Das Tal. Das Erbe - Krystyna Kuhn - E-Book

Das Tal. Das Erbe E-Book

Krystyna Kuhn

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Beschreibung

Es ist Prüfungszeit am Grace College und Rose, Chris, Katie und die anderen haben beschlossen, die Geheimnisse des Tals für ein paar Tage ruhen zu lassen. Aber während die Studenten gerade über der Englischklausur brüten, passiert das Unfassbare. Einer ihrer Kommilitonen dreht völlig durch. Er droht, sie alle zu töten. Während der Sicherheitsdienst das Collegegebäude räumt, um die anderen Studenten in Sicherheit zu bringen, versuchen Rose, Katie, Debbie und Chris vergeblich, den Amokläufer zu beruhigen. Doch der will nur mit einem sprechen. Mit David. Und der ist spurlos verschwunden ...

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Seitenzahl: 297

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Titel

Krystyna Kuhn

DAS TAL – Season 2

_______________

Das Erbe

Band 6 der Serie

Thriller

Impressum

Veröffentlicht als E-Book 2012© 2012 Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenGestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80138-4www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.dewww.das-tal.com

Widmung

Für meine NeffenJakob und Clemens Kuhn»Wir müssen uns vor Augen halten, dass wir unsere Vergangenheit selbst gestalten, und zwar durch das, was wir heute tun.«Grey’s Anatomy

Prolog

Roberts Notizbuch

Von der Felswand fiel kalte Luft. Robert zog den Reißverschluss seiner Jacke bis hoch unter das Kinn. Der schmale Pfad, der zum Solomonfelsen führte, war steil und immer wieder blieb er mit der Kleidung an den Wacholderbüschen hängen, die hier so dicht standen, dass der Pfad kaum noch erkennbar war.

Robert hätte den Weg blind gehen können. Die Felskante, die zum Green Eye abfiel, war ihm vertraut. Hier, an dieser Stelle des Sees, wäre er fast ertrunken, nur weil er ein Mädchen hatte retten wollen, das gar nicht existierte.

Seitdem war dies ein magischer Ort für ihn. Dieser Tag war wie eine Neugeburt gewesen. Darüber sprach er nicht. Nicht mit Julia, nicht mit David. Robert vertraute seine Gefühle niemandem an.

Er hatte zugesehen, wie seine Mutter verblutete. Das Bild, wie sie hinter dem Sofa lag, war fest in seinem Kopf verankert. Er hatte es nicht verdrängt und er hatte nicht gelernt, mit dem Schmerz umzugehen, keine Sekunde. Vielleicht wäre es ihm gelungen, wenn er dem Ereignis eine Logik hätte zuordnen können. Aber das war einfach nicht möglich.

Sterben war logisch, ja.

Der Tod, so wie er ihn erlebt hatte, war es nicht.

Robert hatte seine Mutter im Stich gelassen. Es war die schlimmste Entscheidung gewesen, die er je hatte treffen müssen. Er hatte damit sein eigenes Leben geschützt. Andere würden das vielleicht auch als Feigheit bezeichnen. Aber er war seinem Gefühl und seinem Verstand gefolgt. Sterben wäre einfach gewesen, am Leben zu bleiben, war wohl die menschlichste Entscheidung, die man treffen konnte.

Robert setzte einen Fuß vor den anderen. Bald hatte er das Ende des Felsrückens erreicht und nahm seinen gewohnten Platz ein.

Lange saß er an diesem Ort, regungslos. Er dachte über das Labyrinth nach, das sich unter den Wellen befand. Tief unten im See wölbte sich die Glaskuppel über der Kathedrale, in der die versteinerten Körper von Grace Morgan und Milton Jones lagen.

Es gab so viele Phänomene im Tal, die er klären musste und die seinen Verstand überstiegen. Was bedeutete, diesmal musste er wieder seinen Gefühlen und seiner Intuition folgen.

Die anderen sprachen ständig davon, dass er ein Genie sei. Aber das war nicht der Fall. Er hätte es ihnen erklären können. Im Grunde war es nur so, dass seine rechte und linke Gehirnhälfte im Gleichgewicht waren. Er handelte nicht nur nach rationalen, analytischen und mathematischen Prinzipien, sondern ließ auch seine kreative, intuitive und gefühlsmäßige rechte Gehirnhälfte zu Wort kommen.

Und genau darauf kam es jetzt an.

Er schlug das Notizbuch von Moleskine auf. DIN A6. Seine Schrift war winzig und für andere kaum zu entziffern, aber genau so waren die Notizen in seinem Kopf abgebildet. Mikroskopisch klein.

Und warum?

Weil es um Symbole ging, um Zeichen, um Formeln.

Genauer gesagt, um eine Formel.

Die Formel, die Dave Yellad aufgestellt hatte.

Sie war unvollendet und bildete doch im Kern Dave Yellads Welt ab.

Robert dachte an die Symbole, die er im Tal gefunden hatte. Sie waren in Bäume, Steine und Felswände geritzt. Wenn man einmal wusste, worauf man zu achten hatte, sah man sie fast überall.

Er wusste es. Wusste es ganz sicher. Hier in diesem Notizbuch lag die Antwort. Sie war in den Symbolen versteckt. Sie waren der Schlüssel zur Formel.

Wie schon Dutzende Male zuvor legte er Listen an. Erst schrieb er die Zeichen, die in der Formel verwendet wurden, untereinander, dann die Symbole.

Oft fragte er sich, ob es einfach nur Angst war, die ihn hinderte, die Formel zu entziffern. Angst davor, die unheilvolle Büchse der Pandora zu öffnen, die alles Unglück in die Welt brachte. Und dieses Tal, war es wirklich die Büchse?

Robert zog die Beine an, riss von dem benachbarten Wacholderbusch einen Zweig ab und roch daran. Der würzige Duft stieg ihm sofort in die Nase.

Er konnte es sich nicht leisten, dass Angst ihm im Weg stand. Er konnte die anderen nur retten, wenn er diese Formel vollendete. Und um das zu tun, musste er endlich Entscheidungen treffen.

Er griff nach dem Füllfederhalter und blätterte die letzte Seite seines Notizbuchs auf, doch dann ließ er es wieder sinken.

Er starrte auf den See hinaus, lauschte dem gewaltigen Lärm der Wellen. Seitlich von ihm erhob sich der Ghost über dem Tal. Alles hatte eine Bedeutung. Er musste es nur zulassen.

Es verging noch fast eine Stunde, bis sich plötzlich ein Lächeln auf Roberts Gesicht ausbreitete. Dann nahm er seinen Stift und begann, wie ein Wahnsinniger zu schreiben.

1. Im Zeichen des Pfeils

Isabel Hill hatte ihren Hintern halb auf das Pult geschoben. Ihr T-Shirt war so kurz, dass das Piercing im Bauchnabel sichtbar wurde. Sie beobachtete die Studenten aus zusammengekniffenen Augen. Immer wenn Rose sie anschaute, sah sie eine imaginäre Peitsche in der Hand der Studienbetreuerin, die im Sommer ihren Abschluss hier am College machen würde. Hoffentlich würde sie selbst niemals so unsympathisch auf andere Studenten wirken.

Aus den Augenwinkeln beobachtete Rose, wie Chris sein Smartphone aus der Hosentasche zog und etwas ablas. Auf Handys bei Prüfungen stand die Todesstrafe. Damit konnte Chris seine ganze Prüfung gefährden. Noch schlimmer, es drohte ihm der Ausschluss aus dem College.

Nicht mal eigenes Papier war erlaubt. Die Taschen hatten sie vor der Tür abgegeben, ebenso wie die Jacken. Am liebsten wäre es der Collegeleitung wahrscheinlich, wenn sie nackt gekommen wären. Es hätte nur noch gefehlt, dass die Sicherheitsleute sie an der Eingangstür wie am Flughafen gescannt hätten, um noch das geringste Hilfsmittel zu entdecken.

Was Julia betraf, trug sie die Kette mit den Eheringen ihrer Eltern um den Hals. Natürlich der reinste Aberglaube.

Rose seufzte. Irgendwie schien der ganze Raum in eine Art Trance gefallen zu sein.

Sie blickte von Katie zu Julia, von Julia zu Chris. Die Spannung im Raum war schwer zu ertragen. Nur das Kratzen der Füllfederhalter, die über die weißen Blätter schabten, war zu hören. Bei einer Prüfung war es den Studenten nicht erlaubt, sich einen freien Platz zu suchen. Jedem war durch ein Namensschild einer der Tische zugewiesen worden, die sich in einer Art Zickzackmuster durch den Prüfungsraum zogen.

Roses Tisch war in der Mitte des Raums. Immer, wenn sie den Kopf hob, schaute sie aus dem Fenster direkt auf die dicke graue Nebelwand, die wie ein Vorhang den Himmel verbarg. Nur konnte man ihn nicht zur Seite ziehen. Wie Rose auch nicht den Vorhang in ihrem Kopf zur Seite ziehen konnte, der ihr Denken blockierte.

Sie beneidete Benjamin, der aufgrund seiner langen Abwesenheit vom College von den Prüfungen befreit worden war. Vermutlich chillte der jetzt mit seinem Lover Tom aus dem Abschlussjahrgang. Debbie dagegen hatte sich sogar in die Klinik den Unterrichtsstoff schicken lassen. Rose fragte sich, warum sie sich diese Mühe gemacht hatte. Andererseits war sie noch nie schlau geworden aus dem, was Debbie trieb.

Wie auf Stichwort hob Debbie vorn in der ersten Reihe ihren Finger.

Professor Hill, die zusammen mit ihrer Tochter Isabel die Aufsicht führte, reagierte genervt: »Miss Wilder?«

»Kann ich zur Toilette?«

Es war bereits das dritte Mal, dass Debbie ihre Blase nicht im Griff hatte. Rose dagegen war seit über drei Stunden jedes menschliche Bedürfnis fremd. Sie hatte keinen Durst, dachte nicht an Essen und die Vorstellung, sie würde auf der Toilette auch nur fünf Minuten verschwenden, war absurd.

»Schon wieder?«, fragt Mrs Hill.

»In der Prüfungsordnung steht, dass ich das Recht habe …«

Wieder sah Mrs Hill auf ihre Uhr und traf eine Entscheidung. »Sie haben nur noch zwanzig Minuten. So lange werden Sie es noch aushalten.«

»Ich werde mich beim Dean beschweren.«

»Ja, in Ordnung, tun Sie das. Aber stören Sie jetzt die anderen nicht, die zum Ende kommen müssen. Noch zwanzig Minuten.«

Rose hatte sich für die Gedichtanalyse entschieden. Warum auch immer. Gedichte lagen ihr nicht besonders. Lyrik war etwas für Träumer. Klar dachte jeder, sie müsse besonders begabt dafür sein. Die sensible, feinfühlige Rose, die selbst aussah, als hätten Shakespeare oder Lord Byron persönlich sie in Versen verewigt.

Aber sie hatte dieses Image satt. Es stand ihr bis zum Hals. Ihre Hand fuhr durch ihre kurzen Haare, die sich noch immer anfühlten wie weicher Flaum. Vielleicht war es zu früh gewesen, auf die Glatze zu verzichten.

Jedenfalls lag ihr der Text auf dem Prüfungsblatt schwer im Magen. Ganz abgesehen vom Thema: die Apokalypse in der englischen Lyrik.

Eine Gedichtinterpretation war vergleichbar damit, einen Fisch auszunehmen. In beiden Fällen gab es bestimmte Regeln, mit denen man bis zum Skelett vorstieß. Und es war ebenso kompliziert und ekelhaft.

John Milton und seine unverständlichen Verse brachten sie zur Verzweiflung. Das war die eigentliche Apokalypse, gegen die Rose im Moment kämpfte. Sie gab ihr Bestes, um alles zum Thema Gottesgericht aus Miltons Verlorenem Paradies herauszuholen, was nur ging. Aber sie, die Musterschülerin Rose, der Traum eines jeden Dozenten, hatte den Schwung verloren.

Wieder sah sie auf und ihre Blicke folgten Mrs Hill, die nun schon seit über zwei Stunden im Raum auf und ab ging. Sie erinnerte Rose an einen Hamster in seinem Laufrad. Auch weil ihr Haar dieselbe Farbe hatte wie ein Hamster. Hellbraun und mit diesen Strähnchen, die wie Leuchtbänder schimmern. Sie trug einen braunen Hosenanzug, der ihr ganz offensichtlich zu eng war, genauso wie die Bluse. Mit jeder Bewegung spannte sie und man konnte ihren BH darunter erkennen, der aus dem letzten Jahrhundert stammte. Mindestens. Vielleicht sogar aus John Miltons Jahrhundert.

Mit jedem Schritt klackten die hochhackigen Stiefel. Das Geräusch machte Rose verrückt. Sie spürte, wie sie anfing zu schwitzen.

Warum musste es in dem Raum auch so stickig sein? Man heizte ihnen so richtig ein. Nicht nur mit den Prüfungsfragen.

Inwiefern kann man den Gedichtzyklus als symphonische Dichtung bezeichnen?

Warum haben Miltons Bilder die englische Dichtung der Romantik geprägt?

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, erhob sich Katie, ging zum Fenster und riss es sperrangelweit auf.

»Ich habe Ihnen nicht erlaubt aufzustehen, Miss West.« Mrs Hill sprach nicht laut, aber ihre Stimme war schneidend.

»Ich habe nicht die Absicht, an Sauerstoffmangel zu sterben«, erklärte Katie und rollte mit den Augen, als sie die Hände in den Hosentaschen an Rose vorbeiging.

»Sie hätten mich fragen können.«

»Sie hätten Nein sagen können.« Katie schob sich auf ihren Stuhl, nahm den Füller in die Hand und schrieb unbeirrt weiter.

Rose beneidete sie. Julia und alle anderen schienen eine unheimliche Verbindung zu dem Papier eingegangen zu sein, das vor ihnen lag und den Stempel des Colleges trug. Nur Debbie starrte wie sie selbst zum Fenster hinaus, als warte sie auf eine göttliche Eingebung oder dass der Heilige Geist auf sie herunterschwebte. Wenn der bei diesem Nebel überhaupt durchkam.

Nebel gab es im Tal selten. Es lag so weit oben, dass er sich nicht lange hielt, sondern schnell wieder in die Höhe stieg oder nach unten fiel. Doch heute hatte er sich fest eingenistet. Rose vermisste die Aussicht auf den See und den Ghost. Sie hatte das sichere Gefühl, dass ein Blick auf den Berg ihren Gedanken den Schwung geben würde, den sie so dringend brauchte.

Als Mrs Hill erneut an ihrem Tisch vorbeiging und einen Blick auf ihr Blatt warf, bemühte sich Rose, so auszusehen, als sei sie sicher, was sie schrieb. Sie erwiderte das Lächeln der Englischdozentin, die offenbar große Hoffnung in ihre Lieblingsschülerin setzte.

Aber genauso hätte sie Rose auffordern können, zwanzig Marshmallows hintereinander zu essen. Schwerer könnten die ihr auch nicht im Magen liegen.

Ich muss mich konzentrieren. Jetzt. Sofort. Ihr Blick fiel auf den letzten Satz in ihrem Essay. Er kam ihr fremd vor, als hätte nicht sie ihn mit ihrer klaren, links geneigten Schrift geschrieben. Widerstand und Protest machte sich in ihr breit. Und ohne weiter nachzudenken, schrieb sie: Ich halte John Milton nicht für einen der größten englischen Dichter. Obwohl er an der Seite von Oliver Cromwell kämpfte und seine Schriften verboten waren, heißt das nicht, dass er die Welt mit seinen Gedanken weitergebracht hat. Er war Puritaner und seine Ansichten sind im einundzwanzigsten Jahrhundert veraltet.

Professor Hill, die wieder vorne an der Tafel angekommen war, verkündete in diesem Moment energisch, den Blick fest auf ihre Armbanduhr gerichtet: »Noch fünfzehn Minuten.«

»Brutto oder netto?«, fragte irgendjemand in einer der hinteren Reihen und die meisten brachen in ein fast schon hysterisches Lachen aus. Nicht weil diese Bemerkung wirklich witzig war, sondern weil alle unter extremer Anspannung litten. Rose wunderte sich, dass noch keiner durchgedreht war.

Eine Sekunde später senkten sich die Köpfe wieder und die Füllfederhalter, die zwingend vorgeschrieben waren – wie auch die blaue Tinte –, kratzten einstimmig über das Papier.

Rose strich den letzten Satz durch, und zwar so dick, dass Professor Hill ihn garantiert nicht entziffern konnte. Dann begann sie von Neuem.

Ich halte John Milton für einen der größten englischen Dichter.

Seltsamerweise gelang es ihr tatsächlich, sich in diesen letzten Minuten noch einmal richtig in ihren Essay zu vertiefen. Und es fiel ihr plötzlich nicht mehr schwer, John Milton als einen der größten englischen Dichter darzustellen. Alles eine Frage der Begründung.

Noch fünf Sätze und sie hatte es geschafft.

Noch vier Sätze.

Noch …

Es klopfte an der Tür.

Das war ein absolutes No-Go während einer Prüfung. Schließlich hing draußen an der Tür ein Stoppschild mit dem Hinweis: Prüfung. Bitte nicht stören. Deshalb war auch der Lautsprecher abgeschaltet.

Professor Hill schüttelte ungläubig den Kopf, aber sie machte keine Anstalten, auf das Klopfen zu reagieren. Der Laut wiederholte sich und schließlich wurde die Tür aufgerissen.

Seltsamerweise schienen alle froh über die Unterbrechung zu sein. Vielleicht dachten einige, es gäbe eine Art Nachspielzeit aufgrund der Störung. Was natürlich Schwachsinn war. Die Uhr tickte unbarmherzig weiter.

Mit Tom hatte in diesem Moment keiner gerechnet. Er kam ganz selbstverständlich ins Zimmer und schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Er trug einen langen dunkelgrauen Mantel, darunter eine schwarz-weiß karierte Hose und ein blau-weiß gestreiftes Hemd. Wie immer hatte er einen Schal um den Hals geschlungen. Sein Kleidungsstil war extravagant wie immer. Doch im Gegensatz zu sonst strahlte er nicht diese lässige, überlegene Haltung aus. Er trat nach vorne ans Pult, blieb stehen und starrte schweigend in die Menge. In seiner Miene lag eine Art von Anspannung, die unterdrücktes Gemurmel zur Folge hatte.

Tom kannte jeder am College. Er war der Star der Schauspieltruppe und trotz der Ereignisse um Bens Zusammenbruch und die lange Zeit in der Klinik sein fester Freund.

Rose mochte ihn nicht besonders. Tom konnte keine normale Unterhaltung führen. Er hatte nur Filme im Kopf und präsentierte sich ständig als wandelndes Lexikon in Sachen Blockbuster aus Hollywood. Das zumindest machte ihn zu einem perfekten Match für Benjamin.

»Mr Levinski, was fällt Ihnen ein?«, fragte Mrs Hill. »Hier wird eine Prüfung geschrieben!«

In Tom kam Bewegung. »Irgendwann, möglicherweise aber auch nie, werde ich dich bitten, mir eine kleine Gefälligkeit zu erweisen.«

Rose erkannte das Zitat aus Der Pate. Normalerweise würde sie denken, dass er einen Scherz machte, aber heute fehlte jede Art von Ironie in seiner Stimme.

Dennoch stieg unterdrücktes Gelächter auf. Tom war der geborene Comedian und keiner konnte einschätzen, was er vorhatte. Rose hätte sich nicht gewundert, wenn er eine Art Flashmob plante. Eine spontane Aktion, die die Collegeverwaltung in Rage bringen würde. Es ging das Gerücht, sein Vater würde das College mit großzügigen Spenden unterstützen. Wie auch immer – Tom schien sich nie Sorgen zu machen, dass man ihn vom Grace warf.

»Verlassen Sie sofort den Raum, Mr Levinski.«

Tom hob die Hand. »Entschuldigen Sie, verehrte Mrs Hill, aber … ich glaube, Sie sollten sich das anhören.«

Er zog einen Stuhl an die Wand, stieg darauf und schaltete den Lautsprecher ein.

»Was soll das? Befolgen Sie gefälligst meine Anweisung.«

Tom schüttelte den Kopf. »Nur einen Moment und Sie werden verstehen. Zwei Minuten, um genau zu sein.«

Von hinten rief Chris: »Deine Uhr geht wohl falsch, Tom. Wir haben noch genau fünf Minuten und dreizehn, nein zwölf Sekunden.«

Die Köpfe senkten sich hastig. Auch Rose versuchte, sich wieder auf den vorletzten Satz zu konzentrieren, doch Tom fing plötzlich an zu schreien. »Hört auf. Aufhören. Das hier ist das Ende. Stifte zur Seite …«

Okay, er war dabei durchzudrehen.

»Mr Lev …«, versuchte Mrs Hill einzugreifen, aber sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

»He, kapiert ihr denn nicht? Ihr müsst zuhören …«

»Hast du sie nicht alle?« Chris war aufgesprungen. »Wenn du dabei bist, einen Koller zu kriegen, geh einfach raus, aber …«

»Wenn ich sage, das ist das Ende, dann meine ich das auch so.«

Tom hatte seine Stimme wieder gesenkt, aber es lag ein seltsamer Unterton in ihr, der Rose Gänsehaut verursachte.

»Wartet einfach ab. Gleich werdet ihr verstehen.«

Chris verstummte.

Eine unnatürliche Stille fiel herab.

Alle starrten wie gebannt nach vorne.

Ein lautes Knacken ertönte. Der Lautsprecher rauschte, wie immer, wenn gleich eine Durchsage erfolgte. Und dann war die Stimme Richard Waldens zu vernehmen. Er atmete schwer, ja, der Dean schien kaum Luft zu bekommen, als er ohne Unterlass hervorpresste: »Code 111. Code 111. Code 111.«

Panik brach aus.

2. Im Zeichen der Eule

Als ich an diesem Morgen aufwachte, war mein T-Shirt in so vielen Windungen um mich herumgewickelt, als hätte mich jemand im Schlaf in die Waschmaschine gesteckt. Ich hatte keine Ahnung, weshalb ich dieses T-Shirt noch nicht aussortiert hatte. Es war das letzte, das mich an Great Falls und die Highschool erinnerte, aber keins von denen, auf denen mein Name aufgestickt war: David Freeman.

Schon die letzten Wochen war mir das Einschlafen schwergefallen, noch schwerer aber das Aufwachen. Nacht für Nacht beobachtete ich den Wecker, wie er sich zu den frühen Morgenstunden durchfraß, und als ich schließlich aus dieser traumleeren Bewusstlosigkeit auftauchte, sickerte kein Licht durch die Vorhänge, sondern eine seltsame trübe Helligkeit.

Seit gestern hatte ein dicker grauer Nebel das Tal im Griff. Er lagerte in dicken Schichten übereinander. Nicht einmal blitzte der Himmel durch und von der Landschaft war nichts zu sehen.

Und nichts geschah.

Nichts.

Wie absurd, dass ich hier lag und grübelte, weshalb nichts passierte. Die Tage waren einem seltsamen gleichförmigen Ablauf unterworfen. Das machte es mir schwer, nicht einfach im Bett liegen zu bleiben. Gerade heute. Ich hatte keine Vorlesungen und Seminare, sondern musste mich auf die morgige Biologieprüfung vorbereiten.

Die Matheprüfung gestern war der Horror gewesen. Ich hatte mich durch die einzelnen Aufgaben gekämpft, hatte mich gefühlt wie jemand, dem klar ist, dass er den Kampf verlieren wird, aber trotzdem weitermacht. Ich wusste allerdings, dass mein Gegner mehr die Zweifel waren als wirkliches Unverständnis für Analysis II.

Morgen stand mir Biologie bevor, besser gesagt Humangenetik. Ein Fach, das mir mehr lag, und zwar nicht nur, weil ich fest entschlossen war, im Anschluss an das College Medizin zu studieren. Aber trotzdem fühlte ich mich, als ginge es mich nichts an, was sicherlich an der Tatsache lag, welches Datum wir morgen hatten.

Gewillt, mich nicht von meinen Gefühlen unterkriegen zu lassen, schlug ich entschlossen die Bettdecke zur Seite.

Disziplin. Egal was passierte. Disziplin, Kontrolle, Selbstbeherrschung. Das müsste auf meinem T-Shirt stehen.

Im Vorbeigehen schaltete ich den PC an, der immer ewig brauchte, bis er hochfuhr. Aber ich hatte nun mal kein Geld, um mir einen neuen zu leisten.

Es hatte Vorteile, wenn man immer Schwarz trug. Man musste nie überlegen, was man anzog. Schwarze Hose, schwarzes Hemd, Socken, Gürtel. Fertig. Eine ziemlich zeitsparende Angelegenheit, würde es mich nicht immer an die Aufgabe erinnern, die ich mir vorgenommen hatte. An diesen Berg, den ich abtragen musste.

Im Apartment war es gespenstisch still. Chris saß mit Sicherheit schon in der Englischprüfung und von Robert war nichts zu sehen oder zu hören. Vielleicht war er in das Bibliothekszentrum gegangen, wo er in den letzten Monaten viel Zeit verbracht hatte.

Benjamin war auch nicht da, natürlich war er das nicht. Er und Tom Levinski waren noch immer zusammen, und seitdem Benjamin ans College zurückgekommen war, hatte er immer seltener seine Nächte im Apartment im Hauptgebäude verbracht.

Ich stellte die Kaffeemaschine an und öffnete den Kühlschrank, um festzustellen, dass wieder mal keine Milch vorhanden war. Ich überlegte kurz, ob ich hinüber zum Starbucks gehen sollte, aber dort würde ich tausend Leute treffen. Nein. Stattdessen entschied ich mich für eine Tasse schwarzen Tee und klaute einige Kekse aus Benjamins Vorrat.

Zurück im Zimmer hatte sich der Laptop endlich bequemt, die letzten Programme hochzufahren und alle Updates durchzuführen, die sich jedes Mal selbst installierten, ohne dass ich irgendeinen Einfluss darauf hatte. Ich würde Robert bitten müssen, etwas dagegen zu unternehmen.

Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, mir einige der Videoclips auf YouTube anzusehen, in denen Originaloperationen gezeigt wurden. Kaum einer wusste von meinem Hobby, ich hatte Angst, dass sie es morbide finden würden. Aber ich konnte mich einfach gut entspannen, wenn ich sah, wie ein Chirurg seine Arbeit erledigte. Schnell, präzise und immer Herr über Leben und Tod.

Stattdessen nahm ich mir meine Biobücher und vertiefte mich in den Prüfungsstoff. Das Thema Genetik beschäftigte mich schon seit Langem. Die Vorstellung, alles sei festgelegt, Haarfarbe, Größe, Form der Nase, war beängstigend. Sie beinhaltete eine Chancenlosigkeit, ein Ausgeliefertsein an ein System, das sich DNA nannte.

Aber es hatte keinen Sinn, mich mit diesen Gedanken zu quälen, auch wenn die Schuldgefühle gerade um diese Zeit im Jahr die Tendenz hatten, sich wie ein Krebsgeschwür in mir auszubreiten. Dagegen würde es nie ein Mittel geben. Ich musste damit leben.

Wir hatten verabredet, dass jeder von uns seit den Ereignissen im letzten November seine Geschichte erzählte. Ich war noch nicht an der Reihe, aber ich wusste: Katie, Julia und Chris trugen keine Schuld an dem, was ihnen zugestoßen war. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen Feind, ja, aber mein Feind war größer, er war unbesiegbar. Allenfalls konnte ich ihn besänftigen. Mehr nicht.

Ich wusste, wenn ich ihnen meine Geschichte erzählte, würden sie zu mir halten, sie würden versuchen, mich davon zu überzeugen, dass ich keine Schuld hatte. Dass ich ein Opfer war. Aber ich war nicht tot, oder? Ich lebte. Ich hatte die Chance, ja, die verdammte Pflicht weiterzuleben.

Der 11. 03. 2009 überlagerte alles. Er war mein D-Day. Mein elfter September.

Ich riss mich zusammen und konzentrierte mich auf mein Buch. Die Krankheit, die im Vordergrund stand, war die Homophilie, die Bluterkrankheit. Königin Victoria war daran erkrankt, genauso wie ihr Enkel, der russische Zarensohn Alexej. Unterbrechen konnte man die Kette nur, wenn die weiblichen Nachkommen keine Kinder mehr bekamen. Als ob das eine Lösung war.

Die Tür wurde so abrupt aufgerissen, dass ich das Buch fallen ließ. Ich fuhr herum und sah Robert in der Tür stehen, in der Hand eines seiner schwarzen Mininotizbücher. Ehrlich, ich fragte mich, wie viele dieser Dinger er bereits vollgekritzelt hatte.

»David, ich glaube, ich hab’s.«

»Rob, ich habe keine Zeit. Ich bin nicht wie du. Ich habe kein fotografisches Gedächtnis. Bin nicht geboren mit dem Wissen der Menschheit.«

Robert machte eine Handbewegung. Es war völlig untypisch für ihn, sich in solcher Aufregung zu befinden.

»Hör mir zu. Wir müssen es nur beweisen.«

»Wovon sprichst du?«

»Es geht nur heute. Ich weiß es.«

»Ich muss lernen, Rob. Morgen ist meine Bio-Prüfung. Ich habe keine Zeit für deine Theorien.«

Natürlich ließ Robert sich nicht beirren. Wenn er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte niemand ihn davon abbringen. Nicht einmal Julia.

»Wir sind kurz davor, die Formel zu entziffern, und du denkst an meine Schwester?«

Wie schaffte Robert nur, Gedanken zu lesen? So etwas war verrückt. Und lästig, wenn man erst einmal begriffen hatte, dass es tatsächlich funktionierte.

»Echt, es wird Zeit, es ihr zu sagen.«

»Was und wem?«

»Julia. Sag ihr, dass du sie liebst.«

»Und was soll das bringen?«

»Die Wahrheit.«

»Meinst du die Wahrheit, dass ich mich zum Teufel scheren soll?«

»Zum Beispiel.«

»Weißt du, Rob, du bist ein brillanter Mathematiker und ja, ich beneide dich, dass du dich auf all die Prüfungen nicht vorbereiten musst, weil du den Stoff auf geheimnisvolle Weise irgendwo in deinem Gehirn abgespeichert hast, in dem so etwas wie eine Digitalkamera implantiert sein muss, sonst …«

»Sag ihr, dass du sie liebst. So einfach ist das.«

»Und wenn sie mich auslacht?«

»Sie wird nicht lachen. Sie ist meine Schwester.«

»Und wenn sie mir einen Korb gibt?«

»Wird sie.«

»Was soll es dann für einen Sinn haben?«

»Einfache Logik. Primitive Psychologie«, erklärte Robert. »Wenn du die Wahrheit aussprichst, verlieren deine Gedanken … ihren Zauber.«

Typisch Rob. Ein Gehirn im Kopf, das mit Zahlen und Formeln ausgelastet war, aber immer noch Platz hatte für die komplizierten Mechanismen von Gefühlen.

»Chris wird mich lynchen.«

»Kann gut sein, aber dann bist du endlich bereit für jemand anderen.«

»Und wer soll das sein?«

»Du bist mit Blindheit geschlagen, David. Du wirst das schon noch begreifen. Komm, wir haben etwas zu erledigen.«

»Genau. Ich muss diese verdammten Erbkrankheiten in meinen Kopf kriegen.«

»Vergiss sie. Es geht um die Formel, David.«

»Welche Formel?«

»Dave Yellads Formel.«

»Du kannst sie einfach nicht ignorieren, was?«

»Ich darf sie nicht ignorieren. Das ist das, was ihr einfach nicht kapiert. Mit ihr hängt alles zusammen. Sie ist eine Art Algorithmus. Eine Anleitung, was wir tun müssen, um hinter das Geheimnis zu kommen. Dazu müssen wir hinunter ins Labyrinth. Heute.«

In meinen Ohren klang das alles so absurd, dass ich den spöttischen Unterton nicht vermeiden konnte.

»Heute. Und das Datum steht in der Formel? 10. 03. 2012?«

»So einfach ist das nicht.«

»Nein?«

Robert zog das Notizbuch ganz nahe an seine Augen.

»Du solltest wieder mal zum Augenarzt, Rob.«

»Hör auf, dich über mich lustig zu machen, David.«

»Das meine ich ernst.«

Aber Robert war bereits wieder in seiner eigenen Welt, von der ich nie wusste, ob sie real war oder nur ein Hirngespinst.

Robert hatte ein schreckliches Trauma erlebt. Der Tod seiner Eltern, die Verfolgung durch die Täter, dazu die ganze mysteriöse Geschichte um seinen Vater. Er konnte damit nicht umgehen. Er konnte jede mathematische Formel lösen, er konnte blitzschnell die Grammatik einer ganze Sprache durchschauen, er konnte, ohne ein Instrument zu spielen, jedes Stück im Radio bis ins Detail analysieren, er konnte sich auf gespenstische Art in jeden von uns einfühlen, aber mit dem Tod seiner Eltern konnte er nicht umgehen.

Es war, als ob er sich einfach in eine Art Kokon einspann, in dem er sich verstecken konnte. Ein Kokon aus Gedankenfäden, die sich so fest verknüpften, dass er sich irgendwann nicht mehr daraus befreien konnte.

»Wir müssen ins Labyrinth.«

Wenn Robert sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er nicht locker. »Heute ist einer der wenigen Tage, an denen es möglich ist.«

Ich seufzte.

»Davon hängt alles ab, David. So schnell kommt die Chance nicht mehr.«

»Rob, ehrlich, wie oft soll ich es noch sagen? Ich habe keine Zeit! Ich habe erst die Hälfte des Stoffes durch.«

»Vergiss das alles. Wichtiger ist der Beweis, dass diese Formel die Geheimnisse des Tals enthält. Sie ist einfach genial. So genial, dass ich am liebsten ein ganzes Buch damit füllen würde.«

»Aber die Prüfung …«

»Du wirst sie bestehen.« Robert erklärte dies mit einer Sicherheit, die ich nicht empfand. »Wenn du nicht mitkommst, gehe ich allein. Du musst mir nur deine Schlüssel geben.«

Als Studienbetreuer hatte ich Zugang zu den meisten Räumen im Collegegebäude und ich würde das Vertrauen, das die Collegeleitung in mich legte, garantiert nicht aufs Spiel setzen. »Du weißt, dass ich das nicht tun kann.«

»Es geht hier um Erkenntnis, David.«

»Ich will von dem Labyrinth nichts wissen.« Und bevor ich es noch verhindern konnte, fügte ich hinzu: »Ich stecke in meinem eigenen fest.«

»Ja und deswegen bist du hier oben. Wie wir alle. Wir wissen inzwischen doch, dass das kein Zufall ist. Wir können die Dinge, die passiert sind, nicht einfach ignorieren. Das hieße, das Schicksal herauszufordern. Wieder und wieder.«

»Du klingst wie der Dalai-Lama.«

»Kann sein. Aber das ist nun mal der Kern der Sache. Die Verbindung zwischen Spiritualität und Wissenschaft.«

Ich gab keine Antwort darauf. Was hätte ich auch sagen sollen? Normalerweise diskutierte ich gern mit Robert, aber gerade heute hatte ich andere Sachen im Kopf.

»Weißt du«, sagte Robert schließlich, »für jeden von uns gibt es bestimmte Tage im Jahr, an denen man weitergehen muss. Man kann nicht immer an derselben Stelle stehen bleiben.«

Niemand hier wusste, was für ein Tag morgen war.

»Was genau willst du mir jetzt damit sagen?«

»Ich glaube, du verstehst mich sehr gut. Ich weiß einfach, heute wird etwas passieren, was dich und uns verändern wird. Kommst du jetzt mit?«

Seufzend nickte ich.

Dabei fürchtete ich nichts mehr, als in dieses Labyrinth zurückzukehren. Ich hatte den versteinerten Leichnam nicht vergessen, fühlte noch manchmal, wie mein Knie steif wurde, auch wenn mich die Ärzte für gesund erklärt hatten. Aber konnte ich Robert alleine dort hinuntergehen lassen?

Nein, das war unmöglich. Er war vermutlich der Einzige von uns allen, der nicht im Tal war, um zu vergessen. Robert hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Er hatte einen Schwur geleistet und Robert war jemand, der sich an so etwas hielt.

3. Im Zeichen des Donners

Code 111.

Code 111.

Es dauerte lange, bis Rose die Angst fühlte. Sie kündigte sich langsam an, irgendwie verzögert, wie gebremst durch den Gedanken, dass es nicht sein konnte. Nicht hier. Nicht jetzt. Niemals.

Beruhigt registrierte sie, dass die anderen ähnlich reagierten. Katie saß da wie zuvor. Den Füller in der Hand, starrte sie Tom an wie ein lästiges Insekt. Nur eine Handbewegung und er würde verschwinden.

Aber Tom verschwand nicht einfach. In seinem Gesicht spiegelten sich Anspannung und so etwas wie Triumph. Er war und blieb ein Showman und war nicht gewillt, diese Rolle aufzugeben – egal, in welche Situation er geriet.

Julia klammerte sich an Chris, der ungläubig auf den Lautsprecher starrte und wie immer auf Widerstand gepolt war.

»Das ist nur ein Probealarm«, beruhigte er sie. Er gehörte zu den Menschen, die ständig gegen die Realität ankämpfen.

»Was hat das zu bedeuten, Rose?« Debbies quietschende Stimme war schriller als die Sirene, die nun so laut einsetzte, dass einige sich die Ohren zuhielten.

Rose drehte sich zur Seite. Wie immer, wenn Debbie Angst hatte, war sie so leichenblass, dass die Sommersprossen aus dem Gesicht hervorstachen. Tränen liefen ihr über das Gesicht, vermischten sich mit dem Schweiß. Die Medikamente, die Debbie immer noch nehmen musste, hatten ihren Körper aufgeschwemmt, und als sie jetzt aufstand und auf Rose zukam, bewegte sie sich so träge, als wate sie durch Wasser.

Egal. Es spielte keine Rolle, ob es sich um einen Probealarm handelte oder um den Ernstfall. Sie mussten etwas unternehmen.

Rose warf einen Blick auf Professor Hill, die neben dem Pult stand und hoch zum Lautsprecher starrte, als könnte sie ihn allein durch ihre Blicke zum Schweigen bringen. Es war ihr Job zu reagieren, Maßnahmen zu ergreifen. Stattdessen schien sie in eine Art Schockstarre verfallen zu sein. Es war offensichtlich – Mrs Hill hatte keinen blassen Schimmer, was sie tun sollte.

Code 111. Code 111.

Die Stimme im Lautsprecher wollte nicht verstummen.

Rose versuchte, sich verzweifelt an die Vorsichtsmaßnahmen zu erinnern, die in so einem Fall zu beachten waren. Als Studienbetreuerin war sie auf diesen Notfall vorbereitet worden.

Code 111 bedeutete nichts anderes, als dass sich jemand im Gebäude befand, bereit, auf alles zu schießen, was sich bewegte.

Es war der Code für einen Amoklauf.

In der nächsten Sekunde schoss sie in die Höhe und rief: »Keiner verlässt den Raum.«

Das Gegenteil trat ein. Die Studenten sprangen von ihren Sitzen, Stühle kippten um. Prüfungsblätter flatterten zu Boden. Und schon begannen einige zu schreien. Rose hörte Janas Stimme, sie kannte die Studentin aus ihrem Kunstkurs. »Raus hier. Ich will hier raus.«

»Ihr dürft den Raum nicht verlassen. Ihr müsst hierbleiben. Versteht ihr nicht? Das ist der Code für einen Amoklauf.«

Doch niemand achtete auf sie. Vorne an der Tür entstand ein Gedränge, die Tür öffnete sich einen Spalt.

Es war Tom, der dazwischenging.

»Hierbleiben. Keiner verlässt den Raum.« Er knallte die Tür wieder zu.

Entschlossen drängte sich Rose durch die Menge. Irgendwo musste der Schalter sein. Ihr Blick flog über die Wände. Dort links oberhalb der Tür erkannte sie den roten Knopf. Er war durch ein Glasfenster geschützt wie ein Feueralarm. Der Knopf aktivierte die zentrale Schließanlage. Es war die erste Maßnahme, die man treffen musste, wenn ein Code 111 ausgegeben wurde.

Ohne groß nachzudenken, schlug sie mit der Faust gegen das Glas und drückte mit der flachen Hand gegen den Schalter. Sekundenlang passierte nichts, doch dann ertönte endlich ein Knacken.

Man konnte hören, wie das Schloss einrastete. Die Tür war verschlossen. Egal, wie panisch Chris am Griff riss, mit der Faust dagegenschlug oder mit den Füßen gegen das Metall trat. Niemand konnte den Raum mehr verlassen, niemand konnte mehr hinein.

Dann ertönte ein lautes Surren. Die Rollläden fuhren hinunter. Jetzt konnte keiner mehr in den Raum. Auch die Fenster waren nicht mehr zu öffnen.

Es dauerte nur wenige Momente, bis der Raum im Dunkeln lag. Rose konnte die anderen lediglich als Schatten erkennen. Niemand kam auf die Idee, das Licht anzuschalten. Hatten sie verstanden, dass sie in Sicherheit waren? Wenn sie sich in ihrem Versteck ruhig verhielten, dann konnte nichts passieren.

Nur hier und da war leises Schluchzen zu vernehmen. Die Einzige, die sich nicht beherrschen konnte, war Debbie. Sie war geradezu verrückt vor Angst und stieß in rascher Folge schrille Schreie aus. Rose fürchtete, sie würde bald keine Luft mehr bekommen. Sie musste sie zur Ruhe bringen. Der Amokläufer durfte auf keinen Fall wissen, dass sich hier noch jemand im Raum befand und wie viele sie waren. Sie musste Debbie beruhigen und zum Schweigen bringen.

Im Halbdunkel tastete sie sich die Tische entlang und stand schließlich vor ihr. Als sie sie anfassen wollte, erhielt sie einen Schlag ins Gesicht. Aber Rose gab nicht nach. Sie zog Debbie an sich, hielt sie fest umschlungen und flüsterte: »Deb! Deb! Ganz ruhig.« Und ohne daran zu glauben, fügte sie hinzu: »Das ist bestimmt nur ein Probealarm.«

Warum schaltete Mrs Hill sich nicht ein? Oder Isabel? Die beiden trugen die Verantwortung, nicht Rose. Aber von ihnen war nichts zu hören und nichts zu sehen.

»Wir sind in Sicherheit«, behauptete Rose und versuchte, in ihre Stimme eine feste Überzeugung zu legen, die sie nicht wirklich empfand. »Uns kann nichts passieren.«

Das College hatte für diesen Fall vorgesorgt. Niemand konnte von außen ohne einen speziellen Code hinein, und wenn jemand auf die Idee kam, den Raum verlassen wollen, war nur Mrs Hill in der Lage, das Sicherheitssystem zu deaktivieren. Aber noch immer deutete nichts darauf hin, dass die Dozentin aus ihrer Schockstarre erwachte.

Rose dachte nach. Sie mussten davon ausgehen, dass dort draußen jemand war, der eine ernsthafte Bedrohung für das College war, sonst hätte der Dean nicht die 111 ausgegeben.

»Weg von der Tür«, befahl Rose. »Wenn das kein Probealarm ist, dann müssen wir mit einem Amokläufer im Gebäude rechnen. Ein Amoklauf, versteht ihr denn nicht?«

Sie hätte es nicht wiederholen sollen. Sofort kochte die Panik im Raum hoch. Debbie begann erneut zu schreien, das Weinen wurde lauter und diesmal ließ sie sich nicht stoppen. Ein paar Mädchen, darunter Felicitas und Jana, rannten durch den Raum, trommelten gegen die Jalousien. Nikita, ein drahtiger Dunkelhaariger, der Leichtathletikstar des Colleges, versuchte, unter den Tisch zu kriechen. Es herrschte das pure Chaos.

Und niemand kam Rose zu Hilfe. Niemand sorgte für Ruhe.

»Weg von der Tür und den Fenstern«, versuchte sie, sich vergeblich Gehör zu verschaffen.