Das schwarze Herz des Winters – Unholy - Emily A. Duncan - E-Book

Das schwarze Herz des Winters – Unholy E-Book

Emily A. Duncan

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Beschreibung

»Mach dich gefasst auf ein eisiges, blutiges Abenteuer, in dem die Monster dein Herz stehlen und Liebe sich als Albtraum herausstellt.« Roshani Chokshi Eine junge Frau, die mit den Göttern sprechen kann, muss ihr Volk retten, ohne sich selbst zu zerstören. Ein Thronfolger in Gefahr muss entscheiden, wem er trauen soll. Ein Rebell mit dunklen Kräften wartet auf seine Gelegenheit. In einem Jahrhunderte währenden Krieg verflechten sich die Pfade der drei, und eine verbotene Liebe droht, die Balance zwischen Licht und Dunkel zu kippen … »Unholy« ist der atemberaubende Auftakt zu Emily A. Duncans unwiderstehlich düsterer »Das schwarze Herz des Winters«-Reihe.

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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Regina Jooß

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Wicked Saints«, Wednesday Books, New York 2019

Copyright © 2019 Emily A. Duncan

First published by Wednesday Books

Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency

All Rights Reserved

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2021

Karte: Rhys Davies

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Coverabbildung: Guter Punkt, München, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von GettyImages

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Karte

1

Nadezhda Lapteva

2

Nadezhda Lapteva

3

Serefin Meleski

1

Nadezhda Lapteva

Tod, Magie und Winter. Einen bitteren Kreis aus purpurrotem Garn knüpft Marzenya um ihre bleichen Finger. Sie ist beständig; sie ist unbeugsam; sie ist ewig. Den von ihr Gesegneten kann sie jeden Zauber gewähren, ihr Reich ist der ureigenste Stoff der Magie.

Kodex des Göttlichen, 2:18

Vom Altarraum hallte das beruhigende Echo eines heiligen Gesangs bis hinab in die Kellergewölbe. Es war spät am Nachmittag, kurz vor dem Abendessen, eine Stunde, zu der den Göttern in der schwebenden Harmonie des Chores Psalmen gesungen wurden.

Nadezhda Lapteva starrte auf den Berg aus Kartoffeln, der wie eine Lawine den Tisch vor ihr zu überrollen drohte. Sie führte das Messer fest um die Knolle in ihrer Hand herum, sodass sich die Schale als Spirale löste, und verfehlte dabei nur knapp die eigene Haut.

»Die Pflicht einer Priesterin ist wichtig, Nadezhda«, äffte sie den mürrischen Ton des Klostervorstehers nach. »Du könntest den Verlauf des Krieges beeinflussen, Nadezhda. Jetzt geh und verkümmere den Rest deines Lebens im Keller.«

Der Tisch war neben den Kartoffeln überhäuft mit den spiralförmigen Schalen. Sie hatte nicht vorausgeahnt, dass sie den ganzen Tag mit Küchendienst verschwenden würde, doch nun saß sie hier.

»Hast du das gehört?« Konstantin tat, als hätte sie nichts gesagt. Das Schälmesser baumelte unbenutzt von seiner Hand, während er lauschte.

Oben schien nichts Besonderes im Gang zu sein, nur die Andacht. Wenn das also ein Ablenkungsversuch war, dann funktionierte er nicht. »Meinst du unseren bevorstehenden Tod durch die Kartoffellawine? Ich höre ihn nicht, aber ich weiß, dass er kommt.«

Dafür erntete sie einen vernichtenden Blick. Sie wedelte mit dem Messer herum. »Was sollte schon sein? Dass die Tranavier auf unserer Türschwelle stehen? Da müssen sie zuerst siebentausend Stufen hinaufsteigen. Vielleicht ist es ihr Kronprinz, der sich endlich entschieden hat, zu konvertieren.«

Sie wollte lässig wirken, doch die Vorstellung, der Kronprinz könne sich irgendwo in der Nähe des Klosters aufhalten, jagte ihr Schauder über den Rücken. Über ihn erzählte man sich, er sei ein übermächtiger Blutmagier, gehöre zu den Furcht einflößendsten von ganz Tranavia, einem Land voller Ketzer.

»Nadya«, flüsterte Konstantin, »ich meine es ernst.«

Nadya stieß ihr Messer in eine weitere Kartoffel und bedachte ihn mit einem langen Blick. Es war seine Schuld, dass sie hier unten saßen. Anfangs waren die Streiche harmlos gewesen, zu denen ihn eine Mischung aus Langeweile und Verrücktheit nach den frühen Morgengebeten verleitet hatte. Er hatte den Weihrauch im Kloster durch Zitronengras ersetzt oder bei den Kerzen im Gebetsraum den Docht abgeschnitten. Eher kleine Delikte, wenn überhaupt. Nichts, wofür man die Kartoffel-Todesstrafe verdient hätte.

Die Waschschüssel von Vater Alexei allerdings mit roter Farbe zu füllen, die wie Blut aussah, das hatte sie zur Strecke gebracht.

Blut war kein harmloser Stoff, nicht in diesen Zeiten.

Der Zorn von Vater Alexei beschränkte sich nicht nur auf den Keller. Wenn sie den Kartoffelberg bezwungen hatten – falls sie ihn je bezwingen würden –, mussten sie immer noch über Stunden im Skriptorium heilige Texte abschreiben. Schon bei dem Gedanken daran verkrampften sich Nadyas Hände.

»Nadya.« Ihr Messer rutschte natürlich ab, als Konstantin ihren Ellbogen anstieß.

»Verdammt, Kostya!«

Meine makellose Serie aus fünfundvierzig ganzen Spiralen zerstört, dachte sie traurig. Sie wischte sich die Hände an ihrer Tunika ab und starrte ihn an.

Der Blick seiner dunklen Augen richtete sich auf die geschlossene Tür zur Treppe nach oben. Da war nichts, nur …

Oh.

Die Kartoffel rutschte ihr aus der Hand und fiel auf den staubigen Boden. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die Andacht über ihnen zu Ende war. Kostya bohrte die Finger in ihren Ärmel, aber seine Berührung drang nicht zu ihr durch.

Das kann nicht sein.

»Kanonen«, flüsterte sie, und irgendwie wurde die Bedrohung greifbarer, indem sie das Wort aussprach. Sie packte das Messer mit drei Fingern, ließ es zurückschnellen, als wäre es eins ihrer voryen mit dünner Schneide und kein halb stumpfes Küchenmesser.

Mit dem Kanonendonner war in Kalyazin jedes Kind vertraut. Damit wuchsen sie auf, ihre Schlaflieder mischten sich mit dem entfernten Gefechtslärm. Der Krieg war ihr ständiger Begleiter, und die Kinder in Kalyazin wussten, dass sie fliehen mussten, wenn sie diese Kanonen hörten und den Metallgeruch der Magie in der Luft wahrnahmen.

Kanonen bedeuteten nur eins – Blutmagie. Und Blutmagie bedeutete Tranavier. Seit einem Jahrhundert wütete ein heiliger Krieg zwischen Kalyazin und Tranavia. Die Tranavier scherte es nicht, dass ihre Blutmagie die Götter schmähte. Wenn sie sich durchsetzten, würde in Kalyazin die Verbindung zu den Göttern genauso abreißen wie in Tranavia. Doch die Front war noch nie weiter vorgerückt als bis zur Grenze von Kalyazin. Bisher. Wenn Nadya die Kanonen hören konnte, bedeutete das, dass der Krieg Kalyazin bei lebendigem Leib zu verschlingen drohte. Ein blutiges Stück nach dem anderen drang er bis zum Herzen von Nadyas Land vor, brachte Tod und Verheerung mit sich.

Und es gab nur einen einzigen Grund, warum die Tranavier ein abgeschiedenes Kloster in den Bergen angreifen würden.

Die Kellerräume erzitterten, Dreck fiel von der Decke. Nadya sah zu Kostya hinüber, dessen stets scharfer Blick entschlossen, aber auch ängstlich wirkte. Sie waren nur Novizen mit Küchenmessern. Was konnten sie ausrichten, wenn die Soldaten kamen?

Nadya fasste an die Gebetskette, die sie um den Hals trug. Die glatten Holzperlen fühlten sich an den Fingerkuppen kalt an. Es gab Alarmglocken, die läuten würden, sobald die Tranavier den ersten Fuß auf die siebentausend Stufen zum Kloster hinauf gesetzt hätten. Doch Nadya hatte sie noch nie gehört. Hatte gehofft, sie niemals zu hören.

Kostya griff nach ihrer Hand und schüttelte langsam den Kopf, seine Augen blickten ernst.

»Tu das nicht, Nadya«, beschwor er sie.

»Sollten wir angegriffen werden, verstecke ich mich nicht«, erwiderte sie stur.

»Auch wenn du dich entscheiden müsstest, ob du nur diesen Ort schützt oder das ganze Königreich rettest?«

Er fasste wieder nach ihrem Arm, und sie ließ sich von ihm in die Kellergewölbe zurückziehen. Seine Angst war berechtigt. Sie hatte noch nie an einem richtigen Kampf teilgenommen. Dennoch begegnete sie seinem Blick trotzig. Dieses Kloster war alles, was sie kannte, und wenn er dachte, sie würde nicht dafür kämpfen, dann war er verrückt. Sie würde die einzige Familie verteidigen, die sie jemals gehabt hatte. Dazu war sie ausgebildet worden. Kostya fuhr sich mit der Hand über das kurz geschorene Haar. Er konnte Nadya nicht aufhalten, das wussten sie beide.

Nadya riss sich von Kostya los. »Wie kann ich mich irgendwem als nützlich erweisen, wenn ich davonlaufe? Welchen Sinn hätte das?«

Er öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch plötzlich wurden die Kellerwände so heftig erschüttert, dass Nadya sich fragte, ob sie gleich lebendig begraben würden. Dreck fiel von der Decke und bedeckte ihr weißblondes Haar. Blitzschnell hatte sie den Keller durchquert und näherte sich der Tür, die nach oben in die Küche führte. Wenn die Glocken schwiegen, bedeutete das, der Feind war noch immer vor dem Berg. Sie hatten Zeit …

Ihre Hand berührte den Türknauf genau in dem Moment, in dem die Glocken zu läuten begannen. Der Klang hörte sich vertraut an, wie ein weiterer Ruf zum Gebet im Heiligtum. Dann wurde sie von dem drängenden, kreischenden Ton erschüttert, zu dem der Alarm übergegangen war, eine Kakofonie schriller Glockentöne. Keine Zeit mehr. Sie riss die Tür auf und rannte, gefolgt von Kostya, die letzten Stufen zur Küche hinauf. Sie durchquerten den Garten, der nach den harten Wintermonaten leer und tot vor ihnen lag, und stürmten ins Hauptgebäude.

Unzählige Male waren Nadya die Verhaltensregeln im Fall eines Angriffs erklärt worden. Den hinteren Teil der Kapelle aufsuchen. Beten, denn das konnte sie am besten. Die anderen würden zu den Toren gehen, um zu kämpfen. Sie hingegen musste beschützt werden. Doch das waren alles nur Vorsichtsmaßnahmen, die Tranavier würden es niemals so weit ins Landesinnere schaffen. Alle diese Pläne waren einfach nur für eine Situation gedacht gewesen, in der das eigentlich Unmögliche eintrat.

Nun, das Unmögliche geschieht gerade.

Sie schob die schweren Türflügel auf, die hinten aus dem Gebetsraum hinausführten, schaffte es aber nur, sie so weit zu öffnen, dass sie und Kostya gerade eben hindurchschlüpfen konnten. Das Läuten der Glocken hämmerte in ihren Schläfen und schmerzte bei jedem Herzschlag. Sie dienten dazu, alle um drei Uhr morgens zum Gebet aus dem Schlaf zu reißen. Sie erfüllten ihren Zweck.

Irgendjemand prallte gegen sie, als sie einen angrenzenden Gang durchquerte. Mit vorgestrecktem Küchenmesser warf sich Nadya herum.

»Himmel, Nadya!« Anna Vadimovna presste sich eine Hand auf die Brust. An ihrer Hüfte hing ein venyiashk – ein Kurzschwert – und in der Hand hielt sie eine weitere dünne Klinge.

»Kann ich das haben?« Nadya griff nach Annas Dolch. Ohne ein Wort überreichte ihr Anna die Waffe. Sie fühlte sich kraftvoll an, nicht so schwächlich wie das Schälmesser.

»Du wärst besser nicht hier«, tadelte Anna.

Kostya warf Nadya einen mahnenden Blick zu. In der Klosterhierarchie stand Anna als geweihte Priesterin über Nadya. Wenn Anna ihr befahl, den Gebetsraum aufzusuchen, so hatte sie keine andere Wahl, als ihr zu gehorchen.

Also lasse ich es gar nicht dazu kommen.

Nadya lief weiter durch den Flur. »Sind sie schon auf den Stufen?«

»Sie waren kurz davor«, rief Anna.

Kurz davor bedeutete, dass die Tranavier mit großer Wahrscheinlichkeit bereits im Hof sein würden, wenn sie dort ankämen. Nadya zog an ihrer Gebetskette, ihre Finger glitten über die geschnitzten Perlen auf der Suche nach der richtigen. In jede der insgesamt zwanzig Holzperlen war das Symbol eines Gottes oder einer Göttin aus dem Pantheon eingeschnitzt. Sie konnte sie tastend auseinanderhalten und wusste ganz genau, welche sie berühren musste, um einen bestimmten Gott anzurufen.

Früher hatte sich Nadya gewünscht, sich nicht von den anderen Waisenkindern im Kloster zu unterscheiden. In Wahrheit aber hatten die Götter, so weit sie sich zurückerinnern konnte, schon immer ihre Gebete erhört. Wunder hatten sich ereignet, Magie war gewirkt worden. Das machte Nadya wertvoll. Das machte sie gefährlich.

Sie zog an ihrer Halskette, bis sie die gesuchte Perle berührte. Das eingeschnitzte Schwertsymbol fühlte sich unter ihrem Daumen wie ein Splitter an. Sie drückte darauf und sandte ein Gebet an Veceslav, den Gott des Krieges und des Schutzes.

»Hast du dich jemals gefragt, wie es wäre, gegen Gegner zu kämpfen, die mich zur gleichen Zeit wie du um Schutz anflehen?« Veceslavs Stimme erinnerte an eine warme Sommerbrise, die in ihrem Kopf aufstieg.

Wir können uns wirklich glücklich schätzen, dass unsere Feinde Ketzer sind, antwortete sie. Ketzer, die gerade den Krieg gewannen.

Veceslav hielt gern ein Schwätzchen, aber gerade jetzt benötigte Nadya Hilfe, keine Unterhaltung.

Ich brauche einige Schutzzauber, bitte!, betete sie.

Mit dem Daumen ertastete sie Marzenyas Perle und drückte das Symbol eines Schädels mit geöffnetem Mund. Und falls Marzenya in der Nähe ist, so brauche ich sie auch.

Magie rauschte ihr durch die Adern, ein Kraftschub, der von den tönenden Akkorden heiliger Sprache begleitet wurde, einer Sprache, die sie nur verstand, wenn die Götter es ihr gewährten. Nadyas Herz raste, weniger aus Furcht als wegen des berauschenden Schwindels göttlicher Macht.

Glücklicherweise war der weite Hof ruhig, als sie sich endlich durch die Vordertür der Kapelle nach draußen schob. Zu ihrer Linken führte ein Pfad zu den Zellen der Männer. Ein weiterer Weg zweigte rechts in Richtung Wald ab, wo das Kloster einen alten Friedhof für die Heiligen angelegt hatte, die vor Hunderten von Jahren verstorben waren. Schnee aus der letzten Nacht türmte sich auf dem Boden und die Luft war frostig kalt. Die meisten Nächte – und Tage – schneite es oben auf den Baikklebergen. Hoffentlich würde dies den Vormarsch der Tranavier aufhalten.

Nadya blickte sich nach Vater Alexei um und entdeckte ihn oben an den Stufen. Die Priesterinnen und Priester, die für den Kampf ausgebildet wurden, warteten im Hof. Nadyas Herz zog sich zusammen, als sie sah, wie wenige es waren. Ihre Zuversicht schwand. Keine zwei Dutzend gegen eine ganze Kompanie von Tranaviern. Das hätte niemals geschehen sollen. Das Kloster lag inmitten der heiligen Berge. Es war, wenn überhaupt, nur schwer zu erreichen, besonders für all jene, die sich in Kalyazins schwierigem Gelände nicht auskannten.

Marzenya drängte sich in ihre Gedanken. »Was verlangst du, mein Kind?«, sprach die Göttin der Magie, des Opfers und des Todes. Marzenya war Nadyas Patronin im Pantheon, diejenige, die Nadya als kleines Kind auserwählt hatte.

Ich will den Häretikern mit kalyasischer Magie ein schönes Willkommen bereiten, antwortete sie. Damit sie lernen, sich davor zu fürchten, wozu die Rechtgläubigen imstande sind.

Sie spürte Marzenyas aufsteigende Belustigung, gepaart mit einer andersartigen, drängenden Kraft. Die von Marzenya gespendete Magie fühlte sich ganz anders an als die von Veceslav. Wenn er Hitze war, war sie Eis, Winter und kosmische Wut.

Von der Magie der beiden gleichzeitig erfüllt zu sein verursachte ein kribbelndes Gefühl unter Nadyas Haut, ein pulsierendes und ungeduldiges Jucken. Sie ließ Kostya und Anna zurück und ging auf Vater Alexei zu.

»Haltet Eure Leute von den Stufen fern«, sagte sie leise.

Der Abt musterte sie mit gerunzelter Stirn. Nicht weil ihm ein siebzehnjähriges Mädchen Befehle erteilte – auch wenn er sie dafür tüchtig ausschelten würde, falls sie überlebten –, sondern weil sie überhaupt nicht hätte hier sein dürfen. Sie hätte überall sein sollen, nur nicht hier.

Erwartungsvoll zog Nadya die Brauen hoch, drängte ihn mit ihrem Blick, ihre Anwesenheit zu akzeptieren. Sie musste bleiben. Sie musste kämpfen. Sie konnte sich nicht länger im Keller verstecken, nicht, solange Ketzer ihr Land, ihr Zuhause zerstörten.

»Zieht euch zurück!«, rief er nach kurzer Besinnung. »Ich will euch alle an den Türen.« Der Hof war vollgestellt und nach außen hin abgeschlossen, völlig ungeeignet für einen Kampf. »Was planst du, Nadezhda?«

»Nur ein kleines Gottesurteil«, antwortete sie und bewegte sich auf den Fußballen auf und ab. Sie wäre aus der Haut gefahren, wenn sie stillgehalten und darüber nachgedacht hätte, was gleich geschehen mochte.

Sie hörte sein angstvolles Seufzen, als sie zu den Stufen der langen Treppe hinüberging, die in den Hof mündeten. Das war der einzige Weg, auf dem die Feinde zum Kloster gelangen konnten. Selbst das war schwierig, weil die Stufen manchmal derart mit Eis überzogen waren, dass sie unmöglich zu erklimmen waren. So viel Glück hatten sie heute nicht.

Woher wussten die Tranavier, dass sie hier war? Die Einzigen, die von Nadyas Existenz hier oben wussten, waren die Klosterbewohner.

Und … da war noch der Zar. Doch der lebte weit, weit weg in der Hauptstadt. Dass sich die Neuigkeiten über sie bis nach Tranavia herumgesprochen hatten, war höchst unwahrscheinlich.

Kaum atmend flüsterte sie ein Gebet in heiliger Sprache, Symbole aus Licht formten sich auf ihren Lippen und vergingen in einer Nebelwolke. Sie kniete nieder und fuhr mit den Fingern über die Oberfläche der Stufen. Der glatte Stein überfror, bis die Stufen zu einem einzigen Eisblock wurden.

Sie trat zurück, ließ das voryen in ihrer Hand einfach so durch die Luft kreisen. Der Zauber war ein Spiel um Zeit. Wenn die Tranavier von einem Blutmagier begleitet wurden, der die Wirkung ihrer Magie aufheben konnte, dann würde er nicht bestehen bleiben.

Es gibt kein Zurück mehr.

Mit einem mittelmäßigen Blutmagier nahm Nadya es ohne Weiteres auf. Doch sowie ein tranavischer Leutnant oder General auftauchte – ein Magier, der nur durch die Kraft seiner Zauber im Rang aufgestiegen war –, wollte sie schleunigst in den Gebetsraum zurückkehren, wo sie hingehörte.

Marzenya seufzte höhnisch über ihre Zweifel.

Ich gehöre hierher, sagte Nadya trotzig zu sich selbst.

Kostya trat an ihre Seite. Er hatte sein Küchenmesser gegen einen noven’ya getauscht, einen Stab mit einer langen Klinge an einer Seite. Er stützte sich darauf, beugte sich vor und betrachtete den Hang, an dem sich, so weit das Auge reichte, die gewaltige Treppe nach unten wand.

»Geh«, sagte er. »Es ist noch nicht zu spät.«

Nadya grinste ihn an. »Es ist zu spät.«

Als wollten sie ihr recht geben, setzten die Glocken nach einem beunruhigenden letzten Läuten aus. Abgesehen vom gleichmäßigen Donnern der Kanonen, die nun eindeutig am Fuß des Berges abgefeuert wurden, herrschte rings um das Kloster Stille.

Wenn Rudnya fiel, wäre das Kloster das nächste Ziel. Die Stadt am Fuß des Berges war gut befestigt, doch sie waren mitten in Kalyazin. Nie hatte jemand damit gerechnet, dass sich die Kriegsfront so weit nach Westen verlagern würde. Sie hätte sich an der Ostgrenze entlangziehen sollen, wo Kalyazin und Tranavia aneinanderstießen, nördlich der Grenze zu Akola.

Ein Riss zog sich wie ein Spinnennetz durch das Eis, das die Stufen bedeckte. Er wurde breiter und bildete ein Muster an Rissen, bevor die ganze Schicht auseinanderbrach.

»Wir sind ihnen überlegen«, murmelte Nadya.

Sie hielt ein einziges voryen in Händen. Nur einen Dolch.

Wir sind ihnen überlegen.

Die Stille wurde erschüttert und etwas stach Nadya in den Hinterkopf.

»Blutmagie«, zischte Marzenya.

Nadya schlug das Herz bis zum Hals und Zweifel krochen ihr wie Fangarme über den Rücken. Sie spürte, wie ihre Magie erzitterte, und schob Kostya einfach beiseite. Genau in diesem Moment explodierte etwas auf der Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte. Ein harter Eisbrocken prallte ihr gegen den Rücken und Schmerzen schossen ihr bis in die Zehen hinunter. Sie wurde gegen Kostya geschleudert und beide gingen zu Boden.

Bevor Nadya das Geschehen recht begriffen hatte, war er schon wieder auf den Beinen. Der Hof füllte sich mit Magie und Stahl, als Soldaten über die Stufen heraufstürmten. Nadya kam stolpernd auf die Beine und blieb an Kostyas Seite, dessen Schwert mit atemberaubender Schnelligkeit durch die Luft wirbelte und sie vor den tranavischen Soldaten verteidigte.

Von Kindern eines kriegsgebeutelten Landes wurde erwartet, dass sie wussten, wie sie sich wehren sollten, wenn der Feind schließlich vor der Tür stand. Kostya und Nadya hatten ihre Technik perfektioniert. Sie war schnell, er war stark, und sie würden alles geben, um den anderen zu schützen. Es sei denn, Nadya führte ihren Untergang durch ihr eigenes Zaudern herbei. Als immer mehr Magie ihren Körper überschwemmte, mehr als je zuvor, zitterte sie am ganzen Körper.

Ich weiß nicht, was ich tue.

Verzweifelte Gebete zu den Göttern hätten nur noch mehr Magie zur Folge gehabt. Nadya musste selbst entscheiden, wie sie eingesetzt werden sollte.

Sie fuhr mit der Hand über die flache Seite ihres voryen. Reines weißes Licht folgte ihrer Bewegung. Sie war sich nicht ganz sicher, was es zu bewirken vermochte, fand es aber rasch heraus, als sie auf einen tranavischen Soldaten einstach. Sie erwischte nur seinen Arm, aber bei der Berührung verbrannte ihn das Licht und wie Gift breitete es sich schwarz bis zu seinem Gesicht aus und überzog die Augen mit Dunkelheit. Dann fiel er tot vornüber. Sie stolperte zurück und prallte gegen Kostya.

Ich habe ihn getötet. Ich habe noch nie jemanden getötet.

Kostya ließ die Hand sinken und strich ihr über den Arm.

»Mach weiter!«, drängte Marzenya.

Doch durch die Luft wirbelte so viel Magie und diese Magie war überaus mächtig und Nadya nur eine einzige Klerikerin. Für einen weiteren langen Augenblick war sie vor Angst wie betäubt, bis Marzenya mit einem zielgerichteten, scharfen Schmerz auf ihren Hinterkopf einstach.

Mach weiter!

Frost überzog ihre Finger, während sie sich unter einem tranavischen Schwert wegduckte, dann schlug sie dem Gegner die eisige Faust gegen die Brust. Wie beim letzten Angreifer zog sich schwarz verbrannte Haut über seinen Nacken hinauf und über das Gesicht, bevor er zu Boden krachte und das Licht in seinen Augen flackernd erlosch.

Nadyas Brust schnürte sich zusammen. Sie fürchtete, sich gleich übergeben zu müssen, doch Marzenya stieß sie heftig vorwärts, weil sie ihre Schwäche verachtete. Das rüttelte sie auf. Hier war kein Platz für fehlgeleitete Gefühle. Hier herrschte Krieg. Der Tod war unausweichlich. Notwendig.

»Nadezhda!« Marzenyas Warnung kam zu spät. Flammen umschlossen sie, leckten unter ihrer Haut, ihr Blut kochte. Der Schmerz trübte ihr die Sicht. Sie stolperte und Kostya fing sie auf, schleppte sie aus dem Schlachtgetümmel, kurz bevor sie im Schatten unter dem Torbogen zur Kapelle in die Knie ging. Sie grub die Zähne in die Unterlippe. Blut füllte ihren Mund, metallisch und scharf. Sie rang nach Luft. Es war, als würde sie bei lebendigem Leib von innen verbrennen.

Gerade als sie glaubte, den Schmerz nicht mehr auszuhalten, schwappte Veceslavs Gegenwart herein und umhüllte sie wie eine dicke Decke. Er besänftigte die Magie, drückte sie weg, bis sie wieder atmen konnte. Sie hatte ihn nicht gerufen; er hatte es einfach gewusst.

Ihr blieb keine Zeit, sich von der Allgegenwart der Götter erschüttern zu lassen. Mit zitternden Gliedern kämpfte sie sich auf die Beine. Bedrohlich drehte sich die Welt um sie herum, doch das spielte keine Rolle mehr. Was auch immer dieser Schlag gewesen war, er war von einem machtvollen Magier gekommen. Ihr Blick suchte angstvoll den Hof ab, und als sie ihn entdeckte, gefror ihr das Blut in den Adern, das eben noch geradezu gekocht hatte.

Oh, sie hatte einen fürchterlichen Fehler begangen.

Ich hätte mich verstecken sollen.

Dreißig Schritte entfernt von ihr, am Eingang zum Hof, stand ein Tranavier und zerknüllte ein blutiges Blatt Papier in seiner Faust. Über sein linkes Auge zog sich eine klaffende, teuflische Narbe. Sie begann an seiner Schläfe und endete genau an der Nase. Mit leicht höhnischem Lächeln verfolgte er die blutigen Kämpfe vor sich. Nadya musste die roten Schulterstücke und die goldenen Tressen an seiner Uniform gar nicht sehen, um ihn zu erkennen.

Über den Kronprinzen der Tranavier wurde einiges im Kloster geflüstert. Ein Junge, der schon nach sechs Monaten an der Front zum General ernannt worden war, mit sechzehn Jahren. Einer, der den Krieg genutzt hatte, um das Anwachsen seiner bereits fürchterlichen Gewalt über die Blutmagie noch zu befeuern. Ein Monster.

Alle Zweifel, die Nadya von sich geschoben hatte, stürmten wieder auf sie ein. Das konnte nicht wahr sein, nicht der Kronprinz, nicht er.

Er war jung, nur einige Jahre älter als sie, und er hatte die hellsten Augen, die sie je gesehen hatte. Als könne er sie spüren, begegneten diese hellen Augen denen von Nadya. Zugleich verzogen sich seine Lippen zu einem schiefen Lächeln und sein Blick schweifte zu der Magie hinüber, die wie Licht über ihre Handflächen wirbelte.

Sie stieß eine Salve an Flüchen aus.

Ich brauche … ich brauche etwas Mächtiges, betete sie verzweifelt. Er wird mich holen. Er schaut genau auf mich.

»Du läufst Gefahr, Rechtgläubige zu verletzen«, erwiderte Marzenya.

Die Welt kippte. An den Rändern wurde Nadyas Sichtfeld schwarz. Der Hof war ein Albtraum. Purpurrot gesprenkelter Schnee, die Leichen derer, mit denen Nadya gelebt, gearbeitet und gebetet hatte, lagen auf den Steinen, gefallen und gebrochen. Es war ein einziges Gemetzel und die Schuld dafür lastete auf ihr. Die Tranavier waren nur ihretwegen hier. Wenn sie starb, wäre es dieses Massaker wert gewesen?

Der Prinz kam über den Hof auf Nadya zu, Panik blendete alles andere aus. Wenn er sie zu fassen bekam, wie würde er ihr Blut nutzen? Was konnte er mit der Magie anstellen, über die sie verfügte? Es waren so viele Tranavier, sie verfügten über so viel Magie, und alle, die Nadya kannte, würden sterben.

Kostya schob sie zurück in den Schatten. Ihre Magie glitt davon, während sie mit dem Rücken gegen die Tür stieß.

»Nadya«, flüsterte Kostya und spähte verzweifelt über die Schulter zurück. Der Prinz war nicht zu sehen, aber er war nahe. Es blieb keine Zeit mehr. Es war vorbei. Kostya schob ihr eine Locke hinter das Ohr. »Geh, Nadya! Lauf weg!«

Entsetzt starrte sie ihn an. Weglaufen? Nachdem alle, die sie liebte, niedergemetzelt worden waren, sollte sie sich in Sicherheit bringen, indem sie flüchtete? Was bliebe von ihr übrig, wenn sie davonrannte, um sich selbst zu retten? Das Kloster war das einzige Zuhause, das sie je gekannt hatte.

»Du musst gehen«, sagte Kostya. »Wenn er dich in die Finger kriegt, ist der Krieg verloren. Du musst leben, Nadya.«

»Kos…«

Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, seine Lippen fühlten sich warm an. Gleichzeitig ließ er etwas Kaltes auf ihre Handfläche gleiten. »Du musst leben«, wiederholte er mit belegter Stimme. Dann wandte er sich ab und rief nach Anna. Nadya ließ den Gegenstand in ihre Tasche gleiten, ohne einen Blick darauf zu werfen.

Einige Schritte entfernt kämpfte Anna, Leichen stapelten sich um ihre Füße. Als sie ihren Namen hörte, schnellte ihr Kopf nach oben. Ruckartig hob Kostya den Kopf und wies auf Nadya. In Annas Miene spiegelte sich Verständnis.

Mit einem Gesichtsausdruck, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte, wandte sich Kostya nochmals an Nadya. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, fiel dann aber ruckartig nach vorn, nachdem die Knie unter ihm nachgegeben hatten. Ein Armbrustbolzen steckte von hinten in seinem Bein.

Nadya schrie laut auf. »Kostya!«

»Zeit, zu gehen, Nadya.« Anna packte sie am Arm und zog sie auf den Weg, der zum Friedhof führte.

Ich kann Kostya nicht zurücklassen. Kostya, der bei ihrer ersten Begegnung mit ernstem Gesicht über ihre ungewöhnliche Gabe nachgedacht hatte, nur um dann zu witzeln, dass sie wohl nie eine einzige böse Tat begehen könne, ohne dass die Götter es sofort erfuhren. Kostya, der ihre Stellung bei den Göttern missachtet und sie in alle möglichen Streiche und Missetaten hineingezogen hatte. Kostya, der Junge, der während des Gebetes Äpfel zu ihr herübergerollt hatte. Kostya, ihr Freund, ihre Familie.

Ich werde sein Leben nicht für meine Sicherheit opfern.

Tränen erstickten ihre Stimme. »Ich lasse ihn nicht allein.«

»Du musst, Nadya.«

Sie konnte sich nicht losreißen. Sie konnte nur hinterherstolpern, während Anna sie zu einem Mausoleum zerrte und die Tür aufstieß. Bevor Anna sie in die Dunkelheit zog, sah sie als Letztes noch Kostya, dessen Körper unter dem Treffer eines zweiten Bolzens erzitterte.

2

Nadezhda Lapteva

Als die Gläubigen sich im Kampf gegen eine Wanderhorde aus dem Norden an den Gott des Schutzes wandten, rechneten sie mit seinem Segen, nur um im folgenden Krieg niedergemetzelt zu werden. Törichterweise vergaßen sie, dass Veceslav auch der Gott des Krieges war, und Eisen muss erprobt werden.

Kodex des Göttlichen, 4:114

Anna drückte sich an Nadya vorbei, stieß die Tür zu und verriegelte sie. Nadya wollte sie daran hindern – Kostya würde sterben, wenn sie nicht einschritt –, aber Anna baute sich vor der Tür auf und verstellte Nadya den Weg.

»Nadya!«, flehte sie leise und in ihrer Stimme schwang alles Ungesagte mit.

Mit einem solchen Überfall war immer zu rechnen gewesen, und Nadya wusste, dass ihre Freunde bereit waren, für sie zu sterben. Nun konnte sie lediglich dafür sorgen, dass ihr Tod nicht umsonst war.

Beklage die Toten später, überlebe jetzt.

Sie ballte die Fäuste und wandte sich ab. Vor ihr führten Stufen in die Dunkelheit hinab. Fast wäre sie auf der ersten Stufe ausgerutscht und hätte auf brutale Art erfahren, wie weit nach unten sie führten. Anna griff nach ihrem Arm, hielt sie fest, und sie bemerkte, dass die Priesterin zitterte.

»Kannst du für etwas Licht sorgen?«, fragte Anna. Kaum unterdrückte Tränen schwangen in ihrer Stimme mit.

Die Dunkelheit war bedrückend, aber die Stille fand Nadya noch besorgniserregender. Weit und breit war nichts zu hören, obwohl der Kampf draußen weitertobte. Eigentlich hätten sie das Klirren von Metall und die Schreie der nahen Schlacht hören sollen, doch alles blieb ruhig.

Licht konnte Nadya ohne Weiteres erzeugen. Sie zog an ihrer Halskette und fand Zvonimiras Perle mit der Kerzenflamme, die für die Göttin des Lichtes stand. Sie flüsterte ein Gebet, nur eine schwache Bitte um nichts, was wirklich Rettung versprach.

Eine Abfolge heiliger Worte kam ihr im Flüsterton über die Lippen, als Zvonimira das Gebet erhörte. Weißes Licht flammte an ihren Händen auf. Sie presste die Fingerspitzen aneinander und formte eine Kugel aus Licht, die den Raum erleuchtete, sobald sie in die Luft gewirbelt wurde.

»Golzhin dem!«, fluchte Anna leise.

Hilflos, wie sie war, blieb Nadya nichts anderes übrig, als Anna die Stufen hinunter zu folgen. Ihr bester Freund lebte wahrscheinlich nicht mehr. Alles zerstört, was sie je gekannt hatte. Jedes Mal, wenn sie blinzelte, blitzte das kalte Lächeln des Kronprinzen vor ihr auf. Sie würde nie wieder sicher sein.

Lieber würde ich monatelang Berge an Kartoffelschalen abkratzen.

Nadya wusste nicht, ob irgendeins der nahe gelegenen Militärlager noch stand oder ob die Tranavier sie auf ihrem Weg ins Landesinnere allesamt verwüstet hatten. Wenn sie es bis zur Hauptstadt Komyazalov und an den Silberhof schaffte, dann gab es Hoffnung. Allerdings bezweifelte sie es stark, lauerte der Kronprinz doch nur wenige Schritte entfernt.

Nadya hätte noch für ein weiteres Jahr im Geheimen bleiben und in den heiligen Bergen von den Priestern lernen sollen. Sie selbst verfügten zwar über keine Magie, kannten sich aber mit den Grundlagen des Göttlichen aus. Zum Beispiel mit der Frage, wie ein Bauernmädchen die Einzige sein konnte, die Kalyazin vor dem Feuer der Ketzer zu schützen vermochte. Doch der Krieg scherte sich nicht um noch so sorgfältig ausgearbeitete Pläne.

Jetzt hatte dieser Krieg Nadya alles geraubt, sie wusste nicht weiter und ihr Herz schmerzte. Sie sah nur das Bild von Kostya, wie er taumelte, als die Armbrustbolzen in seinen Körper eindrangen.

Anna führte sie die Stufen in einen langen, feuchten Tunnel hinunter. In den letzten Jahrzehnten schien niemand mehr hier unten gewesen zu sein. Nachdem sie ein paar Minuten lang schweigend hintereinandergegangen waren, blieb Anna vor einer alten Holztür stehen. Mit einer Schulter stemmte sie sich so lange dagegen, bis die Tür mit einem gequälten Ächzen nachgab. Staub rieselte auf ihre Köpfe herab und sprenkelte Annas Kopftuch wie mit Schneeflocken. Vor ihnen öffnete sich ein Raum, der Reisekleidung, Waffengestelle und Regale mit sorgfältig konservierten Lebensmitteln verwahrte.

»Vater Alexei hat gehofft, dieser Vorratskeller müsse niemals gebraucht werden.« Anna seufzte schwermütig.

Nadya fing die warme violette Tunika und die dunkelbraune Hose auf, die Anna ihr zuwarf. Sie zog sie über ihr dünnes Gewand. Anna gab ihr außerdem einen dicken schwarzen Wollmantel und eine pelzgefütterte Mütze. Anna zog eine eigene Garnitur Kleidung an und trat an das Waffengestell. Sie reichte Nadya ein Zweierset verzierter voryen. Plötzlich hielt sie inne und starrte auf die Waffen in Nadyas Hand. Wortlos reichte sie ihr eine dritte Klinge, dachte noch einmal nach und hielt ihr eine vierte hin.

»Schließlich verlierst du sie ständig«, meinte sie trocken.

Damit hatte Anna recht. Nadya befestigte zwei der Klingen am Gürtel und steckte die anderen beiden in die Stiefel. Zumindest wäre sie bewaffnet, wenn der Prinz sie zu fassen bekam. Anna nahm ein venyiornik – ein langes Schwert mit nur einer Schneide – vom Waffengestell und band es sich um die Hüfte.

»Das sollte genügen«, murmelte sie. Sie nahm zwei leere Taschen und füllte sie mit Lebensmitteln. »Bitte, könntest du diese Schlafmatten und das Zelt an die Taschen binden?«

Da erzitterte der ganze Raum, und ein ohrenbetäubendes Krachen kam aus Richtung der Zugangspforte. Überrascht schrie Nadya auf. Gebückt streckte sie den Kopf durch die Türöffnung in den Tunnel. Nichts als Dunkelheit. Wahllos warf Anna konservierte Lebensmittel aus einem Regal in eine der Taschen.

Panik schnürte Nadya die Kehle zu. Der Tunnel war nicht sehr lang und jeden Moment konnten die Tranavier hier sein.

Anna schulterte eine der Taschen und betrat den Tunnel. Die Welt schwankte gefährlich, als Nadya kaum verständliche Worte schnell wie Schüsse aus jener Richtung hörte, aus der sie soeben gekommen waren.

Sie musste weder die Worte verstehen noch die Stimme erkennen. Es war der Prinz. Er und kein anderer konnte es sein. Gegen ihn war sie machtlos.

Dann rannte, rannte, rannte sie hinter Anna her. Sie musste darauf vertrauen, dass die Priesterin die Windungen und Abzweigungen des Tunnels kannte. Sie musste darauf vertrauen, dass sie nicht inmitten einer tranavischen Kompanie im Freien auftauchten.

Von hinten vernahm sie die zischenden Geräusch der Magie, die gegen die Wände prallte. Irgendetwas streifte ihr Ohr, Hitze strahlte in Wellen davon ab. Es krachte in die Biegung des Tunnels und zerplatzte in einem Funkenschauer. Er war nah, er war viel zu nah.

»Tek szalet wylkesz!« Der Ruf, der durch den Tunnel hallte, klang nicht sonderlich wütend. Wenn überhaupt schwang Belustigung in der Stimme mit. Ein Lachen war zu hören, deutlich und boshaft.

Nadya verlangsamte ihre Schritte und spähte dabei nach hinten in die Dunkelheit. Aus der Schwärze drang ihr ein plätscherndes Geräusch ans Ohr. Anfangs schien es nur zu tropfen, dann wurde es intensiver und klang nicht nach einem Verursacher, sondern nach vielen. Nach vielen Bewegungen. Sie kniff die Augen zusammen. Tausend flatternde kleine Flügel.

Als eine quirlige Masse an Fledermäusen in den engen Tunnel schwärmte, riss Anna Nadya mit sich nach unten.

Nadyas Lichtzauber erlosch und ließ sie in einer lebendigen, sich bewegenden Dunkelheit zurück. Die Fledermäuse packten ihre Haare und zerrten an jedem unbedeckten Hautstück. Blindlings ließ sich Nadya von Anna mitziehen. Die Hand der Priesterin in ihrer war das Einzige in dieser beweglichen Dunkelheit, an dem sie sich noch festhalten konnte. Bei lebendigem Leib schien sie von der Schwärze verschluckt worden zu sein.

Sie waren in dem taumelnden Rauschen aus Flügeln und Klauen gefangen, bis Anna schließlich durch eine Türöffnung taumelte und beide gemeinsam mit den Fledermäusen in den Schnee hinausgeschleudert wurden.

In dem Moment, als das Dämmerlicht sie berührte, lösten sich die Fledermäuse in kleinen Rauchfahnen auf. Nadya sprang auf die Beine und half Anna beim Aufstehen. Ihr Blick richtete sich auf die Öffnung, auf den gähnenden schwarzen Schlund vor dem weißen Schnee der Berge.

»Wir müssen weiter«, keuchte Nadya und wich vom Höhleneingang zurück.

Beunruhigt, als sie keine Antwort erhielt, wandte sie sich zu Anna um. Die starrte auf den offenen Eingang … von Tranaviern weit und breit keine Spur.

Wir werden sterben, wenn wir nicht weitergehen. Nadya hob eine Hand, während die andere nach der Halskette tastete und die richtige Perle fand. Sie sandte ein einfaches Gebet zu Bozidarka, der Göttin der Sicht. Ein lebendiges Bild schob sich vor ihr inneres Auge. Der Prinz, der sich an eine Steinmauer lehnte, die Arme vor der Brust verschränkte und höhnisch grinste. An seiner Seite starrte ein zierliches Mädchen mit streng auf Kinnlänge geschnittenem schwarzem Haar und einer nagelgespickten Augenklappe in die Tunnelöffnung.

Nadya kehrte wieder zu sich selbst zurück, ihre Sicht klärte sich. Der Kopf schwirrte ihr von der Anstrengung, ihr Blick verschwamm, bis nichts mehr vorhanden war als der weiße Schnee. Unsicher schwankend atmete sie tief durch und versuchte sich zu sammeln. Im Augenblick verfolgten sie die Tranavier nicht. Warum das so war, ahnte sie nicht, wollte es auch gar nicht so genau wissen. Es würden bald genug kommen.

»Vorerst sind wir in Sicherheit«, murmelte sie erschöpft. Keine Magier mehr. Nicht, bevor sie geschlafen hatte.

»Aber das ergibt überhaupt keinen Sinn«, raunte Anna.

Nadya zuckte mit den Achseln und blickte über den Berghang hinweg. Der Schnee lag hoch, nur hier und dort erhob sich ein Baum. Wo sollten sie Deckung finden, wenn die Tranavier schließlich aus dem Tunnel hervorbrachen?

Anna rang nach Luft und Nadya wandte sich um. Sie wappnete sich, doch als ihr Blick zum Gipfel hinaufschweifte, hatte sie das Gefühl, einen Schlag in die Magengrube bekommen zu haben.

Schwarze Rauchwolken blähten sich hoch oben an der Spitze. Der Rauch füllte den Himmel und schien ihn verschlucken zu wollen. Plötzlich gaben Nadyas Knie nach und sie sank in den Schnee.

Kostya war fort.

Alles war fort. Dort, wo Nadyas Herz schlagen sollte, klaffte nun eine Wunde, eine Leere in der Brust, die alles aufgesaugt und sie mit nichts zurückgelassen hatte. Sie hatte nichts.

Vor Verzweiflung bohrte sie sich einen Fingernagel in die Handfläche, damit der scharfe Schmerz den Kopf klärte und sie die Tränen wegblinzeln konnte. Tränen waren nutzlos. Ihr blieb keine Zeit zum Trauern, auch wenn sie sich ihrem Schmerz gern hingegeben hätte. Sie konnten diesen Krieg nicht gewinnen. Die Tranavier würden alles überrennen und Kalyazin niederbrennen. Kämpfen kam ihr sinnlos vor.

Warum geboten die Götter dem Unheil keinen Einhalt? War eine solche Zerstörung der Wille der Götter? Das konnten sie doch nicht gewollt haben.

Nadya zuckte zurück, als Anna ihre Hand ergriff.

»Eisen muss erprobt werden«, zitierte Anna den Kodex. »Woher sollten wir die Absichten der Götter kennen?«

Absichten waren nicht immer nett und auch nicht immer gerecht.

Als würde sie heraufbeschworen, legte sich Marzenyas warme Anwesenheit wie ein Mantel um Nadya, aber die Göttin sprach nicht. Nadya war dankbar für die Stille. Jegliche Worte würden in ihren menschlichen Ohren nur hohl verklingen.

Jetzt aufzugeben hätte bedeutet, dass alle Bewohner des Klosters umsonst gestorben wären, und das konnte Nadya nicht zulassen. Sie wühlte in ihrer Tasche und zog einen schmalen Anhänger an einer feinen Silberkette hervor. Als sie ihn näher betrachtete, erkannte sie unzählige Spiralen, die alle ineinander übergingen und in der Mitte des Anhängers verschwanden. Noch nie zuvor hatte sie so etwas gesehen. Dabei hatte sie sich immer dadurch ausgezeichnet, dass sie alle Symbole der Götter kannte.

Was hatte Kostya ihr da gegeben?

»Weißt du, was das bedeutet?« Sie hielt Anna die Kette hin, die die Augen zusammenkniff und den Anhänger entgegennahm.

Bedächtig schüttelte sie den Kopf und gab Nadya den Schmuck zurück. Die zog sich die Kette über den Kopf, bis das kühle Metall unter der Kleidung auf ihrer Haut lag. Es spielte nicht wirklich eine Rolle, was er bedeutete. Der Anhänger war wichtig, weil er Kostya gehört hatte. Weil er sie mit einem Ausdruck betrachtet hatte, den sie nur als Sehnsucht beschreiben konnte. Weil er ihre Stirn geküsst hatte und weil er gestorben war, damit sie entkommen konnte.

Das war ungerecht, der Krieg war ungerecht.

Nadya wandte sich von ihrem brennenden Zuhause ab. Sie würde fliehen, damit Kostya nicht umsonst gestorben war. Das musste vorerst genügen.

Sie mussten sicher die ganze Nacht über gehen, um genügend Abstand zwischen sich und die Tranavier zu bringen.

»Lass uns in Richtung Tvir aufbrechen«, schlug Anna vor.

Mit einem Stirnrunzeln zog Nadya sich die Mütze über die Ohren. Tvir lag im Osten. Im Osten lag Tranavia. Im Osten lag die Front. »Wäre Kazatov nicht geeigneter?«

Anna fingerte an ihrem Kopftuch herum, befestigte Stirnband und Schläfenringe. »Ich begleite dich zum nächstgelegenen Lager, aber Kazatov liegt zu weit im Norden. Deine Sicherheit ist für mich oberste Priorität. Der König würde unsere Köpfe fordern, wenn dir irgendetwas zustieße.«

»Nun, die Tranavier besitzen bereits die Köpfe aller Klosterbewohner.«

Anna zuckte zusammen und warf ihr einen verletzten Blick zu. »General Golovhka soll entscheiden, was wir tun sollen«, sagte sie langsam.

Das gefiel Nadya nicht. Sie wollte nicht herumgeschoben und unentwegt in Sicherheit gebracht werden, nur damit andere an ihrer statt starben. Sie wollte kämpfen. Wenn Tvir allerdings das nächstgelegene Lager war, dann würden sie sich eben nach Tvir begeben.

Anna blickte sie an. In ihren großen dunklen Augen schimmerte Mitgefühl. Sie sah über die Schulter und ihre Gesichtszüge verzerrten sich. Nadya wollte nicht zurückblicken. Sie hatte genug Zerstörung gesehen, andernfalls würde sie gänzlich zerbrechen.

»Lass uns zuerst über einen Unterschlupf nachdenken, einverstanden? In der Nähe gibt es eine verlassene Kapelle, die wir innerhalb eines Tages erreichen können. Dort überlegen wir, wie es weitergehen soll.«

Nadya nickte schwach. Sie war zu müde, um zu kämpfen oder sich Gedanken über ihre unvermeidliche Gefangennahme zu machen. Genau die befürchtete sie durch die einzige Person, die niemals Zugriff auf ihre Macht bekommen durfte, die niemals von ihrer Existenz hätte erfahren dürfen.

Sie konnte nur einen Fuß vor den anderen setzen. Und sie konnte so tun, als nähme sie die eisige Schicht auf ihren Wimpern nicht wahr. Und sie konnte beten. Immerhin war sie gut im Beten.

3

Serefin Meleski

Svoyatovi Ilya Golubkin: Der Sohn eines Bauern war mit Krankheit geschlagen, weshalb er nicht laufen konnte. Geheilt von einer Klerikerin aus Zbyhneuska erfüllte ihn übermenschliche Stärke und er wurde ein Kriegermönch. Ilya beschützte die Stadt Korovgrod ganz allein gegen Invasoren von jenseits des Meeres.

Vasilievs Buch der Heiligen

Serefin Meleski lehnte im Tunneleingang und spähte mit zusammengekniffenen Augen in den Schnee hinaus. Die Sonne war fast untergegangen, spiegelte sich aber in der Eisschicht und setzte seinem ohnehin schlechten Sehvermögen zu.

»Du lässt sie entkommen«, jammerte Ostyia neben ihm.

Er beachtete sie nicht, nahm stattdessen sein Zauberbuch von der Hüfte, wo er es festgebunden hatte, und schlug es auf. Schweigend blätterte er darin herum und riss schließlich eine Seite heraus. Er ließ das Buch fallen und hielt Ostyia seinen Arm entgegen.

Die kniff ihr eines Auge zu und betrachtete ihr Messer, das sie in der Hand hielt. Dann schnappte sie sich sein Handgelenk und zog ihm die Klinge über die Handfläche.

»Doch nicht seine Hand!«, protestierte Kacper, der auf der anderen Seite an der Tunnelwand lehnte.

Serefin beachtete ihn ebenso wenig und hob die Hand. Er beobachtete, wie das Blut aus dem Schnitt hervorquoll und ihm langsam in Rinnsalen über die Handfläche lief. Die Verletzung brannte, aber der Magieschub, der folgen würde, glich den erträglichen Schmerz aus. Er schob die Seite aus dem Zauberbuch in seine blutige Hand, damit das Papier mit Blut durchtränkt wurde. In seinen Adern entzündete sich heiße Magie, und als sich das Papier in düsteren Rauchsäulen auflöste, wurde seine Sicht schärfer. Ein Weg, der zu der Klerikerin führte, zeichnete sich klar durch rote Streifen im Schnee ab.

Er lächelte. »Sie kann davonlaufen.«

»Ist es klug, dich selbst mit diesem Zauber an sie zu binden?«, fragte Ostyia.

»Sie wird ihn nicht fühlen. Er schafft keine Verbindung, nur eine Spur.«

Es wäre unwichtig, wie weit sie rannte. Er würde ihre Spur nicht verlieren, solange er den Zauber in gewissen Abständen mit Blut fütterte. Keine Schwierigkeit.

»Sicher«, erklärte Kacper.

Serefin warf ihm einen undurchdringlichen Blick zu. »Selbst wenn sie den Zauber spürt, kann sie ihn nicht brechen.«

»Du weißt nichts über die Magie, die sie gewirkt hat. Woher willst du dann wissen, dass sie ihn nicht spüren kann?«

Serefin runzelte die Stirn. Kacper hatte recht, doch das gab er nicht zu.

»Sag den Männern, sie sollen alle noch Lebenden zusammentreiben und unter Bewachung stellen«, befahl er Ostyia.

Sie nickte und verschwand im Tunnel.

Kacper sah ihr hinterher. »Warum verfolgst du sie nicht?« Der Ärmel seines Mantels war während des Kampfes nahezu abgetrennt worden. Er hing nur noch an wenigen Fäden und die goldene Schulterklappe baumelte lose an seinem Arm. Mit einer braunen Hand fuhr er sich durch die dunklen Locken und schien überrascht zu sein, dass sie mit Blut verklebt waren. »Wir suchen schon ewig nach Hinweisen auf eine verfluchte Klerikerin und jetzt haben wir sie endlich gefunden.«

»Willst du im Dunkeln durch das kalyasische Gebirge stolpern?«, wollte Serefin wissen.

Die Männer ihrer Kompanie hatten bereits am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie tödlich ein kalyasischer Winter für alle war, die sich in der Gegend nicht auskannten. Außerdem konnte Serefin schon tagsüber fast nichts sehen und seine Nachtsicht war noch schlechter. Kacpers dunkle Augen leuchteten verständnisvoll. Er nickte.

Serefin hielt sich nun seit fast drei Jahren an der Front in Kalyazin auf, nur unterbrochen von gelegentlichen kurzen Heimaturlauben. In dieser ganzen Zeit schien der Winter nie zu enden. Sogar der kalyasische Frühling fühlte sich kalt an. Er bestand nur aus Schnee, Frost und Wald. In den letzten fünf Monaten hatte Serefin seine Kompanie mit der Suche nach Beweisen für kalyasische Magie beschäftigt. Sein Vater war überzeugt gewesen, dass es diese Magie tatsächlich gab und dass Serefin die betreffenden Kleriker unbedingt finden musste. Sie würden sonst den Verlauf des Krieges zu Kalyazins Gunsten verändern, und das wäre nicht gut. Vor allem jetzt, nachdem ihnen endlich ein entscheidender Schlag gegen Kalyazin gelungen war. Erst vor wenigen Wochen hatte Tranavia die kalyasische Stadt Voldoga eingenommen, einen wichtigen feindlichen Außenposten. Dies war der erste Schritt, um den Krieg endlich zu ihrem Vorteil zu wenden.

»Mit etwas Glück führt sie uns zu anderen ihrer Art«, sagte Serefin. Er ging zurück in den Tunnel, blieb dann aber stehen.

Unbewusst fuhr er sich mit der Hand über die Narbe quer über dem Auge, während er sich an Kacper wandte.

»Licht?« Das Wort klang herablassend, ein knapper Befehl, keine Bitte. Zu jeder anderen Zeit hätte er mehr Rücksicht auf Kacpers Gefühle gezeigt, doch die Erschöpfung stumpfte ihn ab.

»Natürlich, Entschuldigung.« Kacper tastete nach einer Fackel, die auf den Boden gefallen war, und entzündete sie von Neuem.

Sie durchquerten den Lagerraum, in dem sich die kalyasischen Mädchen versteckt hatten, und trafen auf Serefins Generalleutnant, Teodore Kijek, der dort herumschnüffelte.

»Schickt meinem Vater einen Bericht über die Ereignisse des heutigen Tages«, trug Serefin ihm auf. Die Klerikerin erwähnte er nicht. Es erschien ihm ratsam, wenn sein Vater glaubte, die Klerikerin sei entkommen. Er musste nicht erfahren, dass Serefin sie hatte laufen lassen.

»Selbstverständlich, Eure Hoheit.«

»Hat jemand gezählt, wie viele Kalyaziner überlebt haben?«

»Vermutlich etwa ein Dutzend«, antwortete Teodore.

Mit einem Knurren nahm Serefin dies auf. Er musste entscheiden, was mit den Gefangenen geschehen sollte, und konnte nicht behaupten, sich über die Aufgabe zu freuen.

»Wissen wir, ob das Mädchen die einzige Klerikerin unter ihnen war?« Er konnte sich nicht vorstellen, dass er so viel Glück hatte, doch er konnte davon träumen.

»Falls es noch andere gibt, haben sie sich noch nicht zu erkennen gegeben«, erwiderte Teodore.

»Vielleicht können wir sie dazu überreden«, überlegte Kacper mit erwartungsvoll leuchtenden Augen.

Serefin war bekannt für seine große Überzeugungskraft.

Er nickte ruckartig. Ja, überreden. »Wir bleiben über Nacht.« Er sah sich im Lagerraum um. Die kalyasischen Mädchen hatten ihn nicht zur Gänze geplündert. »Räumt hier auch alles aus«, fuhr er mit einer Handbewegung fort. Er würde weiterhin Wissenswertes aufspüren und gleichzeitig die Klerikerin während ihrer Flucht nicht aus den Augen lassen. Das schien ihm die sinnvollste Art, um seine Zeit zu nutzen, bis er wieder von seinem Vater hörte.

»Natürlich, Eure Hoheit«, stimmte Teodore zu.

Mit einer Handbewegung scheuchte Serefin Teodore fort und wandte sich wieder an Kacper.

»Wieso um alles in der Welt hast du ihn noch nicht an die Front zurückgeschickt?«, fragte der.

Serefin linste zu Kacper hinüber, der links von ihm stand, also auf seiner schlechten Seite. Kacper trat einen Schritt zurück und wechselte dann auf Serefins andere Seite.

»Kannst du dir nicht denken, was mein Vater tun wird, sobald ich seinen Spion losgeworden bin?«

Kacper zuckte zusammen. »Nun, sobald wir die Klerikerin gefasst haben, können wir wenigstens nach Hause zurückkehren. Dann hat der König keinen Grund mehr, uns noch länger hier draußen frieren zu lassen.«

Mit einer Hand fuhr sich Serefin durch das braune Haar. Es musste dringend geschnitten werden und er war müde … nein, nicht müde, sondern erschöpft bis auf die Knochen. Wie ein riesiger Glücksfall war ihm die Klerikerin geschenkt worden, doch das hatte nichts daran geändert, dass er jahrelang in einem feindlichen Königreich verbracht hatte und sich noch immer vor der Rückkehr nach Hause fürchtete. Alles, was er je gekannt hatte, war der Krieg gewesen. Schweigend durchquerten sie das letzte Stück des Tunnels und erreichten schließlich den Friedhof.

Die Klosteranlage war größer, als Serefin erwartet hatte, und mit weit fähigeren Wächtern besetzt. Im Hof begegnete er Ostyia, die beobachtete, wie die Gefangenen zusammengetrieben wurden. Er schickte Kacper los, um einen geeigneten Schlafplatz für die Nacht zu suchen. Dabei befürchtete er, dass in diesem kargen Gefängnis nichts als eine Steinplatte mit einer fadenscheinigen Decke auf ihn wartete. Warum waren Mönche so verflucht asketisch? Was war falsch daran, es sich beim Schlafen gemütlich zu machen? Allerdings zog er nackten Stein und eine einfache Decke einer weiteren Nacht im Schnee vor.

Ostyia fingerte an ihrer Augenklappe herum, nahm sie ab und verstaute sie in ihrer Tasche. Eine gezackte, hässliche Narbe zog sich über ihr ganzes Gesicht, unterbrochen nur von der leeren Höhle ihres linken Auges.

Als Serefin und Ostyia Kinder gewesen waren, hatten sich kalyasische Attentäter als Waffenmeister ausgegeben und Zutritt zum Palast erlangt unter dem Vorwand, den jungen Prinzen und die Tochter aus adligem Haus in der Kampfkunst unterrichten zu wollen. Als Erstes hatten die Attentäter auf ihre Augen eingestochen. Vielleicht war das irgendetwas Religiöses, die Kinder der Feinde erst zu blenden und dann zu töten.

Ostyia ließ ihre leere Augenhöhle gern unbedeckt. Sie genoss es, Furcht einflößend auszusehen, und behauptete, sie spare sich ihre Augenklappe für die Tage auf See nach Kriegsende auf, falls der Krieg jemals endete. Ihr Blick schweifte hinüber zu dem Zauberbuch an Serefins Hüfte.

»Das sieht schon ganz schön dünn aus«, bemerkte sie.

Er nickte mit einem Seufzen, nahm das Buch zur Hand und blätterte die Seiten durch. Ihm gingen die Sprüche aus.

»Allerdings glaube ich nicht, dass wir mitten in Kalyazin eine Buchbinderin finden, die Zauberbücher herstellt.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, stimmte Ostyia ihm zu. »Außerdem wäre sie nicht halb so gut wie Madame Petra«, neckte sie ihn.

Serefin schauderte es bei dem Gedanken an die überhebliche ältere Frau, die alle seine Zauberbücher band. Nie konnte er mit Gewissheit sagen, ob sie ihn wie einen längst verstorbenen Sohn oder wie einen Geliebten behandelte. Es verstörte ihn, dass er sich des Unterschieds nicht sicher war.

»Hast du keine Ersatzbücher mitgenommen?«

»Ich habe schon alle meine Ersatzbücher aufgebraucht.« Das bedeutete, dass er möglicherweise bald mitten im Feindesland ohne ein Zauberbuch festsaß.

»Nun«, sagte Ostyia, »du könntest dir bei Bedarf doch eins von einem Magier mit niedrigerem Rang nehmen.«

»Damit er wehrlos dasteht?« Serefin hob eine Augenbraue. »Ostyia, ich bin herzlos, aber ich bin nicht grausam. Mit einem Schwert in der Hand komme ich ganz gut zurecht.«

»Ja, und am Ende muss ich mir den Hintern aufreißen, um dich zu beschützen.«

Serefin bedachte sie mit einem strengen Blick. Woraufhin sie mit einem frechen Lächeln zu ihm aufsah.

»Verzeiht mir den Tonfall, Eure Hoheit«, sagte sie und knickste geziert.

Er verdrehte die Augen.

Sie teilten die Gefangenen in überschaubare Gruppen auf, um sie in die schlichten zellenähnlichen Schlafräume zu sperren. Serefins Blick blieb an einem Jungen hängen, der in etwa sein Alter hatte und sich auf die Schulter eines alten Mannes stützte.

»Dieser da«, sagte er und zeigte Ostyia den Mann. »Zieh ihn heraus! Ich will ihn befragen.«

Ihre Miene hellte sich auf. »Den Jungen?«

»Nein, den nicht. Er hat bereits einen Armbrustbolzen im Bein. Ich meine den alten Mann. Mit dem Jungen spreche ich später.«

Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Eure Hoheit, vergebt mir, aber Ihr missgönnt mir das kleinste Vergnügen.«

»Ich vergebe dir nicht.«

Sie ließ den Mann bringen, vermutlich den Klostervorsteher. Gab es einen Namen für seinen Rang? Serefin wusste es nicht.

»Bildet Ihr jetzt alle Eure Leute für den Kampf aus?«, fragte Serefin freundlich und ließ eine Hand auf dem dünnen Zauberbuch ruhen. Ehe der Mann antworten konnte, hob Serefin die andere Hand, um ihn zu unterbrechen. »Vergebt mir! Ich sollte mich selbst vorstellen. Ich heiße Serefin Meleski und bin der Kronprinz von Tranavia.«

»Ich bin Vater Alexei«, erwiderte der Mann ungerührt. »Und ja, selbst jene, die nicht in der Armee dienen, erhalten eine Ausbildung. Stimmt Ihr mir denn zu, dass dies vonnöten ist?«

Vielleicht bedurfte es solcher Vorkehrungen in Kalyazin, obwohl der Krieg Tranavias Grenzen noch nie überschritten hatte. In jedem Fall war Serefin überrascht von dem höflichen Ton des alten Mannes.

»Ein heiliger Krieg, der seit fast einem Jahrhundert wütet, erfordert außergewöhnliche Mittel«, fuhr Alexei fort.

»Ja, ja, wir sind fürchterliche Ketzer und Hexer, die von der Erde getilgt werden müssen. Und Ihr tut nur das Richtige«, spottete Serefin.

Der Priester zuckte mit den Achseln. »Das ist die schlichte Wahrheit.«

Ostyia, die neben Serefin stand, schob die Hände in die Hosentaschen und lächelte den alten Mann an.

»Doch Ihr verfügt selbst über Magie, nicht wahr? Sagt mir, wie viele von Euren Magiern verstecken sich in Kalyazin? Wie nennt Ihr sie … Kleriker? Wir wissen von der einen hier, versucht also nicht, sie zu schützen. Wir werden sie noch heute in Gewahrsam nehmen.«

Der alte Mann lächelte. »Ja, sie werden Kleriker genannt. Aber diesbezüglich kann ich Euch leider mit keinerlei weiteren Auskünften dienen, junger Prinz.«

Serefin runzelte die Stirn. Er hatte gehofft, dass ihn der Mann herablassend belehren und in die nötige Wut versetzen würde, aber seiner Stimme war nichts dergleichen zu entnehmen.

Er würde nichts erzwingen, weder bei dem Jungen noch bei dem Priester. Der Junge mit der Armbrustverletzung war derjenige gewesen, der die Klerikerin abgeschirmt und ihr zur Flucht verholfen hatte. Mit ihm musste Serefin reden.

Er wies einen Soldaten an, den Priester wegzuführen.

»Willst du einen anderen befragen?«, fragte Ostyia.

»Nein.« Serefin winkte Kacper heran, der sich in der Nähe mit einem Magier unterhielt. »Gläubige trinken doch Wein, oder?«

Ostyia hob die Schultern.

»Im Keller gibt es Weinfässer«, bestätigte Kacper.

Serefin nickte ihm kurz zu. »Gut so. Bevor der Morgen graut, will ich sturzbetrunken sein.«

4

Nadezhda Lapteva

Horz stahl Myesta die Herrschaft über Sterne und Himmel, und das vergab sie ihm nie. Denn wo sollen die Monde sich ausruhen, wenn nicht am Himmel?

Kodex des Göttlichen, 5:26

»Ganz bestimmt bin ich nicht schuld daran, dass du ein Kind ausgewählt hast, das so tief schläft. Wenn es stirbt, ist das ganz allein dein Versagen, nicht das meine.«

Von streitenden Göttern aufgeschreckt zu werden, das war nicht Nadyas bevorzugte Art, aufzuwachen. Mit steifen Bewegungen stemmte sie sich im Dunkeln auf die Füße. Ihre Augen brauchten eine Weile, um wie der übrige Körper einsatzfähig zu werden.

Seid still!

Es war nicht sonderlich klug, die Götter zu ermahnen, doch nun war es zu spät. So etwas wie belustigtes Beleidigtsein kam als innere Botschaft, doch keiner der Götter sprach mehr. Sie begriff, dass es Horz gewesen war, der Gott des Himmels und der Sterne, der sie geweckt hatte. Gemeinhin gab er sich unausstehlich, ließ Nadya aber meist in Ruhe.

Für gewöhnlich hielt nur ein einziger Gott Zwiesprache mit der von ihnen auserwählten Klerikerin. Es hatte einmal eine Auserwählte namens Kseniya Mirokhina gegeben, die von Devonya, der Göttin der Jagd, mit der Gabe übernatürlicher Treffsicherheit beschenkt worden war. Und vor langer Zeit hatte Veceslav sich eigene Kleriker ausgesucht, deren Namen aber längst in Vergessenheit geraten waren, und er gab darüber nichts mehr preis. Die überlieferten Geschichten berichteten nie von Klerikern oder Klerikerinnen, die mehr als einen Gott zu hören vermochten. Dass Nadya mit dem gesamten Pantheon Zwiesprache hielt, war eine Besonderheit. Diesen Umstand konnten sich die Priester, die Nadya ausbildeten, nicht erklären.

Möglicherweise gab es ältere, uranfängliche Götter, die längst nicht mehr über die Erde wachten, sondern sie der Obhut der anderen überlassen hatten. Doch das wusste niemand mit Sicherheit. Die zwanzig bekannten Götter wurden in Schnitzereien und auf Gemälden dargestellt. Dort erschienen sie in menschlicher Gestalt, obwohl niemand wusste, wie sie tatsächlich aussahen. Noch nie hatte ein Kleriker oder eine Klerikerin das Antlitz einer Gottheit erblickt. Auch kein Heiliger oder Priester.

Alle besaßen ihre eigene Kraft und Magie, die sie auf Nadya übertragen konnten, und wo die einen hilfreich waren, hielten sich die anderen zurück. Sie hatte noch nie mit Myesta gesprochen, der Göttin der Monde. Sie war sich nicht einmal sicher, welche Art von Macht ihr die Göttin übertragen würde, wenn sie sich dazu entschloss.

Obwohl Nadya mit vielen Göttern Zwiesprache hielt, vergaß sie nie, wer sie für dieses Schicksal auserwählt hatte: Marzenya, die Göttin des Todes und der Magie, die völlige Hingabe forderte.

In der Dunkelheit waren undeutlich murmelnde Stimmen zu hören. Anna und sie hatten für ihr Zelt einen abgelegenen Platz in einem Dickicht zwischen mächtigen Pinien gefunden, aber dort war es offenbar schon nicht mehr sicher. Nadya zog ein voryen unter ihrer Schlafmatte hervor und rüttelte Anna wach.

Während sie zum Zelteingang schlich, griff sie nach ihren Perlen. Ihre Lippen formten bereits ein Gebet und Symbole aus Rauch entströmten ihrem Mund. In weiter Ferne erkannte sie die verschwommenen Umrisse von Gestalten. Es war schwer zu sagen, wie viele es waren. Zwei? Fünf? Zehn? Bei dem Gedanken, dass ihnen bereits eine tranavische Kompanie auf den Fersen war, pochte ihr Herz wie wild.

Da tauchte Anna neben ihr auf. Nadya packte ihr voryen noch fester, rührte sich sonst aber nicht. Wenn die Verfolger ihr Zelt bisher noch nicht entdeckt hatten, konnten sie vielleicht weiterhin unbemerkt bleiben.

Plötzlich umklammerte Anna ihren Unterarm. »Warte«, flüsterte sie und ihr Atem bildete Wolken in der Kälte. Sie deutete auf einen dunklen Fleck neben den Gestalten.

Nadya drückte mit dem Daumen auf die Perle mit Bozidarka und ihre Sicht wurde schärfer, bis sie schließlich alles so deutlich sah wie am helllichten Tag. Als ihre Vermutung bestätigt wurde und sie tranavische Uniformen erkannte, musste sie sich anstrengen, um sich ihrer plötzlich lähmenden Angst zu erwehren. Aber es war gar keine geschlossene Kompanie. Tatsächlich sahen die Gestalten eher abgerissen aus. Vielleicht hatten sich die Kämpfer aufgeteilt und unterwegs verirrt.

Bemerkenswert war allerdings der Junge, der mit einer Armbrust auf die Entgegenkommenden zielte.

»Lass uns gehen, bevor sie uns entdecken!«, drängte sie Anna.

Beinahe hätte Nadya zugestimmt und ihr voryen wieder in die Scheide gesteckt, doch in diesem Augenblick schoss der Junge und zwischen den Bäumen brach Chaos aus. Nadya wollte kein Leben eines Unschuldigen opfern, um von ihrer eigenen Feigheit abzulenken. Nicht noch einmal.

Noch während Anna protestierte, merkte Nadya, dass sich ein Gebet in ihrem Kopf formte, und drückte rasch zwischen ihren Fingern die Perle von Horz mit dem Sternbild. Von ihren Lippen fielen Symbole wie leuchtende Funken aus Staub und alle Sterne am Himmel erloschen mit einem Blinken.

Oh, das war jetzt allzu heftig, dachte Nadya und zuckte zusammen. Ich hätte wissen müssen, dass ich Horz besser um nichts bitte.

Sie vernahm ein Fluchen, als die Welt in Dunkelheit versank. Neben ihr seufzte Anna verzweifelt.

»Bleib einfach zurück«, zischte Nadya und bewegte sich selbstbewusst durch die Dunkelheit.

»Nadya …« Anna stöhnte schwach.

Ein drittes Gebet, diesmal an Bozetjeh, kostete sie äußerste Anstrengung. Es war schon an einem guten Tag schwer, Bozetjeh zu erreichen; der Gott der Geschwindigkeit war beim Antworten auf Gebete immer langsam. Doch es gelang Nadya, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und sie erhielt einen Zauber, durch den sie sich so schnell bewegen konnte wie der harsche kalyasische Wind.

Ende der Leseprobe