Im dunklen Nebel - Jürgen Ehlers - E-Book

Im dunklen Nebel E-Book

Jurgen Ehlers

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Beschreibung

Vier Personen sitzen an einem Novembermorgen 1942 in einem kleinen Café in Alkmaar. Gerhard Prange ist Fallschirmagent; ihm droht die Erschießung als Spion. Seine jüdische Freundin Sofieke hat keine gültigen Papiere. Und dann ist da noch Sara, ein sechsjähriges Mädchen. Eine unbekannte Frau hat sie Gerhard in die Arme gedrückt. Richard Christmann, Ex-Fremdenlegionär und Offizier der deutschen Spionageabwehr, behauptet, dass er sie alle retten kann. Das Mädchen Sara wird bei einem freundlichen Ehepaar auf dem Land versteckt und ist damit scheinbar in Sicherheit. Weder Gerhard noch Sofieke würden irgendetwas unternehmen, das ihr Leben in Gefahr bringt. Aber niemand kann ein untergetauchtes jüdisches Kind in diesen Zeiten wirklich beschützen.

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PERSONEN

Gerhard Prange (22), Student

Eltern und ältere Schwester Ilse, wohnhaft in Hamburg

Sofieke Plet (18), eine untergetauchte Jüdin

Jaap (22), ihr älterer Bruder, ein Student

Witwe ter Laak (69), ihre Vermieterin

Sara (6), ein jüdisches Mädchen

Arthur Seyß-Inquart * (50),

Reichskommissar für die besetzten Niederlande

Gertrud * (50), seine Frau

Dorli * (14), ihre Tochter

DIE FALLSCHIRMAGENTEN

Aart Alblas * (24), Deckname »Klaas«, Seeoffizier

Hubertus (Huub) Lauwers * (27), Journalist

George Jambroes * (38), Lehrer

Beatrice (Trix) Terwindt * (31), Stewardess

Frederik (Freek) Willem Rouwerd * (30), Zimmermann

Leo Marks * (22), Code-Spezialist, einer der Ausbilder

DIE VORRINK-GRUPPE

Koos Vorrink * (51), Vorsitzender der SDAP

Levinus van Looi * (45), Journalist

Frieda * (44), seine Frau

Nelly * (17), ihre Tochter

Karel van Staal * (53), Herausgeber

Geertje * (55), seine Frau

Jacob van Tijen * (45),

ehemaliger Direktor der Fokker Flugzeugwerke

Alexander Wins * (46), Journalist, Jude

Sara * (44), seine Frau

Meyer Sluyser * (41), Journalist, Mitarbeiter von Radio Oranje

Marijke * (8), seine Tochter

Pieter Six * (47),

Major, seit 1942 Oberbefehlshaber Ordedienst

Henry Hansen * (45), Mitarbeiter im Katasteramt in Den Bosch

DIE SS

Heinrich Himmler * (42),

Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei

Hanns Albin Rauter * (47),

Generalkommissar für das Sicherheitswesen

Gruppenführer Dr. Wilhelm Harster * (38),

Befehlshaber des Sicherheitsdienstes

Sturmbannführer Erich Deppner * (32),

Chef der Abteilung Gegnerbekämpfung

Joseph Schreieder * (37),

Hauptsturmführer, Leiter der Abteilung IV E Gegenspionage

Else Geigerseder * (28), seine Sekretärin

Anton van der Waals * (30), sein holländischer Spitzel

Corrie den Held * (17), Antons spätere Frau

Nicolay (Nico) Johannsen * (39),

Untersturmführer, Kriminalkommissar

Otto Haubrock * (33), Kriminalsekretär

Marten Slagter * (38) und Leo Poos* (41),

holländische Polizisten

Heinrichs * (40), Leutnant, Funkpeiler bei der Ordnungspolizei

Ernst May * (36), Leutnant, Kriminalkommissar

DIE WEHRMACHT

Hermann Giskes * (46),

Major, Leiter der Gruppe III F der Abwehr

Richard Christmann * (37), Ex-Fremdenlegionär

MITGLIEDER DES WIDERSTANDS

Willem Pahud de Mortanges * (21), Chemie-Student aus Delft

Paul Josso * (24), Chemie-Student aus Delft

Dr. Gerrit Kastein * (32), Neurologe

Miep Blaauw (20), Studentin

Bas (21), ihr Freund

SONSTIGE

Hendrik Seyffardt * (70), Generalleutnant

Hermannus Reydon * (46), NSB-Politiker

Wilhelmina Reydon-Steenhart * (47), seine Frau

Historische Personen sind durch ein * gekennzeichnet.

Altersangaben bezogen auf 1942.

INSTITUTIONEN

Die Special Operations Executive (SOE,Sondereinsatztruppe) war eine britische nachrichtendienstliche Spezialeinheit während des Zweiten Weltkriegs.

Der Secret Intelligence Service (SIS) ist der britische Auslandsgeheimdienst. Er ist besser bekannt unter dem Namen MI6.

Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (Abkürzung SD) war ein Teil des nationalsozialistischen Machtapparates. In der Auslandsspionage konkurrierte der SD mit dem Amt Ausland/Abwehr der Wehrmacht.

Die Sicherheitspolizei (kurz SiPo) umfasste die Geheime Staatspolizei (Gestapo) und die Kriminalpolizei (Kripo). Sie war Heinrich Himmler als »Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei« unterstellt.

Die Geheime Staatspolizei, auch kurz Gestapo genannt, war die politische Polizei.

Ordnungspolizei (OrPo) (Schutzpolizei, Gendarmerie, Gemeindepolizei) war der Oberbegriff für die uniformierte Polizei.

Abwehr ist die im deutschen Sprachgebrauch verbreitete Bezeichnung für den deutschen militärischen Geheimdienst der Wehrmacht.

Der Generale Staf sectie III (GS III) war der erste moderne niederländische Nachrichtendienst. Er wurde nach Einmarsch der deutschen Truppen 1940 aufgelöst.

Der Ordedienst (OD) war eine Widerstandsbewegung in den von Deutschland besetzten Niederlanden.

Inhaltsverzeichnis

November 1942

Dezember 1942

Januar 1943

Februar 1943

März 1943

April 1943

Mai 1943

NOVEMBER 1942

Stalingrad ist von deutschen Truppen besetzt. Russland scheint geschlagen. Im Westen tut sich nichts. Zwar sind tausende von amerikanischen Soldaten in Großbritannien angekommen, aber die erwartete Invasion des Festlandes ist ausgeblieben.

Sonnabend, 28. November 1942

»Wir sind schon eine seltsame Familie«, stellte Richard fest. »Ein deutscher Deserteur, eine minderjährige Ausreißerin und ein geklautes Kind, von dem niemand im Ernst annehmen kann, dass es etwa eure Tochter wäre.« Sie hatten ein kleines Café in Alkmaar gefunden, das trotz der frühen Stunde schon geöffnet hatte. Es war ein schäbiges Lokal, aber das spielte keine Rolle. Hier war es warm, und es gab heißen Früchtetee und etwas zu Essen.

»Und wer bist du in dieser Familie?«, fragte Gerhard.

»Ich bin der gute Onkel Richard, Ex-Fremdenlegionär und Doppelagent, der euch jetzt alle retten wird.«

Die »Ausreißerin« sah ihn zweifelnd an. Sofieke war 19 Jahre alt, fast volljährig also. Sie hatte ihre Mutter verlassen und war untergetaucht, als für sie feststand, dass es den Juden in Holland schlecht gehen würde. Ihr Bruder hatte ihr einen falschen Ausweis besorgt, und bis vor kurzem war sie damit heil durchgekommen. Ihre Mutter und ihr Bruder waren tot; jedenfalls ging sie davon aus. Als sie zuletzt von ihnen gehört hatte, waren sie auf dem Weg nach Auschwitz. Gerhard, Sara und sie hatten nach England flüchten wollen. Das war gescheitert, das Flugzeug war ohne sie abgeflogen, und jetzt waren sie am Ende.

Auch Richard Christmann wirkte erschöpft. Trotz aller großspurigen Reden sah man ihm die Strapazen der letzten Tage an. Er sagte: »In den nächsten 24 Stunden muss sich entscheiden, ob wir mit einem blauen Auge davonkommen, oder ob wir alle tot sind.« Er sagte das völlig gelassen. Wahrscheinlich wurde man fatalistisch, wenn man wie er mehr als einmal dem Tod ins Auge geblickt hatte.

»Ich bin übrigens kein Deserteur«, stellte Gerhard fest.

Christmann lachte. »Das kommt darauf an, wie man das sieht. Ich würde sagen: Deserteur und Mörder. Zweifacher Mörder.«

»Ich habe das Richtige getan.« Es war sinnlos, über diesen Punkt zu diskutieren.

»Das sagen sie alle«, sagte Christmann leichthin. »Auf jeden Fall bist du ein Spion, und Spione gehören erschossen. Eigentlich«, fügte er hinzu.

Gerhard glaubte nicht, dass Richard ihn hinrichten lassen würde. Wenn er das gewollt hätte, hätte er es längst tun können.

»Was geschieht jetzt?«, fragte Sofieke. Sie sah Christmann nicht direkt an bei dieser Frage, aber es war klar, dass sie von ihm eine Antwort erwartete.

»Sofieke, du kannst zunächst einmal bleiben, wo du bist. Niemand weiß, wie stark du mit Gerhard zusammenhängst. Niemand weiß von diesem Fluchtversuch. Du warst ein paar Tage verreist, und jetzt gehst du einfach in deine Wohnung zurück und lebst weiter glücklich und zufrieden in Den Haag Bezuidenhout, bis der Krieg vorbei ist.«

»Aber da ist Sara«, sagte Sofieke.

Das sechsjährige Mädchen hatte seinen Tee halb ausgetrunken. Sara war fast eingeschlafen, aber als ihr Name fiel, öffnete sie die Augen und sah Sofieke ängstlich an.

Sofieke legte ihr die Hand auf die Schulter. »Sara bleibt bei mir!«

»Sie kann nicht bei dir bleiben«, widersprach Christmann. »Jeder weiß, dass sie nicht deine Tochter sein kann.«

»Sie ist aus den geräumten Gebieten evakuiert ...« Während Sofieke das sagte, wurde ihr bewusst, wie dumm das war.

»Warum ist sie dann nicht bei ihren Eltern?«, fragte Christmann prompt. »Nein, das machen wir anders. Sie ist von ihren Eltern aufs Land geschickt worden. Nach Driebergen zum Beispiel ...«

»Nach Driebergen?« Den Namen hatte Sofieke noch nie gehört.

»Das liegt bei Utrecht. Sehr hübsche Gegend. Unsere Dienststelle wird übrigens dorthin verlegt.«

Gerhard blickte überrascht auf.

»Wusstest du das nicht?«, fragte Christmann. »Driebergen ist für Sara ideal. Ein kleines Kaff in der Provinz. Und obendrein hat sie dich ganz in der Nähe, und du kannst aufpassen, dass ihr nichts passiert.«

»Wenn ich nicht stattdessen im KZ lande«, wandte Gerhard ein.

Richard schüttelte den Kopf. »Niemand landet im KZ.« Er hatte zwar bisher nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie das Ganze laufen sollte, aber er war sich sehr sicher, dass sowohl Giskes als auch Schreieder seinem Plan zustimmen würden, und das war entscheidend. Es war die beste Lösung. Nicht zuletzt auch für ihn.

Das Schwierigste zuerst, dachte Richard Christmann. Er hatte den Wagen in Alkmaar stehenlassen und war mit der Bahn nach Den Haag gefahren, genau wie Sofieke und das Kind. Christmann hatte sich in ein Wehrmachtsabteil gesetzt. Er brauchte Schlaf, und neben Sofieke hätte er kein Auge zugetan. Seit gestern wusste sie, dass er sie begehrte. Ihre krasse Ablehnung amüsierte ihn. Er war sich sicher, er würde sie bekommen. Mit dem Gedanken schlief er ein.

Richard schlief fast die ganze Fahrt und war auf diese Weise jedenfalls einigermaßen munter, als er dem Chef der Abteilung Gegenspionage gegenübertrat. Er traf den SS-Mann beim Packen seiner Sachen an. Nicht nur die Gruppe III F der Abwehr musste umziehen, auch die Abteilung IV E des Sicherheitsdienstes der SS wurde nach Driebergen verlegt. Schreieder war in seine Arbeit vertieft. Hatte er nicht bemerkt, dass Christmann eingetreten war? Richard räusperte sich.

»Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte er.

Schreieder blickte nicht auf von dem Karton, in den er gerade Aktenordner verstaute. »Das kommt mir jetzt sehr ungelegen«, bemerkte er knapp.

»Es ist wichtig«, sagte Christmann bescheiden. Wenn er wollte, konnte er sich gut auf seine jeweiligen Gesprächspartner einstellen.

Jetzt blicke Schreieder doch auf. Er sah den Agenten missbilligend an. Nicht einmal rasiert hatte er sich! Er sagte: »Falls es noch einmal um diese missglückte Aktion im Haus Clingendael geht, dann möchte ich davon nichts mehr hören. Der Fall ist für mich abgeschlossen. Alles Weitere kann der Herr Major Giskes persönlich mit meinen Vorgesetzten diskutieren.«

»Fünf Minuten«, beharrte Christmann.

Schreieder seufzte: »Ich höre.«

»Unter vier Augen.« Christmann deutete auf die Sekretärin.

»Else Geigerseder ist meine langjährige Mitarbeiterin. Sie kann gern alles mithören, was wir an dienstlichen Dingen zu besprechen haben.«

Christmann erwiderte nichts, er schüttelte nur ganz leicht den Kopf.

Schreieder zögerte, dann sagte er: »Else, bitte überprüfen Sie noch einmal, ob die Lastwagen für den Transport nach Driebergen auch wirklich wie vereinbart bereitstehen.«

Das brauchte Else Geigerseder nicht zu überprüfen. »Die Lastwagen stehen bereit.«

Schreieder sah sie an.

»Na schön«, fauchte sie. Sie ging aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Gerhard Prange lebt«, sagte Richard Christmann.

»Das weiß ich schon, und ich weiß auch, dass seine Freundin, diese Sofieke noch immer auf freiem Fuß ist, und ich weiß auch, dass dieser Judenbalg, diese Sara, auf unerklärliche Weise aus dem Kinderheim verschwunden ist, in dem ich sie abgeliefert habe. Vermutlich werden Sie mir jetzt gleich erzählen, dass das alles für Sie neu ist, und dass Sie keine Ahnung haben, warum das so ist ...«

Richard schüttelte den Kopf. »Ich habe dafür gesorgt, dass alles so gekommen ist, wie es jetzt ist«, sagte er.

Damit hatte der SS-Offizier nicht gerechnet. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und gab Richard mit der Hand ein Zeichen, sich auch zu setzen. »Das können Sie mir sicher erklären«, sagte er. Er schien sich sicher zu sein, dass der Ex-Fremdenlegionär dafür keine ausreichende Entschuldigung würde vorbringen können.

»Lassen Sie mich mit dem Einfachsten anfangen«, begann Christmann. »Dieser angebliche Überfall auf das Haus Clingendael war außerordentlich schlecht vorbereitet ...«

»Dafür war unser Kamerad Giskes zuständig ...«, fiel ihm Schreieder ins Wort.

»Es spielt keine Rolle, wer dafür zuständig war. Der entscheidende Punkt ist, dass das Vorgehen nicht ausreichend mit dem Reichskommissar abgestimmt war. Arthur Seyß-Inquart hat zwar genehmigt, dass ein Überfall auf seinen Wohnsitz vorgetäuscht werden durfte ...«

»Er hat uns freie Hand gelassen, vollkommen freie Hand. Ich habe persönlich mit ihm telefoniert. Er hat lediglich darum gebeten, dass nichts beschädigt wird!«, warf Schreieder ein.

»... aber er hat nicht gewusst, welche Rolle Gerhard Prange dabei spielen sollte. Gerhard bedeutet ihm etwas. Der Junge ist für ihn so etwas wie ein Neffe. Die Familien Prange und Seyß-Inquart sind eng befreundet. Sie können sich sicher sein, dass es erhebliche Konsequenzen für Giskes und für Sie gehabt hätte, wenn Gerhard bei diesem Handstreich auf das Palais zu Schaden gekommen wäre.«

»Ich bin mir keiner Schuld bewusst.« Schreieder war rot geworden.

»Die SS hat mit scharfer Munition geschossen!«

»Das muss Deppner hinter meinem Rücken angeordnet haben!«

Stimmte das? Christmann war sich fast sicher, dass Schreieders Vorgesetzter in diesem Fall nicht eingegriffen hatte. Aber es hatte keinen Sinn, jetzt auf diesem Punkt herumzureiten. Richard sagte: »Es geht nicht darum, irgendjemandem die Schuld zu geben. Es geht ganz allein darum, unter den gegebenen Umständen eine Lösung zu finden, die für alle Seiten akzeptabel ist. Das betrifft Major Giskes und Sie gleichermaßen. Aber ich bin zuerst zu Ihnen gekommen. Es ist leichter, sich mit einem Mann von Verstand zu einigen als mit einem Choleriker.«

»Da bin ich gespannt.« Schreieder zündete sich eine Zigarre an. Dass Christmann Major Giskes als Choleriker bezeichnete, gefiel ihm. Nach kurzem Zögern hielt er Christmann ebenfalls die Zigarrenkiste hin. Der lehnte dankend ab.

»Fangen wir mit Gerhard Prange an. Die Engländer wissen, dass er lebt. Sie glauben, dass dieser spektakuläre Überfall auf den Wohnsitz des Reichskommissars echt war. Der Bericht darüber steht in der Zeitung. Sie glauben, dass er den Überfall durchgeführt hat. Und sie wissen, dass er noch in Freiheit ist. Mit anderen Worten: Gerhard ist unser bester Mann.«

»Unser bester Mann!« Schreieder blies Rauch in Richards Richtung. »Das sehe ich anders. Ich habe von Anfang an behauptet, dass er ein faules Ei ist! Ich habe Recht gehabt.«

Richard lächelte überlegen. »Er ist kein faules Ei. Er ist das beste Ei, das wir haben. Wir wissen, dass sein Herz für die andere Seite schlägt. Deshalb müssen wir gut auf ihn aufpassen. Und das ist nicht allzu schwer. Gerhard muss mit England in Kontakt bleiben. Aber er hat keinen eigenen Sender. Das heißt, sein Kontakt läuft über uns. Und wir können diesen Kontakt auf das absolute Minimum begrenzen. Den Engländern ist klar, dass Gerhard nach diesem Anschlag zunächst einmal untertauchen muss. Aber wenn er sich am Ende doch wieder meldet und irgendeine wichtige Botschaft übermittelt, dann werden die Engländer davon ausgehen, dass diese Nachricht wirklich echt ist.«

Schreieder überlegte. »Da ist etwas dran«, gab er schließlich zu, »aber ich möchte mit diesem Mann nichts mehr zu tun haben.«

Warum nicht? Weil er ihm nicht mehr in die Augen blicken konnte? Der ansonsten aalglatte Schreieder hatte seine schwachen Punkte. Richard sagte: »Gerhard bleibt natürlich formal Major Giskes unterstellt. Aber da unsere beiden Dienststellen künftig nicht nur in demselben Ort, sondern obendrein noch in demselben Gebäude untergebracht sind, wird es sich nicht vermeiden lassen, dass Sie sich von Zeit zu Zeit über den Weg laufen.«

Schreieder sah Christmann ins Gesicht: »Ich kann das nicht«, murmelte er.

Richard schüttelte den Kopf. »Gerhard Prange hegt keinen Groll gegen Sie«, behauptete er. »Er weiß, dass Sie unter den gegebenen Umständen nicht anders handeln konnten. Er kennt Sie, und er kennt Deppner. Er weiß, wer von Ihnen hier falsch gespielt hat.«

Schreieder rauchte schweigend. Er antwortete nicht. Christmann zog eine Packung Eckstein aus der Tasche. »Ich darf doch?«

»Ja, natürlich. Bitte.«

Richard zündete sich eine Zigarette an.

Schreieder blies den Rauch seiner Zigarre in die Luft. »Ich sehe nicht ein, was der Sinn dieses ganzen Spiels sein soll«, sagte er. »Na schön, Gerhard können wir zur Not gebrauchen. Aber was ist mit dem Kind?«

»Das Kind ist kein Problem«, sagte Christmann.

»Kein Problem? Mein Gott, Christmann, dieser Kerl hat es aus einem Judentransport gestohlen. Aus einem Zug in den Osten. Natürlich ist das längst bekannt. Natürlich weiß Deppner, wo dieses Kind plötzlich herkommt ...«

Richard schüttelte den Kopf. »Die Sache ist anders, als Sie denken. Es geht nicht um das Kind. Es geht um diese Sofieke. Die junge Frau, bei der Gerhard zur Miete wohnt.«

»Was ist mit ihr?«

Christmann setzte Schreieder ins Bild. »Für Sofieke habe ich eine wunderbare Rolle«, sagte er. »Sie unterstützt Anton bei seiner Arbeit.«

»Anton ist mein Agent«, fiel ihm Schreieder ins Wort. »Was Anton macht und was nicht, das bestimme ich!«

»So soll es auch bleiben«, beschwichtigte ihn Christmann. »Aber er braucht Hilfe. Anton gibt vor, ein Widerstandskämpfer zu sein. Das gelingt ihm ganz gut, wie wir alle wissen, aber er hat auch seine Schwächen. Er ist ein Angeber. Sein größter Fehler ist sein Geltungsdrang. Dadurch bringt er sich und unsere Arbeit immer wieder in Gefahr. Mal behauptet er, er sei ein Graf, mal ein Erfinder – was soll das? Das trägt nicht gerade zu seiner Glaubwürdigkeit bei ...«

»Anton van der Waals ist ein geschicktes Schwein. Bis jetzt ist es ihm immer gelungen, sich aus allen Schwierigkeiten unbeschadet herauszulavieren.«

»Bis jetzt. Aber das Projekt, das Sie jetzt ins Auge gefasst haben, ist das größte und riskanteste Vorhaben überhaupt ...«

Schreieder stellte sich dumm. »Was für ein Projekt? Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Richard sah ihn spöttisch an. »Die Vorrink-Gruppe«, sagte er.

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

Richard zuckte mit den Achseln. »Niemand. Aber vergessen Sie nicht, ich bin auch beim Geheimdienst, und ich halte meine Ohren offen, genau wie Sie. Daher weiß ich, dass am 12. November der Agent Gerard van Hemert per Funk den Auftrag bekommen hat, mit Koos Vorrink, dem Vorsitzenden der SDAP, der Sociaal-Democratische Arbeiderspartij, Kontakt aufzunehmen.«

Schreieder überlegte. Hatte Heinrichs irgendetwas ausgeplaudert? Es war unglücklich, dass der Funkpeiler nicht nur mit ihm, sondern auch mit der Wehrmacht zusammenarbeitete, aber das ließ sich nicht ändern.

Christmann sagte: »Dieser Auftrag ist aus zwei Gründen nicht ausgeführt worden: Zum einen ist Koos Vorrink seit langem untergetaucht und äußerst vorsichtig, was Kontakte nach außen angeht, und zum anderen ist der Agent Van Hemert seit seiner Landung in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli in Haft.«

Hier half nur Offenheit weiter. Schreieder sagte: »Wir brauchen keine Hilfe. Wir glauben, dass wir den Schlüssel zu Vorrink besitzen. Dieser Van Hemert hat das Foto eines kleinen Mädchens mit nach Holland gebracht.« Er öffnete einen der Umzugskartons und entnahm ihm nach kurzer Suche einen dünnen Aktenordner. Er schlug ihn auf und zog aus einem eingehefteten Briefumschlag eine kleine Fotografie. »Dieses Bild«, sagte er.

Das Foto stammte ganz offensichtlich aus einem Medaillon. Es zeigte ein etwas maulig guckendes Mädchen mit einer Puppe. »Und das ist nicht Van Hemerts Tochter?«, fragte Christmann.

Schreieder schüttelte den Kopf. »Van Hemert ist 22 Jahre alt. Er ist nicht verheiratet, und er hat ganz sicher keine fünf Jahre alte Tochter.«

»Über das Foto hat er nichts gesagt?«

»Nein. Aber nach dem Funkspruch vom 12. November gehe ich davon aus, dass es als eine Art Legitimation dienen soll.«

»Hat Vorrink eine Tochter?«

Schreieder nickte. »Womöglich ist es ein Bild von Vorrinks Tochter. Aber seine Irene, die ist inzwischen 25 Jahre alt.«

»Wie sie als Kind ausgesehen hat, wissen Sie nicht?«

»Nein.«

Christmann drehte das Foto um. Auf die Rückseite hatte jemand mit Bleistift geschrieben: FENUS. »Ein Kennwort?«

»Wahrscheinlich. Ich nehme an, dass das Venus heißen soll. London hat uns freundlicherweise mitgeteilt, wohin wir damit gehen sollen. Zu einem gewissen Alex Wins, Topaasstraat 21 in Amsterdam.«

»Wer ist das?«

»Weiß ich nicht. Und da gibt es noch ein zweites Kennwort, das genannt werden soll: Sander Rewochem.«

»Wie schreibt man das?«, fragte Christmann.

Schreieder buchstabierte es ihm.

»Und Sie wissen auch nicht, was das bedeutet?«

Nein, das wusste Schreieder auch nicht. »Ich hoffe nicht, dass Sie mir jetzt in die Quere kommen«, fügte er hinzu.

Christmann schüttelte den Kopf. »Damit keine Missverständnisse aufkommen: Dies ist selbstverständlich Ihr Projekt, und ich will mich da in keiner Weise einmischen. Aber die Sache ist windig. Venus heißt auch auf Holländisch Venus. Das Wort auf dem Foto kann ganz etwas anderes bedeuten. Irgendeine Abkürzung vielleicht. Anton van der Waals ist ein Schwindler, und er sieht auch aus wie ein Schwindler. Wenn jemand wie er mit einer so zweifelhaften Referenz auftaucht, von der er nicht einmal erklären kann, was sie bedeutet, dann glaubt ihm das doch kein Mensch. Sofieke wäre die ideale Partnerin bei diesem Vorhaben. Sofieke ist tatsächlich im Widerstand ...«

»Dann sollten wir sie festnehmen!«

»Nein, sollten wir nicht. Mit der wirklichen Aktion ist sie nur über ihren Bruder verbunden. Und den haben wir inzwischen aus dem Verkehr gezogen. Sofieke ist zwar nur eine Randfigur, aber sie ist mit ganzem Herzen bei der Sache. Sie kann Dinge überzeugend vortragen, wenn sie glaubt, dass sie wahr sind. Und die Informationen, die wir ihr zuspielen werden, sind wahr. Niemand lügt so gut wie jemand, der denkt, dass er die Wahrheit sagt!«

Jetzt war es Schreieder, der seinem Gegenüber einen spöttischen Blick zuwarf. »Sie haben einen Narren an dieser Sofieke gefressen!«

»Es geht mir nur um die Sache«, behauptete Christmann.

Schreieder lachte.

»Sie braucht natürlich neue Papiere.«

»Natürlich.« Auch das klang spöttisch.

»Echte Papiere.«

Schreieder schüttelte den Kopf.

»Unbedingt. Wir dürfen unsere Gegner nicht unterschätzen. Leute wie Vorrink haben mit Sicherheit ihre Freunde und Bekannten, die für sie im Bevolkingsregister nachschlagen können.«

»Sie überschätzen meine Möglichkeiten. Ich kann nicht plötzlich irgendeine Sofieke Plet – so heißt sie doch? – ins Register schreiben lassen. Das ist viel auffälliger, als wenn wir sie mit falschen Papieren ausstatten ...«

Richard Christmann schüttelte den Kopf. »Bei dem Anschlag auf das Bevolkingsregister ist ein Teil der Unterlagen zerstört worden. Natürlich wird das alles rekonstruiert, aber das ist sehr mühsam. Die Buchstaben A, B und C sind völlig verbrannt. Und dieses arme Mädchen heißt zufälligerweise Sofieke Blett.«

»Sie heißt Plet!«

»Jetzt nicht mehr. Sie braucht einen neuen Ausweis, und bei der Gelegenheit wird gleich die neue Karteikarte angelegt ...«

Schreieder nickte. Das machte Sinn. Auf diese Weise würde niemandem auffallen, dass die junge Frau neue Papiere bekommen hatte. Und Anspruch auf Lebensmittelmarken hatte sie dann auch. »Ich sehe, Sie haben sich wirklich über jedes Detail Gedanken gemacht. Vermutlich haben Sie auch für die kleine Sara eine tragende Rolle in dieser Komödie vorgesehen.«

»Ja, das habe ich. Sara ist unsere Geisel. Wir lassen sie nicht bei Gerhard und nicht bei Sofieke, sondern wir bringen sie auf einem Bauernhof in der Nähe von Driebergen unter. Zur Sicherheit, wie wir sagen. Dort haben wir sie unter Kontrolle. Und weder Gerhard noch Sofieke wird aus der Reihe tanzen, wenn dadurch das Kind in Gefahr gerät.«

»Sauber ausgedacht«, musste Joseph Schreieder zugeben. »Ich sehe, Sie haben sehr viel Mühe in dieses Projekt investiert. Hand aufs Herz: Warum machen Sie das?«

Darauf konnte er doch wohl kaum eine ehrliche Antwort erwarten? Ohne mit der Wimper zu zucken, behauptete Richard: »Für Führer, Volk und Vaterland!« Er deutete auf das Hitler-Bild, das in dem fast leergeräumten Zimmer noch immer an der Wand hing.

Hauptsturmführer Schreieder glaubte ihm kein Wort. Er glaubte generell nicht viel von dem, was Richard Christmann ihm erzählte. Der Mann war nicht gerade sein Wunschpartner. Aber zumindest war es angenehmer, mit ihm zusammenzuarbeiten als mit Giskes. Christmann besaß wenigstens die Skrupellosigkeit, die man für diesen Einsatz brauchte.

Sonntag, 29. November 1942

Schreieders V-Mann Anton van der Waals sah dem neuen Einsatz mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits bot sich dadurch die Gelegenheit, sich noch unentbehrlicher zu machen, aber andererseits war da auch noch Else. Er würde deutlich weniger Zeit für Else Geigerseder haben.

Else kam aus München, wo sie in ihren Mädchenjahren Fahnenträgerin in der Jugendabteilung der NSDAP gewesen war. Sie hatte sich schnell unentbehrlich gemacht auf dem Binnenhof; zahllose Verhöre von festgenommenen niederländischen Agenten hatte sie protokolliert und abgetippt, sie kannte alle Details. Wenn es die Umstände erforderten, arbeitete sie nachts durch, genauso zuverlässig und pünktlich wie am Tage. Sie war Schreieders Stütze und Halt; ein Wort genügte, und sie wusste, was sie zu tun hatte.

Als sie angefangen hatte, Van der Waals gute Ratschläge zu geben, hatte er sich dankbar gezeigt, und sie waren einander nähergekommen. Seit Sommer 1942 waren sie ein Paar. Anton zog bei ihr ein. Das war insofern etwas problematisch, weil er noch immer mit Aukje verheiratet war, aber davon wusste Else nichts. Die Sekretärin himmelte ihn an. Sie wollte ihn heiraten, so rasch wie möglich. Vor ihrer Versetzung in die Niederlande war sie einige Male im letzten Moment ausgebootet worden, aber nun hatte sie endlich das Glück ihres Lebens gefunden.

Anton und Else machten Heiratspläne, und Schreieder bot sich als Trauzeuge an. Die Flitterwochen sollten in Bayern verbracht werden, das stand schon fest. Van der Waals schenkte Else einen Verlobungsring mit einem Diamanten. Er verschwieg, dass der Ring aus jüdischem Besitz stammte. Anton hatte ihn zusammen mit anderen Schmuckstücken billig erworben. Anton nannte sich privat Jan Cranendonk. Das störte Else nicht. Geheimagenten hatten natürlich mehrere Namen. Seinen Reichtum verdankte er, wie er Else erzählte, dem Verkauf einiger Erfindungen.

Else und er hatten viel Spaß miteinander. Aufgrund seiner Arbeit beim SD konnten sie nach der Sperrzeit noch auf die Straße gehen, und so hörte die deutsche Pensionsinhaberin des Nachts, wie sie hicksend und lachend nach Hause kamen. Selbst als Else zu Ohren kam, dass Van der Waals verheiratet war, und dass er sie also belogen hatte, gab sie ihre Heiratspläne nicht auf. Immerhin hatte er inzwischen die Scheidung eingereicht.

Jetzt packte Anton van der Waals seine Koffer. Zum 1. Dezember würde er zusammen mit Else in eine noch größere und bessere Wohnung ziehen.

Montag, 30. November 1942

Richard Christmann war zufrieden. Schreieder hatte er überzeugt. Damit war Sofieke versorgt und Sara untergebracht. Nun fehlte nur noch Gerhard. Für den war Giskes zuständig. Giskes war schon umgezogen nach Driebergen. Der Major saß hinter seinem Schreibtisch, rauchte eine Zigarre und schwärmte von den Vorzügen der neuen Dienststelle. »Endlich weg von den ganzen Bonzen in Den Haag!«

Der Umzug bot auch sonst Vorteile. In Driebergen-Rijsenburg, also ganz in der Nähe, wurde der neue Großraumgefechtsstand für die Leitstelle der Nachtjäger gebaut. Die Kontakte zur Luftwaffe würden durch den Umzug wesentlich vereinfacht, und Giskes war nach wie vor auf die Unterstützung der Flieger angewiesen. Neue geeignete Gebiete für die Landung weiterer Agenten sowie für den Abwurf von Waffen und Munition konnte er nur im Tiefflug über die Niederlande ausfindig machen.

Es gab nur einen einzigen Wermutstropfen. Da Schreieder auf den Kontakt zu Giskes und seiner Dienststelle angewiesen war, zog er ebenfalls nach Driebergen. Auf diesen Nachbarn hätte Giskes gern verzichtet. Aber ihm war sehr wohl bewusst, dass er die Zusammenarbeit mit dem SD brauchte.

»Ich bin eigentlich gekommen, um mit Ihnen über Gerhard Prange zu sprechen«, sagte Christmann. »Die Angelegenheit betrifft Schreieder und Sie gleichermaßen. Aber ich bin zuerst zu Ihnen gekommen ...«

»Ich bin immerhin Ihr Vorgesetzter!«, brummte Giskes.

»Ja, natürlich. Aber außerdem ist es viel angenehmer, sich mit jemandem zu unterhalten, der den gesunden Menschenverstand höher einschätzt als die Parteidisziplin.«

Giskes nickte. »Dann schießen Sie los«, sagte er knapp.

Richard Christmann sagte: »Gerhard Prange ist mit dem Ziel hier abgesetzt worden, den Reichskommissar zu töten. Das ist misslungen. Die Engländer glauben, dass er es ernsthaft versucht hat, und dass er mit seiner nicht existierenden Widerstandsgruppe an der starken Bewachung des Hauses Clingendael gescheitert ist. Aber er ist noch am Leben und auf freiem Fuß. Die Engländer werden sich damit auf Dauer nicht zufriedengeben. Der Mann ist zum Attentäter ausgebildet worden, und sie werden ihn auch als Attentäter einsetzen wollen. Wenn nicht gegen Arthur Seyß-Inquart, dann eben gegen eine andere hochgestellte Persönlichkeit. Oder gegen eine ganze Reihe von Parteifunktionären. Wir können vielleicht einen oder zwei weitere Anschläge auf ähnliche Weise simulieren wie den sogenannten Handstreich auf Haus Clingendael. Aber irgendwann geht das nicht mehr. Irgendwann muss der Attentäter an unseren Sicherungsmaßnahmen scheitern. Mit anderen Worten: Er muss bei einem Mordversuch ums Leben kommen.«

Giskes schüttelte den Kopf. »Wozu? Wenn wir irgendeinen toten Agenten brauchen, eine Leiche, die wir fotografieren und in die Zeitungen setzen, dann brauchen wir nur einen unserer verhafteten Spione zu nehmen.«

Richard Christmann war bewusst, dass sein Gesprächspartner niemanden unnötigerweise erschießen würde. Er sagte: »Was die verhafteten Agenten in diesem Zusammenhang noch wert sind, das entzieht sich unserer Überprüfung. Wir glauben zwar, dass die Engländer nach wie vor davon ausgehen, dass sie alle in Freiheit sind, aber wie viel besser ist es, jemanden zu verwenden, der wirklich in Freiheit ist.«

»Dass Gerhard Prange in Freiheit ist, das wissen die Engländer aber auch nur über seine Funksprüche.«

»Ja, das ist richtig. Und deshalb ist es dringend erforderlich, dass wir in diesem Punkte nachbessern.«

»Das können wir nicht«, sagte Giskes lakonisch.

»Können wir nicht?«, fragte Christmann. »Ich denke, das können wir sogar sehr leicht. Und es kostet nicht allzuviel Mühe. Wir bringen Prange in Kontakt mit einem abgeschossenen englischen Flieger. Wir brauchen ihm gar keine besonderen Instruktionen zu geben. Selbstverständlich wird er versuchen, dem Mann zu helfen. Er wird ihn über eine der bekannten Fluchtlinien nach Spanien bringen, und spätestens von dort aus wird der dankbare Flieger London davon informieren, dass der Mann, der ihn gerettet hat, der SOE-Agent Gerhard Prange ist.«

Giskes verzog das Gesicht. »Das ist riskant«, sagte er.

Christmann widersprach. »Wo sehen Sie da ein Risiko?«

»Darauf steht die Todesstrafe.«

»Nur wenn man erwischt wird«, sagte Richard.

»Und falls er nicht erwischt wird, verschwindet er nach Spanien«, konterte Giskes.

Christmann schüttelte den Kopf. »Er kann nicht nach Spanien gehen. Er weiß ja, dass wir immer noch seine Sofieke und das kleine Mädchen haben. Die beiden sind Juden. Wir wissen genau, wo sie sind. Wir brauchen nur mit dem Finger zu schnippsen, und schon sind sie auf dem Transport nach Auschwitz.«

»Das ist Erpressung«, sagte Giskes.

Richard Christmann zuckte mit den Achseln. Sie beide hatten Schlimmeres auf dem Kerbholz als nur eine simple Erpressung.

Richard Christmann saß bei einem Glas Wein in seinem Zimmer. Den Wein hatte er sich gegönnt, weil sein Plan so wunderbar funktionierte. Es ging ihm nicht um die geplante Aktion gegen Vorrink, und es ging ihm schon gar nicht um die Rettung von Gerhard. Er hatte einen Nebel von Lügen und Halbwahrheiten ausgebreitet, wie schon so oft im Leben.

All das, was er über seine Abenteuer in der Fremdenlegion in fröhlicher Runde zum Besten gegeben hatte, das war gelogen. Er hatte wenig direkte Kampfeinsätze miterlebt – nicht zuletzt, weil seine Vorgesetzten ihm nicht trauten. Als er in die Fremdenlegion eintrat, bestand seine Einheit zu über 50 % aus Russen, die nach der Machtübernahme der Bolschewisten nach Frankreich geflohen waren. Es waren viele Russen nach Frankreich gekommen. Die Oberschicht hatte meist auch ihr Vermögen retten können und lebte weiter in Saus und Braus. Die einfachen Soldaten, die für den Zaren den Kopf hingehalten hatten, und die sich jetzt vor der Rache der Bolschewisten fürchteten, hatten gar nichts. So blieb vielen nichts anderes übrig, als sich in der neuen Heimat ebenfalls von der Armee anwerben zu lassen. Und da sie keine Franzosen waren, blieb ihnen nur die Fremdenlegion.

Richards Schicksal war anders verlaufen. Er war von den Franzosen verhaftet worden. Es hieß, er habe sich vor dem Wehrdienst gedrückt. Er hatte nämlich eine französische Mutter. Er hätte nicht nach Frankreich einreisen sollen. Die Fremdenlegion erschien ihm der billigste Ausweg. Das war ein Irrtum. Er hatte mehr als ein Dutzend Fluchtversuche unternommen. Einmal war er bis auf ein estnisches Schiff gekommen, aber als auf offener See die Ladung verrutschte, musste er sein Versteck verlassen, um nicht erdrückt zu werden. Der Kapitän hatte die Franzosen alarmiert, und die hatten ihn wieder nach Tunesien zurückgeholt.

Er hatte lange Zeit in der Schreibstube gearbeitet, weil er besser Französisch konnte als die Russen. Wenn die Einheit zu irgendwelchen Kampfeinsätzen ausrückte, war er in der Kaserne zurückgeblieben – genau wie die Frauen der Offiziere. Er hatte sich um die Frauen gekümmert, und viele waren nur allzu gern bereit gewesen, mit dem gut aussehenden jungen Mann ins Bett zu gehen. Dennoch hatte er sich am Ende aus dem Staub gemacht. Dass er schließlich bei der Spionageabwehr der deutschen Wehrmacht gelandet war, war eine weitere Flucht gewesen – diesmal vor den Nazis, die allen ehemaligen Mitgliedern der Fremdenlegion misstrauten.

Er hatte bis zum Kriegsausbruch als Doppelagent beide Seiten beliefert. Die Franzosen hatten wertlose Informationen bekommen, die Deutschen Details über die Aufstellung der französischen Truppen und über die Lage der Grenzbefestigungen. Richard Christmann hatte nie daran gezweifelt, dass es ihm gelingen würde, sich jede beliebige Information zu beschaffen. Er war flexibel. Er war in der Lage, sich den jeweiligen Machtverhältnissen problemlos anzupassen, und aus diesem Grunde war er der ideale Mittelsmann zwischen dem SS-Mann Schreieder und dem Wehrmachtsoffizier Giskes.

Giskes war genau wie er jemand, der sich nicht an die vorgegebenen Regeln hielt. Sein Schwachpunkt war, dass er noch immer glaubte, diesen schmutzigen Krieg mit sauberen Mitteln führen zu können. Und Schreieder? Christmann war klar, dass die SS nicht mit sauberen Mitteln arbeitete. Das tat Schreieder auch nicht. Zwar bemühte er sich im Rahmen seiner Befugnisse um eine gewisse Menschlichkeit, aber er befand sich ständig unter Druck. Seine Vorgesetzten verlangten mehr Härte. Deppner vor allem. Auch der sanfte Dr. Harster war nicht so harmlos, wie er tat. Solange Schreieder mit seinen Tricks Erfolg hatte, ließen seine Oberen ihn gewähren. Aber es war abzusehen, dass dieser Erfolg nicht ewig anhalten würde.

Außerdem war die Sauberkeit, die Schreieder für sich selbst und sein Handeln in Anspruch nahm, in Wirklichkeit nichts als eine schöne Fassade. Zwar hatte er selbst niemanden gefoltert, aber seine Mitarbeiter packten schon mal kräftiger zu. Nico Johannsen zum Beispiel war ein übler Schläger.

Im Unterschied zu Giskes arbeitete Schreieder auch mit Provokateuren. Sein wichtigster V-Mann Anton van der Waals war der schlimmste Provokateur, den Christmann kannte. Ohne mit der Wimper zu zucken überredete er seine Landsleute zu Straftaten, für die er sie dann an die Gestapo verraten und festnehmen lassen konnte. Giskes verachtete Schreieder, weil er in so starkem Maße auf diesen Mann zurückgriff. Und er verachtete ihn noch mehr, weil er das Verhältnis Anton van der Waals mit seiner Sekretärin unkommentiert durchgehen ließ, obwohl er wissen musste, dass die angestrebte Heirat niemals zustande kommen würde.

Hatte Giskes wirklich moralische Bedenken? Christmann zweifelte daran. Wahrscheinlich hätte der gute Giskes die adrette Sekretärin lieber selber gefickt, so wie damals die Pastorengattin in Paris.

DEZEMBER 1942

Dienstag, 1. Dezember 1942

Winteranfang. Aber nach Winter sah es gar nicht aus. Es war immer noch acht Grad warm, und es fiel leichter Regen. Sofieke dachte an Gerhard. Wie schön wäre es, wenn er jetzt hier sein könnte. Aber Gerhard war weit weg, in Driebergen, und während er als deutscher Soldat kostenlos Bahn fahren konnte, musste sie ihre Fahrkarten bezahlen, und sie hatte nicht viel Geld. Gerhard hatte geschrieben, zwei lange Briefe, und Sofieke hatte sie viele Male gelesen. Über seine Arbeit durfte er nicht schreiben. Zwar wurden längst nicht alle Briefe kontrolliert, aber es wäre dumm gewesen, wenn ausgerechnet seine Post geöffnet würde und etwas darinstünde, was verboten war. Er hatte geschrieben, wie gern er jetzt bei ihr wäre, und das war nicht verboten. Sofieke hatte geantwortet, an seine neue Unterkunft in Driebergen.

Sofieke war überrascht, als jemand an ihrer Tür klingelte. Sie erwartete keinen Besuch. War es etwa Gerhard? Nein. Draußen stand ein Mann mit einer Aktentasche, der vielleicht 40 Jahre alt sein mochte. Sofieke kannte ihn nicht. Er sah aus wie ein Vertreter.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe«, sagte der Mann. »Sie sind doch Sofieke Plet?«

Sofieke nickte. Sie hatte inzwischen ihren neuen Ausweis, es war unheimlich schnell gegangen, aber auf dem Namensschild an der Haustür stand noch Plet.

»Ich habe eine Nachricht für Sie. Darf ich hereinkommen?«

»Was für eine Nachricht?« Sofieke war nicht bereit, irgendeinen beliebigen Fremden in ihre Wohnung zu lassen.

Der Mann sah sich um, als ob er befürchtete, dass er belauscht würde. Dann sagte er ganz leise: »Nachricht von Jaap.«

»Von Jaap?« Das war nicht möglich, oder? Sofiekes Bruder Jaap war im November verhaftet und anschließend vom Durchgangslager Westerbork per Zug nach Auschwitz abtransportiert worden. Gerhard hatte vergeblich versucht, ihn zur Flucht zu überreden. Sofieke war davon ausgegangen, dass er inzwischen tot war.

»Darf ich hereinkommen?«, wiederholte der Mann bescheiden.

Sofieke gab den Weg frei; der Mann ging mit ihr in die Küche.

»Bitte. Nehmen Sie doch Platz.«

Obwohl Sofieke ihn nicht dazu aufgefordert hatte, zog der Mann seinen Mantel aus und legte Mantel und Hut auf einen der freien Stühle, bevor er sich setzte. Die Katze verließ schmollend das Zimmer »Ich nehme an, diese Nachricht kommt für Sie ziemlich überraschend«, sagte er.

»Das stimmt«, bestätigte Sofieke knapp.

»Ich habe Ihren Bruder kürzlich gesprochen«, behauptete der Mann. »Er ist nicht mehr in Auschwitz. Er ist zum Arbeitseinsatz abkommandiert worden. Die Häftlinge sollen das erste Konzentrationslager auf niederländischem Boden aufbauen. Es heißt Kamp Vught und liegt bei Den Bosch. Es soll im Januar eingeweiht werden.«

Sofieke schüttelte den Kopf.

»Das ist ein glücklicher Zufall«, sagte Sofiekes Besucher. »Wer ein solches Lager in den Niederlanden bauen will, der braucht natürlich niederländische Arbeiter. Da war es naheliegend, dass die Deutschen auf die Niederländer zurückgegriffen haben, die sie in ihrer Gewalt hatten. Und das waren nun einmal in erster Linie die Juden. Ihr Bruder Jaap ist jung und kräftig; deshalb wurde er für diese Arbeit eingeteilt.«

Sofieke blieb misstrauisch. »Was genau hat mein Bruder gesagt?«

»Er hat gesagt: Bitte sagen Sie meiner Schwester, ihr Bruder Jaap ist noch am Leben. Es geht ihm gut.«

Das besagte gar nichts. »Wie kommt es, dass Sie mit ihm sprechen konnten?«

»Das Lager ist ja erst im Aufbau. Er stand auf der einen Seite des Zaunes, ich auf der anderen. Ich bin einfach bis an den Zaun herangegangen und habe den ersten besten Häftling angesprochen, und das war zufällig Ihr Bruder Jaap. Das Gespräch dauerte keine Minute. Dann sind die Wachposten der SS aufmerksam geworden und haben mich weggescheucht.«

»Mehr hat Jaap nicht gesagt?«

Der Unbekannte schüttelte den Kopf. »Nur das, was ich Ihnen berichtet habe«, sagte er. »Und dass seine kleine Schwester sich keine Sorgen machen soll.«

Das war der Beweis. Sofieke war fassungslos. Niemand konnte wissen, dass ihr Bruder sie weder mit ihrem richtigen Namen Anna noch mit ihrem falschen Vornamen Sofieke anredete, sondern dass er stets »meine Schwester« oder »meine kleine Schwester« sagte.

»Entschuldigen Sie, dass ich so abweisend war«, sagte sie. »Ich habe es nicht glauben können, dass mein Bruder noch am Leben ist, und dass er in der Lage ist, mir eine Nachricht zu schicken. Um ehrlich zu sein, ich glaube es noch immer nicht ganz. Ich bin einfach misstrauisch.«

»Das kann Ihnen niemand verübeln«, erwiderte der Fremde. »Dies sind gefährliche Zeiten, und ich selbst muss äußerst vorsichtig damit sein, irgendwelche Informationen preiszugeben. Aber Jaap hat gesagt, seine Schwester sei im Widerstand, genau wie er, und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.«

Da war es wieder, dieses Misstrauen. Was der Mann sagte, klang einerseits ganz logisch, aber andererseits war es natürlich schon seltsam, wie lange er sich ungestört mit Jaap unterhalten konnte, und dass Jaap all diese Dinge in dem kurzen Moment ihrer Begegnung gesagt haben sollte.

Der Mann schien ihr Misstrauen zu spüren. Er sagte: »Ich glaube, es wird Zeit, dass ich mich vorstelle. Ich komme sozusagen direkt aus England. Ich bin Fallschirmagent. Mein Name ist Anton de Wilde. Meine Freunde nennen mich einfach Anton.«

Fallschirmagent? Konnte das stimmen? Der Mann war wesentlich älter als Gerhard. Aber er war Niederländer, daran bestand kein Zweifel.

»Ich weiß, dass Sie Kontakt zu einigen meiner Kameraden haben, zu Gerhard Prange zum Beispiel, und zu Aart Alblas.«