ihn verwirrt an. »Was willst du in Rags Kerkern?«

»Führt es nur dorthin?« Verdammt.

»Allerdings. Die wenigsten Tore sind Springer. Die Mehrzahl hat eindeutig definierte Start- und Zielpunkte.«

»Springer?«

»Tore, die sich an unterschiedlichen Stellen öffnen können. Manchmal funktionieren sie intern als auch extern. Ist eine gefährliche Art zu reisen, das kannst du mir glauben.«

»Und das am Grauen Horn ist so eines?« Eng oder nicht, sie würden es schaffen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.

Lun biss sich auf die Lippe. Ihm war anzusehen, dass er es bereute, von diesem Tor erzählt zu haben. »Vorher muss ich mit dir reden.« Er nickte zu dem Schwarzblut und Cordic. »Allein.«

»Flüstere nicht, Fahlhaar!«, donnerte die Frau. »Ich bin Veta und habe mir in meinem Leben deinen Respekt längst verdient!«

»Nicht in tausend Leben.« Lun verzog den Mund. »Eine Grenzgängerhure verdient niemandes Respekt.«

Offenbar hatte er ihre zahlreichen Armreifen als Bezahlung diverser Liebesdienste interpretiert. Was nahelag. Ein stolzer Vater hatte ihr den Schmuck wohl kaum geschenkt.

Veta holte aus und schlug Lun mit dem Handrücken ins Gesicht. Der Abdruck ihrer Knöchel strahlte erst in eisigem Weiß, dann flammte er feuerrot auf.

Lun hielt sich fassungslos die Wange. »Dass du es wagst, einen Wissenden zu schlagen!«

»Ein Wissender?« Ratlos sah sie zu Ahfid.

»Wir nennen sie Wanderer, sie nennen sich Wissende.« Er hatte auch eine Weile gebraucht, um damit klarzukommen.

»Ah!« Veta nickte verständig, um im nächsten Augenblick wahre Sturmwolken auf ihre Stirn zu bannen. »Ich wage, was immer ich will, Wissender! Ich habe gesehen, zu welchen Gräueltaten dein Volk in der Lage ist. Es widert mich an!« Erneut hob sie die Hand.

»Schluss jetzt!« Ahfid sammelte das Holz auf, das Lun, während seiner Würg-Attacke, fallengelassen hatte. »Komm mit zum Feuer und sag, was du zu sagen hast.«

»Moment.« Lun ballte die Faust, öffnete sie wieder, ballte sie ein zweites, dann ein drittes Mal.

Spielte er mit dem Gedanken, sich mit dem Schwarzblut auf einen Kampf einzulassen?

Ahfid packte ihn am Kragen, zog ihn mit sich. »Die macht Kleinholz aus dir.«

»Traust du mir nichts zu?«

Faszinierend, im Blick eines Wanderers zumindest einen Hauch Kampfeswut zu entdecken.

»Nicht das.« Erst hinter dem Felsen gab er Lun frei. »Raus mit der Sprache, was ist so wichtig?«

»Es ist Sur.« Das bedrohliche Glimmen wich aus den hellen Augen.

»Wer ist Sur?«

»Der Wissende, der den Raum aufgerissen hat.« Lun hockte sich vor die sterbenden Flammen. »Er ist der Fähigste von uns. Der Meister setzt ihn ein, wenn ihm keine anderen Möglichkeiten mehr bleiben.«

»Und das bedeutet was?« Sollte er sämtliche Informationen aus ihm herausprügeln?

»Nichts Gutes.«

»Wie schlecht?«

»Schlechter als du es dir vorstellen kannst.«

»Weshalb?« Ahfids Magen zog sich zusammen.

»Der Meister schickt Sur für gewöhnlich, um ein extrem hartnäckiges Problem endgültig aus der Welt zu schaffen. In Fiona scheint er so eines zu sehen.«

»Aus der Welt schaffen?« Ihm wurde schwindelig.

Lun zuckte mit den schmalen Schultern.

Bei allen Finsternissen! Ahfid rauschte an ihm vorbei.

Cordic und Veta hatten sich keinen Meter von der Stelle gerührt.

Er riss Cordic empor, ignorierte Vetas Zetern und schleppte ihn zu Lun. »Ich will alles von Anfang an hören, und zwar von dem Moment, als du aus Silberbach fortgeritten bist.« Er ließ ihn zu Boden fallen wie einen Sack.

Cordic stöhnte und hielt sich den Kopf. »Wenn du aufhörst, auf mich einzudreschen, erzähle ich dir die Geschichte, soweit ich sie kenne.« Er rappelte sich auf, setzte sich dicht ans Feuer. »Was soll das sein?« Mitleidig blickte er auf die kläglichen Flammen. »Hast du immer noch nicht gelernt, es zu schüren?« Behutsam fütterte er die Glut mit Reisig, wartete, bis es brannten, und legte die dickeren Zweige nach. Für einen Augenblick zeigte sich eine Ahnung von Frieden auf seinem blassen Gesicht.

Ahfid bemerkte die eingefallenen Wangen und die tiefen Schatten unter den Augen dennoch. »Wie weit im Süden bist du gewesen, als du sie gefunden hast?«

Cordic sah mit gequältem Lächeln zu ihm auf. »Zu weit.«

Das Licht hatte ihn ausgezehrt.

»Und Fiona ging es wirklich gut?« In ihren Adern pulsierte ebenfalls das Blut Khatalahs.

»Nachdem ich ihre Fesseln durchschnitten hatte.«

»Daher die Wunden an ihren Handgelenken.« Veta setzte sich neben Cordic, hielt die Hände ans Feuer. »Das Mädchen scheint einiges hinter sich zu haben.«

»Wunden?« Beim Grün der endlosen Wälder!

»Sie hat versucht, sich zu befreien.« Cordic fuhr sich müde übers Gesicht. »Dazu hat sie drastische Methoden wählen müssen. Ich brauchte ewig, um das Seil mit meinem Messer zu durchtrennen, und das ist aus khatalahischem Stahl. Du weißt, dass es keine schärferen Waffen gibt.«

»Wenn ich diesen elenden, stinkigen, mistigen Kerl in die Finger kriege!« Erwürgen würde er ihn. Mit seinem eigenen Strick!

»Wanderer stinken nicht«, bemerkte Lun schüchtern. »Und solltest du Eri zufällig begegnen, wirst du merken …«

»Schweig!« Sie mussten Fiona finden. Sofort!

»Das Mädchen ist etwas Besonderes.« Veta lächelte ins Feuer, als spräche sie mit den Flammen. »Ich spürte in ihrer Seele die Dunkelheit und sah in ihren Augen das Licht. Aber das ist nicht möglich.«

»Ist es doch.« Die Wahrheit war ungeheuerlicher als die ärgste Lüge des hintertriebensten Nachtfressers. »Während eines Überfalls auf die Glasstadt zwang Rag eine Lichte unter sich. Liane, die Tochter des Ersten Rektors. Sie starb bei Fionas Geburt.«

»Das ist …«

»Nicht halb so unmöglich wie bisher alle angenommen haben.« Offenbar teilten sich Schatten und Licht in Ausnahmefällen sehr wohl denselben Ort.

Veta pfiff durch die Zähne. »Das klingt nach Magie.«

»Das klingt nach widerwärtiger Grausamkeit.« Cordic spuckte erneut Blut in den Staub.

Lun schüttelte sich.

»Und die ist dir fremd, Clankrieger?« Veta gönnte ihm einen kalten Blick.

Er erwiderte ihn, bis sie die Lider senkte.

»Du weißt, was ich meine«, sagte sie nach einer Weile.

»Ja.« Ohne näher darauf einzugehen, wandte er sich dem Feuer zu.

Veta ebenfalls.

Die Flammen spiegelten sich in ihren dunklen Iriden.

Der Anblick fesselte ihn.

»Ich frage mich, was Mahkis von Fiona will.« Cordic legte Feuerholz nach. »Hasst er sie so sehr, dass er ihren Tod wünscht?«

»Dazu ist er nicht imstande«, schnappte Lun. »Er ist ein Lichter!«

»Eri war dazu imstande«, sagte Cordic gelassen. »Und der ist einer von deinem Volk.«

Lun schnaubte. »Mahkis will von ihr, was alle von ihr wollen. Ihre Macht!«

»Welche Macht?« Cordic sah ihn verständnislos an.

»Willst du behaupten, du wusstest nicht, dass Rag ihr Vater ist?«

»Natürlich wusste ich das. Wir haben unserer Seelen vereint.«

Die beiden starrten einander an wie zu ihren besten Zeiten.

»Glaub mir, Rags Finsternis hat in Fiona einen Abdruck hinterlassen. Es ist ein Leichtes, verborgenes Wissen zu finden, wenn man weiß, wo man suchen muss. Daher weiß ich, dass sie keine geheimnisvolle Macht besitzt. In ihrer Seele ist keine Magie. Stärke? Ja. Eine ganze Menge. Trotz? Das ebenfalls. Entschlossenheit? Mehr als mir lieb ist. Ich konnte Fiona nur mit Mühe davon abhalten, in meinem Inneren herumzuschnüffeln. Sehnsucht nach Freiheit? Reichlich. Und der mir unverständliche Wunsch nach Licht. Der auch.« Spöttisch verzog er den Mund. »Aber das ist alles.«

Luns Trotz verschwand schlagartig. Er sah hilflos zu Ahfid, dann wieder zu Cordic. »Unmöglich! Du musst etwas übersehen haben.«

»Ich bin geübt im Durchstöbern fremder Seelen, und wenn ich sage, dass da nichts ist, ist da nichts.«

»Du elender Lügner!« Luns Stimme überschlug sich. »Ihre Mutter war Liane, die Tochter des Ersten Rektors der Lichten. Ihr Vater ist Rag und du sagst uns, dass da nichts ist? Keine Macht? Keine Kraft? Bei der Herkunft?«

Cordic maß ihn mit kaltem Blick. »Du glaubst mir nicht? Komm und verbinde dich mit mir, und falls du das unbeschadet überstehen solltest, wirst du wissen, dass ich die Wahrheit sage.«

»Warum holten wir sie hierher? Wozu das Theater?« Lun ging auf Cordic los, was er nie zuvor getan hatte. »Welche Fähigkeiten will Jetsuba in ihr wecken, wenn dort keine sind?«

»Keinen Schimmer.« Cordic wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das Chaos allein weiß, was in Jetsubas Kopf vorgeht. Vielleicht hat sie ihre wirklichen Pläne vor uns verschwiegen. Vielleicht spielt sie ein falsches Spiel. Ich traue dieser Frau alles zu.«

»Eine politische Lösung.« Der Gedanke war Ahfid von Beginn an gekommen. »Fiona steht zwischen den Fronten, weil sie zu jeder von ihnen gehört. Jetsuba sieht in ihr ein Bindeglied. Eine Art Friedenspfand.«

»Bist du verrückt?« Lun stand kurz vorm Überschäumen. Ein erstaunlicher Anblick bei einem seiner Art. »Ihr Großvater hasst sie! Sie ist der Grund für den Tod seiner einzigen, geliebten Tochter. Was er auch mit ihr vorhat, es wird uns nicht den Frieden bringen!«

»Hältst du Jetsuba für senil?« Die Hexe war alles, aber das nicht.

»Jetsuba?« Lun raufte sich die Haare. »Scheiß auf die Alte! Ich ging davon aus, dass Fiona die Fähigkeit besitzt, den Großen Schutz zu zerstören! Wir alle gingen davon aus! Mein Volk ging davon aus! Die Lichten gehen davon aus und Rag ebenso!«

»Weshalb regt dich das auf?«, fragte Cordic matt. »Du kommst mit dem Großen Schutz zurecht.«

»Beim Licht!« Lun erbleichte. »Ich beging einen furchtbaren Fehler.« Er griff Ahfid hart am Arm. »Ich muss durch das Springer-Tor. Allein schaffe ich es. Ich hole Fiona zurück.« Er rannte los, als säße ihm Rag persönlich im Nacken.

»Diese Wanderer sind seelisch labil, oder?« Veta sah Lun kopfschüttelnd hinterher. »Eine Feuermeditation täte ihnen gut. Sie erdet, stärkt die Nerven. Genau das, was Lun dringend nötig hat.«

»Luns Haut wirft Brandblasen, wenn er nur an Feuer denkt.« Cordic rollte sich dicht neben den Flammen zusammen. »Lass mich schlafen, Ahfid, bevor du mich weiter verprügelst.«

»Kann ich nicht garantieren.« Die pulsierende Wut pochte nach wie vor in ihm. Sie gierte danach, sich zu entladen.

»Kannst du doch.« Vetas hochgeschwungene Braue zuckte. »In deinem Blick steckt zu viel Sorge um ihn, um ihn aufrichtig zu hassen.« Sie legte sich auf die kalten Steine, wickelte die nackten Füße in den Saum ihres Rockes. »Kümmere dich um das Feuer, Grenzgänger, oder ich werde heute Nacht erfrieren.«

»Als ob mich das etwas anginge.« Sie besaß keinen Mantel, nicht einmal ein Tuch, das sie sich um die Schultern hätte schlingen können.

»Es war nur eine Bitte.« Veta schloss die Augen. Ein Schauder erfasste ihren Körper.

Fluchend band Ahfid die Decke von seinem Reisesack, schob die eine Hälfte unter die zitternde Frau und deckte sie mit der anderen zu.

»Danke«, murmelte sie lächelnd.

 

 

– Vookit, Erster Mann seines Clans –

 

»Licht!« Bei allen Finsternissen! »Licht!« Vookit riss die Fackeln aus den Halterungen, schleuderte sie zu Boden. Was sollte er mit diesen Funzeln anfangen? Das ständige Halbdunkel der Höhle trieb ihn in den Irrsinn!

Er war ein Geschöpf der Finsternis? Drauf geschissen!

Sonne! Wind! Die klirrende Kälte des khatalahischen Winters! All das ersehnte er sich Tag für Tag, Jahr für Jahr.

Er raufte sich die Haare, büschelweise gingen sie ihm aus. Grau und stumpf. Wie sein Geist, wie seine Seele. Ohne Himmel, ohne den Anblick der Wipfel, starb er bei lebendigem Leib. Es brauchte keine Ketten, um einen Clankrieger zu binden. Die Gefangenschaft genügte, um jedem Khatalaher zuerst den Verstand und schließlich das Herz zu töten.

Was würde er dafür geben, dieses verfluchte Gefängnis zu verlassen. So wie Xitu. Nie hätte er geglaubt, jemals einen Bastard zu beneiden.

Xitu litt außerhalb der Felsen. Das blieb nicht aus. Doch das nahm er für eine Nase frischer Luft billigend in Kauf. Tagelang trieb er sich im Norden herum, kehrte blass aber glücklich zurück. Sofern es ein Bastard vermochte, glücklich zu sein. Allzu viele Anlässe existierten nicht im Leben eines Schwarzblutes.

Xitu entstammte seinen Lenden. So weit er wusste, war er sein einziger Bastard. Vookit konnte sich noch an die störrische Sklavin erinnern, mit der er ihn gezeugt hatte. Eine wahre Herausforderung. Selbst für ihn.

Xitu war ein guter Mann. Die anderen Seinesgleichen hatten sich wer weiß wohin verdrückt, kaum, dass das Licht der Glasstadt ihre Väter unter die Felsen gescheucht hatte.

Unruhe kroch durch seine Knochen. Vookit sprang auf, lief hin und her. Die Illusion, sich die Beine dabei zu vertreten, währte nur einen Augenblick.

Wie er enge Höhlen hasste! Wie brennend er Xitu beneidete!

Ein Bastard blieb ein Bastard. Das Ergebnis einer erzwungenen Lust während der Kriege. Ein Verhängnis für die Mutter, ein lästiges Andenken für den Vater. Brauchbare Diener, wenn ihnen der Gehorsam eingeprügelt wurde, passable Krieger, wenn die Aussicht auf fadenscheinige Anerkennung lockte – oder die Angst vor Rags Grausamkeit, doch davor kuschten auch Clankrieger.

Was war aus dem stolzen Volk der Khatalaher geworden?

Gewürm in der Dunkelheit!

Vor ihm, in den Fels gemeißelt, erstreckte sich das Abbild seines Territoriums. Clanland, in das selbst Rag ohne Erlaubnis keinen Fuß hätte setzen dürfen. Jetzt setzte niemand mehr einen Fuß dorthin. Xitu ausgenommen. Die Steinechsen und Grauwidder, die er erlegte, hielten den Clan am Leben. Damit erwies er ihm einen unschätzbaren Dienst. Dennoch durfte Xitu weder darauf hoffen, sein Nachfolger zu werden, noch der Zweite Mann. Ein Schwarzblut besaß Pflichten. Keine Rechte. Vookit hatte die Gesetze nicht geschaffen, doch er schuldete Xitu Dank. Ebenso seinen Töchtern Sahira und Tasati. Krank vor Sehnsucht nach Himmel und Weite hatten sie das Bild ihrer Heimat in die Felswand geschlagen.

Oh ja, sie waren Meisterinnen ihres Fachs. Ohne sie wäre sein Herz wüst und leer. Nur in dem Augenblick, wenn er ihre Werke betrachtete, erinnerte es sich an Freiheit und Stolz.

Und Hass. Auf den Mann, der sein Volk wegen seiner Habgier in den Staub geschleudert hatte. Rag. Er kümmerte sich einen Dreck, ob sie hier unten verreckten. Sein Blick richtete sich allein auf den eigenen Ruhm. Doch auch er konnte, eingesperrt wie eine Maus in der Falle, keine Siege erringen. Bevor das Elendslicht des Südens die Welt verseucht hatte, hatte Rag die Clans in zahllose Schlachten getrieben. Die Söhne der Ersten Männer waren zuhauf unter den Klingen der Grenzgänger gestorben.

Für Glaskelche und Seidenstoffe aus der blinkenden Stadt der Lichtschlürfer.

Tand!

Oder plante Rag, das Waldland mitsamt der Glasstadt zu unterwerfen?

Was wollte er im Wald? Was in der Wüste? Clankrieger gehörten zu den Felsen, zu den Schatten in den Schluchten, zu dem Wind über den Gipfeln. Rags Machtstreben hatte sie in die Tiefe gestopft wie Gewürm. Ohne seine maßlose Gier hätten die Lichten niemals den Großen Schutz errichtet.

Nichts gegen ein paar Überfälle auf die Waldleute. Ihre Grenzgänger wehrten sich tapfer. Ein Kampf mit ihnen brachte Ehre und Freude, aber zerbrechliche Gestalten abschlachten, durch die die Sonne wie durch ihre Glaswände schien? Zu schwach, um ein Schwert zu halten?

Es gab nichts Verwerflicheres.

Oh wie er sich nach einem guten Kampf sehnte! Wie sich seine Klinge danach verzehrte, in die Kehle eines würdigen Gegners zu dringen!

Rag wäre ein hervorragender Ersatz. Der Gedanke erschreckte ihn längst nicht mehr. Es lag weit zurück, als eine Handvoll Clans versucht hatten, Rag zu stürzen. Allen voran Merut, der Erste Mann eines der ältesten und einflussreichsten Clans. Ein besonnener Anführer und weise genug, um zu erkennen, dass die Zukunft Khatalahs nicht im sinnlosen Zerstören und Niederbrennen sämtlicher Nachbarländer lag.

Im Erobern schon. Oh ja! Auch im Plündern, doch ein kluger Herrscher gestand einem unterworfenen Volk die Möglichkeit der Genesung zu. Tot half niemand niemandem. Gegen wen sollte ein Clankrieger kämpfen, wenn seine Feinde zu Staub zerfielen?

Indem Rag Meruts Clan ausgelöscht und ihn in Stücke geschlagen hatte, war die Hoffnung auf ein neues Leben zerstört worden. Die meisten Ersten Männer wagten es nicht mehr, Merut nachzufolgen.

Diese Feiglinge! Sie krochen vor Rag im Dreck, sprangen auf sein Fingerschnippen hin.

Gehorsam. Das Wort schmeckte zu bitter, um es auszusprechen. Allein es zu denken, verätzte sein Hirn. Ein Khatalaher gehorchte nie. Nur die Ratten, die sich hinter Rags Rücken verkrochen, und die Schlächter, die er vor sich aufreihte. Sie geiferten nach seinem Wohlwollen und wähnten sich vor seinem Irrsinn in Sicherheit.

Vookit schmetterte die Faust gegen die Wand. Trüge er nicht die Verantwortung für einen Clan, hätte er sich diesem Monstrum längst mit gezücktem Dolch entgegengeworfen. Danach hätten ihn die verfluchten Speichellecker seinethalben in Stücke schneiden können, aber die Finsternis hatte ihm Kinder geschenkt. Sie verpflichteten einen Vater, der Zukunft die Hand zu reichen. Mochte sie auch krank und elend wie ein altes Weib daherschleichen.

Mit dem Finger zog er die in Stein gemeißelten Linien entlang. Er strich über Bergkämme und Klüfte, wagte sich jenseits der Grenzen, die er nie überschritten hatte. Bis weit in den Norden, wo das Meer mit jeder Welle versuchte, das Land zu verschlingen. Es existierten Gerüchte von riesigen Schiffen, die es mit dem Ozean aufnahmen. Die bis zum Ende der Welt segelten und darüber hinaus.

In Khatalah wuchsen nur dornige Büsche und windverzerrte Bäume. Zu wenig Holz, um ein Schiff zu bauen, das es mit dem Meer aufnehmen konnte.

Was lag hinter dem Horizont? Welche Schätze verbargen sich dort? Welche Völker warteten darauf, unterworfen zu werden?

Die Sehnsucht nach Freiheit und Kampf schmerzte ihm im Herzen.

Es war zu spät. Es gab kein Draußen mehr für ihn.

Bloß Dreck, Gestank und Fäulnis.

 

 

– Rag –

 

Keine Nachricht von der Verräterbrut. Waren seine Spione spontan erblindet?

Rag wanderte in der Galerie der Qualen auf und ab. Normalerweise inspirierte ihn dieser Ort. Inmitten der zerfallenden Überreste seiner Feinde flossen ihm Gedanken uferloser Grausamkeit zu.

Dicht an dicht hingen ausgewählte Exponate an Ketten von der Felswand. Nur die wenigsten von ihnen bargen einen erbärmlichen Rest Leben in sich. Bedauerlicherweise befand sich keines mehr in der Lage, sein Leid in Schreien zu artikulieren. Es wurde höchste Zeit für Nachschub, doch wo sollte er ihn hernehmen? Die illoyalen Clans hatte er eigenhändig ausgedünnt.

Was er brauchte, waren junge, starke Grenzgänger, die es wochenlang angekettet aushielten und brüllend vor Schmerz seinen Geist beflügelten, während sie Zeuge ihres langsamen Verfalls wurden. Zweifellos stellte es eine exquisite Herausforderung dar, den Duft der eigenen Verwesung bei jedem Atemzug zu inhalieren.

»Herr, einen Kelch Wein?« Sein Lakai bot ihm eines der Glasgefäße dar, die Rag einst von den Märkten des Steppenlandes geplündert hatte. Es war kaum halb voll.

»Dass du es wagst, mir diesen Klecks anzubieten!«

Der Lakai zuckte zusammen. »Verzeiht, Herr. Die Vorräte neigen sich dem Ende entgegen. Bedauerlicherweise sind alle Bastarde Eures Clans geflohen, die wir zum Plündern ins Grenzland hätten schicken können.« Ein klägliches Räuspern unterbrach den Redeschwall. »Wasser ist kein Problem. Es rinnt aus sämtlichen Ritzen. Aber Wein und Fleisch?« Hektisch schüttelte er den Kopf. »Da sieht es ganz schlecht aus.«

»Denkst du, das wäre mir entgangen?« Kein Clankrieger hielt es für die Dauer einer Jagd außerhalb der Felsen aus. Er hatte es versucht. Eine Handvoll tapferer Atemzüge lang. Nicht einmal eine Maus war ihm in dieser Zeitspanne über den Weg gelaufen.

»Auch die Holzkohlevorräte schrumpfen dramatisch, Herr.« Der Kerl duckte sich noch tiefer. »Ohne Handel mit dem Grenzland sind wir kältetechnisch aufgeschmissen. Wobei …«, zögernd hob er den Finger, »einen Vorteil hat die miserable Situation. Innerhalb des Grauen Horns ist es wärmer als an der Oberfläche. Dennoch würde ich den tröstenden Feuerschein schmerzlich vermissen. Zu viel Dunkelheit schlägt irgendwann aufs Gemüt.«

»Du bist verwöhnt!« Was sollte das sein, ein Gemüt? Er lebte seit Anbeginn der Zeit im Grauen Horn. Wozu mühsam Festungen errichten? Die Berge lieferten, was er benötigte. Es genügte vollkommen, ein paar Tunnel und Höhlen hineinzuschlagen.

Obschon es einen Unterschied darstellte, ob die Höhlen Schutz boten oder einsperrten.

Bei allen Finsternissen! Er wollte raus!

Rag ballte die Fäuste.

Der Lakai sprang quiekend zurück. »Gnade, Herr! Ich komme lediglich meiner Pflicht nach, Euch über die deprimierende Aussichtslosigkeit der Lage zu unterrichten!«

»Schweig!«

Ein Rauschen in der Luft. Flügelschläge.

Endlich! Er unterdrückte den Wunsch, seinen gefiederten Spion zu rupfen. Allein zur Strafe, dass er ihn hatte warten lassen.

Der Vogel schwebte durch einen der Luftschächte, zog einen Kreis über den zerfallenden Kadavern und ließ sich auf seinem Unterarm nieder.

Rag drang in die flatterhafte Seele, stöberte in den Erinnerungen.

Ein Reiter. Fahles Haar, ein silberner Mantel. Ein Mädchen saß hinter ihm. Bis obenhin erfüllt von Hass auf ihren Begleiter.

Das Schattenlichtkind.

Der Wanderer hatte sie verschleppt?

»Verflucht sollen sie sein!« Er brüllte seine Wut der Kreatur entgegen, die bebend vor Angst vor ihm kauerte. Da sie es nicht wagte, sich vor ihm zu retten, floh stattdessen der Vogel.

»Herr«, wimmerte das Wesen, das längst aufgehört hatte, einem ehrenhaften Clan anzugehören. »Ich bin nicht einmal der Überbringer der schlechten Nachricht. Schießt den Vogel ab, aber gewährt meinem Dasein noch ein paar qualfreie Augenblicke!«

Erbärmlich, wie sich ein schnöder Verrat auf den Charakter auswirkte.

Rag griff in einen Knochenhaufen, packte einen Schädel und schleuderte ihn einen Fingerbreit neben dem Kopf des Lakaien an die Wand.

Wut ließ sich allein durch Taten zähmen.

»Sie haben es gewagt, mir meinen Trumpf zu stehlen! Diese widerlichen Heuchler wollen das Mädchen für sich!« Erneut flog ein Schädel. Diesmal traf er den Lakaien in den Bauch und zersprang in staubige Einzelteile.

Keuchend klappte der zusammen. »Danke Herr, dass ihr einen morschen nahmt.« Zittrig machte er sich daran, die Stücke aufzusammeln.

Rag riss die Verankerung zweier Ketten samt Inhalt aus dem Felsen. Die Knochen zersplitterten in seiner Faust. »Die Wanderer fürchten um ihr Spielzeug, um ihre Marionetten! Das sollen sie auch! Zerschmettern werde ich die Glasstadt! Werde sie dem Erdboden gleichmachen und dann auf ihre heiligen Scherben pissen!« In seinem vorgezogenen Siegesrausch drehte er sich um sich selbst und gab sich den köstlichsten Zukunftsvisionen hin. Sie hatten alle etwas mit zerfetzten Körpern kreischender Lichten zu tun.

»Herr«, flirrte ein erbärmliches Stimmchen. »Verzeiht meine mangelnde Zuversicht, aber wie wollt ihr mit den Clans bis zu den heiligen Scherben der Lichten gelangen? Vom Pissen ganz abgesehen. Irre ich mich, oder gab es nicht einen triftigen Grund, dass wir uns seit Jahren hier unten verkriechen?«

Er schleuderte den Unwürdigen in einen der zahlreichen Knochenhaufen.

»Danke für diese Lektion in Achtsamkeit, Meister«, nuschelte der Lakai und versuchte, seine Hand zwischen den Rippen eines Verwesenden herauszuziehen. »Ich werde mich bemühen …«

Mit einem gellenden Pfiff brachte er den Wurm zum Schweigen.

Der geflügelte Bote gehorchte dem Ruf, nahm dieses Mal auf Rags Schulter Platz.

Erneut drang er in die Vogelseele.

Eine Reise in Gefangenschaft, stets gen Süden. Ein seltsames Gebaren des Mädchens, ein nervlich zerrüttetes Fahlgesicht. Zwar vermochte er lediglich aus der Distanz heraus die Szenen zu beobachten, doch ein schreiender Wanderer sprach für sich.

Eine Senke, Nacht. Ein Schatten am oberen Rand, langes Haar, ein blasses Gesicht.

Cordic! Nahe am Steppenland? So dicht an dem fressenden Licht? Alles nur, um das Schattenlichtmädchen zu befreien? Was für ein wackerer Bursche!

»Du irrst.« Die Nachrichten waren hervorragend. Das Mädchen würde zu ihm finden. Dafür sorgte der Sohn des Verräters.

Welch weise Tat, ihn damals an den Eid gebunden zu haben. Cordic würde weder rasten noch ruhen, bis er ihm den Preis für seine Freiheit vor den Thron geschleppt hätte.

»Ich werde die Clans zu mir rufen. Es wird sein wie früher. Die Residenzhöhle wird sich bis zum Bersten mit Kriegern füllen. Sie werden geifern nach Kampf und Meuchelmorden!« Ein Fest! Ein Schlachtfest!

Etwas räusperte sich verhalten. Als er sich danach umdrehte, hätte er beinahe auf seinen Diener getreten. Schnell zog der den Kopf unter dem Fuß hervor.

»Oh weisester sämtlicher Kriegsführer!«

Im Anbiedern war der Kerl herausragend.

»Niemand ahnt, wie viele Krieger das einst glorreiche Felsenreich noch beherbergt. Die, die es wie Ihr wagten, dem alles verzehrenden Licht zumindest unter dem Fels zu trotzen, haben sich durch Fehden und Duelle aufgerieben und drastisch dezimiert.« Er schluckte trocken. »Diejenigen, die Ihr dezimiert habt, ausgenommen.«

»Was soll das heißen?«

»Herr, eventuell ist die Gefahr des Berstens nicht ansatzweise gegeben.«

Welch diffuses Gebrabbel.

»Du willst mir damit sagen, es sind zu wenig Männer übrig, die ich in die Schlacht führen kann?«

Der Lakai nickte zögernd. »Es reicht für ein üppiges Scharmützel, vielleicht für einen ausgedehnten Kampf. Doch von einer Schlacht würde ich dringend abraten. Sollte Nehrit sämtliche Horden aufbieten, sieht es düster für uns aus.«

Bei allen Finsternissen! »Ein neues Gesetz!« Streng genommen war es das erste. »Keine Morde, keine Totschläge mehr. Ich brauche jeden einzelnen Mann!«

»Was ist mit den Frauen?« Nervös drehte der Wurm die strohige Haarsträhne eines längst verblichenen Grenzgängers um den knotigen Finger. »Die wären einer kleinen Ablenkung vom Alltagstrott sicher ebenfalls gewogen.«

»Gut, die auch.« Er wollte khatalahische Wogen über das Waldland schwappen sehen.

»Herr, auf ein Wort.« Der Lakai wagte es, zittrig den mahnenden Zeigefinger zu heben. »Ruft Ihr die Clans zusammen, werden sie erwarten, dass Ihr, Listigster der Kriegskunst, einen Plan zur Zerstörung des Großen Schutzes vorweisen könnt. Doch noch existiert keiner, oder bin ich fehlinformiert?«

Rag ballte die Fäuste, was dem Lakaien erneut ein Quieken entlockte.

»Wir warten.« Er lauschte dem Knirschen seiner Zähne. »Bis dahin visioniere ich Fülle in der Residenzhöhle.« Erst wenn sich die Krieger in seiner Fantasie darin stapelten, gäbe er sich zufrieden.

 

 

– Fiona –

 

Licht und Schatten traten aus dem Nichts.

Sie umschlangen einander, liebten sich.

Aus ihrer Mitte heraus wurde ein Vogel geboren.

Die Schwingen aus Freiheit, die Krallen aus Gier.

Er legte ein Ei und gebot dem Wind, es auszubrüten.

Der spielte damit, ließ es fallen.

Ein Traum fing es auf. Umschlang und hütete es.

Bis es in der Mitte zersprang.

Zwei Brüder entstiegen den Scherben.

Der eine trank Schatten, der andere Licht.

Sie fingen den Wind ein,

zur Strafe für seine Unachtsamkeit.

Seine Tränen schwemmten das Leben aus dem Nichts,

seine Klagerufe weckten den ungeborenen Tod.

 

Jemand hielt sie im Arm, sang mit leiser Stimme. Nachtblaue Augen, schwarzes Seidenhaar.

Warum war sie klein und er so groß?

Sein Name. Sie hatte ihn vergessen.

Ein Ziehen in ihrem Herz. Es löste sich auf. Zusammen mit dem Mann, zusammen mit dem letzten Ton der schwermütigen Melodie.

Wie Nebel. Er ließ nichts zurück. Nur Leere.

Langsam kroch sie in Fiona hinein, füllte sie aus. Sie stahl den Erinnerungen die Farbe, den Träumen das Gefühl. Bis alles verschwand, was jemals zu ihrem Leben gehört hatte. Sie rief Namen ohne Gesichter. Sie waren leer wie der Ort in ihrem Herz. Früher war es übergequollen. Vor Freude, Wut, Angst, Stolz, einem glitzernden Sehnen, dessen Bezeichnung sie vergessen hatte.

Nichts mehr. Selbst die Zeit verrann im Nirgendwo.

Oder blieb sie stehen?

Fort, als hätte sie es nie gegeben. Wie ihre Stimme. Kein Ton entkam ihren Lippen.

Ewigkeiten in Einsamkeit. Kein Geräusch. Keine Farben.

Absolut allein.

Sie versuchte, ihre Gedanken festzuhalten. Das Letzte, was sie an sich selbst erinnerte. Einer nach dem anderen glitt davon. Bis auf einen.

Sich aufzugeben.

Ein schwaches Echo eines vertrauten Gefühls. Angst.

Sie opferte es für ein winziges Lebenszeichen. Für die Ahnung eines Daseins außer ihrem.

Das Nichts verschlang ihr Schluchzen, noch bevor es die Kehle verließ.

Sie versuchte zu schreien, in die Hände zu klatschen, irgendetwas zu tun, um irgendetwas zu erzeugen.

Vergebens. Sie hatte die blasse Angst umsonst verschwendet.

Es ergab keinen Sinn. Nichts ergab Sinn.

Sich in der Leere auflösen.

Keine Entscheidung. Eine Notwendigkeit.

Ohne ein Du brauchte sie ihr Ich nicht mehr.

Der letzte Gedanke.

Sie ließ ihn ziehen.

 

 

– Ahfid –

 

»Sie töten sie!« Jemand packte ihn an den Schultern, rüttelte ihn. »Wach auf! Sie bringen Fiona um!«

Er tastete nach seinem Schwert, griff stattdessen in seidige Haare.

»Sie schwindet.« Cordic starrte ihn an, ein unheimliches Flackern im Blick. »Diese verfluchten Wanderer vernichten sie!«

»Beruhige dich.« Er versuchte, sich von den Händen zu befreien, die ständig an ihm schüttelten.

Cordic hockte vor ihm, bleich, mit schreckensweiten Augen. »Ahfid, sie löschen Fiona aus.«

»Hast du Fieber?« Er wollte seine Stirn fühlen.

Cordic schlug ihm die Hand weg. »Ich habe gesehen, wie sie stirbt!« Er bebte am ganzen Körper.

»Was ist los?« Veta blinzelte verschlafen zu ihnen herüber. »Noch ein Drama?«

»Cordic halluziniert. Tu was dagegen. Der macht mir Angst!«

Seufzend rappelte sie sich auf und kam zu ihnen. »Lass mal sehen, Clanmann.« Sie drückte ihm die Hand auf die Stirn, wischte seine aus dem Weg, die sie daran zu hindern versuchte. »Bis auf die Tatsache, dass er außer sich ist, scheint er für die gegebenen Umstände in Ordnung zu sein.«

»Schau ihn dir an! Sieht so einer aus, der in Ordnung ist?« Das Weib war blind und taub!

»Hm.« Gähnend zog sie Cordics Augenlid nach unten, starrte auf rote Äderchen. »Streck die Zunge raus.«

»Einen Dreck werde ich!« Er stieß sie zurück. »Hilf nicht mir, hilf Fiona!«

»Kein Fieber«, stellte sie gelassen fest. »Dafür fast wahnsinnig vor Sorge um dieses Mädchen.« Ihr Schulterzucken wirkte resigniert. »Wir werden Ruhe bewahren. Das ist immer gut.«

Wie sollte er angesichts des aufgelösten Mannes vor ihm Ruhe bewahren?

»Ahfid, bitte!« Cordic krallte sich erneut an seine Schultern. »Du musst mir glauben!«

»Wie kommst du auf die Idee, Fiona könnte sterben?« Was für ein entsetzlicher Gedanke!

»Ich sah es in einem Traum.« Er ließ ab von ihm. »Sie haben sie an einen furchtbaren Ort gebracht. Kein Ausgang, keine Hoffnung. Dort ist …« Er sah ihn mit einer Verzweiflung an, die Ahfid tief ins Innere drang. »… nichts!«

»Nichts?«

»Gar nichts!«

»Leise!« Cordics Brüllen ging ihm durch Mark und Bein. »Du hetzt uns Wesen auf den Hals, die uns garantiert an einen Ort ohne Ausgang schleppen.«

»Wir müssen etwas unternehmen, die lassen sie sterben!« Erneut rüttelte Cordic an ihm.

»Hör auf, mir das Hirn rauszuschleudern!«

Nur ein verrückter Traum. Ihm fiel ein Stein vom Herzen.

»Bitte glaub mir«, flehte Cordic. »Da ist ein Ort ohne Grenzen, ohne Leben, ohne irgendetwas. Sie wird den Geist aufgeben. Sie kann nicht allein sein, nicht in dieser ewigen Einsamkeit ohne Hoffnung.«

»Das kling ja entsetzlich«, wisperte Veta. »Vielleicht hat das Fieber einen bleibenden Schaden angerichtet.«

»Du hast gesagt, er hätte keines!«

»Das, was ihn im Süden heimgesucht hat, du Dummkopf!«

Richtig, das hatte er vergessen.

Verdammt, ein Nachtfresser war schlimm genug. Ein irrer Nachtfresser glich einem Verhängnis.

Cordic wollte erneut nach ihm greifen.

Ahfid hielt ihn zurück. »Ganz ruhig. Sie liegt uns allen am Herzen.«

Cordics Blick flackerte. Er schüttelte wild den Kopf, versuchte, sich zu befreien.

Er packte ihn fester. »Du verzweifelst an einer Einbildung.«

»Ich kenne sie! Ich spürte ihre Seele in meiner!« Er riss sich los, verbarg das Gesicht hinter den Fingern. »Sie werden ihre Flügel brechen. Und es ist meine Schuld!« Er kauerte sich zusammen, schluchzte.

Beim Grün der ewigen Wälder! »Veta, was passiert mit ihm?«

»Etwas Schlimmes.« Behutsam zog sie Cordics Hände hinunter, wartete, bis sein Blick ihren fand. »In meinem Leben lud ich viele Seelen zu mir ein und ich bin ebenfalls Einladungen gefolgt. Doch ich erlebte nie, dass man so eng verbunden bleibt. Es ist unmöglich, zu fühlen, was Fiona fühlt, solange ihre Seele fern von deiner ist.«

Cordics Augen wurden schmal. »Und dennoch ist es so. Sie verzweifelt. Ich weiß es.«

»Im Moment bist du es, der verzweifelt. Das Mädchen scheint dir eine Menge zu bedeuten.«

Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen. Cordic sorgte sich nicht um Fiona. Er sorgte sich allein um sich selbst. »Du regst dich auf, weil dein Tauschgeschäft mit Rag geplatzt ist.« Wie erbärmlich!

Veta schnappte nach Luft »Du hattst vor, sie an Rag auszuliefern?«

»Nein!« Stöhnend raufte sich Cordic die Haare. »Ich wollte sie finden, bevor sie da landet, wo sie jetzt ist. Ihr müsst mir vertrauen!«

Ahfid rang um Fassung. Er kannte ihn. Besser als jeder andere. Bisher hatte ihn der Clankrieger nie belogen.

»Lun hat mich, deinen einzigen Freund, glauben lassen, dass du uns verraten hast und Fiona der Preis für deine Freiheit ist.« Die Knochen würde er dem Wanderer brechen.

»Das wollte ich auch, anfangs.«

Oh dieser heuchlerische Nachtfresser! Er würde ihm die Falschheit aus dem Leib prügeln!

»Warte!« Cordic hob schützend die Hände. »Rag hat mich den Eid schwören lassen.«

Nein. Niemals. Für einen Augenblick hörte er nur das Rauschen in seinen Ohren.

»Er hat mich bei Feuer und Blut schwören lassen, sie zu ihm zu bringen.« Zitternde Finger gruben sich in schwarzes Haar. »Ich konnte es nicht verhindern. Ich konnte es einfach nicht! Nach der Verbindung mit ihm war ich …«

»Nicht mehr du selbst.« Eine Seelenverbindung mit dem Herrscher über Chaos und Finsternis.

Ein eisiger Schauder jagte ihm den Rücken hinab.

»Diesen Eid darf man nicht schwören.« Veta erblasste. »Es gibt Geschichten darüber, dass, wenn man ihn bricht …«

»Sie sind wahr.« Cordic sah sie ausdruckslos an. »Fiona hat mich in ihren Träumen brennen sehen. Sie ahnte nicht, dass ich es bin. Aber ich weiß es.«

Seine Knie verloren sämtliche Kraft.

»Der Preis für den Verrat war meine Freiheit.« Cordic sah in die Dunkelheit, als wartete dort sein Peiniger auf ihn. »Er versprach, nie wieder meine Seele oder meinen Körper unter seinen Willen zu zwingen.«

»Was meinst du mit versprochen?« Veta senkte die Lider. »Hat er dir das geschworen?«

Ein bitteres Grinsen verwandelte sein Gesicht in eine Fratze. »Ja, hat er. Aber das hilft weder Fiona noch mir. Bevor es zu seinem Eidbruch auch nur kommen könnte, muss ich meinen einhalten.«

»Und jetzt?« Er würde nicht tatenlos mitansehen, wie Cordic einem archaischen, durch und durch grausamen Bann zum Opfer fiel.

»Ich weiß es nicht.« Erneut krallten sich zittrige Finger in schwarzes Haar. »Sie gehört zu meinem Volk und …«

»Schwachsinn!« Veta sprang auf, starrte ihn hasserfüllt an. »Tu nicht so, als ob dir Bastarde etwas bedeuteten!« Sie ballte die Fäuste. »Dein Volk! Wenn ich das höre, will ich kotzen! Dein Volk zerfleischt sich selbst, oder hast du das vergessen?«

»Halt den Mund!« Ahnte diese Frau nicht, auf welch dünnem Eis sie sich bewegte?

Zu spät. Veta wich vor Cordic zurück, bis sie mit dem Rücken gegen Ahfid prallte.

Es wunderte ihn nicht. Den abgrundtiefen Blick, der die Seele aufriss und sie mit Leid flutete, hatte er selbst bereits ertragen müssen.

»Ich weiß genau, wozu mein Volk fähig ist.« Cordic sprach leise, doch seine Stimme zerschnitt die Luft. »Wage es nicht, mich zu belehren, Schwarzblut!« Er erhob sich, taumelte in die Dunkelheit.

»Schweigen ist eine Tugend.« Ahfid drückte sie von sich.

»Schweigen versteckt Dinge in den Schatten, die ans Tageslicht gehören.« Sie fuhr herum, schleuderte sich eine rote Strähne aus dem Gesicht. »Es zerbricht die Opfer und lässt die Täter ungeschoren davonkommen!«

»Hin und wieder behütet es einfach den Frieden. Ganz undramatisch.«

»Was ist er? Opfer oder Täter?«

»Es ist kompliziert.« So wie alles in Cordics Leben.

»Das Mädchen ist eng mit ihm verbunden. Warum?«

Eine gute Frage. Die meiste Zeit ihrer gemeinsamen Reise hatte Cordic nur Spottworte für Fiona übrig gehabt. Fiona hingegen war wegen ihm zwischen Wutanfall und Resignation hin und her gestolpert. Ihre Klagen darüber lagen ihm jetzt noch im Ohr.

Veta setzte sich ans Feuer, legte Reisig nach. »Die Nacht währt lang. Los. Erzähle.«

»Wie du willst.« Er nahm dicht neben ihr Platz, allein wegen der Kälte. »Er half bei ihrer Geburt, hielt sie als Erster im Arm. Das verbindet.«

»Da ist mehr.«

»Hoffentlich nicht.« Die Situation war verworren genug.

Er zog die Beine näher zum Körper. Welch verflucht eisige Nacht. Kehrte Cordic nicht bald zurück, würde er ihn suchen müssen. Er war zu klapprig, um es mit dem Frost aufzunehmen.

In der Zeit vor dem Südlicht hätte er über die Kälte gelacht.

»In seinem Blick lag etwas, das wichtiger war als die Wärme des Feuers in einer Winternacht.« Veta sah in die Richtung, in die Cordic verschwunden war. »Eben starb er mir beinahe unter den Händen weg, und nun schwankt er allein zwischen den Felsen herum. Und das, nachdem er mir fast an die Kehle gegangen wäre.«

»Der braucht das manchmal.«

»Das einsame Umherschwanken oder das an die Kehle gehen?«

»Beides. Außerdem hast du dir das selbst zuzuschreiben.« Niemand bohrte ungestraft in Cordics zahlreichen Wunden.

»Es gibt eine Menge, das ich mir selbst zuzuschreiben habe.« Sie hauchte in ihre Hände.

Kein Zweifel, sie fror in ihrem zu dünnen Kleid. Es betonte ihre Figur. Jede Rundung saß an der richtigen Stelle und lud seine Finger ein, sacht darüberzustreichen.

Er schloss die Augen. Das Bild schien ihm durch die Lider zu flimmern. Zwecklos, es zu leugnen. Die Nähe dieses Schwarzbluts machte ihn nervös. Veta war bildschön. Daran änderte auch die Falte zwischen ihren Brauen nichts.

Wann war er das letzte Mal einer Frau so nah gewesen? Jetsuba und Fiona ausgenommen. Die eine war eine Greisin, die andere ein Küken.

»Was ist mit dir?« Sie neigte den Kopf. Durch ihre Haare schimmerte das Feuer, ließ sie in sattem Rot aufglühen. »Du siehst traurig aus.«

»Das täuscht.« Einsam. Das traf es am besten. Lästig, dass es ihm jetzt einfallen musste.

»Dann kannst du besser lügen als ich.«

»Die Freundschaft zu Cordic hinterlässt Spuren.« Manche drangen tiefer, als ihm lieb war.

»Das glaube ich dir aufs Wort. Dennoch mache ich mir Sorgen um das Wespennest, in das ich bei ihm getreten bin.«

»Davon hortet er einige. Es erfordert Geschick und Können, um sie herum zu balancieren.«

»Erzähl mir, was mit deinem Freund los ist.« Veta rückte näher an ihn heran. »Vorher versprich mir, dass das Leben einen Sinn hat und nicht nur aus Wespennestern besteht.«

»Das Leben ist ein Wespennest. Sinn ergibt es trotzdem. Auch wenn keiner weiß, welchen.« Wie von allein legte sich sein Arm um sie.

Was, bei allen Finsternissen, dachte er sich dabei?

Er wollte den Arm zurückziehen, doch der gehorchte ihm nicht.

»Ich weiß, dass er Meruts Sohn ist, und ich kenne seinen zweifelhaften Ruf unter den Grenzgängern.« Sie schmiegte ihren Lockenkopf an seine Schulter. »Aber ich weiß nicht, warum er an der Seite seiner Feinde gegen sein eigenes Volk kämpft.«

Ein würziger Duft stieg ihm in die Nase. Betörend. Unwillkürlich atmete er tief ein.

»Erzähl mir sein Geheimnis.«

So weiches Haar. Es kringelte sich um seine Finger.

»Hey, ich rede mit dir!« Sie stieß ihn in die Seite.

»Ein Geheimnis?« Es existierte keines. Jeder in Nehrits Horde kannte Cordics Schicksal. Wie ein Lauffeuer hatten sich die Gerüchte damals verbreitet. Leider entsprachen sie den Tatsachen. »Er ist bei uns gelandet, eben weil er Meruts Sohn ist.« Als Cordic noch ein Kind gewesen war, bezichtigte Rag Merut des Verrats und tötete ihn auf grausamste Weise.

»Wegen des Verrats seines Vaters?«

Er nickte.

»Geh ins Detail. Ich kenne nur Gerüchte.«

»Er wird mich lynchen, wenn ich seine Lebensgeschichte vor dir ausbreite.« Aber erst, nachdem er ihn derb verdroschen hatte.

»Riskier es.« Sie strich ihm über die Schulter bis zum Nacken, massierte ihn sanft. »Du willst meine Nähe und ich will diese Geschichte. Wir tauschen.«

»Wer sagt, dass ich deine Nähe will?« Ihre Berührung fühlte sich wundervoll an.

»Dein Blick.«

Ihr Lächeln floss ihm tief in den Leib.

Er schloss die Lider, genoss das lange vermisste Gefühl. Sollte ihn Cordic lynchen. Es war gleichgültig, solange Veta in seinem Arm blieb.

»Merut hatte Rag herausgefordert. Viele Clans scharten sich um ihn und waren bereit, an seiner Seite für eine bessere Zukunft zu kämpfen.«

»Dann war Merut kein Verräter, sondern ein Revolutionär.« Sacht kreisten ihre Fingerkuppen in seinem Nacken.

»Das wird für Rag dasselbe gewesen sein. Er ermordete jeden aus Meruts Clan. Männer, Frauen und Kinder.«

»Bis auf Cordic.«

»Ein Vertrauter Meruts brachte ihn ins Grenzland und bat Nehrit, sich seiner anzunehmen.« Er erinnerte sich noch lebhaft daran, wie der Alte getobt hatte. »Für ein paar Jahre war Cordic bei uns sicher. Obwohl ihn Rag überall suchen ließ, kam er nicht auf die Idee, dass ihn Merut inmitten der Feinde versteckt hatte.«

»Und warum seid ihr befreundet?«

Es tat so gut, ihre Wärme in dieser kalten Nacht zu spüren.

»Ein Grenzgänger und ein Clankrieger.« Sie schnaubte. »Das ist schlimmer, als Hund und Katze zusammen in einen Sack zu stecken.«

So hatte sich ihre Freundschaft oft genug angefühlt.

»Er rettete mein Leben. Damals gehörte er noch nicht zu Nehrits Horden, sondern streifte mit einer Rotte khatalahischer Späher durchs Grenzland. Nur ein junger Kerl, der nicht mit ansehen wollte, wie einer seiner Feinde zu Tode geprügelt wurde.« Cordic hatte tatsächlich Clankrieger herausgefordert und damit sein eigenes Leben für ihn riskiert. »Später, nach seiner Flucht aus Khatalah, wurde er zuerst mein Knappe, dann mein Kampfgefährte und schließlich mein Freund. Bis er eines Tages in Rags Kerkern landete. Für zwölf lange Jahre.« Nie würde er den Anblick vergessen, als er ihn zusammengesunken und ausgemergelt hinter den schmierigen Gitterstäben gefunden hatte. Cordic hatte ihn für eine Vision gehalten. Ahfid war es schwergefallen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, und noch schwerer, ihn durch die endlosen Gänge zu schleppen. Cordic war nicht mehr in der Lage gewesen, auch nur einen Schritt vor den anderen zu setzen.

Lun hatte ihnen damals geholfen. Widerwillig, aber erfolgreich.

»Wer von euch verriet ihn?«

Ihre Frage kränkte ihn. »Auch wenn er in Nehrits Horde nicht viele Freunde besaß, niemand von uns hätte ihn verraten.« Ein Grenzgänger zu sein, hatte etwas mit Ehre zu tun. »Ein paar khatalahische Späher entdeckten ihn. Das war reiner Zufall.« Auf welche Weise sie wohl von Rag belohnt worden waren? Nein, er wollte die Antwort nicht wissen.

»Glaub es, wenn du willst.« Sie zitterte. »Meiner Erfahrung nach ist Zufall nur ein anderes Wort für Schicksal.«

»Du frierst.« Er legte den Mantel um sie, zog sie dichter in seinen Arm.