Das Stinktier von Hamburg - Jürgen Ehlers - E-Book

Das Stinktier von Hamburg E-Book

Jurgen Ehlers

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Beschreibung

Sylvia Schröder, 23 Jahre alt, Diebin und Lügnerin, fühlt sich verfolgt. Sie sucht Schutz in einer Beerdigungsgesellschaft und bittet den Wissenschaftler Patrick Pauli (35) um Hilfe. Pauli ahnt nicht, dass diese Hilfe nicht nur darin besteht, die ihm unbekannte junge Frau sicher nach Hause zu bringen. Sie hat gerade kein Zuhause. Sie zieht bei ihm ein. Für Patricks Freundin Michelle ist sie ein Stinktier. Entgegen ihren Behauptungen weiß Sylvia sehr wohl, wer der Mann ist, der sie verfolgt: Alexander Stubbe, erfolgreicher Geschäftsmann, Immobilienhändler, Serienmörder. Stubbe hatte vor drei Monaten auch Sylvia kurzfristig in seiner Gewalt. Was sie erlebt hat, verfolgt sie in ihre Träume. Sie ist die einzige Frau, der es gelungen ist, ihnen zu entfliehen. Allerdings zögert sie, sich an die Polizei zu wenden. Sylvia will kein Gerichtsverfahren mit unsicherem Ausgang. Sie will Rache. Aber Sylvia ist längst nicht mehr die Jägerin, sondern die Gejagte. Sylvias vermeintliche Freunde versuchen auf eigene Faust, Stubbe unter Druck zu setzen. Wenig später sind sie beide tot. Sylvia und Patrick ist klar, dass auch sie in höchster Lebensgefahr sind. Patrick und Sylvia geraten selbst unter Mordverdacht geraten. Ihnen bleibt nur die Flucht.

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Seitenzahl: 387

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jürgen Ehlers

Eiszeitforscher und Krimiautor, geboren 1948 in Hamburg. Seit 1992 schreibt er Kurzkrimis und Kriminalromane. Er ist Mitglied im »Syndikat« und in der »Crime Writers’ Association«. Er lebt mit seiner Familie in Schleswig-Holstein. Wer mehr über ihn und seine Bücher erfahren möchte, findet viele Informationen auf seiner Webseite

https://www.juergen-ehlers-krimi.de

Inhaltsverzeichnis

Friedhof

Stinktier

Laptop

Lügen

Krankenhaus

Fragen

Steinwurf

Seychellen

Pilze

Mord

Flucht

Sieben Tage später

Rückkehr

Ruheforst

Lokaltermin

Die achte Puppe

Friedhof

Montag, 3. Juli

Tiere haben feste Gewohnheiten, die es dem Jäger erleichtern, sein Wild aufzuspüren. Menschen auch. Sylvia zum Beispiel, die so oft wie möglich zum Friedhof ging. Sie war 23 Jahre alt. Sie besuchte das Grab ihrer Schwester, oder vielmehr den Platz, den sie für das Grab ihrer Schwester hielt. Ihre Mutter hatte gesagt, sie solle dort nicht mehr hingehen, das sei zu gefährlich. Aber sie hatte lange aufgehört, das zu tun, was ihre Mutter wünschte. Also ging sie auch heute zum Friedhof, so wie immer.

Es war ein schwül-heißer Tag im Juli, und es war mit Gewitter zu rechnen. Die meisten Menschen hatten an einem solchen Tag besseres zu tun, als Gräber aufzusuchen. Aber Sylvia war nicht allein auf dem Friedhof. Als sie sich umdrehte, hatte sie einen Moment lang das Gefühl, dass jemand ihr folgte. Es war nur ein Schatten, und sie hatte ihn mehr geahnt, als gesehen, bevor er vom Weg abgebogen und verschwunden war. Wahrscheinlich harmlos.

Oder auch nicht. Nicht alles, was harmlos aussah, war auch wirklich harmlos. Sylvia beschloss, einen Kreis zu schlagen. Der Schatten war nach rechts verschwunden. Sylvia wandte sich nach links. Dann an der nächsten Kreuzung wieder nach links. Nichts Verdächtiges zu sehen. Wenn sie jetzt geradeaus ginge, käme sie auf kürzestem Weg zurück zum Ausgang. Der sichere Weg. Aber sie wollte nicht zum Ausgang. Sie wollte zu Leonies Grab.

Wieder nach links. Nun stand sie an der Stelle, an der sie glaubte, den Schatten gesehen zu haben. Nichts. Sie zögerte einen Moment. Sie wollte nicht feige sein. Sie war nicht feige. Also los. Sylvia wandte sich nach links.

Und da war er wieder. Kein Schatten mehr, sondern eindeutig ein Mann. Er hatte irgendwo zwischen den Grabsteinen gewartet, und nun war er hinter ihr. Sie ging schneller. Er ging ebenfalls schneller. Da vorn war Leonies Grab. Dort war keine Hilfe zu erwarten. Aber weiter rechts eine Ansammlung von Menschen vor der Kapelle. Eine Beerdigung. Kurz entschlossen lief sie und schloss sich den Trauernden an.

Und der Mann? Er folgte ihr.

* * *

Dr. Patrick Pauli sah die junge Frau nicht, die sich zu der Trauergemeinde gesellt hatte, und er konnte nicht ahnen, dass sich sein Leben gleich radikal ändern würde. Er würde heute Nachmittag nicht den Rasen mähen, und er würde den morgigen Tag nicht damit zubringen, Literaturzitate für den geplanten Fachaufsatz herauszusuchen.

Patrick war überrascht, wie viele Kollegen zur Trauerfeier und Beisetzung von Professor Horst Zindler gekommen waren. Selbst Oliver Trettel war erschienen, den man im Institut für Geowissenschaften nur selten sah.

»Sie sind praktisch alle da«, bemerkte Annabell, die Sekretärin. Patrick ging davon aus, dass ihr unermüdlicher Einsatz dazu beigetragen hatte. Selbst einige der Studenten waren erschienen. Zindlers Gattin war eine alte Frau, etwas unbeholfen, und so hatte Annabell für sie die Aufgabe übernommen, die Trauerfeier zu organisieren.

Der alte Universitätspräsident hielt eine mutige Rede. »Wir dürfen uns bei der Forschung nicht allein auf die Themen konzentrieren, bei denen es Geld von der Politik und von der Wirtschaft gibt. Das Geld ist immer dort, wo die entscheidenden Ergebnisse schon vorliegen. Wir müssen dort aktiv sein, wo wir noch nichts wissen.« Hätte er das auch gesagt, wenn er nicht inzwischen im Ruhestand wäre? Patrick fühlte sich jedenfalls direkt angesprochen. Einen Augenblick lang hatte er den Eindruck, der Professor habe ihn dabei angesehen, aber das war sicher ein Irrtum. Der Mann kannte ihn ja kaum.

»Die anderen Punkte, auf die wir uns konzentrieren müssen, das sind Zweifel und Widerspruch. Wir dürfen nichts als gesichert hinnehmen, nur weil es gedruckt ist und weil die Mehrheit es so sieht. Es sind nicht die Jasager, welche die Forschung voranbringen, sondern die Neinsager. Oft sind es gerade kritische Außenseiter, die den etablierten Fachleuten am Ende gegen viele Widerstände den richtigen Weg weisen. So war es kein Geowissenschaftler, der die Eiszeiten entdeckt hat, sondern der Zoologe Louis Agassiz. Und es war kein Geologe, der die Verschiebung der Kontinente entdeckt hat, sondern der Meteorologe Alfred Wegener. Sie haben etwas riskiert. Sie haben alles riskiert. Und sie haben gewonnen.«

Trettel schüttelte den Kopf. Er war ein Jasager. Aber es hatte ihm nichts gebracht. Patrick wusste, dass er noch immer auf eine feste Anstellung wartete.

»Unser lieber Kollege Zindler war Neuem gegenüber stets aufgeschlossen. Er hat die Plattentektonik vertreten, als sie von den Koryphäen anderswo in Deutschland noch verlacht wurde. Und er hat bis zuletzt mit Kollegen und Studenten über das Setzen neuer Schwerpunkte und auch über die erforderliche Neugliederung der jüngsten Erdgeschichte diskutiert.«

Patrick nickte. Das Anthropozän. Der Professor war einer der wenigen gewesen, die seinen Einsatz für das Zeitalter des Menschen als eigenständige geologische Einheit von ganzem Herzen bejaht hatte. Er würde ihm fehlen.

Die Sargträger betraten die Kapelle. Die Trauergemeinde erhob sich, und alle Blicke richteten sich auf die acht Männer, die jetzt hereingekommen waren. Patrick Pauli zog die Augenbrauen hoch. Er hatte schon viele Beerdigungen miterlebt, aber noch nie eine sogenannte Hamburger ‚Beerdigung erster Klasse‘. Doch Zindler war eben Professor gewesen, und seine Witwe hatte nicht geknausert. Die Sargträger mit schwarzem Dreispitz trugen einen schwarzen Talar mit breitem weißem Kragen und weiße Handschuhe, dazu schwarze Kniebundhosen, weiße Kniestrümpfe und schwarze Schuhe. Und einen Degen.

Patrick fragte sich, wozu man bei einer Beerdigung einen Degen brauchte. Fest stand jedenfalls, dass die Waffe bei der ganzen Prozedur eher hinderlich war. Die Träger nahmen jetzt den Sarg auf und setzten ihn auf den Bahrwagen, mit dem er zum Grab gefahren wurde.

»Wir hätten auch unsere Degen mitbringen sollen«, witzelte Sebastian, der Techniker. »Dann hätten wir uns über dem offenen Grab mit den Sargträgern einen hübschen Schwertkampf liefern können.«

»Pst!«, raunte Patrick.

Aber wenn Sebastian etwas sagen wollte, dann tat er das – ganz gleich, ob es nun passte oder nicht. »Ein Ende ist immer auch ein neuer Anfang«, murmelte er, als sie dem Bahrwagen mit dem Sarg von der Friedhofskapelle zur Grabstätte folgten.

»Er wird mir fehlen«, raunte Patrick zurück.

Erst als Sebastian ihm einen merkwürdigen Blick zuwarf, begriff Patrick, was sein Freund meinte. Durch den Tod des Professors war eine Stelle frei geworden, und Patrick brauchte eine feste Anstellung.

Der Pastor sprach ein Gebet, dann war die Witwe an der Reihe, und schließlich die Bekannten. Professor Köhler hatte einen kleinen Blumenstrauß mitgebracht, den er auf den Sarg warf.

Annabell blickte besorgt nach oben. »Es fängt gleich an zu regnen.«

Patrick sah sich um. Etwa fünfzig Trauergäste, schätzte er. Wenn jeder davon seine drei Hände Sand in das offene Grab werfen wollte, würden sie mit Sicherheit nass werden. Nun fielen schon die ersten Tropfen. Die meisten hatten vorgesorgt. Auch Patrick spannte jetzt seinen Regenschirm auf.

»Entschuldigen Sie, darf ich mich vielleicht bei Ihnen mit unter den Schirm stellen?« Patrick gewahrte erst jetzt die junge Frau, die neben ihm stand.

»Ja, natürlich, kommen Sie. Sie werden ja sonst ganz nass!« Neugierig betrachtete Patrick seine Nachbarin. Sie trug im Unterschied zu den meisten Anwesenden normale Straßenkleidung, eher auf der etwas schäbigen Seite. Sie hatte lange, blonde Haare, ungekämmt. Sie konnte kaum älter als 20 Jahre sein. War sie eine Studentin? Patrick war sich ziemlich sicher, dass er sie noch nie gesehen hatte.

Der Regen wurde heftiger. Jetzt war Patrick mit dem Ritual an der Reihe. Er fragte: »Könnten Sie bitte mal eben meinen Schirm halten?«

Die Frau nahm den Schirm, Patrick bückte sich und warf seine drei Hände Sand in die Grube. Anschließend blickte er einen Moment lang ernst auf den Sarg. Wahrscheinlich sah es aus, als ob er betete. Die junge Frau fragte ihn: »Soll ich das auch?« Sie deutete auf den Sand.

Patrick zuckte mit den Achseln. »Wenn Sie wollen.«

Ja, sie wollte. Patrick nahm ihr den Schirm wieder ab und sorgte dafür, dass sie bei der Zeremonie nicht nass wurde. Er registrierte, dass auch sie die Schaufel verschmähte und stattdessen den Sand in die Hand nahm.

Allmählich löste sich die Trauergesellschaft auf. Es sollte Kaffee und Kuchen bei Lindtner geben. Auch in diesem Punkt hatte Frau Zindler nicht gespart. Lindtner war das erste Haus am Platze. Und jetzt? Patrick sah die junge Frau an. Die blickte zu Boden und murmelte: »Können Sie mir helfen?«

»Worum geht es denn?«

Geld, dachte Patrick. Die Frau sah aus, als ob sie Geld brauchte. Aber sie sagte: »Ich habe Angst.«

»Bitte?«

»Ich habe Angst«, wiederholte sie. »Ich werde verfolgt. Von einem Mann. Schon seit Tagen. Er ist mir hierher auf den Friedhof nachgegangen.«

»Ein Stalker?«

Sie zögerte. »So nennt man das wohl.«

Patrick sah sich um. »Ist er hier?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Ich sehe ihn jetzt nicht mehr. Aber – könnten Sie mich vielleicht einfach mitnehmen?«

»Ja, natürlich. Das ist überhaupt kein Problem. Ich bin mit dem Wagen da. Wo wollen Sie denn hin?«

»Ich weiß nicht.«

»Nach Hause?«

Sie schüttelte den Kopf.

Seltsam, dachte Patrick. Aber hier auf dem Friedhof konnten sie beide jedenfalls nicht bleiben. »Wenn es Ihnen recht ist«, schlug Patrick vor, »können wir erst einmal zusammen zu mir nach Hause fahren. Und dann sehen wir weiter.«

Sie nickte.

»Haben Sie Hunger?«

Ja, sie hatte Hunger.

»Mögen Sie Pizza?«

»Ja.«

Patrick griff zum Handy und rief den Pizzaservice an.

* * *

Die junge Frau hieß Sylvia. Und es war offensichtlich, dass sie längere Zeit nichts gegessen hatte. Sie wirkte unruhig, aß ihre Pizza mit großer Hast, so, als ob sie befürchtete, dass man sie ihr wegnehmen könnte.

»Willst du noch eine?«, fragte Patrick.

Sie schüttelte den Kopf.

»Komm, ich gebe dir die Hälfte von meiner.«

Nein, das wollte sie auch nicht. Sie einigten sich schließlich darauf, dass er ihr eine Viertel Pizza auf den Teller schob.

»Danke!«, sagte sie.

Nach dem Essen sah Sylvia sich in Patricks Wohnzimmer um. Sie staunte über die vielen Bücher. Sie standen nicht nur in Regalen an den Wänden, sondern lagen auch in kleinen Stapeln auf Stühlen und Tischen. Patrick war bewusst, dass nicht nur das Wohnzimmer wie eine Junggesellenbude aussah, sondern das ganze Haus. Seit seine Mutter gestorben war, lebte er hier allein. Da er selten Besuch bekam, sparte er sich das Aufräumen. Michelle, seine Freundin, hatte die Stirn gerunzelt, als sie sein Wohnzimmer gesehen hatte. Patrick war klar, dass Michelle über das Chaos hier bei ihm nicht allzu glücklich war; jedenfalls trafen sie sich meistens bei ihr.

Neugierig betrachtete Sylvia die Dinge, die hier herumlagen. Am auffälligsten war natürlich der Schädel. Sylvia berührte ihn vorsichtig mit dem Zeigefinger. »Ist der echt?«

Patrick nickte. Der Schädel war ein Souvenir aus dem letzten Dänemark-Urlaub. Michelle und er hatten ihn in Lønstrup am Strand gefunden. Michelle hatte ihn nicht haben wollen, also hatte er ihn mit nach Hause genommen. Der Schädel stammte aus einem vor langer Zeit aufgegebenen Friedhof direkt am Kliff, der jetzt nach und nach von der Brandung aufgezehrt wurde. Und wessen Schädel es auch immer sein mochte, der Mensch war sicher schon vor mehr als hundert Jahren gestorben, und sicher erinnerte sich niemand mehr an ihn. Jetzt teilte er den Platz auf dem Schreibtisch mit anderen Mitbringseln von verschiedenen Reisen. Da war zum Beispiel ein mehr als faustgroßer Rhombenporphyr. Patrick hatte ihn in einer Kiesgrube westlich von Oslo gefunden. Der Stein war rund wie ein kleiner Kürbis.

»Er sieht aus, als ob er lauter Salmis enthält«, stellte Sylvia fest. Sie wies auf die hellen Feldspatkristalle. Wenn man den Stein drehte, glänzten sie.

Patrick hätte ihr eine ganze Menge über diesen und andere Steine erzählen können, welche die Gletscher der Eiszeit aus Skandinavien bis nach Norddeutschland gebracht hatten, aber es war offensichtlich, dass sich Sylvia im Augenblick für ganz andere Dinge interessierte. Sie sah Patrick forschend an. »Kann ich bei dir bleiben?«

Das kam überraschend. Patrick antwortete spontan. »Erst einmal ja.«

Eine innere Stimme sagte ihm: Du Narr! Er ignorierte sie, obwohl er ahnte, dass die Frau nicht nur ein Bett für die Nacht und eine Unterkunft und Schutz für wenige Tage brauchte, sondern möglicherweise für eine viel längere Zeit. Und er wusste noch immer nicht, warum sie sich verstecken wollte.

* * *

»Dieser Stalker«, setzte Patrick an.

Sylvia zog die Stirn kraus. Sie hatte gewusst, dass diese Frage kommen musste. »Was ist damit?«

»Wer ist das?«

»Das weiß ich nicht«, behauptete Sylvia. Würde er das glauben?

Offensichtlich nicht. Patrick sagte: »Soweit ich weiß, gibt es in solchen Fällen meistens eine Beziehung zwischen Stalker und Opfer.«

Sylvia reagierte unwirsch. »Ja, die Statistik habe ich auch gelesen. Ungefähr 60%. Und was heißt das? In ungefähr 40% der Fälle gibt es keine Beziehung zwischen Stalker und Opfer. Das sind ziemlich viele Fälle.«

»Du solltest zur Polizei gehen. Stalking ist strafbar. Unerwünschte Nachstellung.«

»Und dann? Wenn ich den Täter benennen würde, dann würde die Polizei eingreifen. Vielleicht. Aber wenn ich einfach nur sage, dass ich verfolgt werde, glaubst du, dass sie mir dann einen Begleitschutz mitgeben, der auf mich aufpasst und den Mann fängt?«

Wahrscheinlich nicht.

»Das ist ein beschissenes Gefühl«, sagte sie. »Der Kerl tut ja nichts Konkretes. Bisher nicht. Er ist einfach nur da. ‚Stalking‘ – der Begriff kommt, soweit ich weiß, aus der Jägersprache und bedeutet so etwas wie eine Pirschjagd. Dieser Mann geht mir nach, hält sich in meiner Nähe auf. Das ist lästig. Aber ist es auch strafbar? Ich glaube nicht.«

»Ich stelle den Kerl zur Rede«, versprach Patrick.

Sylvia sah ihn amüsiert an. Sie glaubte nicht, dass sich das Problem auf diese Weise lösen ließ. Der Stalker machte ja Jagd auf Sylvia, nicht auf Patrick Pauli. Wenn sie beide zusammen waren, würde er sich nicht blicken lassen. Aber sie konnte nicht immer und überall mit Patrick zusammenbleiben. Das war eine Illusion. Sie konnte ihm nicht wie ein Schaf hinterherlaufen. Das wollte sie auch gar nicht. Sie wollte frei bleiben.

Und wie frei war Patrick? Sylvia betrachtete das gerahmte Foto an der Wand.

»Das ist Michelle«, erläuterte Patrick. »Meine Freundin«, fügte er hinzu.

Sylvia biss sich auf die Lippen. Natürlich hatte er eine Freundin. Warum auch nicht? Er hatte ihr geholfen, bis hierher jedenfalls. Mehr konnte sie nicht erwarten. Auf dem Sessel unter dem Bild saß ein Mammut. Sylvia sagte: »Es guckt wie deine Freundin.«

War das zu frech?

Nein. Patrick nickte. »Ich habe das Tier auf dem Flohmarkt entdeckt. Und die Frau, die es verkauft hat, die hat gesagt, dass es eigentlich Fanti heißt. Aber ich hab mein Mammut Michelle genannt.«

»Was hat Michelle dazu gesagt? Die richtige Michelle, meine ich.«

Patrick zuckte mit den Achseln. »Sie fand es irgendwie seltsam, glaube ich.«

»Aber ihr seid sehr eng befreundet, oder?« Sylvias Herz klopfte. Patrick würde sie zurechtweisen.

Aber das tat er nicht. »Michelle und ich, wir sind schon ziemlich lange befreundet.«

»Wollt ihr heiraten?«

»Vielleicht.«

Sylvia sagte nichts.

»Weißt du, Michelle und ich, wir haben unterschiedliche Zukunftspläne. Ich will eine Familie, will Kinder haben, Michelle will keine. Ich kann das verstehen. Immerhin hatte sie in einer früheren Beziehung eine Fehlgeburt. Ich habe vorgeschlagen, stattdessen ein oder zwei Kinder zu adoptieren. Das hielt Michelle für völlig abwegig. Aber ist das so abwegig?«

»Kinder sind etwas Großartiges«, behauptete Sylvia. Wenn sie nicht ausgerechnet so sind wie ich, dachte sie. Aber die meisten Kinder waren nicht so wie sie.

Patrick zückte sein Handy. »Ich muss Michelle anrufen.«

Sylvia erschrak. Wenn Michelle ein Mammut war, wäre sie sicher nicht begeistert, wenn plötzlich eine andere Frau bei ihrem Patrick einzog. Aber Michelle war offenbar nicht zu Hause. Gut, dachte Sylvia. Wenn sie nicht da war, konnte sie nicht sagen, was sie dachte.

* * *

Patrick und Sylvia saßen auf dem Sofa. Sylvia war jetzt völlig entspannt.

»Bist du eigentlich Professor?«, fragte sie.

Patrick schüttelte den Kopf. »Privatdozent.«

Sylvia sah ihn überrascht an. »Das klingt wie Privatdetektiv.«

Patrick lachte. »Es ist aber etwas völlig anderes. Die einzige Gemeinsamkeit besteht in dem unsicheren Einkommen. Ein Privatdozent unterrichtet an der Universität, genau wie ein Professor, aber er wird nicht von der Universität bezahlt.«

»Warum unterrichtet er dann?«

»Um zu forschen. Um seinen wissenschaftlichen Ruf zu verteidigen.«

»Hier in Hamburg?«

»Ja, hier in Hamburg. An der Universität Hamburg.«

»Was für ein Fach?«, wollte Sylvia wissen.

»Geowissenschaften«, sagte Patrick. »Mein Spezialgebiet ist das Anthropozän. Das ist das jüngste Erdzeitalter.«

»Quatsch«, erwiderte Sylvia. »Das weiß ich besser. Das jüngste Erdzeitalter ist das Holozän.«

Patrick hob die Augenbrauen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Sylvia mit diesen Begriffen irgendetwas anfangen konnte. »Wie kommst du darauf?«

»Ich studiere«, behauptete die junge Frau.

Das bezweifelte Patrick.

»Doch, ganz ehrlich. Ich studiere. Ich habe ja nichts zu tun. Keine Arbeit, keine Familie, gar nichts. Da gehe ich einfach in die Universität, suche mir die Dinge heraus, die mich interessieren, und dann setze ich mich in den Hörsaal und höre zu.«

»Einfach so?«

»Einfach so. Am Anfang bin ich ziemlich nervös gewesen, und ich hab damit gerechnet, dass irgendjemand kommt und mich rausschmeißt. Aber das war nicht der Fall. Keiner hat Notiz von mir genommen. Solange ich keine Prüfungen brauche, kann ich tun und lassen, was ich will.«

»In meiner Vorlesung bist Du nicht gewesen.«

»Nein«, bestätigte Sylvia. »Der Kram hat mich nicht interessiert. Aber wenn ich natürlich gewusst hätte, dass du das bist, der da unterrichtet, dann wäre ich sicher gekommen.«

Patrick lachte.

»Vielleicht«, sagte sie. »Aber jedenfalls habe ich diese Vorlesung über die Erdgeschichte gehört. Es waren nicht besonders viele Zuhörer da, und die meisten haben gar nicht aufgepasst. Einige haben mit ihren Handys gespielt. Und der Vortrag des Professors, der war ziemlich schwach.«

Patrick fragte, wer das gewesen sei.

»Er hieß Kollau oder so ähnlich.«

»Köhler?«

»Ja, Köhler. Er hat jedenfalls seinen Sermon heruntergebetet und dazu eine schlecht gemachte PowerPoint-Projektion vorgeführt. Total langweilig. Aber einiges habe ich doch mitbekommen. Das vorletzte Erdzeitalter, das war das Pleistozän, und danach kam dann das Holozän. Ein Anthropozän gibt es nicht.«

Patrick widersprach. »Das ist veraltet«, sagte er. »Das Anthropozän kommt nach dem Holozän. Es ist das Zeitalter des Menschen.«

»Der Mensch erscheint im Holozän«, behauptete Sylvia.

Und wieder war Patrick verblüfft.

»Jedenfalls steht das da drüben auf dem Buchrücken«, fügte sie hinzu.

Max Frisch. ‚Der Mensch erscheint im Holozän‘. Das hatte Patrick lange nicht mehr in die Hand genommen, und es war natürlich auch kein Geologiebuch. Es war eine Erzählung, in der es ums alt werden und um den Tod ging.

Patrick sagte: »Das mit dem Holozän, das war auch damals schon nicht richtig, als Max Frisch das Buch geschrieben hat, unabhängig davon, ob es nun ein Anthropozän gegeben hat oder nicht. Der Beginn des Holozäns liegt am Ende der letzten Eiszeit, vor knapp 12.000 Jahren. Der Mensch ist aber viel älter. Er ist vor mindestens 320.000 Jahren entstanden. Davor gab es schon Vorläufer, die man als ‚Menschenartige‘ bezeichnet. Und wie weit die zurückreichen, das weiß man nicht. – Aber seit der Mensch eingreift, gibt es fast nichts, was so abläuft wie vorher. Daher brauchen wir eine neue geologische Einheit, das Anthropozän. Worauf es in den Geowissenschaften vor allem ankommt, das ist, dass wir uns mit der von den Menschen gestalteten Erde befassen und mit den Menschen, die diese Erde gestalten.«

Sylvia sah ihn zweifelnd an.

»Nicht alle wollen das anerkennen«, musste Patrick zugeben.

Sylvia überlegte einen Augenblick, wieweit sie ihren Gastgeber provozieren durfte. Ihr Übermut setzte sich durch. »Die Mehrheit der Geologen glaubt nicht an dein Anthropozän«, behauptete sie. »Das ist doch richtig, oder?«

»Es ist nicht ‚mein‘ Anthropozän. Und ob die Mehrheit der Geowissenschaftler daran glaubt oder nicht, das weiß ich nicht. Es gibt keine genauen Zahlen.«

»Aber viele deiner Kollegen würden sagen, dass es das Anthropozän gar nicht gibt?«

»Vielleicht.«

Sylvia triumphierte. »Das ist großartig«, sagte sie. »Das ist einfach großartig. Du erforschst etwas, was es gar nicht gibt, und weißt du was? Ich bin eine Diebin und Lügnerin und behaupte Dinge, die gar nicht stimmen. Wir passen großartig zusammen.«

Patrick nickte zögernd. So wie es aussah, mussten sie wohl zusammenbleiben, zumindest im Augenblick. »Du bist also eine Diebin?«, fragte er.

Jetzt war sie zu weit gegangen, aber nun gab es kein Zurück,

»Was klaust du denn so?«, wollte Patrick wissen.

»Was ich brauche.«

»Geld?«

»Geld auch.«

»Ich habe nicht viel Geld«, sagte Patrick.

Stimmte das? Das Haus und die ganze Einrichtung sahen nicht so aus, als ob Patrick arm wäre. Sylvia sah ihn zweifelnd an.

»Michelle unterstützt mich«, gab Patrick zu.

»Oh.«

* * *

Michelle war eine Sache, dachte Patrick, und Sylvia eine andere. Eine ganz andere Sache. Sylvia brauchte Schutz, und Patrick hatte versprochen, sie zu beschützen. Aber sie wollte mehr als nur Schutz. Sie rückte dicht an ihn heran. »Kannst du mir eine Geschichte erzählen?«

»Eine Geschichte?« Patrick hatte keine Kinder und daher soweit er sich erinnerte noch nie irgendjemandem eine Geschichte erzählt. Und natürlich war Sylvia kein Kind, sondern eine erwachsene Frau, und Erwachsenen erzählte man normalerweise keine Geschichten. Keine erfundenen Geschichten jedenfalls.

»Was soll ich Dir denn erzählen? Irgendwelche Ereignisse aus meinem Leben?«

Sylvia zuckte mit den Achseln. »Eine Geschichte, die du dir selbst ausgedacht hast vielleicht. Oder besser noch eine Geschichte, die du dir genau jetzt in diesem Augenblick ausdenkst. Die überhaupt gar nicht wahr ist.«

»An was denkst du?«, fragte Patrick.

Sylvia brauchte nicht lange zu überlegen. »Ich denke mir«, sagte sie, »dass die Menschen in Wirklichkeit gar nicht im Holozän entstanden sind. Zumindest nicht alle. Einen, den gab es schon im Karbon. Das war doch die Steinkohlenzeit, oder? Ja, das war die Steinkohlenzeit. Und dieser Mensch, der hieß Hugo, und er wanderte allein durch den Steinkohlenwald und wusste überhaupt gar nicht, was er machen sollte ...«

»Hugo.« Patrick dachte kurz nach. Über die Steinkohlenzeit wusste er so gut wie gar nichts. Somit hatte er völlige Freiheit, eine eigene Welt für seinen Hugo zu schaffen. »Also, der Hugo, der kam sich ziemlich verloren vor. Er war zwar nicht besonders klein, etwa 1,85 m groß, aber die Pflanzen im Steinkohlenwald, die waren unendlich viel größer als er. Riesige Farnkräuter, so hoch wie Hochhäuser, und andere Pflanzen, richtige Bäume, die hießen Bärlapp. Das war merkwürdig, denn Bären gab es damals ja noch nicht. Und die Pflanzen sahen auch gar nicht aus wie Bären, und Lapp – also irgendwelche Putzlappen oder Tücher gab es auch nicht ...«

Sylvia gähnte.

Patrick hielt inne. »Du bist müde«, stellte er fest.

Sylvia schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht müde«, murmelte sie. »Erzähl weiter. Bitte, erzähl weiter.«

Patrick spann seine Geschichte weiter, aber es war klar, dass die junge Frau nahe am Einschlafen war. Sie lehnte sich ganz sanft an seine Seite. Das war ein schönes Gefühl. Auch wenn sie roch wie jemand, der sich längere Zeit nicht gewaschen hatte.

Hugo war inzwischen ein ganzes Stück weit in den Steinkohlenwald vorgedrungen, und es wurde immer dunkler und dunkler. »Plötzlich raschelte es im Laub«, sagte Patrick, »und als Hugo genau hinsah, bemerkte er, dass ein großes dunkles Tier schräg vor ihm saß und ihn beobachtete. Das Tier sah aus, wie eine riesige Kellerassel. Hugo wusste nicht, ob das Tier vielleicht gefährlich war. Es lief jedenfalls nicht vor ihm weg. Sollte er selber weglaufen? ‚Hab keine Angst‘, sagte Hugo. ‚Ich tue dir nichts. Ich bin doch nur ein Mensch. Wir Menschen tun niemandem etwas.‘ Aber die große Kellerassel war davon nicht überzeugt. Sie gab ein metallisch klingendes Geräusch von sich. Es klang so, als ob jemand versuchte, einen Stapel Kochtöpfe zu jonglieren. Hugo hatte das Gefühl, dass die Kellerassel ihn auslachte.«

Sylvia sagte nichts. Sie atmete sehr gleichmäßig. Schlief sie? »Sylvia?« Sie reagierte nicht. Patrick bewegte sich. Ja, sie schlief tatsächlich. Er stand vorsichtig auf. Sie schlief weiter.

Und Patrick selber? Er war zwar erschöpft, aber noch immer hellwach. Da waren so viele Fragen. Diese Sylvia – er wusste gar nichts über sie. Fast gar nichts. Sie hatte bisher nichts über sich erzählt, außer dass sie eine Diebin und Lügnerin sei. Aber stimmte das, oder war das am Ende auch gelogen?

In dem Augenblick wachte sie auf. Sie richtete sich auf und sah Patrick an. »Oh«, sagte sie. »Entschuldigung, ich bin eingeschlafen. Das wollte ich nicht.«

»Du kannst ruhig weiter schlafen«, erwiderte Patrick.

Sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht. »Ja, ich bin müde«, sagte sie. »Aber ich möchte dir auch gern weiter zuhören.«

»Ich kann dir morgen mehr erzählen«, schlug er vor.

Sie lächelte. Sie sah ein bisschen verloren aus. »Weißt du«, sagte sie, »das ist einfach wunderschön. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schön das ist, wenn jemand einem eine Geschichte erzählt, bis er eingeschlafen ist. Das habe ich mir immer gewünscht. Dass meine Mama oder mein Papa meine Hand hält und mir eine Geschichte erzählt, bis ich schlafe. Aber das ist nie passiert.«

»Es ist immer noch möglich.«

Sylvia schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Es ist nicht mehr möglich. Mein Vater ist tot. Und er hätte mir sowieso nie etwas vorgelesen.«

»Du hast ihn nicht besonders gemocht, oder?«

»Er war ein Schwein. – Vielleicht sollte ich das nicht sagen, er war ja schließlich mein Vater. Aber er war trotzdem ein Schwein. Für Geld hätte er alles getan. Aber jedenfalls ist er jetzt tot.«

»Das muss ein ziemlicher Schock gewesen sein«.

Sylvia reagierte nicht.

»Für dich und für deine Mutter«, ergänzte Patrick.

»Sie hat sich damit abgefunden. Ganz gleich, was passiert ist, sie hat sich immer ziemlich rasch damit abgefunden. Wenn sie glaubt, dass etwas nicht zu ändern ist, dann ist es eben so, und dann muss man damit leben. Das tut sie dann auch. Als Papa tot war, hat sie sich einen neuen Freund gesucht. Sie sah ja noch ganz gut aus, und von daher war das auch nicht besonders schwierig. Sie hat keine großen Ansprüche gestellt. Und er auch nicht.«

»Du magst ihn nicht«, stellte Patrick fest.

»Er ist ein Scheißkerl«, bestätigte Sylvia. »Ach ja, ich vergesse immer wieder, dass ich sowas nicht sagen soll. Die beiden harmonieren nicht besonders gut miteinander. Klingt das besser?«

Patrick gab keinen Kommentar ab.

»Sie haben sich nicht viel zu sagen«, fasste Sylvia ihr Urteil zusammen. »Und dieser Typ, dem macht das nicht viel aus, der glaubt, das sei gar nicht nötig, dass man sich viel zu sagen hat. Es sei nur wichtig, dass einer was zu sagen hat, und das sei er. Aber da hat er sich verrechnet. Irgendwann schmeißt sie ihn raus. Wahrscheinlich ziemlich bald. Mama hat zwar alles Mögliche eingesteckt und weggesteckt im Laufe ihres Lebens, aber sie hat sich nie unterbuttern lassen.«

»So wie du?«, fragte Patrick.

Sylvia schüttelte den Kopf. »Wir sind völlig verschieden. Wenn sie etwas erreichen will, dann macht sie das sozusagen durch Anpassung. Das heißt, sie tut so, dass der andere glaubt, dass er sie überzeugt hat, und dass sie dann macht, was er will. Aber in Wirklichkeit tut sie genau das, was sie will, und dann behauptet sie, das sei so abgesprochen.«

»Du wählst eher den direkten Weg?«

Sylvia nickte. »So kann man das sagen. Wenn mir irgendetwas nicht passt, dann schlage ich zu.«

Patrick sah sie amüsiert an. Sylvia sah nicht aus wie ein gewalttätiger Mensch. Eher zerbrechlich, ängstlich.

Sylvia warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Das glaubst du jetzt nicht«, stellte sie fest. »Normalerweise habe ich vor nichts Angst.«

»Aber jetzt schon?«

»Ja.«

»Wovor hast du Angst?«

»Das habe ich doch schon gesagt. Ich werde verfolgt.«

Patrick seufzte. »Ich will dir ja helfen. Aber wenn ich gar nicht weiß, von wem du verfolgt wirst ...«

Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber. Schließlich hielt Sylvia es nicht länger aus. »Er will, dass ich tot bin, verstehst du?«

»Und warum will er, dass du tot bist?«

»Darüber will ich jetzt nicht reden. – Ich weiß, dass du das nicht gut findest. Aber es ist ja nicht so, dass ich nie darüber reden will. Nur jetzt noch nicht, verstehst du? Ich kann das nicht. Ich brauche Frieden. Verstehst du das?«

Patrick antwortete nicht.

Sylvia sagte: »Wahrscheinlich verstehst du das nicht. Aber darf ich trotzdem bei dir bleiben?«

»Ja«, sagte er. In dem Augenblick, in dem er das gesagt hatte, wusste er mit hundertprozentiger Sicherheit, dass das wieder ein Fehler war. In diesem Moment hatte er sich endgültig auf ein möglicherweise lebensgefährliches Abenteuer eingelassen, ohne überhaupt zu wissen, worum es ging.

* * *

Sylvia lag auf der Couch. »Ich bin müde«, sagte sie.

»Hast du Nachtzeug dabei?«

Sylvia schüttelte den Kopf. »Ich schlafe immer nackt.«

Patrick zog die Augenbrauen hoch.

»Aber wenn es dich stört ...«

Es störte ihn nicht, aber sie nahm doch den Pyjama, den Patrick ihr anbot. Wenige Minuten später war sie eingeschlafen.

Und jetzt? Patrick hob ihren Rucksack vom Boden auf. Ein billiges Teil, nicht einmal wasserdicht. Der Inhalt war vollkommen durchnässt. Patrick packte alles aus, was es auszupacken gab. Das war nicht viel. Ein Satz Unterwäsche, getragen. Ein paar Socken mit Löchern. Papiertaschentücher. Ein Kondom. Eine halb leere Packung Zigaretten. Streichhölzer. Ein Kugelschreiber. Eine verblichene Fotografie, die ein kleines Mädchen zeigte. War das Sylvia? Schwer zu sagen, aber zumindest sah das Kind auf dem Bild so ähnlich aus wie die Frau, die jetzt auf der Couch schlief. Geld fand Patrick nicht. In einer Seitentasche des Rucksacks steckte ein Kinderausweis. Sylvia Schröder, geboren am 4. Mai 2000. Ohne Foto. Der Ausweis war kurz nach ihrer Geburt ausgestellt worden. Warum hatte sie einen abgelaufenen Kinderausweis? Er würde sie fragen müssen.

Patrick breitete Sylvias Sachen auf dem Wohnzimmertisch aus. Wahrscheinlich waren sie morgen früh wieder trocken. Er warf noch einen Blick auf die schlafende Sylvia, dann ging er selbst ins Bett.

* * *

Das war doch ein Schrei! Patrick fuhr hoch.

»Sylvia?«

Ja, es war Sylvia, die geschrien hatte. Sie lag nicht mehr auf der Couch, sondern neben ihm im Bett, sie schrie noch immer, und sie schlug mit den Armen um sich.

»Sylvia, ganz ruhig, alles ist gut«, versicherte Patrick.

Er machte Licht.

Sie hörte auf zu schreien und sah ihn an, als ob sie sich erst jetzt wieder daran erinnerte, dass sie hier bei ihm gelandet war. »Entschuldige«, murmelte sie.

»Ist ja gut«, versicherte er. »Du hast schlecht geträumt, aber jetzt bist du wieder wach und alles ist gut.«

Sylvia nickte. »Ja«, sagte sie schließlich. »Ja, ich hab schlecht geträumt.«

»Wovon hast du geträumt?«

»Ich weiß es nicht mehr«, behauptete sie. Sie sah ihn nicht an dabei. Sie hatte von den Puppen geträumt. Wieder einmal. Aber hatte sie auch davon geredet? Hoffentlich nicht. Und bevor er weitere Fragen stellte, sagte sie: »Nimmst du mich in den Arm, bitte?«

Patrick nickte. Er berührte sie ganz vorsichtig und streichelte sie, bis sie eingeschlafen war. Dann stieg er behutsam aus dem Bett und legte sich auf die Couch.

Stinktier

Dienstag, 4. Juli

Patrick wachte früh auf. Er hatte schlecht geschlafen. Zum einen war er es nicht gewohnt, auf der Couch zu schlafen; sie war zu hart und außerdem etwas zu kurz. Schlimmer war, dass er nicht wusste, was er mit Sylvia machen sollte. Auf Besuch war Patrick nicht eingerichtet. Er würde das Gästezimmer freiräumen müssen. Sein Arbeitszimmer. Ihr Abendbrot gestern hatten sie zwar vom Pizzaservice kommen lassen, kein Problem. Jetzt brauchten sie Frühstück. Und Klarheit darüber, wie es mit Sylvia weitergehen sollte.

Sylvia. Alles war seltsam. Schon der Anfang. Dass ihn auf der Beerdigung eines Kollegen irgendeine junge Frau ansprechen und um Hilfe bitten würde. Warum gerade ihn?

Er rief Sebastian an. Sebastian war jedenfalls keiner der Wissenschaftler, die lange um den heißen Brei herum redeten und am Ende das Gegenteil von dem sagten, was sie wirklich dachten. Er war überhaupt kein Wissenschaftler. Er war als Techniker für das Labor zuständig.

»Sebastian, hättest du Lust, zum Frühstück vorbeizukommen?«

»Jetzt?« Sebastian gähnte.

»Ja, ich weiß, es ist ziemlich früh, aber ich brauche deinen Rat?«

»Meinen Rat? Geh zurück ins Bett und schlaf noch ne Stunde.«

»Nein, das ist keine Lösung.«

»Was ist das Problem?«

Patrick schilderte ihm, was geschehen war.

Sebastian lachte. »Da siehst du ein Problem? Wenn ich mitten in der Nacht aufwache, weil plötzlich eine junge Frau neben mir im Bett liegt, dann würde ich das nicht als Problem bezeichnen. Eher als eine angenehme Überraschung.«

Patrick lachte nicht. »Für mich ist das ein Problem. Ich weiß nicht, was ich von der Geschichte halten soll. Ich würde es gern sehen, wenn du kurz rüberkommst und mir dann hinterher sagst, was du denkst.«

»Ja, ich komme. – Du hast die Aufforderung unseres früheren Universitätspräsidenten ja sehr wörtlich genommen.«

»Von jungen Frauen im Bett hat er nicht direkt gesprochen, wenn ich mich recht erinnere.«

»Er hat vom Mut gesprochen. Und vom Risiko.«

»Ach ja, und könntest du bitte unterwegs irgendwo ein paar Brötchen auftreiben? Und Wurst oder irgend so etwas?«

»Ja, klar. Das ist die komischste Einladung zu einem Frühstück, die ich je bekommen habe.«

* * *

Als Patrick den Hörer aufgelegt hatte, kam Sylvia ins Zimmer. Sie gähnte.

Patrick sagte: »Könntest du dich bitte anziehen? Ein Kollege kommt gleich zum Frühstück vorbei.«

Sylvia nickte. Wenig später kam sie zurück. Sie trug dieselben Sachen, die sie gestern auch auf der Beerdigung angehabt hatte. »Ich habe nichts anderes«, sagte sie.

»Das ist schon in Ordnung«, erwiderte Patrick. Er musste sie nachher als erstes zum Einkaufen schicken. Oder vielleicht konnte ihr Michelle etwas von ihrem Zeug leihen. Die beiden hatten ungefähr die gleiche Statur.

Und die Haare! Hatte sie nicht geduscht? Sylvias Frisur sah so aus, als hätte sie irgendwo draußen in der Natur übernachtet. »Trinkst du Kaffee?«, fragte Patrick.

Sylvia nickte.

Patrick ging in die Küche und startete die Kaffeemaschine. Sylvia half ihm beim Aufdecken. Sie wunderte sich über das kleine Messer mit dem grünen Griff. »Wozu ist das denn?«

»Zum Käseschneiden«, erwiderte Patrick. Aber im Augenblick hatte er keinen Käse.

Wenig später läutete es an der Haustür. Sebastian hatte sich beeilt. Sein Auftritt war erwartungsgemäß ungestüm und sehr direkt. »Schöne Grüße vom Bäcker«, rief er. »Und guten Morgen allerseits.«

»Moin«, sagte Sylvia knapp.

Patrick hatte das Gefühl, dass die junge Frau nicht übertrieben begeistert war. Aber das ließ sich nun nicht mehr ändern.

Sein Freund hatte ein unerschütterliches Selbstvertrauen. »Ich bin Sebastian«, sagte er. »Und wie heißt du, schönes Kind?«

»Sylvia.«

»Lass dich mal angucken, Sylvia. Steh mal auf und zeig mir deine Ärmchen!«

Patrick starrte seinen Freund an. Er hätte nie geglaubt, dass Sylvia sich durch dessen forsches Auftreten beeindrucken ließe. Aber genau das war der Fall. Sylvia stand tatsächlich auf und streckte dem Techniker die Arme entgegen. Sebastian begutachtete ihre Arme und Hände und nickte dann: »Gut.«

»Sylvia steht nicht zum Verkauf!«, brummte Patrick.

»Ich will sie auch gar nicht kaufen. Du hast gesagt, ich soll sie mir angucken und sagen, was ich von ihr halte. Und das tue ich jetzt. Ich sehe, dass es keine Einstiche gibt. Sylvia nimmt also keine Drogen, oder zumindest keine Drogen, die man mit irgendeiner Spritze verabreicht bekommt. Es gibt auch keine Spuren irgendwelcher Ritzungen. Nein, das Mädchen ist rund und gesund.«

»Rund?«, rief Patrick empört, aber Sylvia lachte.

»Dann gibt es noch eine kleine Besonderheit, hier an der linken Hand. Du bist Rechtshänderin, nehme ich an?«

Sylvia nickte.

»Patrick, siehst du diese kleinen blauen Punkte?«

Es gab in der Tat fünf blaue Punkte; die waren Patrick bisher nicht aufgefallen. Sylvia lachte nicht mehr; sie sah plötzlich besorgt aus.

»Keine Angst«, sagte Sebastian, »alles ist gut. Diese Punkte zeigen, dass Sylvia mal im Knast gewesen ist. Das ist so eine Tätowierung, die man sich macht, weil es verboten ist, und weil man zeigen will, dass man sich nicht unterkriegen lässt. Und bevor du jetzt irgendetwas sagst, Sylvia, du kannst stolz darauf sein, dass du diese Tätowierung trägst.«

Sylvia sah im Augenblick nicht besonders stolz aus. Sie sah den Techniker zweifelnd an.

»Es ist nichts Schlimmes, wenn man mal im Knast gewesen ist«, bekräftigte Sebastian. »Viele berühmte Leute waren entweder mal im Gefängnis oder sind zumindest per Haftbefehl gesucht worden. Georg Büchner zum Beispiel. Kennst du den?«

Sylvia nickte.

»Fritz Reuter, unser großer plattdeutscher Dichter, saß sieben Jahre im Gefängnis. Friedrich Schiller, der nicht mehr schreiben durfte, hat sich seiner Verhaftung nur durch Flucht entziehen können. Rebellen gegen die Fürstenherrschaft und Aufrührer waren sie alle.«

Sylvia lächelte wehmütig. »Ich habe nur wegen eines Einbruchs im Gefängnis gesessen«, sagte sie. »Na ja, und wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt.«

»Na bitte!«, sagte Sebastian. »Damit gehörst du zur selben Gruppe wie Büchner, Schiller und Reuter. Und unser Freund Patrick Pauli, so sanftmütig er auch aussieht, ist im Grunde seines Herzens auch ein Rebell. Er ist bei einer Demonstration verhaftet worden. Wann war das noch gleich, Patrick?«

»Vor drei Jahren«, sagte Patrick. »Vorübergehende Festnahme nach einer Anti-Rassismus-Demonstration.« Den Vorfall hatte er inzwischen fast vergessen.

»Du bist hier also unter Freunden, Sylvia. Keiner von uns wird irgendetwas gegen dich unternehmen. Keiner von uns wird irgendetwas tun, was dich in Gefahr bringt.«

»Wir helfen dir«, bekräftigte Patrick.

»Aber wir können dir nur helfen«, setzte Sebastian nach, »wenn wir wissen, worum es eigentlich geht. Warum bist du auf der Flucht? Warum wirst du bedroht? Und wer bedroht dich?«

Sylvia seufzte. »Ich hab was geklaut«, sagte sie.

»Deswegen auch die Gefängnisstrafe?«

»Nein. Das war etwas anderes, und das ist lange her. Worum es hier geht, das ist, ich habe jetzt etwas geklaut. Derjenige, dem es gehört, will es aber auf jeden Fall zurückhaben. Oder, wenn er es nicht bekommen kann, dann will er mich töten.«

»Sagt er?«, fragte Sebastian.

»Nein. Ich weiß es einfach.«

»Wer ist es?«

Sylvia zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich kenne seinen Namen nicht«, behauptete Sylvia. »Ich würde ihn vielleicht auf der Straße erkennen, aber vielleicht auch nicht. Ich habe ihn gesehen, wie er mich verfolgt hat, wie er hinter mir her gegangen ist, wie er in dieselbe S-Bahn gestiegen ist wie ich. Ich habe ihn gesehen, aber eigentlich immer nur aus den Augenwinkeln. Nie aus der Nähe. Und ich habe ihm nie direkt ins Gesicht gesehen aber er ist mir auf den Friedhof gefolgt. So bin ich zu der Beerdigung gekommen, wo ich Patrick um Hilfe gebeten habe.«

»Das ist nicht die ganze Geschichte«, vermutete Patrick.

»Mehr sage ich nicht«, erwiderte Sylvia prompt.

»Aber vielleicht könntest Du uns doch ein bisschen mehr erzählen«, schlug Sebastian vor. »Wenn du diesem Unbekannten etwas Wertvolles geklaut hast, dann musst du doch zumindest wissen, wo er wohnt. Und wenn Du sein Haus oder seine Wohnung kennst, dann müsstest Du doch eigentlich auch seinen Namen kennen.«

Sylvia schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. Sie zögerte einen Moment, dann ergänzte sie: »Ich kenne nur seinen Vornamen. Oder seinen Spitznamen. Alex hat er sich genannt.«

»Ein Amerikaner?«, mutmaßte Sebastian.

»Nein, zumindest hat er keinen amerikanischen Akzent. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er Deutscher ist.«

»Und was ist es nun gewesen, was du diesem Alex geklaut hast?«

»Ein Laptop.«

»Und was hast du damit gemacht?«

»Nichts. Dazu war keine Zeit mehr. Ich hab gewusst, dass die Polizei hinter mir her ist, und deshalb musste ich den Laptop schnell loswerden. Ich hab ihn im Moor vergraben.«

Sebastian schüttelte den Kopf. »Nach allem, was ich über Computer weiß, ist es nicht besonders ratsam, sie im Moor zu vergraben.«

»Ich hab den Laptop in Plastik eingewickelt, so dass keine Feuchtigkeit drankommt.«

»Das hilft nicht viel. Im Internet steht zwar, dass Plastiktüten 20-100 Jahre brauchen, um zu zerfallen. Wenn du allerdings die handelsüblichen Einkaufstaschen zum Transport und zur Lagerung von Bodenproben verwendest, dann stellst du fest, dass sie sich nach sehr kurzer Zeit auflösen. Sie sind mit Sicherheit kein Schutz gegen Wasser oder Feuchtigkeit, wenn man darin irgendetwas im Boden vergräbt. Schon gar nicht im Moor.«

»Der Boden war trocken«, sagte Sylvia.

»Als du ihn vergraben hast vielleicht«, erwiderte Patrick. »Aber gestern hat es zum Beispiel geregnet. Ziemlich heftig sogar. Du solltest dich auf jeden Fall so rasch wie möglich auf die Suche nach diesem vergrabenen Laptop machen. Wann hast du ihn vergraben?«

»Im Mai. Vor ungefähr drei Monaten.«

»Und wo?«

»Im Fischbeker Moor.«

Sebastian schüttelte den Kopf. »Dann ist er wahrscheinlich hin.«

* * *

Gleich nach dem Frühstück machten Sylvia und Patrick sich auf den Weg ins Moor. Sebastian hatte keine Zeit, sie zu begleiten. Er musste zur Arbeit.

Sie fuhren mit Patricks Wagen. Sylvia wäre am liebsten selbst gefahren, aber sie traute sich nicht, Patrick zu fragen. Sie konnte Autofahren, aber sie hatte keinen Führerschein. Sie fuhren mit dem Auto bis zum Rand des Naturschutzgebietes - so weit, wie sie fahren durften. Sylvia holte Patricks Spaten aus dem Kofferraum. Sie sah sich noch einmal um, aber niemand war ihnen gefolgt. Damit hatte sie auch nicht wirklich gerechnet. Überhaupt wirkte das Moor völlig menschenleer. Nichts Bedrohliches zu sehen.

Sylvia fragte sich, was sie sagen sollten, wenn sie jemand fragte, was sie mit dem Spaten im Fischbeker Moor wollten. Proben nehmen für Bodenuntersuchungen vielleicht? Im Naturschutzgebiet? Seltsam. Aber wahrscheinlich würde sie niemand zur Rede stellen. Die meisten Menschen stellten keine Fragen.

Sylvia war froh, dass zumindest Patrick keine weiteren Fragen stellte. Sie hatte bisher nur ein Minimum an Informationen preisgegeben, aber eigentlich war selbst das schon zu viel.

Patrick erklärte Sylvia, was er über das Moor wusste. Von dem ursprünglichen Moor war nicht mehr allzu viel übrig. Der Torfabbau hatte vor Jahrzehnten geendet, aber die Spuren waren noch überall sichtbar. Der Grundwasserspiegel lag heute tiefer als früher, so dass die Situation für den Computer vielleicht günstiger war als Sebastian behauptet hatte.

»Der Wachtelkönig soll hier wohnen«, sagte Patrick. »Das hat dazu geführt, dass der Naturschutz hier jetzt sehr ernst genommen wird.«

»Was für ein König?«, fragte Sylvia

Patrick erläutere es ihr. »Das ist ein Vogel. Crex crex heißt er auf Lateinisch.«

»Krächz krächz?« Sylvia glaubte, Patrick wollte sie verarschen.

»Der Vogel heißt so, weil er solche Geräusche ausstößt. Er ist sehr selten. Jedenfalls hier in Norddeutschland. Aber angeblich hat er sich hier aufgehalten, zufällig gerade als die Autobahn gebaut werden sollte. Die Naturschützer haben ihn gehört, sagen sie. Ich habe ihn jedenfalls bisher weder gehört noch gesehen. Das heißt aber nicht, dass es ihn nicht gibt. Ich bin ja schließlich nicht jeden Tag im Moor.«

»Ich auch nicht«, sagte Sylvia. »Ich hoffe, dass ich die richtige Stelle wiederfinde.«

Was den Weg anging, hatte Sylvia jedenfalls keinen Zweifel. Sie marschierte zügig voran. Patrick sah sich ab und zu um, aber niemand folgte ihnen.

»Oh!«

Sylvia blieb abrupt stehen, bückte sich und hob etwas auf, was neben dem Weg im Gras gelegen hatte. »Ein Schuh«, sagte sie. »Guck mal, jemand hat hier einen Schuh verloren.«

Es war ein grüner Hackenschuh, der ganz offensichtlich einer Frau gehörte. Niemand verlor einen Schuh, ohne das zu merken. Warum hatte sie ihn nicht wieder aufgehoben? Es war ein vollkommen heiler Schuh. Er sah so aus, als läge er noch nicht lange hier.

Sylvia war in Panik. Sie kannte den Schuh. Gehetzt sah sie sich um, aber nach wie vor war niemand zu sehen. Sie gingen weiter, Sylvia ein paar Schritte voraus.

Plötzlich schrie sie auf. Patrick zuckte zusammen. »Was ist?«

Sylvia schwieg. Vor ihnen auf dem Weg lag eine junge Frau. Sie rührte sich nicht. Patrick trat rasch hinzu, fasste nach ihrem Puls. Aber es gab keinen Puls. Die Frau war tot. Sie lag auf dem Bauch mitten auf dem Weg, vollständig bekleidet. Sylvia schluckte.

»Wer ist das?«, fragte Patrick.

»Ich weiß es nicht.«

Patrick drehte die Frau auf den Rücken.

»Tote soll man doch nicht berühren!«, rief Sylvia.

Patrick kümmerte sich nicht darum. Er sah Sylvia an. »Kennst du sie wirklich nicht?«

»Nein.«

Das glaubte Patrick nicht – das konnte er nicht glauben. So etwas gab es nicht. Sie waren unterwegs in einem der einsamsten Gebiete Hamburgs, um einen versteckten Computer auszugraben. Kein Mensch war zu sehen, kein Auto, das irgendwo geparkt war, nichts. Und ausgerechnet hier lag die Leiche dieser jungen Frau. Sie war noch nicht lange tot, ihr Körper war noch warm. Wer immer sie umgebracht haben mochte, konnte noch in der Nähe sein.

»Wir müssen die Polizei rufen.« Patrick griff zum Handy.

Sylvia löste sich aus der Erstarrung. »Der Spaten muss weg!«, rief sie.

Patrick nickte.

Sylvia nahm den Spaten und ging damit entschlossen in das Schilfgebiet rechts des Weges.

* * *

‚Gut‘, dachte Patrick. Der Spaten war weg. Niemand wusste, dass er existierte, niemand würde im Schilf danach suchen. Und nach Sylvia auch nicht. Wenn Sylvia nicht zurückkam, würde er einfach angeben, er habe die Leiche gefunden. Das war das Beste. Oder nicht? Sylvia hatte sich aus dem Staub gemacht. Aus Panik? Nein, nicht aus Panik. Entschlossen, zielstrebig. Sie kannte die Tote, und sie wollte damit nichts zu tun haben. Die fünf blauen Punkte am Arm dieser Toten waren Patrick nicht entgangen.

Die Frau war ungefähr so alt wie Sylvia. Sie trug ein hellgrünes Sommerkleid, das zu den hochhackigen Schuhen passte. Sie sah nicht aus, als hätte sie einen Spaziergang im Moor geplant. Vielleicht eher ein Treffen mit jemand, den sie noch nicht so genau kannte, und den sie mit ihrer Kleidung beeindrucken wollte. Sie hatte gepflegte kurze blonde Haare und war dezent geschminkt.

Woran sie gestorben sein mochte, war nicht erkennbar. Es gab keine sichtbaren Verletzungsspuren. Ihr Gesicht sah friedlich aus, so als sei sie eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Aber sie hatte einen Schuh verloren und war noch 30 Meter weitermarschiert, ohne umzukehren. Seltsam.

Es dauerte nicht lange, da hörte Patrick die Sirene des Streifenwagens. Die Polizisten hielten etwa 100 m weiter zurück und sahen sich um.

Patrick rief: »Hierher!«

»Ach, da sind Sie!«

Während der eine Polizist mit der Zentrale telefonierte, nahm der andere Patricks Personalien auf.

Patrick sagte: »Patrick Pauli, 35 Jahre alt.«

»Wo geboren?«

»Krankenhaus Mariahilf in Hamburg-Harburg.«

»Ihr Wohnsitz?«

»Ebenfalls Hamburg-Harburg. Ehestorfer Weg.«

»Und Ihr Beruf?«

»Geowissenschaftler.«

Der Polizist starrte ihn an. »Geowissenschaftler? Ist das so etwas wie Forschungsreisender?«

Patrick erklärte, dass er kein Forschungsreisender sei. Er sei als Privatdozent an der Universität Hamburg tätig, und sein spezielles Forschungsgebiet sei das Anthropozän.«

»Könnten Sie das bitte buchstabieren?«

Patrick buchstabierte das Anthropozän.

Nun wurde es ernst. Patrick sollte erklären, warum er ausgerechnet in dieser entlegenen Gegend des Moores herumwanderte. War er mit dem Auto gekommen? Was sollte er sagen? Womöglich wartete Sylvia inzwischen beim Auto.

»Ich mache öfter lange Wanderungen«, behauptete er ausweichend.

»Hier im Moor?«

»Nein, nicht immer hier im Moor. Mal hier, mal dort. An verschiedenen Stellen in Hamburg und Umgebung.«

»Wann sind Sie denn zuletzt hier gewesen?«, wollte der Polizist wissen.