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Ein Mann sitzt in einem Sanatorium an der Grenze der Schweiz. Er erzählt seiner Tochter die Umstände, die zum Tod ihrer Mutter führten. Immer tiefer in seine Vergangenheit eintauchend, zeichnet er Seite für Seite ein Mosaik seines Lebens auf: seine Karriere als Maler, der Auftrag, einen Katalog von Sternbildern zu erstellen, die Zerrüttungen bei der Geburt der Tochter. Was als schonungslose Beichte beginnt, endet als Geständnis: Trägt er Schuld am rätselhaften Tod der Mutter? Raoul Schrotts dichte Erzählung über Gewalt, die Liebe zu einem Kind, Paradiese und Sünde ist ein erschütterndes Zeugnis. Einem Kippbild gleich zieht es die Geschichte eines großen Verlusts unter vielen Blickwinkeln nach.
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Hanser eBook
RAOUL SCHROTT
Das schweigende Kind
Erzählung
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-23925-8
© Carl Hanser Verlag München 2012
Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
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Einmal, in einer leeren, schlaflosen Nacht, habe ich die Landschaft
meiner Seele gemalt. Ich habe mich an den Zeichentisch gesetzt
und Strich für Strich all die Küsten und Berge eingetragen,
die Flüsse und Seen.
Die Seele des Menschen ist gefangen in sich selbst und das Leben
die Suche nach einem Ausweg, der über die Grenze führt –
sieht man am ersten Morgen des letzten Tages wieder
die Berge jenseits der Grenze stehen, hat es sich erfüllt.
Reyl-Hanisch, Terris Animae
Erzählenswert ist wohl nur Wirkliches. Um dir jedoch die Wahrheit sagen zu können, muss ich Zeugnis alles Falschen ablegen.
Durch das Rundglas schaute ich zu, wie deine Mutter hineingerollt, an Maschinen und Schläuche angeschlossen wurde. Die Gesichter der Ärzte bis auf die Augen von Gazemasken verhüllt, breitete man ein grünes Tuch über sie, sodass vom prallen Bauch unten bloß ein Rechteck blieb. In diesem abgemessenen Operationsfeld fing dein Leben an, einem keimfreien gefliesten Raum, in dem deine Mutter ihren Körper taub werden spürte.
Drinnen nahm ich ihre Hand; sie ließ los: bleib weg, bleib weg, du bist schuld, die Schmerzen haben einen halben Menschen aus mir gemacht, das wolltest du doch, gib’s zu, murmelte sie. Stattdessen hielt mich der Anästhesist an der Schulter, um mich am Blick über die Schirmwand zu hindern. Ich entwand mich schließlich seinem Griff, um sehen zu können, wie sie dich mit den Füßen voran aus dem Leib zogen.
Eine Steißgeburt warst du, dein Körper voll weißem Schmer, dein Haar kohlig schwarz dagegen. Blut troff von deinem Gesicht, du warst von der Stirn ab darin getaucht, mit der verschmierten Schnauze eines jungen Polarbären, der sich in einer Robbe festgebissen hat, um sie hin und her zu schütteln und auf die Scholle zu zerren, deine Zehen breit gespreizt, als wolltest du mit talgverklebtem Fell gleich davonstapfen, einen Fleischbrocken im Maul, Blut auf den Tatzen und der dahinter in den Harsch gezogenen Spur.
Ein Schwall dunklen Meeres stieg derweil in deiner Mutter auf und nahm ihr die Luft; sie würgte, die Narkose lähmte ihre Lungenflügel: erst da habe ich dich schreien gehört. Zwei Krankenschwestern brachten deine Mutter weg und legten dich mir in die Arme. Du wolltest dich festbeißen, deine Schnauze erneut unter das Eis stecken, dich an meiner Brust festsaugen, bist dabei aber mit deinen Pfoten abgerutscht in meine Achsel, die Armbeuge. So erlagst du zum ersten Mal in deinem Leben einer Täuschung, einem leeren Versprechen.
Wonach habe ich wohl für dich gerochen? Diese erste Zeit waren wir einander weder fremd noch vertraut; wir nahmen einander wahr, uns scheu berührend unter der Decke, die eine Schwester fürsorglich über uns legte.
Natürlich konnte ich an diesem Abend nicht einschlafen. Ich ging zurück in mein kleines Atelier und begann mit dem Auftrag, den ich so lange vor mir hergeschoben hatte: eine Illustration des Himmels, von der Antike bis in die Neuzeit. Ich hatte bislang nur Vaters alte Edda hervorgeholt, den stockfleckigen Band, aus dem er mir als Kind vorgelesen hatte, wieder und wieder, sodass die vergilbten Seiten sich nun von selbst an seinen Lieblingsstellen öffneten, Versen in Frakturschrift, die ich jetzt nur schwer zu entziffern, aber immer noch auswendig aufzusagen weiß – wie aus des Riesen Ymirs Fleisch die Erde erschaffen wurde, aus seinem Blut das Meer, aus den Knochen das Gebirge, aus dem Schädel der Himmel, aus dem Gehirn Wolke um Wolke, seine Braue ein Landstrich aus Feuer und Eis.
Solch eine Welt warf ich mit Rötel aufs Papier, die gähnende Leere bevor die Zeit anhob, wo die Sonne noch keinen Mittag und der Mond keinen Untergang kannte, es nur Stein, aber kein Gras gab… So wie ich dieses Universum skizzierte, wollte ich auch unser Leben beginnen lassen, und als ich es mit den Vögeln hell werden hörte, war ich gerade bei der Esche angelangt, ließ sie in den Wolken wurzeln und die drei Nornen hervortreten, die notlösenden Geburtshelferinnen und Schicksalsfrauen mit Namen Yrd, Verdandi und Skuld: Ward, Werde und Schuld.
Nun sitze ich wieder an einem Bett; das Fenster steht offen, Kim duscht, draußen der grüne Hang, wo die Rebstöcke sich hinauf in das Flirren des Morgens reihen. Ich habe die Nummer deiner Mutter gewählt, um mit dir reden zu können, obschon ich weiß, dass niemand abheben, deine Stimme nicht zu hören sein wird, und bin schon jetzt wie erstarrt. Ich stütze den Kopf in die Hände und schlucke trocken, als könnte ich die Beklemmung hinunterwürgen, ehe Kim nass aus der Tür kommt und sieht, dass der Tag wieder seine Konturen eingebüßt hat, in sich zusammengefallen ist wie morgen und übermorgen auch, die ganze Reise, die eine Flucht zu uns und eine Fahrt zurück zu mir ist.
Ich ziehe die dünnen Tafeln aus der Mappe und schlage das schützende Seidenpapier auf, als ließe sich an den Bildern noch etwas ändern. Zu Beginn bloße Lohnarbeit, haben sie mir doch mein ganzes Können abgefordert, um darüber zu meinem zu werden. Bei Gouachen lassen sich die Farben nicht mehr verreiben, die Schichtungen von Dunkel zu Hell, von Blau zu Gelb müssen mit Bedacht gelegt werden – so sorgfältig, wie ich auch vorgehabt hatte, den Grundriss eines Hauses zu entwerfen, den Schattenriss einer Familie.
Der Verleger wird nun Kim und mich wie vereinbart abholen, um die Aufmachung der Publikation zu besprechen; wir werden den Wein trinken und die Haselnüsse knacken, für die diese Gegend bekannt ist. Ich versuche, das rechte Gesicht dafür aufzusetzen, weiß, dass es mir schon bald nicht mehr passen wird, jedes Lachen schmal herausgepresst.
Dann steht Kim vor mir, fährt mir durchs Haar und ich drücke meinen Mund an ihren Bauch, verloren an sie und mich. Ich bin immer noch erstaunt, dass sie mich liebt, ohne etwas zu fordern, und umso linkischer, da ich nicht weiß, wie sie umfangen. Bislang hatte ich bloß kopiert, was deine Mutter für Liebe hielt, gewohnt, sie als Vorwurf aufzufassen, mich dabei jedoch als weiße Fläche auszusparen, bis das Leuchten der Farben darauf kreidig wurde und riss.
Der Wahrheit willen zeichne ich für dich noch einmal all die Um- und Abwege nach: das wird das Geradlinigste sein.
Wenn du diese Zeilen liest, wirst du alt genug sein, um längst auch in dir Gewalt entdeckt zu haben, dieses an Zähnen und Klauen rote Biest. Deine Mutter wollte dich vor diesem Tier bewahren, das in mir wie in dir steckt. Wenn es nach ihr ging, hättest du nicht einmal im Sandkasten krabbeln dürfen, weil du alles sofort in den Mund nahmst, dein Schlund grau von Grit; dir aber machte es nichts aus, du lachtest – so schmeckte die Erde eben, wenn man sich in ihr festbeißt.
Ich dagegen wusste, bis ich dreißig wurde, kaum etwas von dem, was blind im Menschen steckt. Das änderte sich, als ich deine Mutter kennenlernte, wie sie in der Säulenhalle der Akademie wartete, der Steg über die Seine ein Stahlbogen über das Wasser, an dem die Liebenden saßen in ihrer für sie noch unbegreiflichen Nähe. Um deine Mutter zu sehen, musste ich mir das Geld dafür von meinem Stipendium absparen; dazwischen ging ich in die Sorbonne, um Vorlesungen über ›aleatorischen Materialismus‹ zu besuchen. »Die Logik des Würfelwurfs auf den Kampfplätzen der Philosophie«; »Die Staatsmaschine und die Mechanik des Zufalls« – gehalten wurden diese mehr oder minder extemporierten Reden von einem Schweizer, der stets im selben perlgrauen Anzug ans Pult kam, dicke lange Locken im Pferdeschwanz; wie ich hörte, wechselte er bald danach vom philosophischen Institut ins Verlagswesen, um seine ›permanente Revolution‹ im handlicheren Format von Büchern unter die Leute zu bringen.
An den anderen Tagen zog es mich in die Straßen; ich entdeckte die Stadt und begann sie während der Studentenunruhen zu fotografieren, die zufälligen Zeichen der Gewalt: ausgebrannte Autos, Parolen an den Wänden, ein blutiges Taschentuch, aufgebrochenes Pflaster, aus dem die Steine gerissen worden waren, das zerschmetterte Glas über einem mit Marilyn Monroe werbenden Plakat an einer Bushaltestelle. Sie erschienen mir als poetische Sujets, bis ich einsehen musste, dass meine Stärke nicht im Blick durch einen Sucher lag, in unbeteiligtem Sezieren und Sichdistanzieren, sondern vielmehr im Ausgriff der Hand und wie sie etwas bloßlegt an den Dingen, unserer Natur. Ihr Gestalt zu verleihen, begann ich die klassische Ausbildung an der Akademie und war mir bewusst, dass ich damit aus der Zeit fiel.
Mir haben meine Eltern stets vorgehalten, ein zorniges Kind gewesen zu sein, beständig um Anerkennung raufend – ich selbst kann mich dessen nicht mehr entsinnen.
Meine Erziehung beruhte auf den Vorstellungen meines Vaters, die er als Aussiedler aus einer anderen Zeit mitgebracht hatte, auf dem Fundament eines Glaubens, in dem Gott aus der Welt getreten war, nachdem Er alles beseelt hatte. Da aller Anfang in Ihm war, zog Er sich daraus zurück, um Seiner Schöpfung Platz zu machen: so entstand die Welt samt ihrem Makel. Nur Sein Licht breitete sich in ihr noch aus; doch es gleißte derart, dass die Sphären davon brüchig wurden und sich mit Rissen überzogen. Siehst du den Himmel?, fragte mein Vater. Die Sternbilder zeigen uns nachts die abertausend Stücke, in die das Firmament seit dem Sündenfall zersprungen ist.
Meine Mutter hingegen, um viele Jahre jünger, sah in diesen Spiegelscherben allein sich selbst; sie wollte ihre Schönheit wahrgenommen wissen, mit dem scharfkantigen Glas all jene rund um sie verletzend, die ihr nicht die erwünschte Huldigung erwiesen. Die Liebe, die sie mir schenkte, war deshalb stets abhängig von der Anerkennung ihrer Person, der bezeugten Dankbarkeit für ihre aufopferungsvollen Mühen. Von ihr muss ich wohl die künstlerische Ader haben. So liebte sie etwa das Ballett; sie sparte das Geld von unseren Mündern ab, um einen Stehplatz ergattern zu können, und fuhr dafür weit mit Bus und Zug von unserem Bauerndorf in die Stadt, von der gesetzten Atmosphäre und den Roben der bessergestellten Damen ebenso angetan wie von den Darbietungen. Es war eine Welt, die ihr fremd bleiben sollte, doch gerade deshalb übte sie eine umso größere Faszination auf sie aus: Sie sah darin das, was ihr von Geburt an hätte zustehen müssen, wenn sie in anderen Verhältnissen groß geworden wäre. Ich erinnere mich gut, wie sie vor unserem ersten Fernsehgerät saß, vertieft in einen Schwanensee aus flimmerndem Weiß, und sich dabei die Zehennägel rot anmalte, als mache sie sich für ihren Auftritt bereit.
Die Liebe, die mir meine Eltern erwiesen, war stets abhängig von der Bewertung meines Verhaltens, zumindest aber von der Erfüllung der Gebote und meinem Gehorsam. War mein Vater zufrieden mit mir, warf er mich hoch in die Luft; als Gedächtnisrest geblieben ist mir das Gefühl eines schier endlosen Sturzes, gebannt in der Angst vor dem Aufprall.
Warum zählte ich dann, ohne zu überlegen, wenn ich dich endlich in meine Arme schließen durfte, bis drei und ging leicht in die Knie, um dich ebenso in die Luft zu werfen, so hoch ich konnte, damit du mir wieder in die ausgestreckten Hände fielst, jauchzend, deine Augen groß, als sollte es nie aufhören, und noch mal und noch mal?
Und dann höre ich die Reifen auf dem Kies knirschen. Kim sieht zum Fenster hinaus und fährt sich durch die Haare, die Tür eines schwarzen Geländewagens schnappt auf und der Verleger steigt aus, Sandalen, scharf gebügelte Faltenhose samt roten Trägern, um sie über dem Bauch zu halten, ein kurzärmeliges blaues Hemd und ein Kopf voller ergrauter und kurz gehaltener Locken. Er winkt herauf und sein Blick bleibt an Kim hängen, überrascht.
Du kennst meine Geschichte nicht, du weißt nur um ihr Ende. Deshalb muss ich dir alles andere erzählen: den Anfang und das, was zwischen uns liegt.
Ich zucke immer noch zusammen, wenn ich Terpentin rieche; der bittere Geschmack von nassem Gips am Gaumen genügt, die Zeit stillstehen zu lassen und mich über die Sägespäne zu meinem Platz gehen zu sehen und die Utensilien auszupacken, um dem üblichen Geplänkel zuvorzukommen. Die Modelle sind meist schon vor uns da, verschwinden mit ihrer Tasche in der Toilette, um sich auszuziehen und einen Bademantel überzustreifen, den sie von irgendeinem Hotel haben mitgehen lassen: an seiner Zerschlissenheit erkennt man, wie lange sie im Gewerbe sind, wie gut sie inzwischen zu posieren verstehen. Männliche Modelle habe ich stets gerne gezeichnet; sie stellen ihre Makel offener aus, scheinbar unbekümmert, als wollten sie so genommen werden, wie sie sind. Jede Eitelkeit wirkt bei Bauch und schlaffen Muskeln verräterisch; ich zeichne sie dann wie unter einer 200-Watt-Birne, bar jeder Attitüde und Grazie, das Genital feist in der Mitte.
Für die Arbeit unbrauchbar sind eher die Exhibitionisten und die gelegentlichen Stripperinnen, die glauben, sich ein leichtes Zubrot verdienen zu können. Sie zögern das Entkleiden so lustvoll hinaus, wie sie dürfen, nur um sich dann von einem letzten Bekleidungsgegenstand nicht trennen zu können, dem Wunschband ums Handgelenk, einem Kettchen am Fuß; so wie man sich bei keinem Striptease je zur Gänze entblößt, bleibt bei ihnen immer noch irgendeine glitzernde Schleife als Kitzel. Nicht, dass ich keine Erregung verspürt hätte, wenn uns eines der Mädchen Musch und Arsch hinhielt, um herausfordernd Blickkontakt zu erzwingen. Zeichnen jedoch hat wenig damit gemein: obwohl es sich die Modelle zum Objekt macht, bildet es keine Lust ab.
An diesem Tag aber kam deine Mutter. Sie hatte das Haar hochgesteckt; Flipflops an den Füßen wegen der Splitter und Reißnägel am Boden, ging sie zwischen uns hindurch auf die Palette, die ihr als Bühne diente, eine umgedrehte Holzkiste der einzige Behelf. Etwas drang von dem Duft der Lotion zu mir, mit der sie sich eingecremt hatte, wie um ihre Nacktheit mit einem unsichtbaren Glanz zu versehen, sie vollkommen werden zu lassen. Es war, als hätte ein leichter Luftzug im Raum, ein unmerkliches Schwanken der Temperatur die Grenzen zwischen Körper und Welt verwischt.
Das Flüchtige bestimmt uns. Oder sind es nur zufällige Belanglosigkeiten, die sich einem unauslöschlich einprägen? Ich wünschte, ich könnte es sagen. Drei lange, lange Jahre habe ich alles getan, damit du mich nicht vergisst: in den wenigen Stunden, in denen ich dich sehen durfte, solltest du erfahren, dass du auch einen Vater hast, spüren, dass ich da bin.
Dass ich mit dir im Arm auf einem Rummelplatz Trampolin sprang, ohne dass du mit deinen drei Jahren genug davon bekamst: daran wirst du dich wohl genauso wenig mehr erinnern wie an unseren Ballonflug über die Loire. Ich wollte dir zeigen, wie die Erde miteins rund wird, und dachte, mit dir zusammen auch meine eigene Höhenangst überwinden, alles durch deine Augen sehen zu können. Doch wenn ich über den Korbrand in die Tiefe blickte, überkam mich stattdessen Angst um dich, stellte ich mir vor, dich fallen zu sehen, dein Körper nur noch ein dunkler Punkt über dem spiegelnden Blau, die Leere in mir unerträglich, verzweifelt nach Atem ringend, während ich an deinem Gesichtsausdruck nur stille Neugier ablas, die bald der Langweile wich, sodass du schnell zu plärren begannst und zurück auf den Boden wolltest.
Da hättest du vielleicht schon sagen können, dass du nachts träumst. Woran aber hast du zum ersten Mal den Unterschied zwischen dem Wachen und dem Träumen gemerkt, diesen Bildern, die uns glauben machen, wir wären am Leben? Weil sie, sobald du nachts die Augen aufschlägst, ins Dunkel fallen?
Manchmal wähnt man, dass etwas unabänderlich seinen Lauf nimmt, ohne zu ahnen, wohin es führt. Ich war zu jener Zeit in ein Niemandsland geraten, weil ich mir nicht eingestehen wollte, dass ich mit meiner Kunst, mit allem, was so vielversprechend begonnen hatte, am Scheitern war.
Zurück zum Figürlichen hatte ich gewollt; doch das Reale missriet mir zum Kitsch, nicht besser als der Zuckerbäckerstil von Sacré-Cœur, dessen weißer Travertin nie Patina annehmen wird, nachts von der Beleuchtung zusätzlich noch mit einer weißen Glasur überzogen, was ihm die Weihen völliger Verkommenheit verleiht. Hatte ich dem Menschen seine verstörende Wirklichkeit wiedergeben wollen, zeigte sich auch mir mit jeder Studie bloß das Leere unter der Haut, den Gesichtern und Blicken. Dass dies an mir lag, ich zu nichts wirklich Menschlichem durchdrang, das zuzugeben bin ich erst jetzt imstande. Ob es mir an Talent mangelte oder ob ich aufgrund meiner Erziehung die falsche Geisteshaltung mitbrachte, vermag ich nicht zu sagen: nur dass ich in eine Sackgasse geraten war, in der ich mir wie einem Doppelgänger gegenüberstand.
Dazu kam der finanzielle Druck, mit meinen Bildern nun eine Familie erhalten zu müssen. Da ich kaum etwas verkaufte, sah ich mich nach Arbeit um. Ich bot der Akademie Vorlesungen über die Malerei der Renaissance an, was aufgrund meiner fehlenden akademischen Qualifikation auf keinen Widerhall stieß; man vermittelte mir lediglich die Mitarbeit an der Katalogisierung der Bilder eines nach Indonesien ausgewanderten Deutschen. Deshalb hängte ich allerorts Zettel mit meiner Telefonnummer auf, in denen ich mich als Portraitmaler ausgab, ohne aber genügend Aufträge zu erhalten, und suchte zu diesem Zweck sogar mein ehemaliges Institut an der Uni auf, obwohl ich jeden Anknüpfungspunkt längst verloren glaubte. Dennoch löste eine belanglose Konversation mit der Sekretärin dort einige Zeit später völlig überraschend die Anfrage aus, ob ich Illustrationen des Sternenhimmels für einen Schmuckband anfertigen wolle. Ich zierte mich zunächst, weil ich glaubte, das Honorar weiter nach oben treiben zu können. Da sich der Verleger die Mühe machte, mich in Paris aufzusuchen, legte ich dies als Zeichen aus, dass er mich wertschätzte. Obwohl ich schnell herausgefunden hatte, dass er eigentlich nur der Buchmesse wegen nach Paris gekommen war, schmeichelte es mir, dass er mich zuhause aufsuchte; sogar deine Mutter mochte ihn, trotz seiner plumpen Zutraulichkeit.
Dass sein Projekt ausgerechnet für Kroatien bestimmt war, störte mich nicht; ich fühlte mich umworben genug. Ebenso wenig stieß ich mich daran, dass er sich dann am Ende nicht einmal mehr die Mühe machte, die Mappe in Paris abzuholen, sondern mich kurzerhand nach Zagreb bestellte, ohne dass von Reisekosten die Rede gewesen wäre.
Im Nachhinein gibt man gern etwas als zwangsläufig aus, nur um die Verantwortung für sein Handeln verdrängen zu können; unter welchen Umständen jedoch kann man wirklich von Notgedrungenheit reden?
Wann habe ich aufgehört, Menschen zu zeichnen? Verdrängt, dass ein Modell, wie unser Lehrer mit seiner altväterlichen Art meinte, ein Wesen ist, das erst auf dem Podium Gestalt annimmt: zeigt Respekt davor, habt Demut vor seiner Würde, dem Wunder seiner Wirklichkeit: Humanitas! In einem Akt lässt sich alles ausdrücken, jedes noch so triviale wie sublime Sujet, vom Jüngsten Gericht bis zum Stilleben, in denen alles die uns entsprechende Form gewinnt: die des Menschlichen! Er idealisierte natürlich; denn jeder Akt tilgt etwas vom Körper und unterdrückt die Umstände des Hier und Jetzt zugunsten von Verallgemeinerungen: Narben etwa oder Impfmale – ich schien der einzige, der sie abzeichnete. Warum aber begann ich dann, eben das aufs Blatt zu bringen, wogegen ich mich stets gewehrt hatte, und bloß noch schematische Figuren zu malen – ja nicht einmal dies: nur mehr den Hintergrund des Himmels in seiner unverrückbaren Starre? Totes statt Lebendigem?
Die Ausrede, mit der ich das Projekt einer Geometrie der Nacht vor mir entschuldigte, bot sich an: wie besser die Stillzeit überbrücken, in der deine Mutter kaum zum Arbeiten kam, um damit dennoch, offen gesagt, mehr zu verdienen als ich? Gedacht war es als reine Fingerübung, das Honorar übernommen von irgendeinem Konsortium – dass man so viel Geld bereitstellte, schien Liebhaberei zu verraten, ein prestigeträchtiges Vorhaben, für das man keinen Dilettanten wollte. So zumindest wurde es mir verkauft, es schmeichelte meiner Eitelkeit in dem Maß, in dem ich mich durch diese Arbeit eines bloßen Kopisten unterfordert fühlte.
Unseren eigentlichen Beweggründen gegenüber sind wir allzu oft blind; wir erkennen sie erst als Konstellation durch die perspektivische Sicht auf einen Fluchtpunkt. Wahrscheinlich willigte ich in dieses Projekt ein, weil ich damit dachte, diesen in Myriaden von Splittern zerbrochenen Himmel, der mich als Kind so verängstigt hatte, wieder zusammensetzen zu können. Was letztlich aber den Ausschlag gab, war eine uralte ägyptische Sternennacht, deren Darstellung man mir als Probe abverlangte.
Das Original stammte aus dem Tempel einer Oase; ringsum von Sand umgeben, hatte man sich darin die Vorstellung eines Urgewässers im Nichts ausgemalt, die Zeit, die daraus erstand und die sodann den Erdgott und die Himmelsgöttin Nut zeugte. Als diese beiden jedoch miteinander schlafen wollten, drängte sich der Wind zwischen sie und trennte sie: Nut wurde in die Höhe getragen und beugt sich seither, ihre Glieder ausgestreckt, über ihn, einzig mit Finger- und Zehenspitzen ihn noch berührend, während der Erdgott vergeblich versucht, sich zu seiner Geliebten am Himmel emporzuheben. Das Gebirge zur Silhouette des klagenden Erdgottes geworden, zeichnet ihm die Milchstraße die Kontur ihres Körpers in die Nacht, den Mund und ihren Bauch: Nut ist schwanger von ihm. Die Frucht ihres Leibes jedoch auf die Welt zu bringen ist ihr verwehrt; es gab keinen Monat, in dem du durch den Schoß der Sterne hinab auf die Erde hättest wandern können: er öffnete sich dir erst in den Tagen zwischen den Jahren.
Deine Zeugung hingegen war eine prosaische Angelegenheit. Nicht, dass es kein Akt der Liebe gewesen wäre: du bist ein Wunschkind. In Erwartung deiner wurde das Glück beinahe greifbar; inniger als je zuvor, ungeachtet der Jahre, die wir bereits zusammen waren, konnten deine Mutter und ich voneinander kaum die Finger lassen. Und unser Begehren wuchs desto mehr, als wir es für jene Tage zurückhielten, in denen deine Mutter fruchtbar wurde, um uns eine Stunde zu suchen, die dann ganz für sich bestand, heil blieb.
Nach jedem Einsetzen der Periode aber wurde deine Mutter wieder von ihrem alten Ich eingeholt. Bevor die Traurigkeit ganz unerträglich wurde, kam zwar stets die Hoffnung auf den nächsten Monat; schwanger wurde sie dennoch nicht. So zogen wir manchmal in ein Hotel, als könnte uns die Geschichte eines fremden Hauses aufnehmen, oder wechselten die Rollen, ich der Himmel, deine Mutter die Erde, der Wind draußen vor dem Fenster, in der Gasse.
Manchmal aber hilft Wünschen allein wenig. Am Ende erstand ich auf dem Flohmarkt sogar zwei Fruchtbarkeitssymbole aus Schwarzafrika, einen geschnitzten Phallus, mit dem Mädchen defloriert wurden, und eine hohle Tonfigur, in die man etwas von sich legte: doch selbst solche Götter halfen nicht. Auch wenn wir die Welt in unser Bett zu holen versuchten – es änderte nichts an dem Umstand, den uns schließlich ein Arzt explizierte: dass nämlich die Unfruchtbarkeit deiner Mutter von einer inneren Verkrampfung rühre, die ihr die Eileiter verschließe.