Das synthetische Herz - Chloé Delaume - E-Book
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Das synthetische Herz E-Book

Chloé Delaume

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Beschreibung

Adélaïde Berthel ist sechsundvierzig und frisch geschieden. Ein längst überfälliger Schritt, ihr Eheleben war zuletzt eine Ödnis, sie braucht einen Neuanfang. Es wird sicher nicht lange dauern, bis sie wieder in festen Händen ist. Allerdings entpuppt sich der Beziehungsmarkt als brutales Schlachtfeld. Die meisten Männer sind verheiratet – oder sie suchen nach etwas Jüngerem. Adélaïde Berthel muss sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass Frauen ihres Alters nicht mehr die besten Karten haben. Besessen von der Idee, möglichst schnell einen Partner zu finden, schlittert sie zielsicher von einer Katastrophe zur nächsten. Gleichzeitig macht sie sich Vorwürfe, dass sie mit ihrem Singlestatus nicht so souverän umgeht, wie man es eigentlich von einer modernen, unabhängigen Frau erwarten könnte. Aber die Statistiken sprechen gegen sie. Es gibt mehr Frauen als Männer, und Männer sterben zuerst …

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Seitenzahl: 168

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Chloé Delaume

Das synthetische Herz

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

»Le cœur synthétique« bei Éditions du Seuil, Paris.

© Éditions du Seuil 2020

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2022

Alle Rechte vorbehalten

Covermotiv: plainpicture / Magnum / Martin Parr

Covergestaltung: Robert Gigler, München

eISBN 978-3-95438-147-0

A Room on One’s Own (Virginia Woolf)

Sortir ce soir (Étienne Daho)

Ma petite entreprise (Alain Bashung)

Évidemment (France Gall)

Mathématiques souterraines (H.-F. Thiéfaine)

Stewball (Hugues Aufray)

Ivan, Boris et moi (Marie Laforêt)

Puissance et gloire (Herbert Léonard)

Cavalier seule (Juliette Armanet)

Ce soir c’est Noël (Les Wampas)

Pan, pan, pan, poireaux pomme de terre (Boris Vian)

On va tous crever (Didier Super)

Lavabo (Alain Bashung)

J’ai demandé à la lune (Indochine)

Martin (La Grande Sophie)

Partenaire particulier (Indochine)

Comme d’habitude (Claude François)

La reine des pommes (Lio)

Pendant que les champs brûlent (Niagara)

L’amour, c’est comme une cigarette (Sylvie Vartan)

Le jour s’est levé (Téléphone)

Amour année zéro (Alain Chamfort)

Toute seule (Lorie Pester)

Les guérillères (Monique Wittig)

A Room on One’s Own

Adélaïdes Herz schmerzt bei jedem Schlag, als hätte man es mit Schmirgelpapier abgerieben. Aber sie lächelt, während sie ihre Kisten auspackt. Sie hat einen Ort für sich, sie ist autonom, das hier wird ihr Reich, die Wohnung ist perfekt, auch wenn sie winzig ist. Das Kratzen am Herzen kommt von der Scheidung, obwohl Adélaïde sie gewollt hat. Im Gerichtssaal hat es angefangen, seitdem raspelt etwas an ihren Herzkammern. Adélaïde stellt sich vor, dass sich ihr Herz häutet und die letzten Fetzen der Liebe abwirft, die sie für Élias empfunden hat. Darunter wartet eine nagelneue Haut auf neue Gefühle. Der nackte Schmerz kommt von der Leere, die sie umgibt. Niemand denkt an sie und sie denkt an niemanden, zum ersten Mal, seit sie fünfzehn war. Bis jetzt hat sie immer einen Mann für einen anderen verlassen, Adélaïde war immer verliebt. Die letzten sieben Jahre in Élias, bis der Alltag ihre Seele und ihre Nerven abgenutzt hat.

Adélaïde packt ihre Sachen aus und wundert sich, dass ihr ganzes Leben in diese winzige Wohnung passt. Sie ist sechsundvierzig und hat nichts als jede Menge Klamotten und sieben Bücherregale, Billys von IKEA, die sie mit Lichterketten, Schmetterlingen unter Glas, mexikanischen Püppchen und japanischen Lampions verziert. Zwischen Klassikern der Weltliteratur thront ein Paar Stilettos – zwei Leidenschaften im Leben: Bücher und Schuhe. In der alten Wohnung hatte Adélaïde ein Gästezimmer, das ihr als Garderobe diente. Großes Wohnzimmer, Leseecke. Das alles verdankte sie Élias, dem die Wohnung gehörte. Mit ihrem Gehalt kann Adélaïde in Paris 35 Quadratmeter im 20. Arrondissement mieten.

Sie hat ein 1,20 Meter breites Bett und so wenig Möbel wie möglich mitgenommen. Ein Tisch, vier Stühle, kein Sofa. Überladene Kleiderständer, überquellende Koffer, überfüllte Schränke. Die Bücher bedecken jeden Zentimeter Wand und breiten sich auf dem Fußboden aus, sind überall auf dem Vormarsch, in wackeligen Stapeln, als Ablagen oder Säulen. Stiefel, Stiefeletten und Turnschuhe: Pyramiden in der Diele; in der Schlafecke stapeln sich Sandalen, Ballerinas und Pumps. Ein heilloses Durcheinander, das sich nicht bändigen lässt. Abbild eines Secondhandladens, das Gefühl, bei Humanitas zu hausen. Adélaïde hat gewusst, worauf sie sich einlässt. Verzicht auf Élias bedeutet Verzicht auf den Komfort, bedeutet Absturz ihres Lebensniveaus. Sie will allein und frei sein, endlich erlöst vom Ehejoch. Es ist zehn vor neun, sie freut sich, dass sie das Abendessen ausgelassen hat.

Adélaïdes Körper breitet sich genüsslich auf dem mit Kissen bedeckten 1,20-Meter-Bett aus. Ungekannte Einsamkeit, wonneweite Brust. Aussicht auf ein Feld von Möglichkeiten, die Zukunft einladend und endlich ungewiss. Sie langweilte sich mit Élias, ein Tag wie der andere. Heute, genau in diesem Moment, hat sie das Gefühl, wieder die Kontrolle übernommen zu haben, die Kontrolle über ihr Leben, damit sie bei null anfangen kann, und zwar richtig. Adélaïde genießt die Stille, diesen Moment der Schwebe. Sie ist ein bisschen benommen, ziemlich aufgeregt. Das Unbekannte zum Greifen nah, sie selbst bereit, sich hineinzustürzen.

Der August klettert durchs Fenster, die Stille ist schwül, drückend, scheinheilig. Adélaïde betrachtet, was sie in den kommenden Monaten oder gar Jahren umgeben wird. Die Enge des Zimmers drückt ihr die Kehle zu. Sie sagt sich: Bitte Monate, keine Jahre! Sofort tauchen in ihrem Kopf mögliche Szenarien eines Umzugs auf. Der Eigentümer einer großen Wohnung, ein Mieter mit guter Bürgschaft, die richtigen Lottozahlen. Adélaïde denkt, um sich Mut zu machen: Das ist nur übergangsweise, und so habe ich wenigstens meine Ruhe.

Das Telefon klingelt nicht, in den sozialen Medien herrscht gähnende Leere. Adélaïde muss mit jemandem reden. Sie hat selten allein gelebt, nie länger als sechs Monate, und da war sie jünger, das ist ewig her, das letzte Mal vor Élias, damals hielt sie die Einsamkeit schlecht aus, sehr schlecht sogar, vor Élias hatte sie fast den Boden unter den Füßen verloren, eine Depression. Mit sich allein sein ist nicht das Problem, das Problem ist, ohne Liebe zu sein. Adélaïde sagt sich: Ich finde bald jemanden. Sie wiederholt es laut: Ich finde jemanden. Keine Frage! So, wie es bisher gelaufen ist, wäre es logisch, sie hat immer gleich einen anderen gefunden. Sie fragt sich, wer in dieser Stadt jetzt für sie bestimmt ist, sie überlegt, ob sie sich die Karten legen soll, will es aber lieber nicht sofort wissen. Adélaïde hat Angst, in Panik zu verfallen, wenn die Antwort Traurigkeit und Einsamkeit aufdeckt. Sie will den heutigen Abend in schöner Erinnerung behalten, ihre erste Nacht allein, ihre zweite Lebenshälfte, ihr Neuanfang.

Adélaïde steht auf und macht Musik an. Sie hat eine Playlist erstellt und sie New Life genannt, wie das Lied von Depeche Mode, das als Erstes kommt. Adélaïde legt großen Wert auf den Soundtrack, der ihr Leben begleitet, sie wählt ein Stück, das diesen besonderen Moment verkörpert, ein Lied, das die schöne Erinnerung bewahren wird. Le Premier Jour von Étienne Daho. Adélaïde lässt sich auf einen Stuhl fallen, ihr Blick fotografiert den Raum. Rester debout mais à quel prix / Sacrifier son instinct et ses envies. Ihre Augen bleiben an den Bücherwänden und dem fehlenden Sofa hängen. Mais tout peut changer aujourd’hui / Et le premier jour du reste de ta vie / C’est providentiel.* Adélaïde singt mit, wie ein Gebet, die Hoffnung weitet die Wände der winzigen Wohnung. Die Lichterketten und Lampions strahlen, ein vielfarbiges Leuchten an den Regalbrettern. Das Dämmerlicht verhüllt alles Störende, durch das offene Fenster kommt der Mond herein und lächelt.

Allmählich entspannen sich Adélaïdes Muskeln. Die häufigsten Ursachen für Stress sind Trennungen und Umzüge, nachdem sie beides überstanden hat, fühlt sie sich wie gerädert. Sie hat noch eine Woche, bis sie wieder arbeiten muss, sie sagt sich: Ich werde bereit sein, und denkt an ein warmes Bad. Sie wünscht sich ein Reinigungsritual, eine Wanne mit weißem, luftigem Schaum. Sie beschwört die Bilder aller Badezimmer herauf, die sie in ihrem Leben hatte. Qualität der Fliesen, Temperatur, Wasserdruck. Wie viele Wohnungen für wie viele Lebensabschnittsbegleiter? Hier gibt es eine Eckdusche, sie quetscht sich in ein Dreieck mit Plastikwänden. In ihrem Kopf ziehen sie vorbei, acht Liebhaber und ein Ehemann, Doppelwaschtisch, Stuck, wie oft Parkett? Das Wasser fließt, sie stößt sich, und dann merkt sie, dass sie keine Seife hat. Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Adélaïde sinkt in ihrem Plastiksarg zusammen. Wenn sie nicht auf sich aufpasst, wird es niemand tun.

Adélaïde hat sich bisher nur sehr selten selbst um sich gekümmert. Sie vergisst sich oft, wegen der Arbeit. Adélaïde ist Pressefrau in einem Verlag. Sie ist eine Vermittlerin, soll die Journalisten überzeugen, über die Bücher aus ihrem Programm zu schreiben. Sie betreut die Schriftsteller, muss sich in ihr Universum vertiefen, um es so gut wie möglich zu beschreiben. Sie begleitet sie zu ihren Interviews, manchmal auch zu Lesungen oder Festivals. Sie besucht literarische Cocktails. Oft weiß Adélaïde nicht mehr, wer sie ist und was sie denkt, weil sie immerzu die Stimme der anderen ist.

Adélaïde hat keine Familie, alle sind gestorben und sie musste das Erbe jedes Mal ausschlagen, um nicht die Schulden zurückzahlen zu müssen. Adélaïde hat keine Kinder, das hat sie nie interessiert. Wenn sie ein Kind hätte, wäre sie weniger allein, aber gestresst. Adélaïde bereut nichts, das ist ihr Prinzip. Ihr Leben ändert sie selbst, sie ist die treibende Kraft, nicht das Opfer. Sie vertraut auf ihr Schicksal, fühlt sich von Aphrodite beschützt. Die Göttin der Liebe hat sie nie im Stich gelassen, Adélaïde ist sicher, dass sie bald jemanden treffen wird. Adélaïde irrt sich. Wenn sie sich die Karten legen würde, wäre sie gewarnt.

Adélaïde schläft ein und vergisst ihr Alter. Sie scheint die zweite Lebenshälfte mit ihren Dreißigern oder der Studentenzeit gleichzusetzen. Adélaïde übersieht, dass deutlich weniger Männer zur Verfügung stehen, daran hat sie nicht gedacht. Sie ignoriert auch die Macht der Konkurrenz. Die frisch Getrennten bevorzugen jüngere Frauen. Für Adélaïde wird es bald ein böses Erwachen geben.

Dies ist die Geschichte einer Rose, die noch nicht weiß, dass sie zum Mauerblümchen wird. Adélaïde Berthel ist eine Frau wie viele andere. Für die mit sechsundvierzig Jahren das Ende der Mädchenträume eingeläutet wird.

*Durchhalten, doch mit welchem Frust / Opfer von Instinkt und Lust / Aber alles kann sich heute ergeben / Und der erste Tag vom Rest deines Lebens / das ist schicksalhaft.

Sortir ce soir

Mitte August verwandelt sich Paris in einen Friedhof. Alles ist still, der kochende Asphalt stinkt wie eine Müllverbrennungsanlage. Adélaïde langweilt sich und ist frustriert. Ihre Freundinnen sind alle verreist, sie würde heute Abend so gern ausgehen, aber es ist niemand da, der sie begleitet. Élias war ein absoluter Stubenhocker, er hatte nie Lust auf Gesellschaft, kein Fest, kein gemeinsames Essen. Adélaïde will ihre Freiheit genießen. Sie hat den Nachmittag damit verbracht, in einem Café zu lesen, und inbrünstig gehofft, jemanden kennenzulernen. Den Zufall gibt es nicht, also muss sie nachhelfen. Natürlich beachtet niemand eine Endvierzigerin auf einer Caféterrasse, auch wenn sie sehr gut gekleidet ist. Sie hat vier Cola Light getrunken, sechzehn Lucky Strike geraucht, einen angesagten Roman ausgelesen und ganz mies gefunden. In den letzten vierundzwanzig Stunden hat sie nur mit dem Kellner interagiert. Und mit einem Mädchen, das sie um Feuer gebeten hat.

Es ist 19.30 Uhr, Adélaïde ist allein und für den Rest der Welt, inklusive Facebook, ist es Zeit für einen Aperitif. Sie denkt an ihre Freundinnen, die im Urlaub sind. An Judith, mit Tochter und Mann in Griechenland. An Bérangère, bei der Familie in der Ardèche. An Hermeline, die irgendwo in den Alpen wandert. Und an Clotilde, die in einer Residenz in Rom schreibt. Adélaïde würde sie gern stören, zugeben: Dies ist ein Hilferuf! Aber sie schickt nur jeder eine Nachricht, wie eine Postkarte, um sich zu beschäftigen. Sie schreibt Lügen, um sich Mut zu machen. Stolz auf mein neues Zuhause. Ich liebe mein neues Leben. New Life Power Rules. Alles bestens. Sie fotografiert ein Detail in Großaufnahme, etwas Hübsches, das Plastiklächeln einer mexikanischen Madonna, die Wölbung des mauvefarbenen Tülls, der ihr als Vorhang dient. Als Antwort wird Adélaïde bald Emojis voller Herzchen erhalten.

Was machst du in Paris, wenn du allein bist, wo gehst du hin, wenn du eine Frau bist, Eckkneipe oder Hotelbar, sie denkt auch an die angesagten Clubs. Sie kennt ja die Adressen, schließlich ist sie Pressefrau und auf Draht. Eins ist schon mal klar: Am Tresen lehnen, entspannt in einer Bar rumsitzen, Unbekannte ansprechen, so was schafft sie nie. Da blockiert sie total. Als Kind war sie sehr schüchtern, sie musste sich mächtig überwinden, um selbstbewusst aufzutreten. Sich auf einer Tanzfläche in die Menge stürzen, allein herumzappeln, mit anderen Körpern in Kontakt treten, das kriegt sie nicht hin, schon beim Gedanken daran werden ihre Knie weich. Adélaïde fragt sich, ob sie es vielleicht betrunken oder zugedröhnt fertigbringen würde, wäre schon praktisch, wenn das ginge. Sie fürchtet sich vor der Aussicht auf einen Abend mit Onlinescrabble. Und sieht sich selbst eine Flasche Sancerre oder ein paar Lines später. Wie sie allein eine Bar betritt, sich an den Tresen lehnt, ein Bier bestellt, ihre Nachbarn anlächelt, ein Gespräch beginnt. Undenkbar, sogar total blau! Außerdem bringt es nichts. Ein Mann, der abends in einer Bar rumsteht, hat nicht das richtige Profil. Was dann? In eine Hotellobby gehen, in einem Clubsessel versinken, einen Cocktail bestellen, ihre Nachbarn anlächeln. Neues Problem. Männer in Hotelbars sind meistens reaktionär. Adélaïde wird nervös. Was tun, um nicht mehr allein zu sein, um in Paris Männer zu treffen, die auf sie zukommen? Adélaïde stöhnt und surft durchs Internet, wo sich Dating-Apps als Lösung aufdrängen.

Das will Adélaïde nicht, da bleibt Adélaïde störrisch. Sie weigert sich, als Produkt in einem Katalog zu enden. Sie gibt zu, dass sie sich auf den Markt bringen muss, aber sie hat Bérangère beobachtet, die das ganze Jahr auf Tinder ist. Bérangère, die Jägerin. Aber die Qualität des Wilds! Adélaïde findet, dass sie etwas Besseres verdient. Adélaïde hat unrecht. Bérangère nimmt, was sie kriegt. Adélaïde fängt gerade an und ist noch naiv. Bald wird ihr Bérangère ein Geheimnis verraten: Weißt du, früher war es einfach, da haben wir aus dem Vollen geschöpft, ohne es zu merken, aber das ist vorbei. Und bald wird sich die Erde unter ihren Füßen auftun. Im Moment träumt sie noch. Sie denkt sich Geschichten aus, Geschichten, mit denen sie die Gegenwart ertragen kann. In einer geht sie heute Abend in einen schicken Club und begegnet einer verwandten Seele. Er ist groß, hager und heißt Vladimir. Sie werden einander erkennen, er wird sie anlächeln, und fortan werden sich ihre Tage in der zweiten Person konjugieren, eingehüllt in die erste Person Plural.

Adélaïde langweilt sich und hat nichts zu verlieren, im Gegenteil, sie muss die Zeit rumbringen, diese leere, überflüssige Zeit, die Stunden, mit denen sie nichts anfangen kann. Sie startet ihre Playlist, noch mal Étienne Daho, sie duscht und schminkt sich, probiert vor dem Standspiegel ein paar Sachen an. Zwischen den ganzen Garderobenständern kann sie kaum zurücktreten. Sie hüpft in Unterhose herum, stößt sich den Zeh, verflucht diverse Mütter. Entscheidet sich dann für ein schwarzes, fließendes Kleid mit ganz dünnen Trägern und tiefem Dekolleté, das ihre Taille betont und bis zum Knie geht. Besprüht sich mit Poison von Dior, dem Original von 1985, nicht eine dieser süßlichen Varianten für kleine Mädchen. Wählt Sandalen mit ganz kleinem Absatz. Steckt sich die Haare hoch, legt ihre Kreolen an. Schwankt zwischen Clutch und Umhängetasche. Sie weiß noch nicht, wo sie hingeht, besser die Umhängetasche. Sie zwängt sich durch die Diele, schließt die Tür ab und ruft den Fahrstuhl. Draußen ist die Luft milder. Aber jeder Atemzug hinterlässt einen Nachgeschmack von Asche. Adélaïde ist es egal, ob das Ende der Welt da ist. Sie läuft, als würde sie sich ertränken, die Wirklichkeit zählt nicht mehr. Sie ist in ihrer Geschichte, sie fürchtet nichts mehr, sie ist eine Romanfigur, die Heldin ihres Lebens. Sie hält ein Taxi an und hört sich den Namen eines angesagten Clubs aussprechen.

Als sie aussteigt, ist sie hin- und hergerissen. Vor der Tür eine Schlange. Adélaïde macht sich erst mal eine Zigarette an, um sich daran festzuhalten. Alle sind in Grüppchen, alle sind zu zweit. Adélaïde holt schnell das Telefon raus und tut, als würde sie kommunizieren. Sie möchte, dass ihr Körper ihnen eine Geschichte erzählt, diesen Leuten, die sie gar nicht ansehen. Jemand kommt gleich oder sie trifft sich mit jemandem. Adélaïde sagt es dem Türsteher des Clubs, der sie gar nicht fragt: Ich werde erwartet. Das wird ihr Drehbuch. Sie geht die Treppe runter, scannt mit den Augen die Menge. Geht quer über die Tanzfläche, langsam an der Bar entlang. Dann holt sie wieder das Handy raus, schreibt eine SMS, die sie sofort wieder löscht, guckt verärgert, wartet darauf, angesprochen zu werden, will sich sagen hören: Wenn er nicht kommt, hat er Pech gehabt, das war eh nix. Adélaïde sieht sich die Männer an, drei Viertel sind deutlich jünger als sie. Adélaïde sieht sich die Frauen an, dreißig und schöner als sie. Sie bestellt an der Bar einen Gin Tonic und weiß nicht, was sie als Nächstes tun soll. Genau jetzt würde sie gern sterben. Sie erspäht einen Mittvierziger, ziemliche Wampe, sie denkt, dass sie eine Chance hat, sie sieht besser aus als er. Sie geht näher ran, stellt sich in sein Blickfeld. Etwas vorfristig entdeckt Adélaïde die Unsichtbarkeit fünfzigjähriger Frauen. Genau jetzt fühlt sie sich bereits tot, als Zombie bestellt sie sich einen zweiten Gin Tonic, trinkt ihn, ohne es zu merken, lässt einen dritten folgen. Der DJ spielt New Order, Adélaïde will zu Blue Monday tanzen, sie will sehen, ob sie auf dem Beziehungsmarkt ein Gespenst geworden ist, überlagertes Fleisch.

Sie betritt die Tanzfläche so anmutig wie möglich, setzt das Lächeln einer Frau auf, die sich amüsiert. Die Achtziger sind wieder in Mode, die Achtziger sind ihre Zeit. Sie muss sich weniger Mühe geben als befürchtet, außerdem ist sie betrunken. Sie verträgt keinen Alkohol, seit ihrem ersten Malibu übergibt sie sich beim vierten Glas, egal, was es ist. Sie hat nicht gezählt, aber ihr Magen wird es ihr bald verraten, noch ein Glas, und sie präsentiert seinen Inhalt mitten auf der Tanzfläche. Sie schüttelt sich im Rhythmus, schlenkert mit den Armen. Sie bemüht sich, Kontakt herzustellen, ihre Augen in die der anderen Tänzer zu versenken. Nur zwei junge Frauen erwidern ihren Blick. Sie beobachtet die Körper, die sich um sie herum bewegen. Keiner zieht sie an, abgesehen von einem großen Braunhaarigen, dessen Hakennase an Vladimir erinnert. Adélaïde glaubt daran, es gibt keinen Zufall, sie hat alles geplant. Das Lied dauert sieben Minuten, Adélaïde weiß es. Sie startet einen Annährungsversuch, macht eine ungestüme Bewegung, verliert fast das Gleichgewicht. Sie muss selbst lachen, aber niemand hat es bemerkt. Niemand, auch nicht Vladimir. Sie fängt sich wieder, gibt nicht auf, folgt den Synthesizern. Vladimir verlässt die Tanzfläche, das Lied ist noch nicht zu Ende. Also geht Adélaïde zu ihm und spricht ihn an, sie kann es selbst nicht fassen, welche Chuzpe sie aufbringt, was für eine Heldin sie ist. Natürlich ist sie schweißnass und riecht nach Gin. Egal. Er antwortet, sie unterhalten sich, besser gesagt, sie brüllen sich an: Bist du oft hier, Die Musik ist nicht schlecht, Was hast du gesagt, Willst du was trinken. Willst du was trinken, das fragt Adélaïde. Vladimir hört sie nicht. Adélaïde wiederholt es. Vladimir antwortet nicht. Er erkennt sie nicht. Vladimir lächelt nicht, er ist schon gegangen. Adélaïdes Herz füllt sich mit tiefer Scham. Sie erstarrt, während ihr Herz überquillt. Die Scham breitet sich sauer und klebrig in ihr aus, bald haben sich alle Organe aufgelöst.

Adélaïde wird nie von diesem Abend erzählen. Nicht mal Judith, Bérangère, Hermeline oder Clotilde. Sie war tanzen, es ist nichts passiert, es gibt nichts zu berichten. Sie hat sich getraut, sie hat es versucht und dabei festgestellt, dass sie durchsichtig ist. Tausendmal ist man ihr auf den Fuß getreten, so wenig zählt ihr Körper, so wenig wird er wahrgenommen.

Zu Hause hat sie France Culture eingeschaltet und sich abgeschminkt. Dann hat sie geweint, ein regelmäßiges, lang anhaltendes Schluchzen. So lang anhaltend, dass ihr Gesicht gezeichnet war. Der Schlaf wird nichts heilen, sie wird am nächsten Tag eine Maske tragen, die Maske des Kummers, Augenringe wie Ölspuren. Ihre Haut fettig und geschwollen. Ihre Hoffnungen einbalsamiert.

Adélaïde schläft ein und die Altersspuren kehren zurück. Es ist warm, und ihre langen Haare sind bald schweißnass. Ihre Haare, die weiß sind, von der Farbe versteckt. Adélaïde hat einen Albtraum, sie geht über einen Friedhof, eine Horde von Zombies kommt lautlos auf sie zu, vergewaltigt und verschlingt sie, all das ohne ein einziges Geräusch. Während sie sich wehrt, verknoten sich ihre Haare auf dem Kopfkissen. Dicke Strähnen legen sich um ihren Hals, Adélaïde bekommt keine Luft, wacht sofort auf, das Wort Selbstmord schießt ihr durch den Kopf.

Dies ist die Geschichte eines zwischen zwei Seiten gepressten Mauerblümchens, das in Echtzeit in einem Herbarium vertrocknet. Adélaïde Berthel ist eine Frau wie viele andere. Die mit sechsundvierzig die Aura verschwinden sieht, die sie einst als junges Mädchen hatte.

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