Das Spiel des Sommers neunundneunzig - Gerold Späth - E-Book

Das Spiel des Sommers neunundneunzig E-Book

Gerold Späth

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Beschreibung

Heinrich R., ein Schweizer Geschäftsmann, braucht nach einem Herzinfarkt absolute Ruhe. Da kommt das Angebot von Freunden gerade recht: sich in ihrem Haus in Maidenford, im äussersten Westen Irlands, von der Welt eine Zeitlang zurückzuziehen. Seine Frau geht unterdessen auf die schon länger geplante Weltreise mit ihren Freundinnen. Doch den Strohwitwer erwarten alles andere als ruhige Verhältnisse. In der Abgeschiedenheit der Grünen Insel begegnet er allerhand skurrilen, mitunter gar unheimlichen Gestalten. Darüber hinaus machen erotische Phantasien und Todesangst seinem 'Herzen aus Papier' arg zu schaffen.

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Seitenzahl: 155

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Der Autor

Gerold Späth wurde 1939 als Spross einer Orgelbauerdynastie in Rapperswil am oberen Zürichsee geboren. 1968 begann er mit dem Schreiben, arbeitete allerdings noch bis 1975 im väterlichen Orgelbaubetrieb mit. Er wurde mehrfach ausgezeichnet und erhielt u.a. den Alfred-Döblin-Preis (1979), den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1992) und den Gottfried-Keller-Preis (2010).

Sein Werk umfasst Romane (Commedia, Sindbadland, Stilles Gelände am See u.a.), Hörspiele und Theaterstücke. Das Spiel des Sommers neunundneunzig erschien erstmals 1993 bei Suhrkamp.

E-Book-Ausgabe 2017

Copyright © 2017 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

Coverfoto: Gerold Späth

ISBN 978 3 85787 955 5

www.lenos.ch

Angekommen am Rand der westlichen Welt.

Vom Haus zum See geht’s unter Bäumen durch Gesträuch, Efeu, Spinnweb und zwischen Schilf und Binsen auf einen schmalen Bohlensteg hinaus, dran vertäut ein Kahn, voraus die Bucht, leicht drüberhin ein Wind.

Das Schilf rispelt, in der Luft Gesummse, am Himmel Hochsommerwolken, hinterm Haus ein kleiner Gewürzgarten und Blumenrabatten vor einer brusthohen Mauer aus Ackersteinen, dann Wiesen, Hecken, Weideland, zum Dorf sind es fünf grüne Meilen.

Der Mann hieß Heinrich R und war in seinem neunundfünfzigsten Jahr, er hatte eine Tochter und einen Schwiegersohn, seine erste Frau war vor acht Jahren gestorben, seine zweite mit ihren dreiundvierzig lustigen Jährchen seit drei Wochen unterwegs mit einer Schar bunter Hühner, nichts zu sagen über die schöngefärbten Gockel: Hühnerhof auf Grand Tour – ohne ihn! genug gereist überall hin! geschenkt!

Aber es war ihm, allein zu Hause, bald langweilig geworden, stinklangweilig schon nach ein paar Tagen – was sollte er spazieren durch die Stadt, durch Alleen, durch Museen.

Er hatte einen Laden hochgebracht, in zweieinhalb Jahrzehnten zum Geschäft gemacht, er und seine Frau Rosetta und die günstigen Umstände, sie hatten etwas draus gemacht und also auch aus ihrem Leben – aber dann war sie krank geworden und immer schwächer, immer weniger, und war nach vier elenden Jahren elend gestorben: da war es Nacht geworden und erst wieder hell, als er Suzanne kennengelernt hatte – und jetzt, eines lauen Sommerabends vor kaum einem Jahr, flattert und knattert und knallt es auf einmal in ihm drin und zerreißt ihn, er fuchtelt in die Luft hinauf und sackt zusammen, und ein paar Wochen später heißt es:

Du bist grad noch davongekommen, Heiri, aber knapp, absolute Ruhe jetzt, keinerlei Aufregung, keine Anstrengung, laß allein weiterrennen die Welt, niemand wird jünger! – und so weiter, lauter wohlgemeinte dumme Sprüche seines guten Freundes Moritz, aber Moritz Hoffmann war sein Arzt – »Suzanne, gut, ein neuer Anfang, aber man hat nur eine Pumpe und deine macht nicht mehr mit. Ein Herz wie ein Schmetterling. Ein Herz aus Papier, du weißt, was ich meine und was es geschlagen hat?«

Jawohl, begriffen, Papiertüte, Knall, Schluß.

Er fragte sich, wie lange man mit einem Herz aus Papier leben könne, und schonte sich, wie geheißen, und lebte fortan leise dahin, und seine junge Frau schaute besorgt und blickte stumm, derweil er, sich schonend, alt geworden war, blöd, sauer.

Vor fünf Wochen war sie aufgebrochen. Mit einer alten Freundin. Gruppenreise rings um den Planeten. Ein alter Plan aus der Zeit, bevor sie ihn kennengelernt hatte.

Abschied am Flughafen. »Mach’s gut!« Und so weiter. Gerede wie in einem alten Film – »Ich denke an dich!« – sie denkt an ihn, und er dachte an sie und machte Spaziergänge.

Da hieß es: Warum reist du nicht für eine Zeit in die Rosefields? einmal etwas anderes, ein ganz anderes Land, für dich eine neue Welt, du kannst Ausflüge machen, die Distanzen sind klein, du kannst spazieren, kannst nichts tun, kannst fischen – und schon ruft Freund Moritz den Freund Walter an und Freund Walter den Paddy Swift, drum war der Mann jetzt in dem fremden Haus am See und ging umher zwischen fremden Möbeln und Wänden voller Bilder, sein guter Freund Walter war Malermeister und ließ ein paar Pinsel für sich arbeiten und malte, wenn’s niemand sah, Bilder, die er für Kunst hielt, und hämmerte, wenn ein Klavier zur Hand war, schaurig in die Tasten, drum gab es auch ein Klavier in dem stillen Haus, das ein gewisser Stoddart geplant und gebaut hatte vor etwa zwanzig Jahren:

Arthur Stoddart, Engländer, sein Leben lang Agronom in Afrika, in den ehemaligen Kolonien, im Commonwealth: Kaffee, Gewürze, Hölzer, Negerschweiß – und wurde eines Tages pensioniert und hatte genug von Staub und Hitze, Händel und Geschrei, fern von Menschen und Märkten richtet er sich’s hier an dieser offenen Bucht bequem ein mit seiner Frau und rechnet mit hohem Alter, aber schon nach zwei Jahren ist der Schnitter mit der sausenden Sense vorbeigekommen und hat einen Schnitt gemacht, ich kenne das: sssst! so geht der schnelle Sauseschnitt;

die Tochter in Südafrika, der Sohn in London, die Frau überlebt ihn um Jahre, wohnt meistens in dem Haus, manchmal auch in England, stirbt schließlich in London: Krebs, die Pest –

keins der Kinder wollte das Haus haben, da kam ein gewisser Malermeister daher mit seiner guten Mathilde, die beiden suchten schon lange so ein Haus weitab von Trubel und Lärm, der pensionierte Landwirtschaftler Stoddart hatte es für sie gebaut und nichts von ihnen gewußt und sie nichts von ihm – ihr Haus am See! es hatte eine Weile leergestanden, es mußte hergerichtet und aufgemöbelt werden, aber Walter und Mathilde brauchten kaum eine halbe Handvoll zusammenzuklauben: schon gehörte es ihnen! – so geschehen vor ein paar Jahren.

Der Mann war in seinem neunundfünfzigsten Jahr und hatte ein Herz aus Papier und war Strohwitwer und hieß Heinrich R und konnte weder Bilder malen noch Klavier spielen wie seine daheimgebliebenen guten Freunde, die Besitzer dieses Hauses, die ihn Heiri nannten, der Makler Patrick Swift nannte ihn Mister Henry.

»Paddy Swift holt dich am Flugplatz ab, und wenn du irgend etwas brauchst: er ist der Mann für alles.«

Der Flugplatz ist ein Hoppelfeld neben einer Wellblechbaracke, die Passagiere schleppen ihr Gepäck, man hält sich dran fest, der Pilot läßt die Propeller seiner grauen Kiste, kaum daß sie ausgehottert und gewendet hat und schütternd steht, gleich zum Rückflug blasen, der Rückenwind treibt dich aufs Türloch zu und samt Gepäck hinein in die Baracke mit der kühnen Aufschrift Airport quer drüberhin.

Suzanne wird sich jetzt irgendwo in Thailand herumtreiben oder schon in Singapur oder auf Bali, meine Surabaja-Suzanne.

»He, sind Sie Mister Henry?« – ja, kann man sagen, und er also dieser vielberedete Mister Swift, Patrick sein Vorname, man habe ihm am Telefon gesagt, ich wolle eine Zeitlang bleiben. »Mehr will ich nicht wissen«, sagt er, und die Neugierde springt ihm aus dem Gesicht, es sei eine gute Idee, für ein paar Wochen in den Westen zu kommen – ich sehe eine dicke Brille und graugelbliche Bartborsten und kurzes, struppiges Haar – »Was sagen Sie zu unserem Wetter heut, Mister Henry?«

Mister Swift ist klein und flink mit seinen Äuglein hinter der Brille mit Gläsern so dick wie das Glas der Lupe meines letztverstorbenen Onkels Rupert – besessener Rappenspalter, versessener Briefmarkensammler –, und schon sind Koffer und Köfferchen eingeladen, sind wir eingestiegen, abgefahren, Mr Patrick Swifts Auto ist ein feuerrot durchs gar nicht so grüne Land rasender verbeulter Karren, bis Maidenford sind’s sechzehn Meilen, sechzehn mal einskommasechseins sind wie viele Kilometer? – rechne!

Die Straße zwischen Hecken, Borden, Feldsteinmauern ist eine enge hohle Gasse, doch furchtlos prescht Mr Swift durch die ihm wohlbekannte Unübersichtlichkeit, furchtbar schrammt er über Kanten und Löcher, mehrmals sind frontale Zusammenstöße unvermeidlich, man erstarrt, man verspannt verkrampft versperrt sich, Mr Paddy Swift aber hält so kalt drauflos, wie immer mal wieder einer auftaucht und vorbeiflitzt, millimeterdicht, und nicht ohne dabei zu vergessen, den Zeigefinger kurz übers Steuerrad zu heben: so grüßen sie einander, jeder ein Todesfahrer und jeder kennt jeden –

»Ein schnelles Vehikel, Ihr Auto.«

»Ja, ist es«, sagt er, und da ich frage, ob es viele Unfälle gebe: »Oh nein, Sir! Nur wenn die Kerle besoffen sind« – es stehe nachher eine Tafel am Straßenbord, er sagt: »Mit einem großen schwarzen Punkt drauf.«

Sein Punkt prangt silbrig am Armaturenbrett: eine Sankt Christophorus Plakette, ich nehme an, daß er sich auf diesen Heiligen verläßt.

»Ja, warum nicht?« sagt Mr Swift.

Mir ist aber, ich hätte schon vor Jahren sagen hören, Rom habe herausgefunden, diesen Sankt Christophorus habe es gar nie gegeben – da grinst Mr Patrick Swift und schnalzt und meint, wenn sie ihn dort nicht mehr brauchten, habe er jetzt alle Zeit für das gute irische Volk, nicht wahr, das gute irische Volk könne jeden vernünftigen Heiligen gut brauchen.

Ich bin zum ersten Mal in seinem Land – auch das hat man dem quicken Mr Swift am Telefon gesteckt –, er sagt: »Sie sind gut in Form, ich meine, Sie sehen gut aus, Sie werden sich bei uns prächtig erholen« – man ist gesprächig gewesen, und er bläht sich und spielt den hiesigen Vertrauensmann meiner geschwätzigen Freunde, hier gezeugt empfangen geboren worden vor über sechzig Jahren und hat sich nie länger wegbewegt, er sagt, Lugano sei sehr schön, Luzern, Genf, hübsche Städte, da sei er gewesen, auf der Hochzeitsreise – »When we was young« – Phoenix, Arizona, und San Diego, California, auch sehr hübsch, sicher fliege er irgendwann wieder einmal nach New York, Seattle, Vancouver, seine Frau reise gern, genau wie meine, er weiß allerhand und läßt es mich wissen, nach Chicago allerdings oder nach Mexico City oder Hongkong bringe ihn niemand mehr:

da ist das Sechzehnmeilenrennen nach Maidenford zu Ende, und Mr Swift, weitgereist und stets hier geblieben, zeigt mir jetzt, daß er auch langsam dahintuckern kann, er schaltet auf Spazierfahrt, es geht von Maidenford durchs nun sprichwörtlich Grüne zum See, fünf Meilen lang zwischen Hecken und Weiden gondelt er durch die Landschaft, voraus die Rosefields, die glitzernde Wasserfläche voller Inseln, dahinter das andere Ufer, dunkelgrün, fern rechtsab die Joyce Mountains, rundliche Schultern, sanftgrün, direkt vor Mr Swifts roter Kutsche einmal ein paar davonbeinelnde Schafe, einmal eine plätschernde Kuh, der Weg immer schmaler zwischen hereinhängendem Gebüsch, viele scharfe Abzweigungen, etliche übers Bord hinab verrutschte Kurven, manche Senke voll zusammengelaufener Brühe, die Figur dort rechterhand auf dem Baum, im Blattwerk versteckt, solle ich nicht weiter beachten, ein Fremder, McCann sein Name, sagt Mr Swift, hängt dort immer im Sommer in den Bäumen herum, meine nächste Nachbarin, der Weg führt gleich an ihrem Häuschen vorbei, heißt Teresa Molloy, ist über die siebzig, hat eine Kuh, falls ich gern frische Kuhmilch trinke, Distanz eine kleine Meile, ihr Mann hat John Molloy geheißen, ein sehr guter Mann, sehr guter Fischer, leider schon lange tot, aber nicht für die Teresa, nein, für Teresa Molloy ganz und gar nicht, dort das gelbe Häuschen mit dem dunkelroten Dach; Teresa Moloys Haus – »Ihres ist weiß wie der Schnee in der Schweiz, Mister Henry«, sagt er, »Sie werden es gleich sehen.«

Regen wie feine Schleier, Sonnenschein schneeweiß, hat man mir prophezeit, elfmal Regen und zwölfmal Sonne an einem einzigen Nachmittag.

Ja, sagt Mr Patrick Swift, man könne hier in kurzer Zeit viel erleben, Gott liebe die Abwechslung.

Er hat mich durch das Haus geführt, als wäre es seins: Entrée, Living, Küche, Kühlschrank mit ein paar Sachen drin, hier der Korridor, zwei Badezimmer, zwei Abstellräume, drei Schlafzimmer, im oberen Stockwerk ein Vorzimmer, ein zweites Wohnzimmer, ein viertes Schlafzimmer mit Bad, und hier der Haupthahn Wasser, hier Haupthahn Gas, Hauptsicherung, weitere Sicherungen, Garage, der kleine Wagen, aber wenn ich heute abend in Maiden’s Best essen will, sagt er, hole er mich besser ab, allein fände ich beim ersten Mal nie ins Dorf und schon gar nicht wieder zurück, auch nicht mit dieser Karte und dem dick rot eingezeichneten Weg, hier die Rosefields, die Bucht, Maidenford, Maidenfreud nennen es meine Freunde – »Wissen Sie, von wem diese Karte stammt? vom guten alten Arthur Stoddart oder von der guten alten Elly« – Mr Swift hat dem guten alten Arthur seinerzeit das Bauland am See vermittelt, den Preis ausgehandelt, ausbalanciert den richtigen Preis, den fairen Preis, alle sind zufrieden gewesen, er sagt: »Ich hätte Diplomat werden sollen, Politiker, die Welt sähe anders aus, und ich auch, im Ernst«, und lacht, er hätte dabeibleiben sollen bei Bauland und Landhäusern, es bringt Geld, seit vielen Jahren macht er den Makler, freilich nur nebenher, meistens steht er in seinem Laden für alles, was der zivilisierte Mensch hier im Westen zum Leben und Sterben braucht, ja, den Weg hier auf der Karte muß die gute alte Elly eingezeichnet haben, eine schöne Frau, dreißig Jahre Afrika und zwei überlebende Kinder, Helen und Charles, von andern weiß er nichts, haben der französischen Schönheit Elizabeth Stoddart nichts anhaben können, ob ihr von Zeit zu Zeit ein kräftiger Buschneger neue Jugend in den brennenden Rosenbusch gesprinkelt hat, weiß er allerdings auch nicht, eine echte Französin, was mich vielleicht interessiert, meine Frau ist ja auch eine halbe Französin, sozusagen, das hat er von meinen Freunden, ist eine wirklich wahre Pariser Schönheit gewesen, die gute alte Elly Stoddart, jetzt aber trotzdem schon eine ganze Weile tot – »Ich hole Sie also ab, Henry«, er läßt den Mister weg, »Nennen Sie mich Paddy«, sagt er, »wie Ihre Freunde«, sagt er und weiß genau, daß ich mich allein verirren würde, »Viel zu viele Wege überall hier herum kreuz und quer durch die Büsche«, sagt er und fährt mit seiner roten Karre durchs Grüne davon.

Was hat mein neuester Freund mir vorhin über diesen Kerl erzählt, der da im Sommer in den Bäumen herumhängen soll?

Ich glaube, Sie sind ein echter Faselhans, Mister, ein ausgewachsener Schwafelhans, Sir!

Im oberen Wohnzimmer vor breitem Fenster ein Schreibtisch, der Blick geht zwischen Bäumen in die westliche Weite, und ich erinnere mich an einen Spaziergang vor mehr als fünfundzwanzig Jahren:

erster Januar, Neujahrstag, ich spaziere am Morgen, als alle noch schlafen, aus der Stadt in den tief verschneiten Wald hinaus, noch gibt es Wälder, noch gibt’s Schnee, Kälte knackt in den Bäumen, auf einem Holzplatz in einer Lichtung erinnere ich mich angesichts frisch geschlagener Stämme an einen Mann, der an einem Neujahrstag einen Frühmorgenspaziergang in den verschneiten Wald hinaus machte und nicht nach Hause zurückgekehrt ist, am Nachmittag hat man ihn gefunden, sitzend auf einem Baumstamm zusammengesunken, überstäubt von feinem Schneeflirr und schon erkaltet, am Silvesterabend, gestern, keine zwanzig Stunden ist es her, hat er sich vorgenommen, im neuen Jahr jeden Tag etwas aufzuschreiben, den Tag zu markieren, und sei es nur mit einer Zeile oder mit nur einem Wort.

Hier am Rande der westlichen Welt nehme ich seinen nie ausgeführten Vorsatz auf und erfinde mitten in diesem Sommer diesen Mann und diese Begebenheit und schreibe:

Erste Notiz: Später Nachmittag, hell, strahlend. Im Haus riecht es nach Holz und Schilf.

Alle Räume fast drei Meter hoch und an den Wänden ziemlich viele Bilder, um nicht zu sagen Ölgemälde, und es bestätigt sich auch hier, was man schon seit vielen Jahren weiß, weil man’s immer wieder zu begutachten hat: der gute Freund Walter und seine sanfte Mathilde dilettieren hochbegabt, vornehmlich in blühenden Stilleben und weiten Wasserflächen unter hohen Himmeln, zuweilen über die Maßen dramatisch bewegt.

Was das allein schon an Material kostet und erst recht an Zeit. Und dann noch diese hochedelen Rahmen!

Es ist nicht zu leugnen: ich bin ausrangiert, gewesener Witwer auf dem Abstellgleis, ausrangierter Seniorchef, Werk und Zeiger ausgeleiert, Zeit: zirka zehn vor zwölf.

Nehmen Sie’s ruhig, überlassen Sie die Arbeit Ihrem tüchtigen Schwiegersohn, die Hetze, den Streß, Ihr kluges Herz hat Sie gewarnt, das sollte Ihnen genügen, Ihrem flexiblen Verstand, Sie haben Glück gehabt, früher hätte man gesagt: Die Sense ist haarscharf vorbeigesaust, präzis haarscharf vorbei, aber früher hätten wir Sie nicht durchgebracht.

Moritz Hoffmann sagt es simpler: Mach jetzt keine Sprünge mehr, Heiri, sonst knellt’s dich, ein paar Minuten lang bist du mir fast verreist, übrigens nicht himmelwärts.

Ein Gewoge auf einmal um mich her, Schattenwellen, ich fuchtle ins Leere und sacke in die Knie und haltlos hintenüber und habe Suzanne aufschreien hören und rufe nach Rosetta – ein unverzeihlicher Reflex, wir haben nie darüber geredet.

Dann die davonsausende Zeit eine rasende Nacht lang unter heißem weißen Licht endlich nach dem Sirenengejaule und noch immer die sausende Sense haarscharf und die heißen Stiche durch den harten Klumpen in der Brust, die ganze Brust ein zerpreßter Klumpen, von Stichen durchschossen, und das harte heiße Gedengele im Kopf: nicht schlafen nicht schlafen nicht einschlafen, eine Schlafsekunde nur, und die Sense saust dir durch und durch, bleib wach halt dich wach halt fest nicht loslassen Augen auf nicht schlafen wach bleiben wach wach bleib wach!

Ich habe einen Wurm in mir drin oder eine Raupe oder einen Käfer, bohrt nicht, tut nichts, regt sich nicht, aber wenn sich’s rührt, krümmt, herumwälzt, sich regt irgendwann …

Dann knellt es dich, Heiri.

Eine Frau aus dem Dorf holt alle paar Wochen in Paddy Swifts Allerweltsladen die Schlüssel zum Haus und macht hier die Türen auf, stößt die Klappfenster hoch, läßt frische Luft durchziehen, putzt, poliert, wischt Staub, besorgt auch das Gewürzgärtchen, die Rabatten, den Rasen, es ist an alles gedacht worden, alles wohlorganisiert, Missis Butler heißt die Frau, hat den richtigen Namen, es ist anzunehmen, daß sie kaum eine Stunde vor meiner Ankunft mit dem Federwedel den Putzfrauentango durch sämtliche Zimmer getanzt hat.

Ich werfe die Vorhänge zurück, gehe durch die Räume: potzpotz, Freunde, potzprotz! wo sind die Thronsessel für King und Queen? wo versteckst du dein Kebsweibchen, Walter?

Die Duschhähne rauschen, ich lasse ausgiebig plätschern, lasse dampfen, dann auströpfeln – da wird es wieder still. Kein einziges Geräusch hier drin, nur von außen. Ein steter Wind in den Bäumen, flirrende Blätter. In den obersten Zweigen einer Esche zwei schaukelnde Elstern. Draußen die Bucht leicht gekräuselt und so unglaublich blau wie manchmal im Bergsteigermonat hoch über der Baumgrenze plötzlich mittst im grauen Gefels ein Bergsee im Sonnenglanz.

Mathildes geklafterte Schenkel, ihre fleischigen Schenkel, ein blonder Strumpf noch an einem Bein und ihr weißfleischiger Bauch, alles hinweggeschrenzt, die Bluse an den Hals hinaufgerafft, ihre weißen weichen Brüste und ihr Flatteratem, blind, ohne Blick – »Komm schnell! mach schnell! schnell!« – die ruckenden Tischbeine, Stuhlbeine, das wogende Muster des Teppichs.

Kein Aktbild zu sehen hier, als delektierten sie sich nur an braven Bildchen, aber ein Teppich ist mir aufgefallen, mit ähnlichem Muster.

Mathilde, deine Blume, unsere Abstürze, wenig Süße.

Gegen acht Paddy Swift, er hupt kurz, wendet sein verschrammtes Schlachtroß, will nicht hereinkommen, nein, möchte nicht, hat noch zu tun, Termine, Kundenbesuch, das Haus offen lassen oder umständlich abschließen ist einerlei, hier wird nicht gestohlen, er sagt: »Wir sind hier in der ehrlichsten Welt, Henry, am ehrlichsten Ende der Welt, hier gibt es ziemlich viele Leute, die einander eine lange schwere Krankheit wünschen, aber man stiehlt nicht, Henry, kommen Sie, steigen Sie ein!«

Paddy Swift, hat Walter mir gesagt, ist einer der Wenigen hier ohne Zeit, immer unterwegs, immer an allen Ecken und Enden, Paddy vermittelt alles, beschafft alles, er ist der King of Maidenford, muß ständig sein Reich zusammenhalten, der swifte Paddy Swift.