Das schwarze Herz des Winters – Unforgiving - Emily A. Duncan - E-Book

Das schwarze Herz des Winters – Unforgiving E-Book

Emily A. Duncan

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Beschreibung

»Freu dich auf einen Dark-Fantasy-Roman voller tief in Blut und Verrat getauchter Magie, in dem das Spiel um Macht und Göttlichkeit immer dramatischer wird.« - Kirkus Nadya hat die Stimmen ihrer Götter verloren. Serefin hört wispernde Stimmen in der Dunkelheit. Und Malachiasz muss jene Stimmen um jeden Preis finden ... Doch die Stimmen verfolgen ein eigenes grausames Ziel – und die Schicksale der drei sind unwiderruflich damit verflochten. In ihrer atemlosen Fantasy-Reihe »Das schwarze Herz des Winters« zeichnet Emily A. Duncan eine eisige, finstere Welt, in der Stimmen aus den Schatten flüstern und niemand ist, was er zu sein scheint.

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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Regina Jooß

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Ruthless Gods«, Wednesday Books, New York 2020

Copyright © 2020 Emily A. Duncan

First published by Wednesday Books

Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency

All Rights Reserved

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2022

Karte: Rhys Davies

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Guter Punkt, München, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von GettyImages

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Karte

Prolog

DAS MÄDCHEN, GEFANGEN IM INNERN

1

SEREFIN MELESKI

2

NADEZHDA LAPTEVA

Zwischenspiel I

DER SCHWARZE GEIER

3

SEREFIN MELESKI

4

NADEZHDA LAPTEVA

Zwischenspiel II

MALACHIASZ CZECHOWICZ

5

SEREFIN MELESKI

6

NADEZHDA LAPTEVA

7

SEREFIN MELESKI

NADEZHDA LAPTEVA

8

SEREFIN MELESKI

9

NADEZHDA LAPTEVA

10

SEREFIN MELESKI

11

NADEZHDA LAPTEVA

12

NADEZHDA LAPTEVA

13

SEREFIN MELESKI

Zwischenspiel III

DER SCHWARZE GEIER

14

NADEZHDA LAPTEVA

15

SEREFIN MELESKI

16

NADEZHDA LAPTEVA

PARIJAHAN SIROOSI

NADEZHDA LAPTEVA

17

SEREFIN MELESKI

18

NADEZHDA LAPTEVA

19

SEREFIN MELESKI

20

NADEZHDA LAPTEVA

21

SEREFIN MELESKI

22

NADEZHDA LAPTEVA

Zwischenspiel IV

ZAREWNA YEKATERINA VODYANOVA

23

NADEZHDA LAPTEVA

24

SEREFIN MELESKI

25

NADEZHDA LAPTEVA

26

SEREFIN MELESKI

27

NADEZHDA LAPTEVA

28

NADEZHDA LAPTEVA

29

SEREFIN MELESKI

30

NADEZHDA LAPTEVA

Zwischenspiel V

PARIJAHAN SIROOSI

Zwischenspiel VI

ZAREWNA YEKATERINA VODYANOVA

31

NADEZHDA LAPTEVA

32

SEREFIN MELESKI

33

NADEZHDA LAPTEVA

34

SEREFIN MELESKI

35

NADEZHDA LAPTEVA

Zwischenspiel VII

ZAREWNA YEKATERINA VODYANOVA

36

NADEZHDA LAPTEVA

SEREFIN MELESKI

37

NADEZHDA LAPTEVA

SEREFIN MELESKI

Zwischenspiel VIII

KACPER NEIBORSKI

PARIJAHAN SIROOSI

38

NADEZHDA LAPTEVA

SEREFIN MELESKI

39

NADEZHDA LAPTEVA

40

NADEZHDA LAPTEVA

SEREFIN MELESKI

41

NADEZHDA LAPTEVA

42

SEREFIN MELESKI

43

NADEZHDA LAPTEVA

44

SEREFIN MELESKI

Epilog

DER JUNGE, VERLOREN IN DER DUNKELHEIT

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für die Sonderlinge.

Und für meine Brüder Noah und Ian.

Prolog

DAS MÄDCHEN, GEFANGEN IM INNERN

Alles war Dunkelheit. Gewaltig, kalt und doch lebendig wie ein Wesen. Sie konnte fühlen, wie dieses Wesen atmete, sich bewegte, wie es etwas von ihr begehrte. Nichts konnte es davon abhalten, sie zu verschlingen.

Ihre Arme waren an eine Steinplatte gefesselt – es gab kein Entkommen von diesem fremdartigen Ort. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie mit dem Kämpfen aufgehört hatte. Doch die echte Angst – das brandheiße Entsetzen, das sie zu zerreißen drohte – bestand darin, dass sie nicht wusste, wer sie war.

»Das kommt zurück.« Eine sanfte, ruhige Stimme wand sich um sie, die Hand auf ihrem Haar berührte sie sacht, nicht wie all die anderen, die hart und grausam gewesen waren. »Wisse, man wird dir eine Sache erlauben. Sie wird dir zurückgegeben, wenn die Verwandlung vollendet ist. Allerdings nicht, ehe sie den Geschmack von bitterem Wein annimmt, den du zugleich ersehnst und verabscheust. Wenn du für diese Sache töten würdest, sie aber auch dich töten wird, sobald du sie erlangst, erst dann wird sie dir wiedergegeben.«

Sie verzehrte sich nach der Stimme. Sie war ihr fürchterlich vertraut. Sie war Knochen und Gold und Blut, so viel Blut. Ein Junge mit einem Thron und ein Junge, der nach einem anderen Thron griff, und ein Mädchen mit schneeweißen Haaren, nirgendwo zugehörig.

Doch nichts von all dem war hier wichtig.

Die Dunkelheit kroch ihr unter die Haut. Breitete sich in ihr aus, richtete sich in ihren Knochen ein und floss durch ihre Adern, riss sie in Stücke und formte sie zu etwas Neuem, etwas Anderem.

Hätte sie schreien können, so hätte sie geschrien. Hätte sie kämpfen können, so hätte sie gekämpft.

Doch sie vermochte nichts davon.

Sie konnte nur ihr Schicksal erleiden.

Es gab nur die Dunkelheit, die sich so weit erstreckte, dass sie sich fragte, ob sie sich das alles eingebildet hatte. Es hatte niemals eine Stimme gegeben. Es hatte niemals eine sanfte Hand auf ihrem Haar gegeben. Es gab nichts, nichts außer dieser Dunkelheit.

1

SEREFIN MELESKI

Eine Viper, eine Gruft, eine Täuschung des Lichts: Velyos greift immer nach allem, was ihm nicht gehört.

Die Briefe des Włodzimierz

Serefin Meleski hauste in dem Streifen der Nacht, der reif war für Verrat. Es war eine Zeit, in der Dolche gezückt, in der Pläne geschmiedet und ausgeführt wurden. Es war eine Zeit für Monster.

Er war mit diesen Stunden sehr vertraut, aber selbst die Kenntnis des Unvermeidlichen genügte nicht, um es weniger schmerzhaft zu machen. Es war nicht so, dass er die Nächte wach blieb, weil er eine weitere Tragödie erwartete.

Nein, er blieb wach, weil es einfacher war, bis zur Bewusstlosigkeit zu trinken, als sich den Albträumen zu stellen.

Also war er wach, als sich Kacper in seine Räumlichkeiten schlich. Offenbar wollte er ihn wecken, war aber wohl auch nicht sonderlich überrascht, als er Serefin auf der Polsterbank im großen Gemach vorfand: liegend, mit einem Bein auf dem Boden und dem anderen über der Rückenlehne. Ein leeres Glas stand am Boden in Reichweite und ein Buch lag mit den Seiten nach unten über der Armlehne, während er über dieselben Bilder nachgrübelte wie schon in den letzten vier Monaten: Träume von Motten, Blut und Monstern.

Schrecken an den Rändern seines Bewusstseins und diese Stimme. Die dünne Stimme – wie ein Pfeifen im Schilf –, die von einem Ort hinter dem Tod auf ihn einstach. Ihr sirrender Gesang verstummte nie. Die fremdartigen Melodien summten unablässig in seinen Adern.

»Jeglichen Ärger hast du dir selbst eingebrockt«, zischte die Stimme.

Er versuchte, sie zu überhören.

»Wer ist es?«, fragte er Kacper. Die Krone aus gehämmertem Eisen war ihm schon längst auf den Kopf gesetzt, eine seiner Handfläche aufgeschnitten und sein Blut auf einem Altar verteilt worden, als er zum König von Tranavia ausgerufen worden war: Sein Niedergang nahte. Die Adeligen hatten ihn noch nie gemocht, nicht als Kronprinz und erst recht nicht nach seiner Krönung. Das Was oder Wie hatte nie infrage gestanden, sondern nur wer als Erster so viel Mut aufbrächte, zuzuschlagen.

Er hatte das böswillige Geflüster weiter geduldet und immer wieder aufgeschoben, schlüssig zu erklären, wie sein Vater gestorben war. Er forderte das Schicksal heraus. Tranavische Staatsgeschäfte waren schmutzig. Sehr schmutzig.

»Es findet gerade ein Geheimtreffen statt«, antwortete Kacper mit leiser Stimme.

Serefin nickte, ohne sich aufzusetzen. Er hätte das von den slavhki, die seinen Vater unterstützt hatten, auch kaum anders erwartet.

»Ksęszi Ruminski ist beteiligt«, fuhr Kacper fort.

Serefin zuckte zusammen und stand schließlich auf. Er schnitt sich in den Finger, um einige Kerzen mit der Magie zu entzünden, die sein Blut versprühte, und wischte sich dann vorsichtig die Hand ab.

Żanetas Familie forderte schon seit Monaten Antworten von ihm. Serefin wusste nicht, was er sagen sollte. »Oh, es tut mir schrecklich leid, sie hat ein bisschen Hochverrat verübt, und der Schwarze Geier befand, sie sei bei seinesgleichen besser aufgehoben. Eine fürchterlich heikle Angelegenheit, aber so ist es nun einmal! Dagegen können wir nichts ausrichten.«

Dies war ein ständiger, eitriger Unruheherd, der unter seiner Haut schwelte. Ja, Żaneta hatte ihn verraten, und ja, er war deshalb gestorben. Aber verdiente sie das furchterregende Schicksal, das Malachiasz ihr bestimmt hatte?

»Du bleibst ungewöhnlich ruhig angesichts dieser Gefahr«, bemerkte Kacper.

»Was werden sie tun, frage ich mich. Mich hängen? Im Kerker verrotten lassen?«

Kacper schnaubte und ließ die Schultern sinken. »Ich hasse es, wenn du so pessimistisch bist«, murmelte er, während er sich an Serefin vorbeischob, um ins Schlafzimmer zu gelangen.

»Wohin willst du?«, fragte Serefin. Er betrachtete die Flaschen in seinem Schrank und zog dann eine Flasche Wodka, die wundersamerweise voll war, aus einem Fach. »Ich bin nicht pessimistisch«, grummelte er. »Ich bin nur abgeklärt und sehe die Dinge nüchtern. Diese Entwicklung war nicht zu vermeiden.«

»Ein Staatsstreich ist nie unvermeidlich«, schimpfte Kacper von nebenan. Packte er? »Nichts von alldem wäre passiert, wenn du diese verfluchte Klerikerin gehängt hättest, statt sie in denselben seltsamen Schwebezustand zu versetzen wie das ganze restliche Land. Aber das hast du nicht getan. Und jetzt haben wir es mit einem Staatsstreich zu tun, weil wir leider niemanden haben, dem wir die Schuld zuschieben können. Willst du so enden wie dein Vater?«

Serefin schrak zusammen. Er nahm einen tiefen Schluck. Träume von Motten und Blut und der Leiche seines Vaters, hingestreckt zu seinen Füßen. Er hatte den tödlichen Schlag nicht geführt, aber es war trotzdem seine Schuld.

»Nein«, flüsterte er und fegte eine bleiche Motte aus der Kerzenflamme.

»Nein. Das willst du nicht.«

Doch auch das ist wahrscheinlich unvermeidlich, dachte Serefin verdrießlich. Kacper hätte es ihm verübelt, wenn er diesen Gedanken laut ausgesprochen hätte.

»Die Hälfte deiner Gewänder ist von den Motten gefressen worden.« Kacper klang verzweifelt.

Die Tür wurde aufgestoßen. Serefins Hand wanderte zu seinem Zauberbuch, sein ganzer Körper spannte sich an. Ihn schauderte, dann seufzte er. Es war nur Ostyia.

»Oh, du bist schon auf«, stellte sie trocken fest.

»Schließ die Tür hinter dir ab.«

Sie tat es.

»Ich habe ihm berichtet, was vor sich geht, und er steht nur da und trinkt«, beschwerte sich Kacper.

Serefin bot Ostyia die Wodkaflasche an.

Ächzend streckte Kacper seinen Kopf aus dem Zimmer, als sie die Flasche nahm und daraus trank.

Sie blinzelte Serefin an – ein übertriebenes Zusammenkneifen ihres einzigen Auges.

»Komm wieder zu uns, Kacper«, verlangte Serefin.

Kacper brummte laut und beugte sich über die Türschwelle.

»Wie lange treffen sie sich schon?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ihr erstes Treffen ist«, erwiderte Kacper.

»Sie werden nicht heute Nacht zuschlagen.«

»Aber …«

»Sie werden nicht heute Nacht zuschlagen«, wiederholte Serefin entschieden.

Er unterdrückte seine aufsteigende Panik und nahm Ostyia die Flasche wieder ab. Angst hatte schon seit Monaten jeden seiner Schritte beschwert und nur darauf gewartet, dass er ins Wanken geriet. Hätte er innegehalten und genau über die Bedrohung nachgedacht, dann wäre er bei lebendigem Leib verschlungen worden. Er hatte sich vormachen müssen, dies alles sei unwirklich.

Kacper ließ sich gegen den Türrahmen fallen.

»Dass du so eifrig für meine Sicherheit sorgen möchtest, freut mich natürlich«, sagte Serefin und übersah dabei den kühlen Blick, mit dem Kacper ihn bedachte. »Du bist ein echter Meisterspion, aber ein bisschen voreilig.«

Kacper glitt am Türrahmen nach unten und ließ sich auf dem Boden nieder.

»Lasst uns jetzt erst einmal herausfinden, was sie wollen«, beschwichtigte Serefin. Er stellte die Flasche auf dem Tisch ab und wischte dabei eine weitere Motte weg.

Ostyia runzelte die Stirn, ging zu dem Sessel und hockte sich auf die Armlehne. Sie gähnte.

»Wir wussten, dass Ruminski irgendwann Antworten verlangen würde«, räumte er dann ein.

»Er fragt schon seit Monaten, Serefin. Er will einfach nicht länger warten«, stöhnte Kacper.

Serefin hob erschöpft die Schultern. »Vielleicht können wir mit ihnen verhandeln. Es muss doch irgendetwas geben, worauf sie versessen sind und das ich ihnen verschaffen kann.«

»Bei geheimen Zusammenkünften deiner Feinde wird keine Liste mit Forderungen mehr erstellt, die du erfüllen kannst«, sagte Ostyia.

»Alle am Hof sind meine Feinde«, murmelte Serefin und warf sich auf einen gepolsterten Stuhl. »Das macht es so schwierig.«

Sie nickte nachdenklich.

Er hatte versucht, den Hofstaat für sich zu gewinnen, aber nichts hatte Erfolg gezeigt. Es gab zu viele Gerüchte zu bekämpfen, für die er keine Erklärungen bereithatte. Er konnte nicht verraten, wer seinen Vater tatsächlich getötet hatte, und das durch die Tiefen des Hofstaates wirbelnde Geflüster näherte sich schon gefährlich der Wahrheit.

Eine kalyasische Attentäterin. Der Schwarze Geier. Verrat. Katastrophe. Eine vermisste Adlige. Ein toter König. Das gemeine Volk gab ihm Titel, die er nicht abschütteln konnte: Mottenkönig. Blutkönig. Serefin, gesegnet durch etwas Unerklärliches. Was hätte das Blut, das in dieser Nacht vom Himmel gefallen war, anderes sein können als ein Segen?

Serefin schlug nichts außer Verdächtigungen und Widerstand vonseiten seiner Adligen entgegen. Die Kalyaziner drängten die tranavischen Kräfte zurück, und selbst wenn Tranavia nicht wusste, dass die einzige Klerikerin Kalyazins den König getötet hatte, die Kalyaziner wussten es sicher.

Wiederaufkeimende Hoffnung bei den Kalyazinern war das Letzte, was Serefin brauchte.

Er konnte den Krieg nicht beenden. Er konnte die Fragen der Adeligen nicht beantworten, solange er Nadya nicht hängen lassen wollte, und er hatte festgestellt, dass er das nicht wollte. Sie hatte das zu Ende geführt, was er nicht vermocht hatte. Doch obwohl sie aus einem feindlichen Land stammte und einer Macht geweiht war, an die er nicht glaubte und auf die er nicht vertraute: Er würde sie nicht hinrichten lassen.

»Was tun wir?«, fragte Ostyia.

Serefin fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ich weiß es nicht.«

Es gab eine offensichtliche Lösung, mit der sie Ruminski besänftigen konnten, doch Serefin war sich unsicher, auf welchem Wege sie Żaneta befreien konnten. Soweit zu erkennen war, hatten sich die Geier aufgesplittert. Er hatte nicht viele durch den Palast schleichen sehen, war aber auch nicht erpicht darauf, an die Tür der Kathedrale zu klopfen, um herauszufinden, wer ihm öffnen würde.

Müde rieb er sich die Augen. Er wollte die Nacht durchschlafen, nur einmal. Stattdessen suchte er die Klerikerin auf, die sich wie immer in der Bibliothek eingenistet hatte, denn, so drückte sie es aus, wo sollte sie auch sonst hin?

»Also lässt sich seine Majestät dazu herab, die arme boyar zu beehren, die in ihrem Turm weggesperrt wurde, um zu verrotten«, spottete sie, als er sie gefunden hatte. Sie saß in einer hohen Fensternische und hatte ein Bein ins Freie hinausgestreckt. Das weißblonde Haar hing ihr lose um die Schultern. Serefin konnte sich an keine Gelegenheit erinnern, bei der es nicht sorgfältig geflochten gewesen war.

Angespannt linste er durch die Spalten zwischen den Bücherstapeln, um zu überprüfen, ob sie jemand belauschte. Doch es war so früh, dass noch kein slavhki wach war.

»Du scheinst es darauf anzulegen, gehängt zu werden«, murmelte er.

Sie schnaubte leise, und ihre dunkelbraunen Augen blickten kurz abschätzig zu ihm herüber. Sie hatte die Rolle der ahnungslosen slavhka aus einer entlegenen Kleinstadt abgelegt, und das Mädchen, das Józefinas Platz eingenommen hatte, war klug, geistreich und brachte Serefin mühelos zur Weißglut. Rashid, der hübsche akolanische Junge, mit dem sie ständig zusammen war, hatte Serefin klammheimlich neue Papiere übergeben, die dieses Mädchen vor der Welt erklären sollten – helle Sommersprossen, helle Haut, helles Haar, aber wundersam dunkle Augen und Augenbrauen, ein himmelweiter Unterschied zu dem Rotschopf Józefina. Die Papiere waren gefälscht, die Erklärungen überraschend stichhaltig. Überschwemmte Straßen bei den Seen hatten leider ihre Reise erschwert, sodass sie zu spät zur Rawalyk eintrafen, aber noch nicht nach Hause zurückkehren konnten. Das würde genügen. Ihr richtiger Name klang tranavisch genug, um keinen Argwohn zu erwecken, wenn er nur etwas anders ausgesprochen wurde.

Mit einem Seufzer rutschte sie in die Ecke der Fensternische und gab ihm ein Zeichen, er möge hochklettern. Er machte es sich neben ihr bequem und sah sich den Bücherstapel an, den sie angehäuft hatte. Tranavische Texte über die alten Religionen, die so zerfleddert und abgenutzt waren, dass sie ihr in den Händen zu zerfallen drohten.

»Wo um alles in der Welt hast du die gefunden?«, fragte er.

»Du willst die Antwort gar nicht hören«, erwiderte sie geistesabwesend, während sie sich wieder ihrem Buch zuwandte. »Aber warne den Bibliothekar. Ich will doch nicht, dass der alte Blutmagier vor Schreck den Geist aufgibt, wenn er entdeckt, dass seine Sammlung verbotener Bücher geplündert wurde.«

»Ich wusste nicht, dass wir verbotene Bücher haben.«

Sie gab ein Brummen von sich. »Sicher weißt du das. Du musst sie doch verstecken, damit eure ganze Häresie in deinem Reich im Vordergrund leuchtet, oder?«

»Nadya …«

»Ich muss schon sagen«, fuhr sie fort, »ich bin doch überrascht, dass diese Bücher nicht verbrannt wurden. Kerle wie du sind doch versessen darauf, Bücher zu verbrennen.«

Er schaffte es gerade noch, diesen ausgesucht gemeinen Köder nicht zu schlucken.

Sie schwiegen, während Nadya las und Serefin ein weiteres Buch durchblätterte. Er konnte nicht wirklich herausfinden, was sie da studierte.

»Hast du in letzter Zeit irgendwelche Geier in der Nähe gesehen?«, fragte Serefin schließlich.

Sie senkte ihr Buch und schaute ihn ungläubig an. »Ob ich was habe?«

Er hatte wohl heimlich gehofft, die Antwort wäre Ja, und damit wäre alles einfacher für ihn; ein klarer Missstand, der leicht zu beseitigen wäre.

»Ich sollte meinen, der König von Tranavia hätte mehr mit diesem Kult zu schaffen als ein armes, gefangenes Bauernmädchen«, sagte sie geziert.

»Ich hoffe, noch jemand hört, in welchem Ton du hier sprichst, und nötigt mich, endlich zu handeln«, erwiderte er.

Dafür erntete er ein kurzes Lachen von ihr. Sie lehnte sich zurück und ließ nun beide Beine draußen in der Luft baumeln. Er wusste nicht einmal, warum er sie ausfragte. Immerhin war sie zur gleichen Zeit in Grazyk aufgetaucht wie Malachiasz und hatte ihn eindeutig von früher gekannt. Allerdings wusste er nicht, was genau zwischen ihnen gelaufen war. Er hatte auch nie gefragt. Doch aus kleinen Andeutungen Nadyas hatte er schließen können, sie und der Schwarze Geier wären einander mehr gewesen als nur ungleiche Verbündete und dass das Vergehen des Geiers aus mehr bestanden hatte als bloßem Verrat.

Warum nahm er überhaupt an, dass sie mehr über die Geier wusste als er? Sie, die Klerikerin aus Kalyazin. Es war lächerlich; das würde ihn nicht weiterbringen.

Er lehnte seinen Kopf nach hinten an die Wand.

»Warum fragst du?«, wollte sie wissen.

»Ich muss dir meine Beweggründe nicht erklären«, erinnerte er sie.

»Serefin, du lässt es mich täglich ein bisschen mehr bereuen, dass ich dich nicht umgebracht habe.« Doch es schwang kein Zorn in ihren Worten. Zwischen ihnen herrschte ein beklommener Waffenstillstand. Und obwohl Nadya wütend war, weil er sie mehr oder weniger in Tranavia gefangen hielt, schien sie auch nicht besonders erpicht darauf zu sein, Abschied zu nehmen.

»Żaneta«, sagte er leise.

Nadya wurde bleich.

Er nickte knapp.

»Was ist mit ihr geschehen?«, fragte sie vorsichtig.

»Malachiasz hat sie mitgenommen.«

Sie verkrampfte sich, als dieser Name fiel, zupfte unruhig an einem abgebrochenen Fingernagel und sah ihn nicht an.

»Sie hat dich verraten«, erklärte sie. Es klang, als wollte sie sich selbst davon überzeugen, dass Malachiasz richtig gehandelt hatte.

»Und ich bin gestorben.«

»Und du bist gestorben.«

»Vermutlich.«

»Sie tuscheln bereits, weißt du«, sagte Nadya. Ihre Hand wanderte zum Nacken und fiel wieder zurück, als ihre Finger dort nichts fanden. Ein unbewusster Tick, den Serefin schon unzählige Male bei ihr beobachtet hatte. Eine Weile hatte sie um den Hals ein kleines silbernes Amulett getragen, aber das war verschwunden. »Wir waren nicht die Einzigen in der Kathedrale in dieser Nacht. Sie sagen: ›Nicht einmal der Tod kann diesem neuen jungen König Befehle erteilen.‹«

Serefin schauderte es.

»Meine Göttin ist der Tod«, fuhr Nadya fort. »Niemand betritt ihr Reich und kehrt zurück.«

Blut und Sterne und Motten. Und diese Stimme, dieseStimme.

Serefin schob sie innerlich beiseite, bevor sie zu ihm sprechen konnte.

»Und was denkt die Göttin?«

Nadya hob lustlos die Schultern und ließ ihren leeren Blick schweifen. »Sie spricht nicht mehr zu mir.«

Das war nicht das Gespräch, für das Serefin hergekommen war. Doch die Traurigkeit in Nadyas Stimme berührte sogar ihn.

»Was wird Tranavia über einen König denken, der vom Tod zurückgekehrt ist?«, fragte er nach einer langen Stille. Sie zog eine Braue hoch und musterte ihn. Er dachte an den Heiligenschein, der ihren Kopf umgeben hatte: zittrig, gebrochen und fleckig. Sie hob eine Hand, und eine der blassgrauen Motten, die Serefin ständig umflatterten, landete auf ihrem Zeigefinger.

»Serefin Meleski«, sagte sie nachdenklich. »Da lag ein Zeichen auf dir, das mit jedem Tag dunkler wurde. Ich dachte …« Sie brach ab, wies mit der Hand auf die Bücherstapel. »Ich weiß nicht, was ich dachte … dass ich helfen könnte? Dass ich vielleicht helfen wollte? Es spielt keine Rolle.«

»Mir helfen? Oder ihm helfen?«

»Es spielt keine Rolle«, wiederholte sie mit einem spitzen Unterton.

»Wenn der Argwohn wächst, wird am Ende keiner von uns ungeschoren davonkommen«, sagte er.

Sie nickte. Es war hier bereits gefährlich für sie. Wenn sich sein Hof gegen sie wandte, konnte er nichts für sie tun. Er war sich auch noch immer nicht sicher, warum er sie überhaupt schützen wollte.

»Ich sollte nicht so hilfsbereit sein. Du hast mein Zuhause zerstört«, warf sie ihm vor.

Serefin hatte vermieden, das Thema anzusprechen, sich aber gefragt, wann sie es tun würde. Er schloss das Buch und legte es auf den Stapel. Serefin hatte nie die Absicht gehabt, das Kloster niederzubrennen, und was Teodore getan hatte, nachdem er gegangen war, lag nicht mehr in seiner Verantwortung. Er hatte gefunden, wonach er dort gesucht hatte: sie. Und der Druck, den sein Vater auf ihn ausgeübt hatte, die Klerikerin aufzuspüren und herauszufinden, wie ihre Macht vielleicht die eines Blutmagiers verstärken konnte, war verschwunden. Die Antwort auf diese Frage zu finden hatte Serefin mehr oder weniger aufgegeben. Er wollte einen Krieg beenden, und das würde mit diesem Mädchen als Geisel einfacher sein.

»Ich habe es zerstört. Zu behaupten, ich hätte mich nicht auf irgendeine Art von Rache gefasst gemacht, wäre gelogen.«

»Ich dagegen würde lügen mit der Behauptung, dass ich niemals Rache wollte.«

»Wer hätte das gedacht? Wir sind ehrlich zueinander.«

Sie verdrehte die Augen. »Bereust du es?«

»Es ist Krieg«, sagte er. Sie durchbohrte ihn mit Blicken und er seufzte. »Nadya, wenn ich alles bereuen wollte, was ich je getan habe, könnte ich morgens nicht mehr aufstehen.«

Sie gab ein nachdenkliches Grummeln von sich.

»Ist das dein Entschluss: Rache?«

»Dafür ist mir meine Zeit zu schade. Serefin, ich habe deinen Hofstaat beobachtet. Ich glaube, ich kann relativ sicher sagen, dass jedes Chaos, das dein Tod hervorrufen würde, kaum ausreichen dürfte, um an der Front auch nur das Geringste zu verändern.«

»Ah, gerettet durch meinen eigenen, dysfunktionalen Hofstaat!«

Nadya starrte ihn an. »Was hat das alles mit Żaneta zu tun?«

»Ihr Vater wird einen Staatsstreich anzetteln, wenn ich sie nicht bald herbringe.«

»Und du glaubst, dass er es nicht sowieso tun würde, egal was du machst?«

»Ah, zugrunde gerichtet durch meinen eigenen, dysfunktionalen Hofstaat!«

Sie hatte recht. Er konnte nicht aufhalten, was da in Gang gesetzt worden war. Das Mystische, das ihn umgab, machte alles noch schlimmer. Wie konnte Tranavia von jemandem regiert werden, der von etwas völlig Unverständlichem ergriffen war?

Und diese Stimme. Sie flüsterte ihm ständig etwas zu, aber solange er nicht antwortete, war sie nicht real.

Oder vielleicht war er einfach der Sohn seines Vaters und verlor ebenfalls den Verstand?

Sie saßen schweigend da. Er wusste nicht, was er tun sollte, und sie konnte nicht wirklich helfen – würde er gestürzt, so würde sie gehängt.

»Wir können sie nicht zurückführen ohne einen Geier«, sagte Nadya und fügte leiser hinzu: »Hast du irgendetwas gehört von …?«

Er unterbrach sie, indem er den Kopf schüttelte. Alle paar Wochen pflegte sie nach Malachiasz zu fragen und er gab ihr immer dieselbe Antwort, eine Lüge.

Aber bestimmt wollte sie nicht hören, was man ihm berichtete. Die Gerüchte über Todesfälle und dunkle Magie, wie sie nur sein Cousin verursacht haben konnte.

»Du wirst eine Lösung finden«, sagte sie. »Du musst.«

Von dem Wir war also neuerdings nur noch er übrig geblieben, der die Dinge allein in Ordnung bringen musste. Das war der springende Punkt: Er hatte keine Wahl. Es würde sich nichts ändern, wenn er nichts unternahm.

2

NADEZHDA LAPTEVA

Eine Göttin des Winters kennt den Geschmack von bitterer Kälte und gebrochenen Knochen, von gefrorenen Böden, die alles Leben ausgehaucht haben. Eine Göttin des Todes kennt die Vergeltung und den brennenden Hass, der die Kriege der Menschen anheizt. Marzenya ist gütig – wenn sie es will –, aber die Grausamkeit geht ihr leichter von der Hand.

Kodex des Göttlichen, 399:30

Es gab eine überraschend große Menge an tranavischen heiligen Texten für die letzte Klerikerin zu lesen, während sie als Gefangene in Tranavia ihre Zeit absaß. (Die vielleicht letzte? Hoffentlich nicht die letzte, da sie so komplett versagt hatte.)

Nicht wirklich als Gefangene, würde Serefin zudem einwerfen, du solltest nur einfach nicht weggehen.

Was eben die Definition von Gefangenschaft ist, würde sie entgegnen, aber sie verstand ihn. Solange sie in Grazyk blieb, schwebte Nadya ständig in Gefahr, aber im Palast stand sie unter Serefins mühsam erhaltenem Schutz. Den er ihr zwar gewährte, der ihn aber selbst zu verwirren schien. Sie hatte keine Magie und würde den Weg durch Tranavia nicht überleben, wenn sie nach Hause gelangen wollte. Die Machtquelle, die sie berührt hatte, war entweder versiegt oder hatte nie wirklich ihr gehört. Und sosehr sie es auch hasste: Sie verharrte in der Hoffnung, dass der traurige, gebrochene Junge zurückkehren würde, der sie hierhergebracht hatte. Sie ärgerte sich darüber, wie viel Hoffnung sie jedes Mal empfand, wenn sie Serefin fragte, ob er Neuigkeiten hatte, und darüber, wie schnell diese Hoffnung in sich zusammenfiel, wenn er Nein sagte.

Warum sollte sie auf den Jungen hoffen, der sie so vollständig betrogen hatte? Ihre rasende Wut war zu einem dumpfen Schmerz abgeklungen, als es monatelang still geblieben war. Sie hatte keinen Zorn mehr in sich, um Serefin zu bekämpfen, und noch weniger den Geist von Malachiasz.

Also schlich sie im Palast umher und schleppte alle religiösen Texte, die sie finden konnte, in die kleine Fensternische. Nichts davon war besonders hilfreich. Ihre Götter waren nun einmal ihre Götter und es gab wenig Neues, das ihr ein kleines, von einem tranavischen Priester vor Jahrhunderten geschriebenes Buch bieten konnte.

Doch zwischen den Seiten schimmerte gelegentlich etwas von dem auf, was sie übersehen hatte, Hinweise darauf, warum sie so sehr versagt hatte. Warum die Götter nicht mehr zu ihr sprachen und wie ein Junge, der zu einem Monster geformt worden war, sich selbst in Stücke reißen und in der Gestalt von etwas vermeintlich Göttlichem wieder auftauchen konnte.

Manchmal erzählten die Bücher, die Nadya fand, von alten religiösen Sekten und Heiligen, die sie nicht kannte. Wie viele Kleriker waren schon im Stich gelassen worden, genau wie Nadya? Es würde ihr das Herz brechen, dachte sie sich, wenn da noch irgendetwas zu brechen übrig wäre.

Nachdem Serefin weitergezogen war – einer Entscheidung eindeutig nicht nähergekommen als zuvor –, verließ sie die Bibliothek. Den Stapel mit obskuren, streng verbotenen Büchern ließ sie in der Nische zurück. Die Leiter versteckte sie jeden Tag an einem zufällig ausgesuchten Platz im Raum. Bis jetzt hatte zwar noch niemand ihre stetig wachsenden Stapel angetastet, aber sie befand sich in einem stummen Kleinkrieg mit dem alten Bibliothekar, der sich immer so benahm, als wäre das Schlimmste, was ihm passieren konnte, dass jemand die Bibliothek nutzte.

»Da bist du!« Parijahan erwischte Nadya auf dem Weg zur Küche, wo sie geplant hatte, ein bisschen Brot und Käse zu stibitzen, und zerrte sie in Richtung ihrer Zimmer. »Heute Abend findet ein Essen mit dem Hofstaat statt und du musst teilnehmen.«

Nadya stöhnte. »Das hat Serefin nicht erwähnt.«

»Er meinte, wenn er es erwähnt hätte, wärst du so spektakulär abgetaucht, dass sogar ich dich nicht wiederfinden könnte. Damit hatte er eindeutig recht.«

»Ich bringe ihn um«, murmelte Nadya, während sie sich von Parijahan zu den Räumen zurückziehen ließ, die sie sich teilten.

»Das hättest du inzwischen schon längst getan, wenn es dir ernst wäre«, entgegnete Parijahan trocken.

Die akolanische junge Frau trug eine einfache, lockere Hose und eine Bluse in aufeinander abgestimmten Goldtönen. Ihre schwarzen Haare waren eng geflochten und der goldene Ring in ihrer Nase blitzte jedes Mal im Licht, wenn sie an einem Fenster vorbeikamen. Sie waren davon abgekommen, Parijahan als Nadyas Bedienstete auszugeben. Dennoch lehnte Parijahan Serefins Angebot, ihr eigene Gemächer zuzuweisen und sie wie die Adlige zu behandeln, die sie in Wirklichkeit war, weiter beharrlich ab. Das wäre zu verdächtig, sagte sie. Und Nadya hatte schon festgestellt, dass es eine Handvoll slavhki gab, denen Parijahan immer aus dem Weg ging.

Obwohl der König von Tranavia endlich tot war, war Parijahan sogar noch vorsichtiger als jemals zuvor und verbarg ihre Geheimnisse hartnäckig vor Nadya.

Malachiasz’ Verrat hatte Parijahan genauso brutal und unerwartet erwischt wie sie selbst, doch sie darüber auszufragen hatte Nadya nichts eingebracht außer ein paar kryptischen Antworten, die wenig zu bedeuten hatten. Rashid zu fragen war noch schlimmer. Der Akolaner ging so geschickt mit Worten um, dass er absolut nichts sagte, dafür aber eine gute Weile brauchte.

»Hat Serefin dir noch irgendetwas anderes gesagt?«, fragte Nadya.

Parijahan schüttelte den Kopf. »Bilde ich mir das ein oder sieht er so aus, als hätte er nicht geschlafen?«

»Das bildest du dir nicht ein.« Dunkle Flecken waren unter seinen hellblauen Augen zu sehen gewesen und Bartstoppeln hatten sein blasses Kinn und die Wangen gesprenkelt. Und er hatte nach Alkohol gerochen. »Ehrlich gesagt, mache ich ihm da keine Vorwürfe.«

Nadya konnte auch nicht behaupten, dass sie gut geschlafen hatte. Die Monate seit dieser Nacht in der Kathedrale waren hart gewesen, und wenn sie schlief, sah sie Bilder, über die sie lieber nicht näher nachdenken wollte. Doch immerhin musste sie, während sie schlief, nicht die Stille in ihrem Kopf aushalten. Sie war es nicht gewohnt, mit ihren Gedanken allein zu sein, und hatte festgestellt, dass sie es hasste.

»Irgendetwas Aufregendes beim Lesen gefunden?«, fragte Parijahan. Das war ihr übliches Verhör nach Nadyas Besuchen in der Bibliothek.

Nadya zuckte stets unverbindlich mit den Schultern. Sie wusste nicht einmal, wonach sie suchte. Vor allem versteckte sie sich. Vor sich selbst, vor Serefin, vor Parijahan.

»Es gab eine tranavische Heilige, deren Kopf abgeschlagen wurde. Aber sie hob ihn auf und setzte ihren Weg fort.«

Parijahan sah sie von der Seite an. »Ich bin nicht sicher, ob du dir das nur ausdenkst.«

Nadya legte sich eine Hand aufs Herz. »Das ist meine Religion, Parj, würde ich da lügen?«

Parijahan schnaubte.

»Ernsthaft! Sie hat danach einen Personenkult begründet mit allem, was dazugehört. Das ist dann wieder abgeklungen, so hundertdreißig Jahre bevor sich Tranavia von den Göttern losgesagt hat.«

Parijahan brummte nachdenklich, als sie ihre Räume erreichten. Nadya ließ sich in einen Sessel im großen Gemach sacken.

»Du sperrst dich doch nicht jeden Tag in dieser Bücherei ein, um Geschichten über Heilige zu lesen, die du schon kennst.«

Entmutigt ließ Nadya die Finger zu ihren Gebetsperlen wandern, erschrak aber von Neuem, als sie merkte, dass ihr Hals nackt war. Das geschah täglich, und sie wartete immer noch darauf, dass der Schmerz über den Verlust aufhörte. Sie nahm stattdessen ihr Haar hinten zusammen und begann es zu flechten.

»Wie hat er sich für den Weg entschieden, den er genommen hat?«, fragte sie schließlich. »Woher hatte er den Einfall, ausgerechnet er sei ausersehen, die Götter zu entmachten? Er muss darüber gelesen haben. Etwas hat ihn auf diese Spur gesetzt. Ich muss es finden.«

Parijahan durchquerte den Raum und setzte sich neben Nadya. »Oder er ist einfach ein weltfremder Junge, der etwas gefunden hat, dem er die Schuld zuschieben kann. In alten Büchern wirst du keine Antworten auf deine Fragen finden.«

»Dann weiß ich nicht, was ich sonst tun sollte«, sagte Nadya leise.

Parijahan fasste Nadya unter das Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. »Wag es ja nicht. Er hat dich verletzt. Du vergeudest deine Kraft nicht damit, ihn zu retten, wenn er eindeutig nicht gerettet werden wollte.«

»Ich weiß.« Niemand wusste, dass die Götter nicht mehr zu Nadya sprachen. Sie war nichts weiter als ein kalyasisches Bauernmädchen. Für kaum etwas zu gebrauchen. Sie versuchte nicht, ihn zu retten; sie wollte verstehen. Das war ihre fatale Schwäche, ihr Wunsch zu verstehen. Genau das hatte er so mutwillig genutzt, um sie mit seinem Lügengespinst einzuhüllen.

»Außerdem …«, sagte Parijahan und ihre Stimme klang auf einmal berechnend und listig, »falls er seine großartige Idee aus einem Buch hatte, solltest du dann nicht eher in der Kathedrale suchen?«

Nadya schauderte es. Sie hatte diesen Ort seit Monaten gemieden. Bei dem Gedanken, zurückzugehen, fröstelte es sie bis in ihr Innerstes. Und doch …

Parijahan sah ihr Zögern. »Er ist nicht dort«, betonte sie. »Du bist sicher.«

Eine unmögliche Sache, dieser Hass und das gleichzeitige Vermissen.

»Schimpfst du mit mir oder ermutigst du mich? Das ist sehr unklar.«

Parijahan lächelte reumütig. »Vielleicht von beidem ein bisschen?«

»Wie viel Zeit haben wir bis zu dem Abendessen?«

Parijahan besah sich den Stand der Sonne durchs Fenster und zuckte mit den Achseln. »Wir haben Zeit.«

Nadya starrte zu den zerbrochenen Statuen hoch, die den Eingang der gewaltigen schwarzen Kathedrale säumten, und fragte sich, ob sie jetzt mehr Angst hatte, da sie wusste, was darin lauerte. Ob der Schrecken, der ihr in den Gliedern saß, daher kam, dass sie den Bau diesmal schutzlos betrat.

Parijahan bedachte die bröckelnde Fassade der Kathedrale im Vorbeigehen mit einem wenig beeindruckten Blick. Nadya hatte gelernt, die Gleichgültigkeit des akolanischen Mädchens als etwas Tröstliches zu empfinden. Parijahan zerrte die riesigen Holztüren auf.

Es war totenstill. Nadya schluckte schwer. Sie wollte sich nicht an das letzte Mal erinnern, als sie hier gewesen war, ihre Finger mit Malachiasz’ Fingern verschränkt, ihm entgegen aller Vernunft vertrauend. Und sie wollte bestimmt nicht in das Zuhause irgendwelcher Geier eindringen.

Doch es war nicht immer ihr Zuhause, dachte sie. Sie fuhr mit einer Hand über das Mauerwerk und fragte sich, welchem Gott diese Kirche geweiht gewesen war, als Tranavia die alte Ordnung noch geachtet hatte. Panik wollte ihr die Brust zuschnüren wegen der Stille in ihrem Kopf, also schob sie alle Fragen beiseite und folgte Parijahan, die – unglücklicherweise – unbeirrt ihr Ziel verfolgte.

»Oh, Parj, müssen wir das hier tun?«

»Wo sonst?«, erwiderte Parijahan.

Da hatte sie nicht unrecht. Es hatte gerade einmal ein Wispern gegeben darüber, was wohl dem Schwarzen Geier widerfahren war. Und obwohl Nadya danach gefragt hatte, wollte sie es in Wirklichkeit nicht wissen.

Es zu wissen hieße, sich der schwarz verfärbten Narbe auf ihrer Handfläche jedes Mal zuzuwenden, wenn sie heiß wurde: ein brennendes Jucken, das stundenlang andauerte, bevor es wieder verschwand. Den Drang ihres Herzens zu irgendetwas weit Entferntem zu beachten, als wäre es mit irgendjemandem verbunden. Sie wusste nicht, was in der Nacht geschehen war, als sie Velyos’ Symbol erst in ihre eigene Handfläche geschnitten hatte und dann in Malachiasz’. Etwas hatte sich verändert, als sie seine Macht gestohlen hatte, um sie mit ihrer vereint zu nutzen. Als sie das Unmögliche gewagt hatte.

Sie war immer noch spürbar. Die schlammige, tintenschwarze Dunkelheit von Malachiasz’ Magie schlummerte irgendwo tief in ihrem Innern.

Parijahan versuchte, die Tür zu Malachiasz’ Zimmern zu öffnen, und ihre Lippen umspielte ein kleines Lächeln, als sie sie unversperrt fand.

Nadya zögerte. Es hatte sich nichts verändert, seit sie das letzte Mal dort gewesen war. Malachiasz’ geflickte Militärjacke hing über der Stuhllehne, über die er sie zuletzt geworfen hatte. Gemälde waren in jeder Ecke des Raums übereinandergestapelt und rund um die Bücherregale türmten sich zusätzlich Bücher auf. Stapelweise Bücher. Parijahan pfiff leise. »Da haben wir es.« Sie nahm die Jacke, betrachtete sie stirnrunzelnd und gab sie Nadya.

Nadya wartete, bis sich Parijahan wegdrehte, ehe sie die Jacke über ihr Kleid zog und ihr Gesicht im Kragen verbarg. Sie roch immer noch nach ihm, nach Eisen und Erde und Junge auf eine tröstliche und so schmerzhafte Art, dass sich Nadyas Brust mit einem heftigen Stich zusammenzog.

Ihren Gefühlen in Bezug auf Malachiasz’ Betrug auf den Grund zu gehen war schwierig. Sie hatte gehofft, im Lauf der Zeit das Durcheinander ihrer Emotionen entwirren zu können. Sie wusste, was sie fühlen sollte, was alle von ihr erwarteten. Doch sie konnte nicht herausfinden, ob das auch wirklich zutraf.

Ja, sie war wütend und verletzt, aber sie ertappte sich auch bei der Erwartung, dass er in ihre Räume stürmte: ein Wirbelwind aus dunklen Haaren und schlechten Witzen mit schmerzlich blendendem Lächeln. Sie vermisste ihn.

Doch so war Malachiasz nicht mehr. Idealistisch weiterhin, aber auch mächtig und grausam, sein Körper entstellt und sein Geist zersplittert.

Nadya wünschte sich verzweifelt, nicht mehr über ihn nachdenken zu müssen. Er hatte sie monatelang angelogen, hatte sich selbst als ängstlichen Jungen dargestellt, der einen Fehler begangen hatte und Hilfe brauchte, um ihn wieder auszubügeln. Stattdessen hatte er sie benutzt, um eine so fürchterliche Macht zu erlangen, dass sie ihm den letzten Rest Menschlichkeit ausgetrieben hatte.

Der dumme, herablassende Junge mit dem verschlagenen Lächeln, der nervös auf seinen Fingernägeln herumkaute, war fort. Vielleicht für immer. Und sie war so tieftraurig, dass darüber die Hitze ihrer Wut erloschen war. Er verdiente ihre Trauer nicht, aber das machte keinen Unterschied für ihr Herz.

»Meinst du, er hat das alles von Anfang an geplant?«, fragte Nadya leise.

Parijahan sah von dem Stapel Gemälde auf, den sie gerade durchging. »Bist du endlich bereit, darüber zu sprechen?«

Nadya zuckte mit den Schultern.

»Ich habe Monate mit ihm verbracht, und er hat nie besonderen Eifer darin gezeigt, dich zu finden«, sagte Parijahan. »Ich musste ihn erst überzeugen, mit uns zu kommen, als wir uns anschickten, Gerüchten über eine Klerikerin nachzugehen. Am Ende hat ihn etwas Unbekanntes gezwungen, nach Kalyazin zu fliehen, und später dazu, hierher zurückzukehren. Er hat nie gesagt, was.«

»Nun, er ist ein Lügner.«

»Er ist sehr gut im Lügen«, stimmte Parijahan zu. »Allein schon, weil er dabei eigentlich die Wahrheit sagt.«

Die Tür zu Malachiasz’ Studierzimmer hing wie ein schwarzer Fleck an der Wand. Was erhoffte sie sich, dahinter zu finden? Den Anstoß, der ihn zu seiner waghalsigen Unternehmung verleitet hatte, ihre Götter zerstören zu wollen? Etwas anderes?

Gleichgültig blätterte sie die Bücher durch. Die Stapel enthielten vielerlei: Geschichte, Romane, Magische Theorie. Allerdings verstand sie nicht genug von Blutmagie, um Letzteres zu begreifen. Sie verschwendete ihre Zeit.

Parijahan öffnete die Tür zum Studierzimmer. Als sie den Raum betrat, hustete sie. Nadya folgte ihr nicht sofort, doch irgendetwas zog sie zur Türschwelle hin. Sie hörte, wie Parijahan die Papiere auf dem Schreibtisch herumschob, und erbebte, ein Schauder rann ihr plötzlich über den Rücken.

Magie.

Etwas, mit dem sie schon seit geraumer Zeit keine Berührung gehabt hatte.

»Was hast du gefunden?«, rief sie. Ihr Magen verkrampfte sich. Da war etwas Vertrautes und Fürchterliches, das an ihr zerrte, ein Ruf, der eine gewaltige Welle über ihr zusammenschlagen ließ.

»Einige seiner Zaubersprüche, glaube ich«, antwortete Parijahan, ohne etwas von Nadyas plötzlicher Angst zu bemerken.

Nadya zuckte zusammen, als sie ins Arbeitszimmer trat. Ihre linke Handfläche tat weh, ein dumpfer Schmerz kroch stetig ihren Arm hinauf. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Ihr war zu heiß und zu kalt und sie fühlte … sie konnte fühlen …

Sie riss Parijahan die Papiere aus der Hand und zerknitterte sie mit ihrem festen Griff. Sie atmete schwer und konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas zutiefst Verstörendes geschah. Da rührte sich etwas, etwas Hungriges mit einer so tiefen, mächtigen und schmerzhaften Unersättlichkeit, dass es schlicht alles verschlingen würde, wenn es nicht aufgehalten wurde.

»Nadya?«

Sie knallte eine Hand auf den Tisch. »Nein«, sagte sie schlicht. »So funktioniert Magie nicht.«

Sie breitete die Zaubersprüche vor sich aus. Als sie das unsaubere, beinahe unleserliche Gekrakel von Malachiasz sah, stockte ihr das Herz. Sie sollte gar nicht dazu in der Lage sein, seine Macht zu fühlen oder sein Wesen. Nicht jetzt, nicht, nachdem so viel Zeit vergangen war.

Sie konnte das Tranavische lesen, aber die Wörter verschwammen ihr vor den Augen. Fieberhaft blätterte sie noch weitere Seiten durch, grub hastig hingekritzelte Notizen und Diagramme unter den Zaubersprüchen aus. Endlose Zeichenfolgen, die Nadya nicht verstand.

»Ich sollte nicht hier sein«, flüsterte sie, als das Entsetzen weiter ihr Herz umfasste. Sie hob eine Seite hoch, die eindeutig in Blut getaucht worden war und die unten ganz steif und dunkel war. Das Obere konnte sie lesen, aber sie wünschte sich, sie könnte es nicht.

Notizen über kalyasische Magie, über göttliche Magie, über ihre Magie. Notizen darüber, wie ihre Magie und Blutmagie sich vielleicht überschnitten, obwohl sie es nicht sollten, dies aber möglich war, und darüber, dass es noch etwas anderes gab, das sich sehr langsam veränderte, und dass es sich um etwas Neues handeln konnte oder um eine Vermengung der beiden anderen Formen.

Serefin hatte einmal erwähnt, dass er auf dem Schlachtfeld tranavische Zauberbücher gefunden hatte, in die kalyasische Gebete hineingekritzelt waren. Eine eigentlich unmögliche Kombination. Warum hatte Malachiasz das untersucht?

Sie erstarrte: Das Etwas am anderen Ende dieses Verbindungsstrangs war gewachsen und fast greifbar geworden. Ein Blick aus weiter Ferne hatte sich ihr zugewandt, wo vor Kurzem noch niemand gewesen war. Es war eine Macht, so viel größer als ihre eigene, unendlich dunkel. Eine Magie, die nicht zu ihr gehörte, summte in Nadyas Adern und zog sie schmerzlich zu demjenigen hin, der sie in Wirklichkeit besaß.

Sie hätte niemals seine Macht stehlen sollen.

Sicherlich hatte er ihre Absichten durchschaut, als sie ihm jene Klinge über die Handfläche gezogen hatte. Oder nicht? Einst war es doch seine Eingebung gewesen – eine listige Überlegung, dass sie stärker wäre, wenn sie sein Blut nutzte. Abscheulich, fürchterlich, und doch hatte sie am Ende genau das getan, was er gewollt hatte. Nur ein weiteres Verdrehen der Wahrheit, und er hatte sie dazu gebracht, ihm arglos bei seinen rätselhaften Plänen zu helfen.

Nadya war allzu tief gesunken, hatte alles, an das sie geglaubt hatte, geopfert für einen Versuch, die Welt zu verändern, und sie wurde mit Schweigen gestraft.

Sie keuchte und ballte ihre brennende Hand vor dem Herzen zusammen. Die schlammige Macht hatte sich verwandelt. Ein Strick, eine Leine zog sich schnell stramm.

Ich hätte nicht hierherkommen sollen.

Das Monster. Malachiasz. Sie wich vor der Macht zurück, die plötzlich zu stark war, zu überwältigend, zu böse.

Nadya atmete ein paarmal stockend ein – das gedämpfte Geräusch von Parijahan, die ihren Namen rief, perlte von ihren Ohren ab – und gab zu erkennen, dass sie sich seiner Gegenwart bewusst war, indem sie mit den Fingerspitzen vorsichtig über die schwarze Glasscheibe rieb, die Malachiasz von ihr trennte und sie zugleich miteinander verband.

Das hier ist mein Fehler. Sie hatte etwas erschaffen, als sie seine Magie gestohlen und sie an ihre gebunden hatte. Natürlich bestand das fort, natürlich hatte das Folgen. Götter, sie konnte ihn fühlen. Er bröckelte, erodierte, wie die Oberfläche einer Felsklippe, die von den Wellen eines Ozeans umspült wurde.

Dann hörte sie – so deutlich, als würde es direkt vor ihr geschehen – das Geräusch einer eisernen Klaue, die an Glas kratzte. Ein schmerzhaftes, ätzendes Kreischen, das Nadeln in Nadyas Ohren trieb. Immer tiefer und tiefer. Eine Hand schlug gegen das Glas, schlanke Finger mit Eisenkrallen, die vor Blut tropften.

Nadya riss sich los.

Sie wich schwankend vom Schreibtisch zurück. Nadya bekämpfte den Drang, sich zu übergeben. Das konnte nicht geschehen. Wie war das möglich?

Es verstrichen ein paar qualvolle Momente, ohne dass die abgründige Verbindung wiederauflebte. Ohne dass sie das beunruhigende Chaos seines Wahnsinns streifte.

Doch es hatte sich wie Malachiasz angefühlt. Das Monster war immer noch Malachiasz.

Würde es am Ende Hoffnung sein, was sie umbrachte?

Nadya sah zu Parijahan auf, die sie entgeistert anstarrte.

»Nun«, sagte Nadya mit kratziger Stimme. »Ich nehme an, er ist nicht tot.«

Zwischenspiel I

DER SCHWARZE GEIER

Der Hunger wollte nicht nachlassen. Das Nagen an den Rändern seines Wesens war unerträglich stark und doch niemals genug. Er konnte nur hungern, verlangen, bis er schließlich in vollkommenes Vergessen entlassen wurde und nichts mehr fühlte. Keinen Hunger, keine niemals endende Leere, die an seinem Wesenskern zerrte, die immer gegenwärtige Drohung der völligen Zertrümmerung.

Die Dunkelheit war ein Trost. Fackeln gab es hier wenige und sie standen in großen Abständen, waren leicht zu umgehen. Es war ihm eine Erleichterung, sich weit vom Schimmern der Lichter entfernt halten zu können, die ihn an das Vermissen erinnerten. An diese Sache, die außerhalb seines Bewusstseins flackerte, gerade so weit entfernt, dass er sie nicht zu fassen bekam. Die unerbittlich flatternden Flügel eines kleinen Vogels, der sich weigerte, von der Dunkelheit geschluckt zu werden.

Es war ein so süßer Reiz, dass er seinen Wahnsinn noch ein bisschen weitertrieb, noch ein bisschen vertiefte. Aber das Nichtwissen war süßer. Er kam nie über dieses rudimentäre Verständnis hinaus.

Da waren Funken, die nicht zu ihm gehörten, die zu niemandem gehörten, ärgerlich weit in der Ferne. Ein Mädchen mit schneeweißem Haar, ernstem Blick, die Haut von zarten Sommersprossen gesprenkelt. Ein Mädchen, das sich stritt, in sich ruhend und stur und leidenschaftlich. Wunderschön, brillant, qualvoll abwesend. Er hatte keine Ahnung, wer sie war, und das machte alles nur noch sinnloser.

Ewig und augenblicklich: Die Zeit wurde belanglos. Die Funken – die Ablenkungen – verblassten. Nur der Hunger blieb, immer der Hunger. Nur das Gefühl, noch einmal auseinandergenommen, wieder zusammengesetzt und in Stücke gerissen zu werden.

(Ungeschehen gemacht zu werden war offenbar ein laufender Prozess.)

Da war eine undeutliche Ahnung, dass etwas erledigt werden musste. Doch nichts war etwas war alles und konnte das nicht warten? Alles konnte warten. Bis die Dunkelheit weniger erstickend war. Der Hunger weniger brüllend. Bis seine Gedanken in einer Linie aufgereiht waren statt unzusammenhängende, verstreute Stückchen, die hüpften und flatterten und …

Flatterten.

Flügel.

Wieder.

Dort.

Der kleine Vogel.

Er streckte sich und griff vorbei. Seine Hand schlug in etwas Kaltes und er zog seine Klauen daran hinunter, langsam, vorsichtig. Das Geräusch war beruhigend, klar.

Seine Hände bluteten. Seine Hände bluteten immer.

Da war etwas. Die Flügel flatterten wieder weg, zu schnell, zu scharf, zu bald, zu real.

Da war

etwas

anderes.

Eine Erinnerung, zerstört,

verstreut,

flüchtig.

Verschwunden.

3

SEREFIN MELESKI

Svoyatova Elżbieta Pienta: eine Tranavierin, die anstelle der Klerikerin Evdokiya Solodnikova verbrannt wurde. Dort, wo ihre Leiche beerdigt wurde, sollen die Toten mit den Lebenden sprechen.

Vasilievs Buch der Heiligen

Serefin hatte schon die Hälfte der Stufen im Hexenturm erklommen, bevor er sich besann. Er blieb stehen, umklammerte mit einer Hand fest das Geländer und fragte sich, ob er vielleicht doch nicht allein hätte kommen sollen. Doch es war zu spät zum Umkehren. Pelageya wusste, dass er da war, seit sich die Tür ihres Turmes geöffnet hatte.

Er nahm immer zwei Stufen auf einmal. Serefin war nicht gerade begeistert, dass er sich an die Hexe wenden musste, aber es war sonderbarerweise unvermeidlich. Sie hatte ihn schließlich auf diesen Weg geführt, oder nicht? Sicherlich würde sie ihn mit einem fürchterlich mystischen Ratschlag bedenken, der ebenso unverständlich wie entsetzlich wäre in seiner umfassenden Vorhersage des kommenden Untergangs.

Er erreichte die Spitze des Turmes und fand die Tür angelehnt vor, sodass sie bei dem leichten Klopfen seiner Fingerknöchel aufschwang.

Nun, das ist ja nicht gerade beruhigend, dachte er und runzelte die Stirn. Eine Wolke aus Motten stieg in die Luft. Er wedelte sie weg.

»Pelageya?«, rief er und schob sich hinein.

Serefin erstarrte. Der Raum war leer geräumt.

Es war, als wäre die Hexe überhaupt nie dort gewesen. In allen Ecken hingen Spinnweben. Auf der Feuerstelle lagen zwar Aschereste, aber sie war größtenteils sauber gekehrt worden. Ein Hexenkreis hob sich in der Mitte des Bodens deutlich hervor. Er seufzte erleichtert – es war nur Holzkohle, kein Blut.

Er ging um den Kreis herum, dabei trommelten seine Finger gegen den Rücken seines Zauberbuchs.

Das war nicht, worauf er gehofft hatte.

Er kniete sich hin, krümmte die Außenseite eines Fingers an einer Rasierklinge in seinem Ärmel und blätterte sein Zauberbuch durch. Pelageya hätte den magischen Kreis nicht ohne Grund zurückgelassen, und obwohl Serefin die Signa nicht lesen konnte, die in den Kreis gekritzelt waren – Signa waren Sache der Geier –, konnte er den Zauber aktivieren.

Er zögerte. Was er tat, war ganz und gar dämlich. Wenn Kacper oder Ostyia hier wären, hätten sie ihm eher eine Klinge an die Kehle gepresst, als zuzulassen, dass er mit unsicherer Magie hantierte.

Nur waren seine Stimmen der Vernunft aber nicht hier. Schnell drückte er seine blutige Handfläche nach unten. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf eine einzelne Stelle unter seiner Hand. Dort entbrannte Feuer, wie bei dem Pulver, das die magischen Kanonen entzündete, und füllte langsam den Kreis aus. Die Flammen erfassten jedes Signum, bis über dem Boden ein seltsames, beißendes grünes Feuer flackerte.

Doch das war alles.

Leicht enttäuscht und doch gleichzeitig erleichtert entzog er sich der magischen Kraft. Es war nur ein leerer Zauber, den die Hexe zurückgelassen hatte, um mit Serefin zu spielen. Er stupste den Kreis mit seiner Stiefelspitze an, durchbrach damit vorsichtig den Machtfluss und hoffte, dass der Zauber ihm nicht um die Ohren fliegen würde. Die Flammen erloschen.

»Weißt du, ich habe mit mir selbst gewettet, wer von euch zuerst kommen würde.«

Serefin erschrak beinahe zu Tode.

»Das Mädchen, das eine Klerikerin ist und doch keine Klerikerin, eine Hexe und doch keine Hexe.« Pelageya saß in der Mitte ihres zerstörten Kreises und zählte an ihren knochigen Fingern die Möglichkeiten ab. »Das Monster, das auf einem Thron aus vergoldeten Knochen sitzt und nach den Himmeln greift, die es nicht versteht, oder das Prinzlein, das von einer Macht berührt wurde, an die es nicht glaubt.«

Serefin legte eine Hand an das Zauberbuch und wartete darauf, dass sein Herz aufhörte, seinen Körper durchzuschütteln. »Hast du gewonnen?«

»Was gewonnen?«, fragte Pelageya, während sie immer noch zählte.

»Die Wette.«

»Nein. Wo ist die Hexe?«

»Sie ist keine Hexe, sie ist eine Klerikerin.«

»Man kann keine Klerikerin sein, wenn die Götter nicht mit einem reden«, entgegnete Pelageya und wedelte abfällig mit der Hand. »Man kann auch keine Hexe sein mit dem, was sie ist. Befleckt, aber heilig. Ein Rätsel. Sie ist eine Menge, unter anderem nicht hier. Nicht, was ich erwartet habe. Aber du bist hier. Eine Hälfte von meinem entzückend blutrünstigen und erbärmlich wahnhaften Blutmagierpaar.«

Serefin kniff die Augen zusammen und betrachtete den leeren Raum. »Was ist hier passiert?«

Ein Blinzeln. Der Raum war nicht mehr leer. Der Hexenkreis auf dem Boden war jetzt mit Kreide statt mit Holzkohle gezeichnet. Die Hirschschädel baumelten an ihren Geweihen von der Decke und Serefin stellte fest, dass er auf einem gepolsterten Stuhl saß, während sich in seinem Kopf alles drehte und die Motten nervös sein Gesicht umschwirrten.

»Was ist wo passiert?«, fragte Pelageya, die plötzlich nicht älter war als Serefin. Ihre Locken waren aus dem Gesicht nach hinten gebunden, sie waren schwarz, bis auf eine erschreckend weiße Strähne, die in der Menge der Haare in dem Knoten an ihrem Hinterkopf verschwand. »Du willst etwas«, zwitscherte sie, während sie einen Schädel – menschlich – von einem Beistelltisch nahm, sich Serefin gegenüber auf einen Stuhl setzte und ihn, mit dem Schädel auf dem Schoß, ansah.

»Ich sollte wirklich gehen«, sagte Serefin und wollte aufstehen.

Er blieb auf seinem Stuhl gefangen. Panik flackerte in ihm auf.

»Oh«, sagte Pelageya und tippte sich ans Kinn. »O nein. Ich habe den einen und der andere wird irgendwann kommen. Meleski und Czechowicz, doch enger verbunden, als ihr wisst, enger, als die Lügner es gesagt haben. Er wird kommen, schon bald, und dann – endlich – kann ich mich um die Hexe kümmern, die eine Klerikerin ist, die keine Hexe ist und keine Klerikerin.«

»Was hat Malachiasz mit dieser Sache zu tun?«

Pelageya lehnte sich über dem Schädel vor. »Alles, liebes Prinzlein.«

»König«, murmelte Serefin.

»Wie bitte?«

»Ich bin jetzt der König«, sagte er und strich mit den Fingern über das gehämmerte Eisen seiner Krone, die auf seinen Haaren saß. Es fühlte sich immer noch so an, als wäre da ein Fehler unterlaufen und er hätte etwas bekommen, das ihm nicht zustand. Er nahm an, niemand glaubte wirklich, dass er die Krone verdient hatte. Er wollte unter allen Umständen beweisen, dass ihm der Thron von Rechts wegen gehörte – selbst wenn er neben seinen Adligen auch sich selbst davon überzeugen musste.

Pelageya nickte, aber als sich ihr Blick auf sein linkes Auge heftete, konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass auch sie nicht überzeugt war. Verlegen hob er eine Hand zum Auge.

»Sie weiß es.«

Serefin kaute von innen auf seiner Wange herum, um nicht auf die dünne Stimme in seinem Geist zu reagieren.

»Schwarz und gold und rot und grau. Geier und Motten und Blut, immer Blut. Ein Junge, geboren in einem vergoldeten Saal, und ein Junge, geboren in Dunkelheit. Aufgezogen in Bitterkeit und aufgezogen in Lügen. Verändere deinen Ort; verändere deinen Namen. Es bringt nichts, weißt du, es ist ein Spiegel. Das Blut ist dasselbe, die Dunkelheit süßlicher bei dem einen, aber du siehst in einen Spiegel, um dich selbst zu finden, und findest den, der zu werden du dich fürchtest. Zwei Throne, zwei Könige, zwei Jungen, um diese Welt in Dunkelheit zu tauchen mit dem Ziel, sie zu retten.«

Ein Schauder ergriff Serefins Körper. Er bereute es, allein hergekommen zu sein. Er wünschte sich, Kacpers beruhigende Hand würde auf seiner Schulter liegen und ihn ein weiteres Mal von der wirren Raserei der Hexe wegziehen.

»Wovon sprichst du?«, fragte Serefin mit gedämpfter Stimme.

»Verstecken und vergessen. Verstecken und sich erinnern. Du versteckst dich vor der Wahrheit, aalst dich in der Lüge einer von Anfang an betrügerischen Familie. Er versteckt sich in einer Magie, die die Erinnerung an seine Vergangenheit weggebrannt hat. Eines Tages werden sich beide erinnern, doch was wird dann geschehen?«

»Sich woran erinnern?« Die Spannung wurde unerträglich.

Pelageya starrte ins Nichts, ihre bleichen Finger streichelten über den Schädel.

»Soll ich dir eine Geschichte erzählen, lieber König der Motten, König des Blutes, König der Schrecken?«

»Ja.« Das Wort kam geflüstert hervor, bevor er es aufhalten konnte, und er zuckte zusammen. Er wollte unbedingt vor der drohenden Enthüllung fliehen, was auch immer sie enthielt.

»Eine Geschichte über zwei Schwestern aus dem Seenland. Eine Geschichte über ein Mädchen, das einen Prinzen heiratete, den es nicht mochte und der ein König wurde, den es hasste. Das Mädchen wurde zur Frau und brachte einen Sohn zur Welt, den sie nicht verstand, aber dennoch liebte. Doch das genügte nicht. Und sie suchte das Vergessen, weit weg von dem verabscheuten Ehemann. Ein zweiter Sohn kam aus der Dunkelheit, versteckt und geboren aus maskierter Leidenschaft und Lügen.«

»Nein …«, stieß Serefin kopfschüttelnd hervor. »Nein.« Die Wände wollten auf ihn einstürzen, seine Sicht wurde schwarz an den Rändern.

»Tranavier machen einem alles so leicht!«, sagte Pelageya entzückt. »O nein, nein, seht ihr, dieser Junge gehört der Schwester, nicht der Frau, sagten sie. Versteckt ihn hinter einer verdrehten Wahrheit und niemand wird Verdacht schöpfen! Schickt ihn weg zum tranavischen hohen Orden, und niemand wird sich daran erinnern, dass er je etwas anderes war als ein entbehrlicher slavhka! Verbrennt seine Knochen und zerschlagt seinen Körper, und es wird keine Rolle mehr spielen, von wem er kam. Erschafft eine Waffe; erschafft einen König.«

Sie lügt, dachte Serefin verzweifelt. Und doch wusste er tief in seinem Herzen, ausgehend von diesem Platz, von dem aus sich Malachiasz noch lange nach seinem Verschwinden in seinen Gedanken gehalten hatte, dass sie nicht log. Vielleicht hatte es deshalb so sehr geschmerzt, als Malachiasz die Tür zu Pelageyas Turm geöffnet hatte und sich bei Serefins Anblick in seinem Lächeln mit den spitzen Zähnen kein Wiedererkennen gezeigt hatte.

»Wo ist dein Bruder, lieber König? Wo ist der Schwarze Geier hingegangen?«

Das Wort Bruder traf Serefin wie ein Schlag gegen die Brust. »Woher weißt du das?«, fragte Serefin mit bebender Stimme.

Pelageya lachte höhnisch. »Du fragst, als hättest du Zweifel. Aber du weißt es, du weißt es, das Blut ist dasselbe.«

»Warum erzählst du mir das alles?« Warum jetzt? Da alles, was er hatte, ein kochender Hass war, den er für den Schwarzen Geier hegte, weil er gestorben war wegen ihm. Wegen Malachiasz. Seinem Bruder.

»Wer sonst sollte es dir erzählen?«, fragte sie. »Mit Sicherheit nicht deine Mutter.«

Serefin schauderte es. Wie viel wusste seine Mutter über Malachiasz’ Schicksal? Wie ist nur das Geringste von alldem möglich?

Pelageyas tiefdunkle Augen verfolgten die Motten, die um Serefins Kopf herumflatterten. »Das«, meinte sie, »ist eine unerwartete Entwicklung. Hat er schon zu dir gesprochen? Ich bin mir sicher, das hat er. Geflüster, allerdings, nur Geflüster, denn du bist Tranavier und dir ist so schwer beizukommen. Du bist nicht der, den er zuerst wollte.«

Pelageya neigte den Kopf, stand auf und ging zu den schweren Vorhängen, die alles in Dunkelheit tauchten. Sie zog sie zurück und flutete den Raum mit einem blendenden Licht.

»Die kriechenden Schatten schlittern aus der Dunkelheit; Vergeltung fällt vom Himmel«, murmelte sie. »Du hast Zeit, aber sie vergeht schnell. Und vergehen wird sie. Die Ereignisse sind in Bewegung versetzt, und du musst zusehen, ob du stehen wirst oder fallen.«

Serefin kämpfte sich auf die Beine, seine Glieder waren endlich befreit. Das war mehr Wissen, als er wollte. Es kümmerte ihn nicht, ob es noch mehr zu sagen gab. Pelageya drehte sich vom Fenster weg und schenkte ihm ein schiefes Lächeln.

Er floh.

Serefin platzte in die Räume seiner Mutter, ohne auf die Proteste des Dienstmädchens zu achten.

»Ich bin ihr Sohn«, fauchte er, als sie ihm hinterhereilte und etwas über Anstand brummte. Er traf seine Mutter im Wohnzimmer an und knallte der Dienerin die Tür vor der Nase zu. Eine gläserne Vase neben der Tür wackelte gefährlich.

Klarysa sah von ihrem Buch auf und starrte gezielt erst auf die Tür und dann auf die Vase.

»Wann wolltest du es mir sagen?«, fragte Serefin, überrascht von seiner ruhigen Stimme.

»Du wirst dich um einiges genauer ausdrücken müssen, mein Lieber«, sagte sie, ohne seinen Kummer zu bemerken. Sie streckte eine Hand aus, winkte ihn näher heran und nahm die Stoffmaske von ihrem Gesicht ab.

Er bewegte sich nicht. Er wollte diese verfluchte Vase nehmen und gegen die Wand schleudern. Auch das unterließ er.

»Du wusstest, was mein Vater vorhatte«, sagte er vorsichtig und langsam. »Du hast mich vor ihm gewarnt, du wusstest es die ganze Zeit.«

Ihre blassblauen Augen verengten sich, und Serefin stellte fest, dass er und Malachiasz beide diese Augen geerbt hatten.

»Und du hast ihn zu Fall gebracht«, sagte sie seelenruhig, während sie sich ihre Maske wieder vors Gesicht hakte. »Die Krone ist dein.«

»Du wusstest, dass er sich mit den Geiern verschworen hat.«

»Das habe ich gewusst.«

»Du kanntest den Geier, dessen Schuld das ist.«

Sie legte die Stirn leicht in Falten. »Es war der Schwarze Geier.«

»Wieso weißt du nicht, wer er ist?«, fragte Serefin mit schließlich brechender Stimme. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Seit Monaten hatte er immer wieder alle verfügbaren Hinweise über Malachiasz zusammengetragen, denn schließlich würde er sich irgendwann um den Schwarzen Geier kümmern müssen. Er würde ihn für seinen Verrat zur Rede stellen müssen.

Aber jetzt wusste er nicht, was er tun sollte.

»Serefin, wovon redest du?«

»Die Hexe musste es mir erzählen«, sagte er, blankes Entsetzen in der Stimme. »Du hattest nicht einmal den Anstand, es mir selbst zu sagen. Wusstest du, als du ihn zu den Geiern gesandt hast, was aus ihm würde?«

Klarysa verspannte sich schließlich. »Was?«

»Du warst nie hier. Natürlich wusstest du nichts Genaues. Natürlich hast du ihn nie einfach im Vorbeigehen gesehen. Aber du hättest es mir sagen können. Er war die ganze Zeit hier, so nah, und ich wusste es nie.«

Ihr wich das Blut aus dem Gesicht.

Serefin sackte auf einen Stuhl und vergrub den Kopf in den Händen.

»Pelageya hat es dir gesagt?«, fragte Klarysa kalt, die Stimmung zwischen ihnen zum Zerreißen gespannt.

Er nickte, ohne den Kopf zu heben.

»Er hätte bei Sylwia bleiben sollen«, flüsterte sie. »Für einen Bastard gibt es keinen Platz am Hof und es schöpften schon zu viele Verdacht.«

»Er war nie mein Cousin«, stellte Serefin fest. »Und du hast ihn den Geiern ausgeliefert.«

»Werd nicht gefühlsduselig, Serefin, das steht dir ganz schlecht. Er war bereits zu mächtig, um irgendwo anders hinzugehen.«