Dornröschengift - Krystyna Kuhn - E-Book + Hörbuch

Dornröschengift E-Book

Krystyna Kuhn

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Beschreibung

Sophie kann es nicht fassen, dass ihr Bruder Mike tot sein soll, gestorben bei einem Tauchunfall in Australien. Doch dann kommt Mikes Freund nach Deutschland und kann die Lücke ein wenig ausfüllen. Bis abermals jemand verschwindet.

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Krystyna Kuhn

Dornröschengift

Veröffentlicht als E-Book 2010 © 2008 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80069-1

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Für meine Nichte Vera Kuhn

»Und der Wind legte sich und auf den Bäumen regte sich kein Blättchen mehr.«Dornröschen, Gebrüder Grimm

Die Nacht danach

Nacht vom 29. April zum 30. April

Bist du jetzt bereit?«, fragte er.»Ja, ich bin bereit, denn in deinen Armen zu sterben, bedeutet,ewig zu leben.«»So sei es.«Lisa nahm den Becher und trank ihn in einem Zug leer.»Das ist der erste Schritt in deine neue Existenz«, erklärte er.»Wirf die alte von dir und überschreite die Grenze. Die Wirklichkeit ist das, was du dir erschaffst, und nicht die Welt der anderen, die keine Träume kennen. Deine Reise beginnt in diesem Augenblick.«Fast hätte Lisa bei diesen Worten zu kichern begonnen, dennwar nicht alles im Grunde nur ein lächerliches Spiel? Fantastereien? Sie erinnerte sich wieder an das erste Gebot: »Vertrauedeiner Fantasie, misstraue dem Verstand.«»Jetzt erhebe dich!«, befahl er.Sie folgte ihm unsicher, es tat weh, mit den bloßen Sohlen aufdem steinigen Boden aufzutreten. Andererseits gefiel ihr, wieder Stoff des Kleides ihre Beine umschloss, wie er im Windwehte.»Wohin gehen wir?«, fragte sie zögernd.»Vertraue mir.«Ja, sie wollte ihm vertrauen. Unbedingt!

Ach, er lächelte so wunderschön. Wie alles an ihm einfachschön war–die blauen Augen, seine gebräunte Haut, die Formseiner Hände–und nicht zuletzt, wie er sich bewegte, wie ersprach.Wenn sie nur nicht so müde gewesen wäre. Dies hier war dieNacht, nach der sie sich schon so lange gesehnt hatte, und siewar so erschöpft. Ihre Füße waren eiskalt, ihre Haare feuchtvom Nebel.Sie stolperte. Warum gehorchten ihr die Beine nicht mehr,klopften ihr Kopf so heftig und ihr Herz–als hielte sie es in ihrer eigenen Hand, so deutlich fühlte sie es pochen?»Ich kann nicht mehr«, stöhnte sie. Sie blieb stehen, hatte dasGefühl, keine Luft mehr zu bekommen.»Die Prüfung ist noch nicht zu Ende«, erklang seine Stimmeweit entfernt.Sie hörte den Wind mehr, als sie ihn spürte. Er strich sanft überdie Wipfel der kahlen Bäume, während er unbarmherzig aufheulte.Die Prüfung, dachte sie zitternd. Ja. Aber später. Jetzt friere ich,mir ist übel.»Ich will nach Hause«, jammerte sie.»Es gibt kein Zurück!«Seine Stimme klang nun ganz anders: ungeduldig und gereizt.Angst kroch in ihr hoch.Hatte Frau Mader ihnen nicht immer wieder Vorträge gehalten,nichts zu tun, rein gar nichts, was sie nicht selbst wollten?Aber sie wollte es ja.

Sie erwachte ohne Bewusstsein dessen, was passiert war.Wie viel Zeit war verstrichen?Stunden, Jahre, Sekunden?Oh, wie müde sie sich fühlte.

Schrecklich müde.Blei in den Armen.Blei in den Beinen.Sie erinnerte sich nur noch, dass sie gefallen war.Ein Bild schob sich vor ihre Wahrnehmung, es war sie selbst, siestolperte in dem engen Kleid durch das Gestrüpp. Ja. Ihr warkalt gewesen, so kalt, die nackten Arme und bloßen Füße wievon einer feinen Eisschicht überzogen.Aber jetzt war das Zittern verschwunden. Ihr Körper fühlte sichgeradezu weich an. Wie aus Watte und ihr Kopf–er schwebtein der Luft. Sie konnte sehen, wie ein kräftiger Windstoß ihnnach oben trieb und er leicht über die Bäume davonsegelte.Ein riesiger gelber Luftballon in der Dunkelheit.Sie lachte.So ein Unsinn!Es war ja nur der Vollmond, der dort oben durch den Nebelschien.»Was ist nur los mit mir?«, fragte sie laut und bemerkte zu ihrem Schrecken, dass ihre Zunge wie Kaugummi im Mund klebte. Jedes einzelne Wort eine unsichtbare Kaugummiblase, dienoch auf den Lippen zerplatzte.Im Nebel konnte sie nichts erkennen, ahnte mehr die Baumkronen über ihr, das Moos unter ihr. Die Bäume wie Fahnenstangen,die kahlen Äste lange gekrümmte Finger, die nach ihr griffen.Der ganze Wald war tot.Ihre Hände krallten sich ins feuchte Laub. Zweige streiften ihrGesicht, als sie den Kopf mühsam hob.Sie stöhnte laut auf.Es hieß, hier lebten Waldgeister und Kobolde. Ja, sie konnte siesehen. Die Schatten der dunklen Gestalten, die sich im Nebelverbargen, beugten sich über sie. Sie flüsterten miteinander,das Gesicht hinter starren Masken verborgen.

Jemand weinte ganz schrecklich laut.Warum?, fragte sie sich.Und dann wunderte sie sich, warum sie denken konnte, wenndoch ihr Kopf dort oben am dunklen Himmel hing.

Der Tag zuvor

Nachmittag 29. April

Im Nachhinein schien es mir, als habe sich der Nebel an dem Tag über die Landschaft gelegt, als wir die Nachricht erhielten. Mike, mein Bruder, war zu einem Tauchgang aufgebrochen, von dem er nicht wieder zurückgekommen war. Offenbar war er ertrunken, auch wenn man seine Leiche nie gefunden hatte. Das war vor drei Monaten gewesen, genauer gesagt am 20. Januar. Seitdem lebten wir wie in einer Schattenwelt. Pa und ich schlichen uns im Morgengrauen aus dem Haus und kehrten so spät wie möglich dorthin zurück, wo meine Mutter sich weigerte, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Mike würde nicht wiederkommen. Doch nicht einmal als die Anrufe der Polizei seltener und die Informationen immer spärlicher wurden, bis sie schließlich ganz ausblieben, gab Mam die Hoffnung auf. Hendrik, unser Gärtner, war der Einzige, der es aussprach: »De Dod steiht achter de Dör.« Der Tod steht vor der Tür. Immer wenn er diesen Satz vor sich hin murmelte, überlief es mich kalt. Doch Mam schüttelte nur den Kopf. Solange Mike nicht gefunden sei, meinte sie, gäbe es immer noch eine Chance.

Als ich an diesem Tag Ende April von der Schule nach Hause zurückkehrte, lag das Gutshaus eingehüllt in einem grauen, undurchsichtigen Wolkenfeld. Viele Leute beneideten uns um dasprachtvolle, alte Gebäude mit dem aufwendigen Stuck an der Fassade. Jamaica zum Beispiel, die sich mit ihrer Mutter zwei winzige Zimmer über dem kleinen Lebensmittelladen im Dorf teilen musste. Man nannte uns sogar: die vom Schloss. Ehrlich, eine Zeit lang habe ich gar nicht kapiert, dass die uns meinten. Ich schob das Fahrrad in das Nebengebäude aus rotem Klinker, das meine Eltern zu einer geräumigen Garage hatten umbauen lassen. Dort stellte ich es neben Mikes uralten grünen VW-Käfer ab, den er zum 18. Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Das Nebengebäude war durch die ehemalige Waschküche mit dem Haupthaus verbunden, sodass ich von hier aus direkt in die Diele gelangen konnte. Dort warf ich Mantel und Schultasche achtlos auf die alte Truhe, die noch von meinen Urgroßeltern stammte. Ein wurmstichiges Ding, von dem mein Vater sich nicht trennen wollte. »Mam«, rief ich laut. Keine Antwort. Ich öffnete die Küchentür. Nicht, dass ich erwartete, sie hier zu finden, denn seit der Nachricht von Mikes Verschwinden verbrachte sie die meiste Zeit schlafend im Bett und ich schmierte mir nach der Schule einfach ein Butterbrot. Doch heute brodelte es auf dem Herd und es roch verheißungsvoll. Neugierig hob ich den Deckel – Tomatensoße! Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Immerhin würde es ein warmes Mittagessen geben. »Mam?«, rief ich erneut, und da ich keine Antwort erhielt, rannte ich die knarrenden Holzstufen nach oben in den ersten Stock. Wahrscheinlich hatte sie eines der Beruhigungsmittel eingenommen, die ihr mein Vater verschrieben hatte. Leise öffnete ich die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern. Einbetäubender Geruch nach Lavendel und Schlaf hing im Raum. Die Betten waren gemacht, es lagen keine Kleider auf dem Fußboden. Mam war also tatsächlich aufgestanden. War sie vielleicht im Garten? Sie hatte ihre Rosen die letzten Monate völlig vernachlässigt. Ich verließ das Schlafzimmer, um draußen nachzusehen, aber als ich an Mikes Zimmer vorbeikam, hörte ich ein Geräusch. Ich glaube nicht, dass seit Toms Anruf vor drei Monaten jemand von uns den Raum betreten hatte. Vielleicht war es daher auch mehr eine Ahnung, jedenfalls drückte ich den Türöffner nach unten. Das Zimmer war noch so, wie Mike es verlassen hatte. Nichts hatte sich verändert. Die Rollos halb nach unten gezogen, erkannte ich die Metallregale an den Wänden, in denen er seine CD-Sammlung und stapelweise Bücher aufbewahrte. Auf dem Schreibtischstuhl lagen ein schwarzes T-Shirt und eine seiner Baseballmützen. Darunter schauten graue Turnschuhe hervor, so, als hätte Mike sie gerade abgestreift und würde gleich ins Zimmer gerannt kommen, um sich auf seinem Bett in einen dieser Science-Fiction-Romane zu vertiefen, die er abgöttisch liebte. Der Schaukelstuhl vor dem Fenster bewegte sich langsam hin und her. Ich erkannte meine Mutter, die im Nachthemd im Halbdunkel saß, eines von Mikes Sweatshirts in der Hand. »Mam?«, fragte ich erschrocken. Sie hob den Kopf und blickte mich traurig an. Ihre blonden Haare hingen ungekämmt ins Gesicht, sie war blass und hatte wieder geweint. »Sofie! Ist die Schule schon vorbei?« Vorsichtig trat ich näher. »Was machst du denn hier?«, fragte ich. »Du solltest dich besser hinlegen. Komm, ich bringe dich ins Bett.«

»Nein!« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich räume auf.«»Warum ausgerechnet heute?«Sie schwieg einige Sekunden. Der Schaukelstuhl knarrte leiseund bewegte sich schließlich, wie von einem leichten Windhauch angestoßen, hin und her.»Da war ein Anruf heute Morgen«, erklärte sie.Ein Anruf? Mein Herz begann laut zu klopfen. »Wegen Mike?«Sie gab keine Antwort. Stattdessen starrte sie hinaus auf dengrauen Himmel und murmelte vor sich hin. »Ich muss die Fenster noch putzen. Wenn er kommt, muss hier alles in Ordnungsein.«Ehrlich, sie sah in diesem Moment so überzeugt aus, dass mirein kalter Schauer über den Rücken lief. Hatten sie Mike gefunden? Erfuhren wir nun endlich, was mit ihm an dem Tag im Januar geschehen war, als er mit Tom zum Tauchen fuhr? Konntees sein, dass er noch am Leben war?»Mike? Mike kommt?«, fragte ich ungeduldig. »Mam, was fürein Anruf?«»Dieser Junge . . .«, murmelte sie.Verzweifelt rief ich: »Welcher Junge?«»Tom, der Junge aus Australien. Er möchte uns besuchen, einige Sachen vorbeibringen.«»Tom?«Sie nickte. »Du weißt doch, dein Vater hat ihn eingeladen, als ervor drei Monaten . . .«Nun wusste ich, von wem sie sprach. Tom war der Sohn vonMikes Vermieterin in Brisbane, Australien.Ich setzte mich auf das Bett. »Wann kommt er?«»Morgen!«»Morgen schon?«Der Gedanke versetzte mir einen Stich. Es war derselbe Tag, fürden Mike den Rückflug gebucht hatte.

»Mike kommt am 30. April zurück«, murmelte meine Mutter vor sich hin, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ihr Blick war ohne Leben. Sie war in ihre einsame Trauer abgetaucht, die sie mit niemandem zu teilen bereit war. Ich wusste, wie sie litt, wie sie sich die letzten Wochen selbst gequält hatte, je unwahrscheinlicher es wurde, dass man Mike fand. Stundenlang hatte ich sie weinen hören. Dennoch: Litten wir nicht alle? Hatte sie ein einziges Mal gefragt, wie es mir ging? Wie ich mich fühlte? Oder Pa? Ich biss die Zähne fest aufeinander. Plötzlich hatte ich den sehnlichen Wunsch, das alles meiner Mutter ins Gesicht zu schreien. Einfach die Wahrheit herausbrüllen. Die nackte Wahrheit. Sie sollte aufhören, sich und uns etwas vorzumachen! Hey, ich war fünfzehn Jahre alt. Mir war verdammt klar, was es bedeutete, im Pazifischen Ozean zu ertrinken. »Nein, Mam«, seufzte ich schließlich, stand auf und strich ihr beruhigend über die Haare. »Tom kommt, nicht Mike.« Doch sie antwortete nicht. Ich hatte das Quietschen des Schaukelstuhls noch im Ohr, als ich nach unten ging, um Nudeln zur Tomatensoße zu kochen.

Den Nachmittag verbrachte ich in meinem Zimmer mit den Schularbeiten. Meine Mutter hatte sich wieder hingelegt, ohne mit mir zu essen. Ich war es gewesen, die die Küche in Ordnung brachte. Die Vorstellung, dass morgen Tom kommen würde, der meinen Bruder als Letzter gesehen, der die Monate mit ihm in Australien verbracht hatte, machte mich nervös. Hatte er Neuigkeiten? Würde er viel von meinem Bruder erzählen? Ich konnte mich nicht länger auf meine Bücher konzentrieren. Abrupt sprang ich vom Schreibtisch auf und zog mein Tagebuch aus dem untersten Fach der Kommode, wo ich es in einen alten Schlafanzug gewickelt aufbewahrte. Seit über einem Jahr hatte ich kein Wort mehr geschrieben. Als ich es jetzt in die Hand nahm und aufschlug, erschien mir die Vierzehnjährige, die dort ihre Sorgen notiert hatte, lächerlich kindisch, ja geradezu albern. Diese Sofie war mir inzwischen fremd. Sie schrieb über Probleme, die keine waren: Filme, neue CDs, Bücher, die Jugendband, lächerliche Diskussionen mit den Eltern und natürlich lange Abhandlungen über sämtliche Klassenkameraden und meine ehemals beste Freundin Carlotta, die mich zu der Zeit schmählich im Stich gelassen hatte. Vor einem Jahr hatte sie gerade angefangen, mit Valerie herumzuhängen und natürlich mit Ruven. Mike meinte damals: »Wenn jemand auf die andere Seite der Macht wechseln will, kannst du ihn nicht aufhalten.« »Von wegen andere Seite der Macht«, hatte ich wütend gefaucht. »Carlotta ist einfach nur in Ruven verknallt, das ist alles.« »Seid ihr das nicht alle?«, grinste er anzüglich. »Ich fall auf den Idioten nicht herein!« »Warum erzählst du dann ständig von ihm, von Carlotta, Valerie, Lisa und wie sie alle heißen?« »Weil ich mich Tag für Tag mit ihnen herumschlagen muss. Schließlich gehen wir weiter in eine Klasse.« »Genau«, hatte Mike geantwortet. »Du wirst sie nicht los. Aber im Grunde ist es auch egal. In jeder Klasse gibt es Zicken, deren Aufgabe darin besteht, die Gerüchteküche am Laufen zu halten und kichernd die Jungs anzuhimmeln. In jeder Gruppe findest du einen Star wie Ruven, um den sich alles dreht. Genauso einen Clown wie das Package und einen Sündenbock namens Jamaica und nicht zuletzt . . .« Ich sah noch immer sein Lächeln. ». . . gibt es einen Gerechtigkeitsfanatiker und Streber, der immer den Spielverderber spielen muss, so wie du.«

Mike hatte nie Probleme gehabt, mir die Wahrheit ins Gesichtzu sagen. Darin unterschied er sich von unseren Eltern und–auch von mir.Ich blätterte in meinem Tagebuch. Im hinteren Teil bewahrteich Mikes E-Mails auf, die er mir aus Australien geschickt hatte.Ein paar hatte ich sogar eingeklebt. Wie immer, wenn ich ihnbesonders stark vermisste, zog ich eine von ihnen hervor, umsie zu lesen.

Brisbane, MikeNight on January 17th, 2007 Stimmung: Der totale Hype! Zitat des Tages: What you give is what you get!

Hi little Princess, möchte dich ja nicht neidisch machen! Aberwir haben hier 28 Grad! Und ihr das nächste Sturmtief. Woherich das weiß? Schon mal was von www.wetter.com gehört? Dagebe ich einfach Rostock ein und schon weiß ich, was bei euchklimatechnisch los ist: Windgeschwindigkeiten bis 225 km proStunde! Sturmflut über der Ostsee!Habt ihr euch auf den Sturm vorbereitet? Hat euch HendriksKriegsverletzung am Knie rechtzeitig gewarnt? Haben MamsRosen überlebt? Die Bäume im Park standgehalten? StehtGroßvaters Eiche noch? He, ein irres Gefühl, darüber nachzudenken, während ich am Strand in der Sonne liege! Der totaleLuxus: 28 Grad im Schatten!Habe die ganze Woche am Hafen fleißig Kiwis verladen, bis ichnur noch so krumm gehen konnte wie Hendrik. Du müsstestmal die Spinnen sehen, die sich in den Kisten verkriechen! Tomist letztes Jahr von einem besonders giftigen Exemplar gebissen worden. Die sind lebensgefährlich! Seitdem leidet er fürchterlich unter Migräne, die manchmal mehr als zwei Tage anhält. Dann verkriecht er sich in seinem Zimmer und kommt erst wieder heraus, wenn es vorbei ist. Ansonsten ist er ein netter Typ und spricht bereits ganz gut Deutsch. Gott sei Dank, denn das Englisch hier ist völlig anders als unser Schulenglisch. Die Australier kürzen alles ab, sagen sogar Chrissie für Christmas. Übermorgen fahre ich mit Tom zum Osprey Reef. DAS Paradies für Taucher. Stell dir vor, da fällt das Riff bis tausend Meter ab. Ich kann es kaum noch abwarten. Mann, das wäre wirklich voll cool, wenn ich meinem ersten Hai begegnen würde. Tom begleitet mich, aber er hat kein Geld, sich eine Ausrüstung zu leihen. Ich würde ihn zu gerne einladen, aber ehrlich gesagt, bin ich selbst knapp bei Kasse. Ich habe mir nämlich eine Unterwasserkamera gekauft. Du weißt schon: TOPSECRET! Und sonst? Wie geht es der störrischen Jamaica? Oder Ruven & seinen Golden Girls? Nennen sie sich immer noch Ghostrider–und reden immerzu über Charaktere, Lebenspunkte, Energie und diesen Schwachsinn? Eh klar, bei euch auf der anderen Seite der Welt verändert sich nichts. Nur hier bei mir dreht sich die gute alte Erdkugel immer schneller, so aufregend ist das alles. Jedenfalls: Ha ye goin’? Stell dir vor, damit meinen die: How are you? Die spinnen, die Australier! Your brother Mike!

Ich zog das Foto hervor, das Mike mitgeschickt hatte. Tom und er mit Lederhüten. Arm in Arm standen sie am Strand und winkten dem Fotografen zu. Darunter stand »Crocodile Dundee und ich!«. Ich schreckte hoch, als ich die schleppenden Schritte meiner Mutter auf der Treppe hörte. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir:Es war bereits kurz nach sechs. Wenn ich nicht zu spät zum Tanzkurs kommen wollte, musste ich mich beeilen. Ich schlug das Tagebuch zu, versteckte es schnell in der Pyjamahose und schob es zurück unter die Wäsche in der Kommode. Wenige Sekunden später stand Mam in der Tür. »Ich habe dich bereits dreimal gerufen.« »Nichts gehört. Ist Pa schon da?« »Er hat angerufen, es wird später. Er musste dringend zu einem Patienten.« »Und wie komme ich jetzt zum Tanzkurs?« »Tanzkurs?« Meine Mutter kniff müde die Augen zusammen. »Den habe ich total vergessen. Musst du da wirklich heute hin?« »Mam! Heute ist eine der letzten Proben vor dem Abschlussball!« »Dann muss ich dich eben fahren«, sagte sie zögernd. Ich drehte mich wortlos um. Ich hatte es satt, so satt, dieses schlechte Gewissen haben zu müssen. Sicher, sie sah müde und erschöpft aus. Aber, verdammt, zählte ich nicht auch? Der Abschlussball war ein wichtiges Ereignis! Das Event des Jahres! Außerdem – und mein Herz geriet bei diesem Gedanken etwas aus dem Takt – war es meine Chance, Finn zu treffen, mit ihm zu sprechen, mit ihm zu tanzen. Nein, ich konnte wirklich nicht mehr verstehen, dass ich einmal – wie alle Mädchen – für Ruven geschwärmt hatte! Aber wer bitte schön war Ruven im Vergleich zu Finn? Finn Jansen? Ich hatte zwar kaum mit ihm gesprochen, aber da war etwas in seinen Augen, wenn er einen ansah. Er war der erste Junge, bei dem ich von Anfang an das Gefühl hatte, er könne Mike das Wasser reichen.

Die Spieler

Als ich aus dem Gemeindehaus ins Freie trat, glänzte der Nebel, angestrahlt vom Vollmond, in einem unwirklichen silbrigen Licht. Es war unerwartet schön. Doch wurde diese Stimmung schnell zerstört, sobald ein gutes Dutzend Schüler, die meisten aus meinem Jahrgang, laut lachend das Gemeindehaus verließen, um sich auf ihre Fahrräder zu schwingen und nach Hause zu fahren. »Oh Gott, kann mir jemand die Lorentzkraft erklären?«, fragte das Package, der eigentlich Paul hieß. Sein Gesichtsausdruck zeigte den für ihn typischen Ausdruck hilfloser Panik, egal, um welchen Unterrichtsstoff es ging. »Bewegen sich geladene Teilchen, wie zum Beispiel Elektronen . . .«, begann ich seufzend und riss ungeduldig den Reißverschluss meiner Jacke nach oben, der klemmte. »Also wenn sich Elektronen senkrecht zu den magnetischen Feldlinien bewegen, wird . . .« »Feldlinien?«, unterbrach mich Jamaica unbekümmert. Obwohl es dunkel und neblig war, trug sie eine riesige weiße Sonnenbrille von H&M zu ihrer hellgrau schimmernden Jacke aus Synthetik, die sie für ein paar Euro bei eBay erstanden hatte. »Habt ihr kein besseres Thema?« »Und wenn wir morgen in Physik einen Test schreiben?«, fragte ich zurück. »Und wenn nicht?« Die pechschwarzen Kraushaare standen ihr in alle Richtungen vom Kopf ab.

»Oh nein! Bitte kein Test!«, jammerte das Package und fuhr sich mit der Hand durch die blonden Stoppelhaare. »Dunkelmann! Genau der richtige Name! Seit wir bei ihm Physik haben, tappe ich im Dunkeln, wenn es um die Welt geht. Elektronen! Mir doch egal, was die in geladenem Zustand treiben.« »Genau«, stimmte Jamaica ein. »Das ist ihre Privatsache und geht niemanden etwas an!« »Also wirklich, ohne Physik, Mathe oder Chemie würden wir immer noch in einer Tropfsteinhöhle leben und spätestens mit zwanzig sterben.« Ich grinste sie an. »Hey, bleiben uns noch über vier Jahre, in denen wir jede Menge Spaß haben können, ohne dass wir uns mit all dem Zeug abplagen müssen.« Nein, Jamaicas Stimme zeigte keinerlei Anzeichen von Beunruhigung. »Außerdem kannst du mir das sicher morgen schnell in der Pause erklären.« »Schau selbst in dein Buch! Du bist und bleibst der totale Schmarotzer.« Frau Kaluza, unsere Tanzlehrerin, bereits über siebzig, aber fit wie ein Turnschuh, hatte uns durch den Saal gejagt: Blues, Fox, Jive, Cha-Cha-Cha, Rumba, Tango und Walzer. Das ganze Programm! »Außerdem verstehe ich es selbst nicht richtig«, fügte ich hinzu. »Von wegen!« Jamaica knuffte mich in die Seite. »Du schreibst ja doch wieder eine Eins.« »Das könntest du auch, wenn du nicht so faul wärest«, konterte ich. »Hab eben Besseres zu tun.« Und wie um ihre ständig gefährdete Schullaufbahn zu verdrängen, begann sie eine Melodie zu summen und aufreizend dazu zu tanzen. Vielleicht lag es an ihrer Herkunft, aber Jamaica steckte der Tango wirklich im Blut. Sie hielt die Hand eines imaginären Tanzpartners und machte, den Kopf dramatisch zur Seite geneigt, drei fließende Schritte vor und wieder zurück.

»Hey, Package«, rief sie. »Gehst du mit mir zum Abschlussball?« »Um Himmels willen!« Er riss dramatisch die Augen auf. »Meine Zehen sind mir heilig. Außerdem reißen sich die Mädels nur so um mich.« Er grinste, aber ich wusste, dass er trotz aller Albernheiten auf seine Herzensdame Carlotta hoffte, in die er seit der fünften Klasse verliebt war. Er würde auf sie warten, bis er achtzig war, hatte er mir einmal gestanden. »Deine Zehen? Das ist wohl eher umgekehrt«, lachte Jamaica ihn aus. Hinter uns drängten sich die letzten Teilnehmer des Kurses durch die Tür. »Hey, Jamaica, du stehst wie immer im Weg«, hörte ich Ruvens arrogante Stimme. »Geh zurück in die Karibik.« »Halt die Klappe, Ruven«, erwiderte Jamaica und nahm die Sonnenbrille ab. Ihre dunklen Augen blitzten. »Oder ich behaupte vor der ganzen Schule, du hättest mich aufgefordert, mit dir zum Abschlussball zu gehen. Im Mittelalter hätte das bedeutet, dass du mich heiraten musst. Du stehst doch auf diesen ganzen Middle-Age-Scheiß, oder?« »Ja, weil du da noch im Dschungel bei den Affen gelebt hast.« Nun klatschte Jamaica in die Hände und bewegte die Hüften wie bei einem Stammestanz. Ehrlich, ich bezweifelte, ob das Gewackel ihrer Hüften, geschweige denn die Melodie, etwas mit der Musik Jamaicas zu tun hatten, woher – laut der vagen Auskunft ihrer Mutter – Jamaicas Vater stammte. »Oh Gott«, stieß Valerie aus. »Die steht ja total unter Drogen.« »Ihr braucht vielleicht Drogen, damit ihr wenigstens ein bisschen Fantasie in euer Leben bringt«, erwiderte Jamaica spöttisch und zeigte ihre weißen Zähne. »Aber ich nicht. Ich kann mich auch so in einen Tanzflash beamen.« »Hast du eine Ahnung«, erwiderte Ruven und warf Valerie und Carlotta einen verschwörerischen Blick zu. Erwartungsgemäßbrachen die beiden in Kichern aus, während Lisa nervös auf die Tastatur an ihrem Handy drückte. »He«, erklärte Jamaica und schob die Sonnenbrille in ihr Haar. »Ich weiß über euch Bescheid.« Sie musterte Ruven aus zusammengekniffenen Augen, als wüsste sie tatsächlich etwas. Ruven, Valerie und Carlotta hingen ständig zusammen herum. Sie nannten sich die Ghostriders und führten sich schlimmer auf als ein Geheimbund. Die meisten aus unserer Klasse fanden ihr Getue einfach albern. Wir waren schließlich aus dem Alter heraus, in dem man Banden gründet, Mutproben abhält und sich in Geheimsprachen verständigt, wie es bei ihnen üblich war. »Ich glaube, ich muss nach Hause«, jammerte Lisa und strich die blonden Haare aus dem Gesicht. »Ich muss nach Hause«, äffte Jamaica sie nach. »Zu Mama. Zur Frau Bürgermeisterin!« »Jamaica«, sagte ich. »Lass sie in Ruhe.« Mir tat Lisa leid. Sie wurde von allen nur »die dicke Barbie« genannt. Ohne die zehn Kilo Übergewicht wäre sie eine echte Schönheit gewesen. Aber das war es nicht, was mich an ihr störte, sondern wie sie Ruven anhimmelte und Valerie und Carlotta nachrannte, die sie nur verspotteten. »Hast ja recht.« Jamaica nickte mir zu. »Meine Zeit und mein Esprit sind zu wertvoll, um sie an die da zu verschwenden.« Sie machte ihr Fahrrad los, das sie an eine Straßenlaterne angekettet hatte. »He, Sofie, fahren wir ein Stück zusammen?« »Nein, mein Vater holt mich ab«, sagte ich und fügte seufzend hinzu: »Und keine Sorge! Morgen früh erkläre ich dir Physik!« »Wusste ich doch: Du rettest mir das Leben!« Jamaica rieb sich die Hände. »Mann, hast du es gut! Du wirst abgeholt und ich muss bei dieser Kälte noch mit dem Fahrrad fahren.« »Von wegen gut! Seit Mike...«Ich stockte. »Na ja, meine Mutter macht sich eben Sorgen.«

»Sie glaubt immer noch, Mike kommt zurück, oder?«, fragte Jamaica leise. Jeder Spott war aus ihrer Stimme verschwunden. Ich zuckte mit den Schultern. Es war kein Thema, das ich gerne besprach, wenn die anderen dabei waren. »Oh, er wird von den Toten auferstehen«, hörte ich Ruvens übertrieben säuselnde Stimme. »Er wird aus dem Wasser steigen und zurückkehren.« Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen, als er jetzt eiskalt fortfuhr: »Mann, kapierst du es nicht? Den hat längst der weiße Hai gefressen.« Für einen Moment herrschte erschrockenes Schweigen. Carlotta schaute mich verlegen an. Ihr Blick schien mich um Verzeihung zu bitten, doch ich drehte mich weg. »Halt die Klappe, Ruven!«, erklang in diesem Augenblick eine entschiedene Stimme hinter uns. Im Licht der Straßenlampe stand Finn Jansen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Ach ja?«, fragte Ruven. »Wieso?« Finn trat auf seinen Roller zu und löste seelenruhig das Schloss. Schließlich richtete er sich auf und grinste. »Weil du dich gerade zum Affen machst. Ich kapier nicht, wie du tatsächlich die Weiße-Hai-Nummer bringen kannst. Der Film ist uralt! Von 1975! Mann, das ist über dreißig Jahre her! Heute weiß jeder Erstklässler, dass Haie feige Biester sind!« »Was hat das damit zu tun, ob Sofies Bruder...«Eswar das erste Mal, dass ich erlebte, wie jemand Ruven völlig aus dem Konzept brachte. »Nichts.« Finn verzog keine Miene. »Ach!«, winkte Ruven betont gleichgültig ab. »Lasst uns gehen.« Valerie kicherte, als stände sie unter Drogen. »Aber Carlotta, wir sollten doch zusammen nach Hause gehen.