Märchenmord - Krystyna Kuhn - E-Book + Hörbuch

Märchenmord E-Book

Krystyna Kuhn

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Beschreibung

Eigentlich hatte Gina nur gelangweilt aus dem Fenster gesehen. Doch als sie dann im Haus gegenüber einen Mord beobachtet, steht ihre Welt plötzlich Kopf. Denn die Leiche ist kurz darauf auf mysteriöse Weise verschwunden und niemand glaubt ihr. Keine Leiche, kein Mörder, nur eine Zeugin - die einzige Zeugin. Bildet sie sich die Schatten, die ihr folgen, nur ein?

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Krystyna Kuhn

Märchenmord

Für Mascha

Veröffentlicht als E-Book 2010 © 2007 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung eines Fotos von Brand X Pictures und Image Source © jupiterimages ISBN 978-3-401-80068-4

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Einst sprach nun Scheherazade zu ihrem Vater:»Mein Vater! Ich will dir mein Geheimnis anvertrauen;ich wünsche, dass du mich mit dem Sultan Scheherbanverheiratest; denn ich will entweder die Welt von dessenMordtaten befreien oder selbst sterben wie die andern.«Als ihr Vater, der Wesir, dies hörte, sagte er:»Du Törin, weißt du nicht, dass der König geschworen hat,jeden Morgen sein Mädchen töten zu lassen?Wenn ich dich also zu ihm führe, so wird ermit dir dasselbe tun.«Sie antwortete: »Ich will zu ihm geführt werden,mag er mich auch umbringen.«

Märchen aus Tausendundeiner Nacht

Prolog

Ich weiß nicht mehr, ob es gute Geister oder böse Dschinns waren, die mir zur Flucht verholfen haben. Das entscheidet allein Allah, hätte meine Mutter gesagt. Doch sie ist tot. Wie immer, wenn ich an sie denke, küsse ich dreimal das Amulett. »Es soll dich immer beschützen, Najah.« Das waren ihre letzten Worte. Schnell drei Sprüche aus dem Koran, denn wie sagt Pauline? »Man weiß nie, wofür was gut ist.« Dass ich in letzter Sekunde Karim und Onkel Ahmed entkommen bin, habe ich nur ihr zu verdanken. Als sie die beiden vor der Schule sah, hat sie mich kurzerhand im Biologiesaal im Schrank mit den ausgestopften Tieren versteckt. Dann brachte sie mich am Abend in diese Wohnung. Nein! Dieser Albtraum – er wird nie enden! Niemals! Karim und Onkel Ahmed werden nie aufhören, nach mir zu suchen. Und wenn sie mich gefunden haben, werden sie mich töten. Unten fällt die Haustür krachend ins Schloss. Schritte eilen die Treppe hoch. Ist sie das? Pauline? Ich muss mit ihr sprechen. Heute noch. Julien darf in keinem Fall nach Paris kommen. Nein! Sie ist es nicht. Pauline ist leise.

Sie huscht die Treppen hoch wie eine Maus. Die Schritte verebben. Ein Schlüsselbund klappert. Eine Tür schlägt zu. Es wird wieder ruhig im Treppenhaus. Jetzt sind nur noch die beiden Kinder oben in der Wohnung zu hören. Sie rennen hin und her. Hin und her. Die Stille macht Angst und das Getrampel über meinem Kopf macht Angst. Vor. Zurück. Vor. Zurück. Ich lausche wie nachts in der Wüste, wenn man auf jedes Geräusch hört, wenn die Welt leer wird und kalt, wenn die Stille laut aufheult mit den Schakalen, die um das Feuer schleichen und jaulen vor Ungeduld. Ja, Karim wird mich töten. Deshalb hat Pauline gesagt, dass ich mich nicht rühren soll. Ich soll kein Wasser laufen lassen und allenfalls einmal am Tag die Toilettenspülung benutzen. Ich soll das Licht nicht anschalten. Ich soll die Fensterläden nicht bewegen. Ich soll nicht einmal zum Fenster hinausschauen. Keiner darf von dem Versteck wissen. Niemand darf ahnen, dass ich hier bin. Für die Kinder dort oben existiere ich nicht, die Leute dort unten auf der Straße wissen nichts von mir. Allah, ich habe furchtbaren Durst. Der Kanister ist nur noch am Boden mit Wasser bedeckt. Nur nichts verschütten. Und ich sterbe vor Hunger. »Da sitzt ein Dschinn in deinem Bauch, der etwas zu essen will«, hat meine Mutter immer gelacht, wenn mein Magen knurrte, und mir süße Dattelbällchen in den Mund gesteckt. Das Fladenbrot aber ist inzwischen so hart, dass ich Angst habe, mir einen Zahn auszubeißen. Wo bleibt nur Pauline? Habe ich mich im Tag geirrt? Sonntag? Montag? Dienstag? Seit zwei Wochen gibt es keine Zeit mehr für mich. Keine Sekunden, keine Minuten, keine Stunden, nur der Moment, wenndie Sonne hinter den Fensterscheiben auf-und untergeht. Nur Tag und Nacht. Der einzige Trost sind Juliens Briefe. Ich habe sie zur Sicherheit unter einer losen Holzdiele im Flur versteckt. Immer wieder hole ich sie hervor, um sie zu lesen. Werde ich ihn wiedersehen? Ich kann mich nicht beherrschen, gehe zum Fenster und spähe am Rahmen vorbei auf die Straße. Wo bleibt nur Pauline? Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, steht der Junge, der den Leuten die Schuhe putzt. Ich beobachte ihn, wie er wild gestikulierend mit den Kunden spricht, die in seinem Stuhl sitzen. Wie er vor ihnen kniet und mit der Bürste über ihre dreckigen Schuhe fährt. Alles wie immer. Monsieur Saïd räumt die Melonen in den Laden. Allah, mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Wie gerne würde ich wieder einmal in eine gelbe, saftige Honigmelone beißen. Vielleicht kann Pauline noch nicht von zu Hause weg? Vielleicht muss sie ihrer Mutter helfen? Jetzt hält vor dem Haus gegenüber ein Taxi. Eine Frau in einem kurzen schwarz-weiß gepunkteten Kleid steigt aus. Mit unverhüllten Beinen. Sie sieht aus wie ein Dalmatiner. Kurz darauf ein Mädchen. Dreizehn oder vierzehn Jahre. Nicht viel jünger als ich. Ihre Haut ist wie Milch und ihre Haare so hell, dass sie in der Sonne zu Licht werden. Sie trägt einen kurzen dunkelgrauen Rock, der von einem breiten Nietengürtel gehalten wird, ein weißes Top und schwarze Strumpfhosen. Dazu ein paar wunderschöne Chucks. In der Hand hält sie einen Rucksack, der mit unzähligen Aufnähern verziert ist. Auf Zehenspitzen gehe ich zurück in den Raum, kauere mich in eine Ecke und warte.

*

Schwül und drückend ist es im Zimmer. Zum Ersticken. Wie in einem Sandsturm, kann ich nicht mehr atmen. Luft, ich brauche Luft! Wie spät mag es wohl sein? Acht Uhr? Neun Uhr? Der Himmel vor dem Fenster wird langsam dunkel. In Paris bricht die Nacht nicht plötzlich ein wie in der Wüste, sie schleicht sich an. Ja, ich weiß, es ist verboten, aber ich halte es nicht mehr aus, gehe erneut zum Fenster, meine Hand greift nach dem Griff . . . Nein! »Karim sucht überall nach dir«, höre ich Pauline. »Jeden Tag wartet er vor der Schule auf dich. Wenn ich daran glauben würde, an eure Dschinns, den bösen Blick und all den Quatsch, würde ich sagen, der ist vom Teufel besessen.« Aber ich habe ihn gesehen, den Teufel in Karims Augen und die bösen Geister in seinem Blick, die seinen Kopf vernebeln. Immer wieder habe ich ihm gesagt, dass ich ihn nicht heiraten werde, dass ich es gar nicht kann, denn in Frankreich ist es verboten, mit fünfzehn zu heiraten. Aber er hat nur gelacht und gesagt, in der Wüste entscheidet Allah allein. Luft! Ich brauche Luft! Ich will gerade das Fenster öffnen, als ich das Mädchen mit den Chucks entdecke. Sie sitzt mir genau gegenüber am Fenster im Haus auf der anderen Straßenseite und für einen Moment treffen sich unsere Blicke. Dann hebt sie die Hand. Sie hat mich gesehen! Schnell wende ich mich ab. Nicht nur, weil ich Angst habe, sie könne mich verraten. Man weiß auch nie, wer den bösen Blick besitzt und einem Schlechtes wünscht. Meine Hand greift zum Amulett. Ich schließe die Augen, küsse dreimal den blauen Stein und murmele wieder einen Vers aus dem Koran. Irgendeinen.Nur um mich zu beruhigen.Plötzlich spüre ich einen Luftzug im Raum. Eine Bewegung hinter mir. Schritte.»Pauline, bist du das?«, rufe ich erschrocken und drehe michum.Das Licht geht an. Meine Augen schmerzen in der Helligkeit.Karims Augen glühen wie die eines Schakals, der um das Feuerschleicht.Ich werde Julien nie wiedersehen.

Eins

Es war Sonntagabend und ein schwüler Tag in Paris. Eine aufgeheizte Stadt unter Wolken, die sich zusammenzogen. Ginawar sicher. Das war ein böses Omen, ein schlechtes Vorzeichen.Denn Paris und Gina – Gina und Paris waren einmal Seelenverwandte gewesen. Jetzt aber war die Stadt für sie eine Fremde.Ihre Schönheit Betrug. Die Häuser nur Theaterkulisse.»Gleich fahren wir durch den Tunnel de l’Alma«, hörte sie ihreMutter sagen, »du weißt schon, in dem Prinzessin Diana vorzehn Jahren verunglückt ist.«Aha. Sehr interessant.Dennoch klappte Gina das Handy auf und begann zu filmen.»Ja«,flüsterte sie,»jetzt geht es hinein in den Tunnel des Todes,in dem Lady Di am 31. August 1997 um Mitternacht von denPaparazzi zu Tode gehetzt wurde. Mit Dodi, ihrem Geliebten.«

»Was flüsterst du da?«Gina beantwortete die Frage ihrer Mutter nicht, sondern wischte mit der Hand die schmutzige Scheibe sauber und presste dasHandy ans Fenster. Wenn sie schon den Sommer in Paris verbringen musste, war wenigstens das Nokia ein Trost. Platz einsauf der Topliste der Handys. Ihr Vater hatte es ihr geschenkt, alser auszog, was wiederum bei ihrer Mutter ein spöttisches Lächeln hervorgerufen hatte.»Aha, beginnt er schon, sich mit Geschenken bei dir einzuschmeicheln? Das kann er gut, dein Vater.«

»Er weiß eben, was ich wirklich brauche«, hatte Gina geantwortet und gedacht: Im Gegensatz zu dir! »Du meinst wohl im Gegensatz zu mir?«, hatte ihre Mutter ihre Gedanken gelesen. »Aber meiner Meinung nach brauchst du einen Vater, der in den Ferien etwas mit dir unternimmt, anstatt die Zeit mit seiner neuen Flamme zu verbringen. Und so ein teures Handy noch dazu.« »Du bist nur eifersüchtig!« »Ich? Eifersüchtig? Auf keinen Fall!« Bis vor einem halben Jahr war Gina der festen Überzeugung gewesen, dass ihre Eltern sich liebten. Von wegen! Sie hassten sich. Sie waren wie Hund und Katze, wie Feuer und Wasser, wie...wie...wie Eis und... Wüste! Eltern, die sich scheiden ließen, brachten das Leben ihrer Kinder ganz schön durcheinander. Das war, als wenn die Erdkugel sich plötzlich in die falsche Richtung drehte und man das Gleichgewicht verlor. Das Gefühl zu schwanken verließ einen nicht mehr. Das Handy piepste dreimal laut. Endlich eine Nachricht von Tom. Nein. Zum x-ten Mal Marie. ZDI ER LIDINI

Zu deiner Information. Er liebt dich nicht.

Darauf gab es nur eine Antwort: LAMIFRI

Lass mich in Frieden.

Sie hatte gedacht, dass Marie ihre beste Freundin sei. Aber alsGina sich in Tom verliebte, da hatte Marie immer wieder gesagt,dass dieser es nicht ernst meinte, dass er nur mit ihr spielte.Dass sie ihm nicht nachlaufen sollte.Mann, Marie war nur eifersüchtig. Mit Sicherheit wollte sie Tom

für sich. Wer wollte das nicht? Tom war der coolste Junge derganzen Schule. Jeder kannte seinen Namen.Gina betrachtete das Armband an ihrem Handgelenk, das Marieihr zum Geburtstag geschenkt hatte. In der Mitte prangte ein rotes Herz aus Glas. Als Zeichen ihrer Freundschaft.Familie, Freundschaft, Liebe. Die größten Flops des letzten halben Jahres. Und ein Talisman war sowieso Betrug! Rote Herzen? Kitsch hoch zehn!»Der Eiffelturm«, hörte sie ihre Mutter.»Aha, steht er also noch!«, spottete Gina. »Welch ein Wunder!«Als ihre Mutter sie ignorierte, hob Gina erneut das Handy undflüsterte übertrieben laut:»Aus der Ferne ist der Eiffelturm zuerkennen! – Ein graues Monster unter grauem Himmel! Der Todesengel der Stadt.«

Ihre Mutter seufzte und Gina richtete nun das Handy auf derenLippen und filmte, wie diese in ständiger Bewegung waren. Wieder grellrot geschminkte Mund sich zu all diesen spitzen französischen Ö, Ü und Ä formte, während sie mit irgendeinem Philippe telefonierte.»Französisch«,fuhr Gina fort,»die Sprache der blutigen Revolution. Unzählige Häupter fielen in Paris unter dem scharfen Messer der Guillotine. Ludwig XVI. musste hier sterben. Marie Antoinette fand hier ihren Tod.«

»Ach, ist Paris nicht wunderbar?«, seufzte ihre Mutter. »Warumnur war ich so lange nicht mehr hier? Es war ein Fehler.«Paris, mon amour, non, Paris, ma mort.Paris, die Stadt der Liebe? Von wegen, Paris, die Stadt des Todes.Mist! Das rote Licht blinkte. Der Akku war bald leer!»Weil du Grand-père hasst!«, erklärte Gina laut.»Ich hasse ihn nicht«, widersprach ihre Mutter.»Tust du doch!«

»Du übertreibst maßlos! Wir sind einfach nuren désaccord,nicht einer Meinung, verstehst du?« »Und warum kann ich dann Grand-père nicht besuchen, solange ich in Paris bin? Warum wohnen wir nicht bei ihm? Warum weiß er dann nicht einmal, dass wir hier sind? Warum haben wir ihn seit dem Tod von Grand-mère nicht mehr gesehen? Das ist jetzt acht Jahre her! Vielleicht ist er schon tot und wir wissen es nicht.« »Ist er nicht.« »Woher willst du das wissen?« »Weil ich es weiß.« »Weil ich es weiß«, äffte Gina ihre Mutter nach. »Du sollst mich nicht nachäffen«, erwiderte diese. »Das machen nur Papageien.« »Sechs Wochen Paris«, seufzte Gina, »das ist die Ewigkeit!« »Was weißt du schon von der Ewigkeit!« Natürlich. Ihre Mutter war der Meinung, dass nur sie selbst etwas von den wichtigen Dingen im Leben verstand. Aber auch Gina machte sich Gedanken über die Welt, und wenn sie später eine berühmte Regisseurin war, würde ihre Mutter das endlich verstehen. »Wenn du dir einmal einen Vortrag von Herrn Sauer anhören müsstest im Religionsunterricht«, erklärte Gina, »würdest auch du begreifen, was Ewigkeit bedeutet. Gäbe es nicht die Schulglocke, würde er bis zum Jüngsten Tag darüber quatschen, dass jeder Mensch einzigartig ist. ›Vertraut Gott‹«, ahmte Gina die heisere Stimme des Religionslehrers nach. »›Er weiß, was er mit euch vorhat.‹« Doch ihre Mutter hörte nicht zu. Stattdessen beugte sie sich nach vorne zum Taxifahrer und sprach auf ihn ein. Der Verkehr ging nur langsam voran. Es hatte angefangen zu regnen. Auf dem großen Platz, den sie jetzt überquerten, stauten sich die Autos.

Gina lehnte ihren Kopf an die dreckige Fensterscheibe des Taxis. Nie hörte sie zu! NIE! Dabei war es doch offensichtlich, dass Gott in ihrer Familie, den Krons, versagt hatte. Denn würde alles einem göttlichen Plan folgen, hätte Gott nicht einfach weggeschaut, als ihre Mutter am letzten Neujahrsmorgen aufwachte und beschloss, ihr Leben zu ändern. Gott – oder einer seiner Mitarbeiter – hätte die Scheidung ihrer Eltern verhindern müssen. Also, wo, bitte schön, war Gott das letzte verrückte halbe Jahr gewesen? Und davor, als sich ihre Mutter mit Grand-père zerstritten hatte? Und wo bei der Sache mit Tom? Ach ja, und bei ihrem Streit mit Marie hatte er sich auch nicht blicken lassen. Und wie, verdammt noch mal, war er nur auf die blöde Idee gekommen, ihrer Mutter ausgerechnet in Paris einen Job zu verschaffen? Gina seufzte laut. Das Leben war wie ein Computerspiel. Kaum hatte man den ersten Level geschafft, kam der nächste. Marie sagte das immer, aber was Marie sagte, hatte keine Bedeutung mehr. Gina fasste nach dem silbernen Armband an ihrem Handgelenk, das Maries Namen trug. Marie trug das gleiche mit Ginas Namen. Aber das war endgültig vorbei. Sie nahm es vom Handgelenk, kurbelte das Fenster hinunter und sah ihm nach, wie es durch die Luft wirbelte. Freundschaftsbänder waren etwas für Babys. Und Glück gebracht hatte es auch nicht. »Wir sind gleich da«, sagte ihre Mutter jetzt und beugte sich erneut nach vorne, um dem Taxifahrer Anweisungen zu geben. »Da vorne ist sie, die Rue Daguerre.Mon Dieu, bin ich aufgeregt!«

*

In der Rue Daguerre reihte sich ein Geschäft an das andere und ständig liefen Leute vor das Auto. Es sah aus wie auf einem orientalischen Basar, nicht wie in einer Einkaufsstraße der französischen Hauptstadt. Vor einem Blumenladen waren dicht an dicht Kübel mit Rosen aufgestellt, deren Rot im Regen zu einem dunklen Orange verschwamm. In der Bäckerei an der Ecke standen die Leute Schlange, um schnell noch Brot für das Abendessen zu kaufen. Beim Anblick der langen Baguettestangen lief Gina das Wasser im Mund zusammen und die Erinnerung an die Küche ihrer Großmutter trieb ihr die Tränen in die Augen. Alles war wie immer die Schuld ihrer Mutter. »Hier«, rief diese nun aufgeregt und ihre Stimme glich dem Quietschen der Bremsen, als das Taxi abrupt zum Stehen kam. »Schau mal, Gina, es gibt ihn tatsächlich noch, den Gemüseladen von Monsieur Saïd«, seufzte ihre Mutter glücklich und deutete auf die andere Straßenseite, wo in diesem Moment ein dicker Mann mit buschigem Schnurrbart und langer weißer Schürze aus der Ladentür trat, um zu beobachten, wie sich der Fahrer eines dreirädrigen Transporters mit dem Taxifahrer stritt. »Da ist er ja! Hallo, Monsieur Saïd!« Ihre Mutter begann, aufgeregt zu winken. Dann beugte sie sich nach vorne, um hektisch die Riemchen ihrer Sandaletten festzuziehen, und öffnete die Autotür. In dem schwarz-weiß gepunkteten Kleid sah sie aus wie ein Dalmatiner. Wann hatte es angefangen, dass ihre Mutter sich plötzlich neu einkleidete? Nach den letzten Sommerferien irgendwann. Erst nur eine neue Frisur, dann neue Kleider und schließlich, Silvester, ein neues Leben. Jetzt fehlte nur noch eine Schönheits-OP. Nase entfernen, Ohren ankleben, Lippen aufplustern und soweiter. Irgendwann würde sie, Gina, einen Film über den Wahnsinn der Erwachsenen drehen. Lustlos stieg sie aus und stellte sich im Regen neben ihre Mutter. Diese schob ihre rosa Sonnenbrille nach oben, die sie bei Wind und Wetter trug, um, wie sie sagte, die Welt jederzeit rosarot sehen zu können. »Hier werden wir also die nächsten Wochen wohnen«, seufzte sie glücklich. »Es sieht noch genauso aus wie vor zwanzig Jahren!« »Willkommen in der Steinzeit.« Gina schaltete erneut die Videofunktion des Handys ein und murmelte:

»Sonntag, der 12. Juli.Sieben Uhr am Abend.Es regnet. Ja, er weint, der Himmel über Paris.«

»Da im vierten Stock, siehst du, liegt Nikolajs Wohnung. Duwirst dich hier wohlfühlen.« Ihre Mutter deutete nach oben.»Werde ich nicht!«»Wirst du doch! Paris ist die Stadt der Liebe. Was ist eigentlichmit diesem Tom? Stehst du immer noch auf ihn?«»Lass mich in Ruhe!«»Laisse-moi tranquille, ma petite!Hier wirst du dich nicht weigern können, Französisch zu sprechen. Das ist schließlich deineMuttersprache. Deine Lehrerin, Frau Hahn, wird begeistert sein,wenn du nach den Ferien zurückkommst.«»Madame Poulet«, korrigierte Gina. »Wir nennen sie nur Madame Poulet.«Aber ihre Mutter hörte natürlich nicht zu, sondern plapperteweiter. »Weißt du, ich habe hier bei Nikolaj gewohnt, als ich ander Oper gearbeitet habe.«»Ja, Mama!«»Nikolaj...«»Ist dein bester Freund, ein begnadeter Künstler, Russe und außerdem schwul. Ich weiß, Maman, und das hat Grand-pèrenicht gefallen, denn Grand-père ist stockkonservativ.«»Er hat die Rolle des Romeo getanzt und war Tagesgespräch inganz Paris.«Oper, Ballett, Theater: Das war ihre Welt. Uralte Geschichten,Märchen für Erwachsene, unverständlicher Gesang in Tonlagen, als schrien die Stimmbänder um Hilfe – o.k., wer es mag,aber sie, Gina, stand auf andere Musik. Punk-Rock. Was sonst!Ihre Mutter schloss die hohe, schwere Haustür auf und war imnächsten Augenblick im Eingang verschwunden. »Oh, es riechtnoch wie damals!«, hörte Gina sie rufen. »Frisches Baguette, Käse und Rotwein. Das ist Paris!«Gina stolperte und sah es zu spät!Verdammt!Hundekacke!Das war Paris!

Zwei

Mitten hinein war Gina getreten.In die Hundekacke.Ihre Chucks, nagelneu, waren jetzt an der weißen Sohle imwahrsten Sinne des Wortes kackbraun.»Oh nein! Verdammt! Schau dir das mal an!«Doch statt Verständnis zu zeigen, brach ihre Mutter in Lachenaus. »Es hat sich wirklich nichts geändert. Das war vor zwanzigJahren schon genauso. Komm, wir stellen deine Schuhe obengleich unter die Dusche.«»Chucks«, zischte Gina. »Das sind Chucks.«

»Na ja, dann eben...«

»Excusez-moi. Vous avez un problème...?«

Jemand unterbrach ihr Gespräch.Gina drehte sich um.Vor ihr stand ein Junge, schlank, sportlich und offenbar im selben Alter wie sie selbst. Weiße Zähne blitzten auf, als er lächelte, und, Mann, er besaß die dunkelsten Augen, in die Gina je geblickt hat. Genauso gut könnte sie in flüssiger Schokolade versinken. Dunkle Haare wurden von einem roten Tuch aus derStirn gehalten.Hey, Johnny Depp als Teenie.Johnny wedelte mit den Händen und langsam begriff Gina,dass er ihr etwas sagen wollte. Aber warum deutete er auf ihreChucks? Wollte er sich etwa über ihr Missgeschick mit der Hundekacke lustig machen?»Laisse-moi tranquille!«,sagte sie. »Lass mich in Ruhe.«Doch er sprach einfach weiter, noch immer dieses Grinsen imGesicht. Nein, das war nicht Johnny Depp. Johnny würde sichnie über Gina lustig machen. Außerdem klang sein Französisch,als ob er erkältet wäre oder eine Drahtbürste im Hals hatte. Ginawandte sich ab, um ins Haus zu gehen, doch sie hatte nicht mitihrer Mutter gerechnet.»Ein Schuhputzjunge! Ich hätte nie gedacht, dass es so etwasüberhaupt noch gibt. Ach, das istmon Paris.«Jetzt sprach der Junge auf sie ein.»Er meint, er kann deine Chucks wieder so sauber bekommen,dass sie aussehen wie die Originalschuhe von Taylor.« GinasMutter schaute verständnislos. »Weißt du, wer das ist?«»Weiß doch jeder. Chuck Taylor. Amerikanischer Basketballspieler. Er hat die Schuhe erfunden.«»Oui, oui. . . Chucks.« Der Junge schnippte in der Luft mit denFingern und bedeutete ihnen mit einer Geste, ihm zu folgen.

»Lass uns hochgehen«, drängelte Gina. »Nein, lass ihn doch deine Schuhe sauber machen. Sicher unterstützt er so seine Familie.« »Sicher ist er ein Betrüger.« »Komm, setz dich!« Sie zog Gina nach vorne. »Sei kein Spielverderber!« Mitten auf dem Bürgersteig neben ihrem Hauseingang hatte der Junge seinen Stand, einen ausgedienten alten Rollstuhl, an dessen Rückenlehne ein Holzkasten mit staubigen Bürsten, schmutzigen Lappen und Schuhputzmitteln hing. Daneben stand ein alter CD-Player, aus dem Reggaemusik schepperte. Gina wurde auf den Rollstuhl geschoben, und bevor sie sich wehren konnte, kniete der Junge vor ihr, band die Schnürsenkel auf und – Oh, lieber Gott, steht das auch in deinem Plan? – zog die Chucks von ihren Füßen. Darunter kamen die Löcher in der schwarzen Strumpfhose zum Vorschein.»Un petit moment«,rief er, wobei er die Schuhe hochhob, und im nächsten Moment war er mit ihren Chucks im Gemüseladen gegenüber verschwunden. Sie hatte es ja gewusst, ein Betrüger! »Was macht er denn jetzt?«, kicherte ihre Mutter und summte die Reggaemusik mit. »Ist er nicht süß? Wäre ich so alt wie du...Der sieht ja aus wie Antonio Banderas.« »Mama, Antonio Banderas ist etwas für Senioren und Reggae für Drogenabhängige. Außerdem ist dir vielleicht aufgefallen, dass er mit meinen Chucks auf und davon ist, was dich natürlich freut, weil Papa sie bezahlt hat«, zischte Gina. »Der lässt doch nicht seine Sachen einfach so hier stehen.« »Vielleicht gehören sie ihm gar nicht!« »Bilde dir doch nicht immer ein, alle Menschen wollten dir nur Böses. Du hast ja schon einen Verfolgungswahn wie dein Vater!«

»Lass Papa aus dem Spiel!« »Wirklich«, ignorierte ihre Mutter sie, »du siehst in letzter Zeit nur das Böse in der Welt. Aber die Menschen begegnen einem immer so, wie man sich selbst benimmt. Sie halten dir nur den Spiegel vor, mein Schatz. Denk mal darüber nach.« »Bla, bla, bla. Du klingst echt wie der Sauer!« Statt einer Antwort sagte ihre Mutter mit Blick auf die Armbanduhr: »Ich geh schnell rüber zu Monsieur Saïd. Ob er sich wohl noch an mich erinnert?« Und schon war auch sie verschwunden. Gina aber saß mitten in Paris in einem Rollstuhl und kam sich vor wie die Klara aus dem Film Heidi. Ihr fehlte nur die weiße Schleife im Haar und Klara hatte mit Sicherheit keine Löcher in den Strumpfhosen. Wenige Minuten später tauchte der Junge wieder vor ihr auf, immer noch dieses Grinsen im Gesicht, als sei es festgewachsen. Die Sohlen der Chucks glitzerten feucht. Jetzt begann er, sie sorgfältig und schnell mit einer Bürste zu bearbeiten. »O. k.!«, strahlte er und sagte dann auf Deutsch: »Fertig, Mademoiselle.« Er kniete sich vor Gina, um ihr die Schuhe überzuziehen. »Kann ich selbst«, murmelte sie. »Sei doch nicht immer so zickig«, sagte ihre Mutter und überquerte mit einer riesigen grünen Wassermelone unter dem Arm und einer Einkaufstüte, Monsieur Saïd im Schlepptau, die Straße. »Ich bin nicht zickig«, erklärte Gina. »Zickig sind nur Tussis, die in ihrer Rosaphase stecken geblieben sind.« »Darf ich vorstellen«, erklärte ihre Mutter an Monsieur Saïd gewandt, »das ist meine Tochter Gina.«»Oh! la la! Quelle jolie Demoiselle.«Monsieur Saïd verbeugte sich kurz, lächelte ihr zu und strich sich anschließend über den dicken Schnurrbart, der aussah wie ein Rasierpinsel. »Komm mich besuchen, wenn du dich langweilst.«

Gina musste zugeben, der Lebensmittelhändler war wirklichputzig im Gegensatz zu diesem Schuhputzer, der nun ihreChucks mit einem Zeug einsprühte, das stank wie Insektenvernichtungsmittel.»Non«,protestierte sie, doch niemand achtete auf sie. Stattdessen verwickelte ihre Mutter den Jungen auch noch in ein Gespräch.»Wie ist dein Name?«»Noah.«»Oh, Noah! Wie viele Tiere hast du denn schon gerettet?«Oh Gott, ihre Mutter kicherte! Gina stöhnte laut.»Keine. Ich bin für Schuhe zuständig.«»Woher kommst du?«»Marokko.«»Ich glaube, Gina, meine Tochter, ist ungefähr so alt wie du.Vielleicht könnt ihr Freunde werden.«Gina warf ihrer Mutter einen wütenden Blick zu. Was denn?Waren sie im Kindergarten? Machte ihre Mutter auf Völkerverständigung? Sollte sie außer Latein auch noch Arabisch lernen?»Salut, Gina.« Noah lächelte.Smile, Smile, Smile. Er wollte sich sowieso nur bei ihrer Muttereinschmeicheln, machte auf Sunnyboy, damit er mehr Trinkgeld kassierte.

»Salut.«

Und, hatte sie es nicht gewusst, schon zückte ihre Mutter den Geldbeutel und machte das, genau das, wovor Ginas Vater, der bei einer großen Bank arbeitete, stets warnte. Nie, niemals einem Fremden den eigenen Geldbeutel zeigen! Und schon gar keinem Ausländer. Unter keinen Umständen! Sonst ist er weg!

Paris, die Stadt der Taschendiebe. Sie stehlen alles. Von den Schuhen bis zum Geldbeutel.

Sie beeilte sich, die Schuhe zu binden und aus dem Rollstuhl zu kommen, während ihre Mutter aus dem Chaos ihres Portemonnaies einen Fünfeuroschein hervorzog und ihn dem Jungenreichte.»Non, non, non«,der Junge hob die Hände.»Un!«Er streckte denDaumen in die Höhe.«»Was, nur einen Euro? Nein, nimm!« Sie drückte ihm das Geldin die Hand und dann ging es zwischen den beiden hin undher:

»Oui!«»Non!«»Oui!«»Non!«»Maman!«,rief Gina auf Französisch, wie immer, wenn ihreMutter ihr total auf die Nerven ging.Nein, ihre Mutter hörte sie nicht. Stattdessen steckte sie denSchein zurück ins Portemonnaie und holte eine Zweieuromünze hervor. »Und morgen neue Schuhe«, sagte sie laut und deutete auf ihre Sandaletten.»Der ist nicht schwerhörig«, meinte Gina, »er hat nur einen Akzent, wenn er spricht.«»DER hat einen Namen und heißt Noah.«»Und wennschon. Soll er doch zurück auf seine Arche. Ich willjetzt hochgehen und unter die Dusche!«Als sie endlich an der Haustür waren, hörten sie den Jungen aufDeutsch rufen: »Woher kommen Sie?«»Frankfurt«, antwortete ihre Mutter.»Komm schon!« Gina zog ihre Mutter am Arm.Die drehte sich noch einmal um und winkte dem Jungen fröhlich zu. »Siehst du«, ihr triumphierendes Lachen nervte gewaltig, »er kann außer Französisch und Arabisch sogar Deutsch.Aber sein Französisch ist eindeutig besser als deines, obwohl esmit Sicherheit nicht seine Muttersprache ist.« Und mit einem kurzen Seitenblick auf Gina fügte sie hinzu: »Im Gegensatz zu dir!«

Drei

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