DAS THEODIZEE-PROBLEM - Ron Müller - E-Book

DAS THEODIZEE-PROBLEM E-Book

Ron Müller

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Beschreibung

Es war das Jahr 2023. Ein Atomschlag hatte die Strahlenbelastung in Europa dauerhaft auf einen Wert ansteigen lassen, dem das menschliche Erbgut nichts entgegenzusetzen wusste. Jetzt, zwei Jahrzehnte später, bleibt nur noch ein Ausweg – ein Vorhaben, das sechsundsiebzigtausend Menschen retten kann. Sechsundsiebzigtausend von achtzehn Millionen! Allerdings gibt es einen Zweifler. Und wenn dieser recht behält, wird nicht ein Einziger überleben.

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Ron Müller

Das Theodizee-Problem

AndroSF 125

Ron Müller

DAS THEODIZEE-PROBLEM

AndroSF 125

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: April 2021, Neuausgabe mit alternativem Umschlag

p.machinery Michael Haitel

Titelbildmotiv: Timofeew Vladimir, Shutterstock

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 221 8

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 875 3

1

Die Chefin des Kanzleramtes zog den Anhänger ihrer Kette aus dem Ausschnitt und küsste ihn. Ohne die Lippen vom silbernen Kreuz zu lösen, schloss sie die Augen.

Heute wird beginnen, was du uns aufgetragen hast. Schon einmal war deine Strafe verheerend, vor viereinhalbtausend Jahren. Doch diesmal ist es kein Wasser, keine Sintflut. Zu viele von uns haben die Warnungen noch immer nicht verstanden. Und das werden sie auch nicht! Deswegen strafst du sie mit Krankheit und Tod und lässt die Gläubigen nun Archen bauen – aber nur die, die reinen Gewissens sind. Und sie werden gewaltig sein, diese Archen. Lass uns unter Beweis stellen, dass wir würdig für einen neuen Bund mit dir sind – denn Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme.

Sie ließ das Kreuz ihrer Kette zurück in den Ausschnitt gleiten. Es hatte geklopft.

Ein Mann in Uniform deutete einen militärischen Gruß an und wartete darauf, dass die Chefin des Kanzleramtes vom Schreibtisch aufblickte.

»Ist alles in die Wege geleitet?«, fragte sie den Leiter des Sicherheitsdienstes und ließ ihre Unterlagen keinen Moment aus den Augen.

»So wie Sie es wollten«, erwiderte Roth.

Wäre er noch bei der Truppe und nicht ins Kanzleramt abkommandiert worden, hätte er seinen Antworten ein »Frau Staatssekretärin« anhängen müssen. Unter Politikern und hochrangigen Beamten jedoch war es üblich, diese Phrasen zu vermeiden.

»Wo haben Sie sie hingelegt?« Die Staatssekretärin sah zu ihm auf.

»In das Fach im Rednerpult.«

»Sie wissen, dass wir damit Geschichte schreiben?«

Er nickte, obwohl er keine Vorstellung davon hatte, was das tatsächlich hieß.

Sie erhob sich. »Dann fehlt wohl nur noch die, die durchs Programm führt.«

Sie strich ihr steif wirkendes Kostüm glatt, verließ das Büro und schritt auf den Saal zu, vor dem einige von Roths Männern bereitstanden.

»Viel Glück«, kam es ihm über die Lippen.

Nur für den Bruchteil einer Sekunde war in ihm eine Emotion hochgeschlagen, als er sich der Endgültigkeit dessen bewusst wurde, was der Staatssekretärin bevorstand.

Kaum war die Floskel ausgesprochen, fluchte er innerlich. Seitdem er für die engste Vertraute des Kanzlers arbeitete, bestach er durch Sachlichkeit und Äußerungen, die er auf das erforderliche Mindestmaß reduzierte.

»Glück sagen Sie? Das Glück ist mit den Dummen, Roth. Mit den Dummen! Was wir brauchen, sind Resultate. Und zwar so nötig wie nie zuvor, sonst hat das alles hier bald keinen Bestand mehr.«

Mit einer Arroganz, die den Leutnant, der Anfang dreißig war, beeindruckte, schritt sie auf einen der drei Eingänge des Sitzungssaals zu.

»Es beginnt, meine Herren!«, rief sie durch die Vorhalle.

Roth wartete, bis man die schweren und an die vier Meter hohen Türen hinter ihr verschloss und die Blicke seiner Männer auf ihn gerichtet waren.

»Verriegeln!«

Kaum hatte er den Befehl gegeben, wurden Ketten durch die Griffe der Flügeltüren gezogen. Sekunden später rasteten Vorhängeschlösser ein und er ordnete die Räumung des Kanzleramtes an.

2

»Denkst du, mich interessiert, was du sagst?«, brüllte Zoe über den Flur. »DU KOTZT MICH EINFACH NUR AN!«

Das Mädchen schmiss die Tür zu ihrem Zimmer mit aller Wucht zu und ließ einen Vater zurück, dessen Ratlosigkeit ein erschütterndes Ausmaß annahm.

»Kannst du aufhören, deine Mutter Tag für Tag in den Himmel zu heben? Als du noch bei ihr gewohnt hast, war auch nicht alles toll. Aber so was wird von dir ja komplett verdrängt. Hör auf, ihr ständig einen Heiligenschein aufzusetzen!«

Zornig schwollen der Pubertierenden die Adern am Hals an, während sie die Tür wieder aufriss und die Antwort durch die Wohnung schrie.

»WER VON UNS BEIDEN HAT DENN DIE MUTTER VERLOREN?«

Jetzt ist Schluss!, durchfuhr es Marten.

Am liebsten hätte er ihr eine runtergehauen. Es juckte regelrecht in seinen Fingern, sobald sie mit diesem Totschlagargument kam. Doch auch wenn er ihr nun unmissverständlich klarmachte, dass er sich gleich vergessen würde, brächte sie das nicht zum Schweigen. Er würde sie damit nur weiter provozieren und immer lauter werden lassen. Er hatte sich in seiner Wut sogar schon einmal ihr damals brandneues Clearphone gegriffen, ein komplett transparentes Handy, das einen ähnlich hohen Marktanteil hatte, wie das iPhone vor dreißig Jahren. Während er das gläserne Gerät in den Händen hielt, registrierten Sensoren die Pulsfrequenz an seinen Fingerkuppen. Angesichts der Schlagzahl schaltete es in den Notfallmodus. Ein Befehl von ihm, und der Leitstelle wären sein Standort, die aktuellen Vitaldaten und alle Vorerkrankungen übermittelt worden. Wer in diesem Erregungszustand ein Handy berührte, musste sich – den Logarithmen sämtlicher Smartphoneanbieter zufolge – mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Notsituation befinden. Aber Marten war nicht in Not, als er mit Zoe damals gestritten hatte. Er war stinksauer, weil seine Tochter seit zwei Jahren jegliche Streitkultur vermissen ließ und bei diesem Thema immer nur mit Melodramatik und einer Vielzahl an übelsten Beschimpfungen unterwegs war. Das änderte sich nicht einmal, als er das Gerät mit einem kurzen Befehl für vierundzwanzig Stunden gesperrt hatte – selbst diese drastische Maßnahme ließ die Pubertierende nicht verstummen. Auch nicht als er auf achtundvierzig und dann auf zweiundsiebzig Stunden erhöhte. Zoe war bei einem Streit durch nichts zu bremsen.

So wie heute.

»Ich setze Mama also einen Heiligenschein auf, ja?« Sie war noch nicht fertig. »Hast du eine Vorstellung, wie es ist, wenn der Sarg deiner Mutter in die beschissen kalte Erde runtergelassen wird?«

»Geht es auch weniger theatralisch.« Marten verdrehte die Augen. »Wie oft willst du noch damit kommen? Jedes Mal, sobald dir etwas gegen Strich geht?«

»Hätte ich an deiner Stelle jemanden wie Mutter kennengelernt, dann hätte ich sie auf Händen getragen. DU EKELHAFT SELBSTGEFÄLLIGER ARSCH!«, brüllte Zoe. »Warum bist du denn seit ihrem Tod allein? Denk mal drüber nach, Mann. Vielleicht liegt’s ja an dir.«

»ZOE!« Martens Blut kochte. »Warum hattest du bei deiner Mutter so ein gutes Leben? Weil ich es jahrelang finanzierte.«

»Mit Geld kannst du mich also kaufen?«

Halt die Klappe, sonst scheuer ich dir heute tatsächlich eine!

»ES IST SO ZUM KOTZEN HIER!«

Schallend flog die Tür zu, während Zoe sich innerlich schwor, nie wieder mit ihrem Vater ein Wort zu wechseln.

SO … WAS … GIBT’S … DOCH … GAR … NICHT!

Mit jeder Silbe schlug er wieder und wieder auf den Türrahmen ein, bis ein kleiner blutiger Abdruck zurückblieb.

»Deine Mutter hat dich wirklich super erzogen«, fluchte Marten vor sich hin.

»BEI MAMA HATTE ICH WENIGSTENS EIN LEBEN!«, feuerte sie durch die geschlossene Tür zurück. Ihre Stimme hatte längst den Normalbereich verlassen und überschlug sich.

»Ach, dann leck mich doch«, resignierte Marten. »Ich bin doch hier nicht immer der Arsch!«

Leck mich? Hab ich das tatsächlich eben zu meiner Tochter gesagt, fluchte er. Früher hatte ich mich besser im Griff. Aber da glaubte ich auch noch, dass ich das mit Zoe hinbekomme.

Niedergeschlagen ging er in die Küche und drückte auf den Knopf des Wasserkochers.

Es war lange her, dass eine Nachricht auf der Mailbox sein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte und er mit einem Mal nicht mehr allein wohnte.

»Du … ich«, hörte er damals die dünne Stimme von Zoes Mutter, »ich bin aus dem System gefallen.«

Sie hatte mit der Fassung gerungen und es hatte nicht viel gefehlt, dass sie zusammengebrochen wäre.

»Du musst das mit Zoe … du musst das übernehmen. Ich war lange genug für sie da. Die Hintergründe kann ich nicht erklären. Hol ihre Sachen ab. Die Zahlenkombination an der Wohnung ist ihr Geburtstag. Zoe ist heute und morgen bei einer Freundin. Ich lasse sie von da direkt zu dir bringen. Leb wohl!«

Dann hörte er das Unterbrechen der Leitung und die Stimme der Mailbox fragte, ob er die Nachricht löschen wollte.

Noch am gleichen Abend hatte er sein Schlafzimmer geräumt und so umgestaltet, dass es der damals Elfjährigen zusagen konnte.

Das war nun zwei Jahre her und er hatte seitdem von seiner Ex-Frau nichts mehr gehört.

Marten goss das siedende Wasser in eine Tasse. Als sich das Pulver darin gelöst hatte, zog Kaffeegeruch durch die Küche. Er hatte keine Vorstellung mehr davon, wie echter Kaffee roch. Nach der Katastrophe vor über zwei Jahrzehnten war von den früheren Agrarflächen nur ein Bruchteil übrig geblieben, den man dekontaminieren und durch Treibhäuser vor der Strahlung schützen konnte. Niemand kam in den Folgejahren auf die Idee, dort Genussmittel anzubauen – zu problematisch war es allein schon auf den begrenzten Flächen ausreichende Erträge an genverändertem Getreide, Obst und Gemüse zu erwirtschaften. Wer Kaffee oder Tabak wollte, musste auf Altbestände zurückgreifen, die vor der Katastrophe produziert worden waren – unbezahlbar für den Großteil der Bevölkerung. Alternativ gab es noch synthetisch hergestellte Substitute, wie das braune mit Koffein versetzte Pulver, dessen Geschmack und Geruch man im Labor an das Original angenähert hatte.

Marten wartete in der Küche. Es war Viertel vor acht. In den nächsten Minuten würde Zoe durch den Flur Richtung Schule rauschen und das Frühstück ignorieren, das er für sie gemacht hatte. Es würde ihr egal sein, dass ihr Vater überhaupt keine Nerven für diese Auseinandersetzungen hatte. Eigentlich sollte er längst an einem Vortrag arbeiten. Gewöhnlich hielt er ihn vor bis zu zwanzig Personen. Am heutigen Abend würden es achthundert sein.

»Ich hasse ihn! Ich hasse ihn wirklich!«, fluchte Zoe leise vor sich hin.

Sie stellte auf der Armbanduhr fünfundvierzig Minuten ein und stampfte auf kürzestem Weg aus dem Haus, um dem Verursacher ihres Ärgers kein weiteres Mal unter die Augen treten zu müssen.

Der Weg war überschaubar. Ein glücklicher Umstand, da es inzwischen nur noch eine Schule in der sechzigtausend Einwohner zählenden Stadt gab. Manche in der Klasse kamen von so weit her, dass sie jeden Morgen eine halbe Stunde Weg vor sich hatten. Eine Belastung, bei der die Partikelfilter, die den radioaktiven Feinstaub von den Lungen fernhalten sollten, an ihre Grenzen stießen. Die Filterkartuschen wurden auf eine Halbmaske geschraubt, die Nase, Kinn und Mund umschlossen. Vom Gesicht sah man damit nicht mehr als Augen und Stirn.

Zoe war selbst das noch zu viel.

»Am besten wäre so eine alte Maske aus den Weltkriegen«, hatte sie einmal zu ihrem Vater gesagt, als sie im Winter vor vier Jahren mitten in der Nacht zum Flughafen aufgebrochen waren und der Wagen warmlief. Kurz darauf ließ ein Gesetz nur noch Fahrzeuge mit Brennstoffzellen auf die Straße – eine Regelung, die Autos für die meisten Familien unerschwinglich machte. »Weißt du, was ich meine? So ein Gummiding, bei dem bis auf die Augen das komplette Gesicht verdeckt ist.«

Marten hatte damals eine Vorstellung davon gehabt, was seine Tochter gemeint hatte, die mit dem Finger auf der beschlagenen Beifahrerscheibe etwas zu zeichnen versuchte.

»Damit man nicht mehr sieht, wie alt der darunter ist«, sagte sie mit einer Mischung aus Verbitterung und Traurigkeit.

»Ich hasse es so, in die Augen der ganzen Erwachsenen zu sehen, sobald sie mitbekommen, wie jung ich bin. Diese neidischen Blödmänner!«

Das Bild auf der Scheibe nahm Formen an, bevor die Klimaanlage es trocknete: eine Faust mit ausgestrecktem Mittelfinger, zerrissen von Kondenswasserrinnsalen.

»Was soll ich sagen, Zoe?«, hatte Marten geantwortet. »Komme mal als Erwachsener mit der Diagnose klar, dass du nie Kinder haben wirst. Und die hat inzwischen fast jeder. Das ist schwer zu verkraften.«

Das ist mir doch kackegal, Mann! Versuchst du überhaupt manchmal, mich zu verstehen?!, hatte sie ihn in Gedanken angefaucht.

Sie hatte damals nicht vorgehabt, ihm zu antworten. Das Gespräch war mit dem Schwachsinn, den er von sich gegeben hatte, für sie beendet.

Zoe war zu diesem Zeitpunkt bereits das einzige Kind in ihrer Straße. Im Sommer zuvor gab es noch ein zweites, doch das erlag Monate später einem Lungenkarzinom. Seitdem hatte es keine Lebendgeburt mehr gegeben – auf einer Strecke von zwölfhundert Metern mit über hundertsechzig Hausnummern und an die siebenhundert Menschen.

Zoe trat vom Grundstück hinaus auf die Straße und zog die Kapuze des Capes tief ins Gesicht. Sie schluckte den Ärger des morgendlichen Streits mit ihrem Vater hinunter und spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Das passierte an jedem Tag, an dem sie zur Schule musste, denn sie wusste genau, was sie auf dem Weg dorthin erwartete.

Die alte Frau aus dem Nachbarhaus stand hinter der Gardine und schien noch immer nicht begriffen zu haben, dass man ihr Geglotze von draußen sah – unabhängig davon, ob sie das Licht im Zimmer ein- oder ausgeschaltet hatte. Zoe riss den Arm zornig in Richtung der Alten und verzog ihr Gesicht zu einer wütenden Fratze.

Erschrocken wich die Frau zurück.

Zoe ging weiter, wohlwissentlich, dass gleich auf der anderen Straßenseite die Tür geöffnet würde.

Der Typ, der das heruntergekommene Haus allein bewohnte, sollte wie immer ohne Cape, nur in dreckigen, schlabberigen Klamotten vor bis an den Zaun gehen, Zoe zulächeln, den Müll in die Tonne werfen und erst wieder hineingehen, wenn sie außer Sicht wäre. Natürlich sah sie dessen Gesicht unter der Maske nicht, aber so, wie sich die Augen verzogen, konnte es nur ein widerliches Lächeln sein, das er ihr allmorgendlich entgegenbrachte. Der Mann ekelte Zoe an.

»Mann, verpiss dich, du pädophiles Schwein!«, schrie sie über die Straße und verscheuchte ihn, als er, wie erwartet, die Haustür öffnen wollte.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, zog sie das Tempo an, um ihrem Ziel näherzukommen.

Der Rest der Anwohner war unauffällig und selten zu sehen. Es gingen ohnehin nur noch die ins Freie, die keine andere Möglichkeit hatten. Abgesehen von dem Personenkreis, bei dem es egal war, weil die tödliche Diagnose bereits feststand.

Ihnen allen war eines gemein: die Art, Zoe anzusehen – vorwurfsvoll und anschuldigend zugleich.

Man konnte dafür Verständnis aufbringen, sobald man eine gewisse Reife hatte. Doch für einen Teenager war es unerträglich. Blicke dieser Art erdrückten.

Ist es zu viel verlangt, dass du etwas demütiger bist, du undankbares Miststück? Du wirst leben, obwohl du in deinem Alter noch nichts geleistet hast, schien ihr eine abgerissen wirkende Sechzigjährige entgegenzuschreien, die sich Zoe auf dem Gehweg näherte. Doch aus dem Mund der Frau war kein Ton gekommen. Nur das Fehlen ihrer Haare sprach Bände.

Zoe war froh, dass ihr Schulweg nur dreihundert Meter betrug. Weitere solche Begegnungen verkraftete sie heute nicht.

Nur noch die Straße runter, einmal abbiegen und …

»Ach Kacke!«

Als sie um die Ecke kam, stand ein Bus vor der Einfahrt.

Der Geschichtsausflug.

Geschichte fand Zoe grundsätzlich gut. Nur die Jungen aus ihrer Klasse nervten und machten aus jedem Ausflug eine Katastrophe.

Bei der Klassenfahrt im Frühjahr hatten die vier Halbwüchsigen beispielsweise festgelegt, wer welches der drei Mädchen bekäme, auch wenn das völlig aussichtslos war. Es wurden sogar Wetten abgeschlossen, wer es wohl schaffen würde, seines zu küssen.

Die Tatsache, dass es in der Klasse rein rechnerisch nicht für jeden Jungen ein Mädchen gab, sorgte dabei regelmäßig dafür, dass solche Spiele mit Ärger endeten. So hatte Zoe während der Klassenfahrt kaum eine halbe Stunde gehabt, ohne von einem der Halbstarken belagert zu werden oder eine ihrer unreifen Streitereien zu ertragen.

Sie ahnte, dass sich der heutige Tag ähnlich entwickeln würde.

Und tatsächlich liefen die Jungen zu Höchstform auf und belästigten sie auf der Hinfahrt – abgesehen von Liam, der seit zwei Wochen ungewohnt still war.

Genauso genervt wie von ihrem Vater war Zoe acht Minuten später die Erste, die dem Bus und damit den unsäglichen Annäherungsversuchen der Halbgewalkten entfloh und sich lieber der Strahlung als deren billigen Sprüchen aussetzte.

Jetzt habe ich tagsüber diese Hirnis zu ertragen und zu Hause den Arsch. Zu Hause? Das ist es ja nicht einmal. Mein Zuhause war bei Mama!

»ZOE, WO IST DEIN CAPE?«, brüllte ihr der Lehrer hinterher.

Zoe war zu entnervt, als dass die Ermahnung etwas bewirken konnte. Lediglich die anderen sechs gehorchten und streiften teils widerwillig transparente Wegwerfumhänge über, die den Staub von Kleidung und Haaren fernhalten sollten. Von Erwachsenen eine konsequent genutzte Schutzvorkehrung. Bei Pubertierenden in der täglichen Anwendung regelmäßig schwierig.

»Wir finden uns im Foyer zusammen«, drang vor dem Bus eine verärgerte Stimme durch das allgemeine Gemurmel und Gelächter. Der Lehrer hatte sich für den Ausflug legerer als sonst gekleidet und wollte den Tag etwas zurückhaltender angehen – was er nun mit lautstarken Ansagen korrigierte.

»Hört mir jetzt mal zu«, begann er gereizt, als der Letzte es endlich in den Vorraum des Landesmuseums geschafft hatte. »Meine Herren, geht es auch mal ohne Gequatsche?!«

»Ungern«, kam es aus der zweiten Reihe.

»Zuhören! Ich will bei einem Ausflug nie wieder jemanden ungeschützt draußen rumlaufen sehen. Und auf dem Rückweg lasst ihr das Herumgequatsche. Ihr habt am Tag nur eine dreiviertel Stunde im Freien. Da können wir nicht fünf Minuten mit dem Weg vom Bus bis hierher verplempern. Ist das bei jedem angekommen? Und falls manche unter euch schwer von Begriff sind: Ich habe noch zwei Vorträge zu vergeben. Einen über Geschlechtskrankheiten und einen über Sexualität im Alter. Der Nächste, der mir Anlass dazu gibt, bekommt einen.«

Der Lehrer hatte tief in die Trickkiste gegriffen. Es gab keine solchen Unterrichtsthemen geschweige denn entsprechende Vorträge. Aber Drohungen dieser Größenordnung funktionierten, wenn man sie nicht zu oft einsetzte.

»So, und jetzt für alle. Das waren insgesamt dreizehn Minuten für den Hinweg.«

Jeder der Jugendlichen zog sein Smartphone aus der Jackentasche oder gab an der Armbanduhr den angesagten Wert ein. Zoe verblieben für den Tag noch achtundzwanzig Minuten. Liams Uhr zeigte weniger als fünf an.

»Ich weiß, dass es manchem schwerfallen wird, aber ich erwarte während des Rundgangs ein Mindestmaß an Respekt. Das Thema haben wir lang und breit behandelt. Dennoch glaube ich, dass dieser Ausflug wichtig ist, damit ihr euch des Ausmaßes der Zerstörung durch die Anschläge von 2022/2023 bewusst werdet. Die Opferzahlen sind weit höher als die des Zweiten Weltkrieges. Und das, obwohl nur einige Hundert Leute das Ganze geplant und umgesetzt haben. Es brauchte nicht einmal eine Armee, und das bei einer Katastrophe, die selbst jetzt noch jedes Leben bestimmt. Das muss man sich vor Augen halten! Also, verhaltet euch entsprechend. Vor allem du, Florian.«

Der Angesprochene verstummte. Er wollte keinen der beiden Vorträge bekommen. Das waren seine Kaspereien nicht wert.

»Na dann, lasst uns in den Bereich der sogenannten Voranschläge gehen.«

Die Klasse betrat die erste Halle und verteilte sich dort bemerkenswert ruhig. Der Raum wurde nur minimal erhellt und gab allein durch die Dunkelheit einen Teil der bedrückenden Stimmung an die Jugendlichen ab. Nur wenige Strahler lenkten den Fokus der Besucher auf die Seitenwände.

»Wir sehen hier die erste Anschlagswelle vom Sommer 2022. Sie ist von den Dimensionen und der Art der Ausführung her mit dem Angriff auf das World Trade Center im Jahr 2001 zu vergleichen. Es waren die letzten Attentate der Terrorgruppe ATG, bei denen Flugzeuge zum Einsatz kamen. Die Organisation hatte afrikanische Wurzeln und richtete sich nicht nur gegen die gesamte westliche Welt, sondern gegen jegliche Nationen nichtafrikanischen Ursprungs.«

Eine Hand wurde zaghaft gehoben.

»Ja, Sveda?!«

»Was heißt ATG?«

»In der Originalsprache ist es ein Zungenbrecher, aber übersetzt bedeutet es afrikanische Wiedergeburt. Gibt es weitere Unklarheiten?«

»Warum hatte die Gruppe einen so großen Hass auf alle?«

»Gute Frage! Die Situation auf dem Kontinent war damals ähnlich katastrophal wie heute. Eine HIV-Quote von neunzig Prozent und noch andere nicht enden wollende Epidemiewellen, denen die Bevölkerung ausgeliefert war. Der Niedergang Afrikas zeichnete sich schon zu dieser Zeit ab, und die gesamte restliche Welt sah tatenlos zu. Hier seht ihr einige Dokumente aus dem Umfeld der Terroristen.«

Der Klassenlehrer wies auf eine Vitrine mit Briefen und Bekennerschreiben, die die Schüler kaum beachteten – alle blickten auf die großflächigen Projektionen an den Wänden. Niemandem fiel dabei die veraltete Technik aus den Zweitausendzwanzigerjahren auf, bei der Monitorfolien einen Teil der Terroristenwerkstatt darstellten. Erst an der Stirnseite der Museumshalle ging man mit der Zeit und überließ Lasern die bildgebenden Verfahren. Das Licht jedes Lasers war grundsätzlich unsichtbar. Doch dort, wo sich die Signale zweier Laserstrahlen im Raum trafen, erzeugten sie ein eindrucksvolles Bild, das an Farbtiefe und 3-D-Authentizität nicht zu übertreffen war. Es brauchte dadurch keine Projektionsfläche. Ein Abbild der Werkbank, auf der die Terroristen die Munition ihrer Handfeuerwaffen fertigten, konnte so mitten in der Halle platziert werden.

»Wie bereits angesprochen, wurden die Anschläge nach dem Vorbild des elften September geplant, was letztlich dazu führte, dass heute in sämtlichen Flugobjekten Freigabeboxen installiert sind, die einen Start erst dann ermöglichen, nachdem die Luftraumkontrollbehörden den Flug zugelassen haben. Ohne diese technischen Schutzmaßnahmen konnten im Sommer vor zweiundzwanzig Jahren innerhalb von einigen Stunden an elf Standorten in Europa, Asien und Amerika Sportmaschinen trotz fehlender Flugerlaubnis abheben. Bis unters Dach mit Sprengstoff gefüllt und in einem Fall sogar mit einer Bombe an Bord stürzten sie in nahe gelegene Großveranstaltungen. In Kundgebungen, Konzerte und Sportereignisse. Seitdem gab es auch das gesetzliche Verbot aller Speichermedien. Damit blieben nur noch zentrale, staatliche Clouds, um es Attentätern möglichst schwer zu machen, etwas Vergleichbares ein weiteres Mal zu planen. Das hier ist das erste Ziel gewesen: Strahov Stadion. Prag. Achtzehntausend Opfer.«

Er wies auf ein Video mit einer gigantischen Sportstätte, auf dem die Hälfte der Tribünen ausgebrannt war. Aber der Lehrer verweilte nicht lange bei der Aufzeichnung vom ersten Anschlagsort.

»Der Karnevalsumzug in Buenos Aires. Über einunddreißigtausend Tote.«

Das Bild brannte sich noch tiefer in die Köpfe der Jugendlichen.

»Und hier das Neyland Stadium. Knoxville. Ein Konzert. Achtzigtausend Besucher. Achtzigtausend Opfer. Das Perfide an diesem Anschlag: Die Maschine enthielt eine vereinfachte Version einer Kobaltbombe. Etwas bis dato nicht Dagewesenes, bei dem im Umkreis von einem Kilometer niemand überlebte. Wie ihr seht, sind die Gebäude aber erstaunlicherweise weitestgehend intakt.«

Von den Jugendlichen war keinem mehr nach den Witzen zumute, die es bei der Hinfahrt noch reichlich gegeben hatte.

Jeder kannte die Ereignisse von 2022/2023 und auch jeder Einzelne trug Tag für Tag die Konsequenzen. Dennoch stellte die allgegenwärtige Verstrahlung für die Schüler die Normalität dar. Für sie gab es keine Erinnerung an die Zeit davor. Die Geschehnisse lagen dafür einfach zu weit in der Vergangenheit.

Genau aus diesem Grund brauchte es für die Klasse diese eindringlichen Bilder, damit sie das wahre Ausmaß dessen begreifen konnte, was vor mehr als zwei Jahrzehnten passiert war.

»Ich gebe euch einige Minuten, dann treffen wir uns in der zweiten Halle, denn das war – wie jedem bekannt sein sollte – erst der Anfang.«

3

Erregt, als würde ihr Herz mit doppelter Geschwindigkeit schlagen, stand die Staatssekretärin am Eingang des Sitzungssaals und hörte dumpf, wie die Zugänge von außen mit Ketten verschlossen wurden.

Oh mein Gott, dachte sie, als sie ein Glühen durchströmte, das sie in Gänze ausfüllte – eines, das ihren Körper schwebend leicht werden ließ. Mit einem Lächeln nahm sie zur Kenntnis, dass die Dosis zu hoch war. Manchmal gierte sie derart nach dem grauen Pulver, das sie sich bei der Länge der Line vertat und so fast die doppelte Menge in die Nase zog. Den darauf folgenden Kick gab es nie direkt, sondern immer erst einige Minuten später.

So lebendig wie jetzt habe ich mich noch nie gefühlt! Verflucht … das gibt’s doch gar nicht!

Ein balkonähnlicher Rang überdachte die Saaleingänge. Als Vizehausherrin des Kanzleramtes hatte sie dafür gesorgt, dass an diesem Tag oben niemand saß.

Vor ihr befanden sich mehr als ein Dutzend Sitzreihen. Mit etwas Gefälle zogen sie sich in immer kleiner werdenden Halbkreisen nach unten und umschlossen von drei Seiten ein Podest im Zentrum des Raumes. Darauf stand deutlich erhöht ein Pult.

Wählte man einen Platz mittig im Saal, saß man auf Augenhöhe mit dem Redner. Gab es jedoch lediglich ein überschaubares Publikum, für das die vorderen Sitzreihen reichten, sah es anders aus. Dann erhob sich jeder, der das Pult bestieg, in nahezu arroganter Art über die Zuhörerschaft.

Wie an diesem Tag, an dem die Staatssekretärin in wenigen Augenblicken auf dreißig Personen in den ersten zwei Reihen herabschauen sollte. Ihr Blickwinkel auf das Plenum würde kein wichtiges Detail der Rede sein, die sie vorbereitet hatte – aber ein angenehmes, angesichts der Überheblichkeit, mit der die meisten der Anwesenden ihre Ämter bekleideten.

»Satt und fett hockt ihr da, ihr Maden. Garantiert hat jeder von euch seit gestern mindestens eine halbe Stunde in der Reinigung zugebracht. Man muss sich ja pflegen, auch wenn man zu nichts taugt«, fluchte sie mit gedämpfter Stimme.

Sie kam langsam den Gang herunter und verhinderte nicht, dass Abscheu ihre Gesichtszüge bestimmte.

Alle, die vor ihr saßen, nutzten ihr Vorrecht auf Dekontamination und ließen keine zwei Tage vergehen, um in einer Reinigung das Blutplasma mit einem Gemisch aus Bentonit-Zeolith-Partikeln anreichern zu lassen. Eine Prozedur, die neben den Privilegierten nur ein geringer Teil der Bevölkerung finanzieren konnte. Die Mineralien wurden dabei mithilfe einer Infusion in den Blutkreislauf eingebracht und verteilten sich dort in kürzester Zeit. Neunzig Sekunden später waren sie bereits einmal durch das komplette System der insgesamt hunderttausend Kilometer langen Blutgefäße eines Körpers gespült geworden. Den Weg nahm das Mittel zwölf bis fünfzehn Mal und absorbierte auf diese Weise den Großteil der radioaktiven Strahlung selbst in den entlegensten Winkeln. Anschließend entledigte man sich des im Plasma befindlichen Gemisches mittels Blutwäsche. Durch eine Kanüle in der Armbeuge floss das Blut in eine Zentrifuge, gab das Plasma ab und gelangte zusammen mit einer Jod-Kochsalzlösung durch den anderen Arm wieder in den Körper. Ein System, mit dem sogar mittelgradig kontaminierte Personen binnen Wochen ihre Strahlungswerte in den gesundheitlich unbedenklichen Bereich senkten.

»Meine Damen und Herren, in Ihren Köpfen wird die Frage kreisen, warum Sie jegliche Termine zugunsten dieses Treffens streichen mussten und weshalb der Kanzler nicht einmal auf Krankheitsfälle Rücksicht nehmen konnte. Was kann so wichtig sein, dass selbst ein Krankenschein keine Bedeutung mehr hat?«, fragte sie laut in den Saal und rieb sich das Kinn, kurz bevor sie das Mikrofon des Rednerpults erreichte. Den Zuhörerkreis in Augenschein nehmend zog sie ihre Brille aus der Innentasche des Kostüms.

»Zum einen teile ich Ihnen mit, dass der Kanzler heute nicht vor Ort ist und mir diese Besprechung übertragen hat. Sehen Sie mich damit kanzlergleich!«

Ihre Stimme senkte sich.

»Zum anderen …« Die Staatssekretärin kämpfte mit zusammengekniffenen Augen gegen einen erneuten Drogenschub an. Für Sekunden drohten ihr die Beine wegzusacken. Überrascht von der Intensität krallte sie sich an das Rednerpult und warte, bis der Höhenflug vorbei war.

»Zum anderen …«, ihr Gesicht entkrampfte sich wieder, »… müssen wir uns mit einem Problem auseinandersetzen, das man als undichte Stelle bezeichnen sollte.«

Die Staatssekretärin strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und setzte ihre Brille auf. Sie wusste, dass es für die Anwesenden keinen Unterschied machte, ob sie oder der Regierungschef zu ihnen sprach. Sie wurde nicht grundlos als graue Eminenz bezeichnet, die spätestens seit dieser Legislaturperiode als unantastbar galt. Sie stand in so engem Verhältnis zum Kanzler, dass jeder Auftrag von ihr wie eine Anordnung des Regierungschefs gewertet wurde. Das bezweifelten selbst Minister nicht, deren Gehaltsbezüge noch über denen der Chefin des Kanzleramtes lagen.

»Das Gute ist, ich habe gleich einen Lösungsvorschlag parat, aber ich will nur ungern vorgreifen. Kommen wir zurück zu unserem Problem.«

In den Reihen wurde es unruhig.

»Ich und vor allem der Kanzler sehen in einer Regierung die Chance, das zu tun, was für die Bürgerinnen und Bürger generationsübergreifend das Beste ist. Das schließt auch Entscheidungen mit ein, deren positives Ergebnis sich der Bevölkerung heute noch nicht erschließt – wenn Sie wissen, was ich meine.«

Während sie sprach, ertastete sie im Fach unter dem Pult das, was Roth für sie bereitgelegt hatte. Sie umschloss es mit den Fingern, zog es hervor, zielte und schoss dem Innenminister eine Kugel in den Schädel.

Krampfend rutschte er vom Sitz.

»Du bist meine Zuversicht, Herr. Du bist mein Gott, meine Hoffnung!«, drang ihre Stimme durch den Raum.

Sie war überrascht. In ihrer Hand fühlte sich die Wucht des Rückschlages so wie jeder andere Schuss dieses Waffenmodells an. Nur mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer und den dadurch reduzierten Geräuschen kam er ihr nicht echt vor. Kein ohrenbetäubender Knall – lediglich der synthetisch klingende Rest davon. Das schleifende Klicken der Mechanik, die nicht wahrzunehmende Pause während des Fluges des Geschosses und das kurze Krachen beim Einschlag in das Opfer.

Doch der Schuss war echt. Der Minister lag leblos auf dem Boden und hatte eine Panik ausgelöst, bei der es die wenigsten schafften, aus den engen Sitzreihen schnell genug herauszukommen. Die Leute prügelten auf die ein, die sich vor ihnen befanden, und traten jeden Unterlegenen nieder, nur um lebendig den Ausgang zu erreichen.

Das was sich die dreißig Personen in den Sekunden nach dem Auswerfen der Patronenhülse antaten, überstieg in der Summe das Leid, welches der Schuss verursacht hatte.

Gib den Menschen zu wenig Raum und Todesangst und du benötigst wahrscheinlich nicht einmal eine Waffe, lächelte die Staatssekretärin und strich über die Konturen ihres Kreuzanhängers.

Schreiend näherte sich der Bundestagspräsident als Erster einem der Ausgänge. Den Schmerz des ausgekugelten und unnatürlich verdrehten Arms spürte er nicht.

Gleich. Nur ein paar Schritte!

Ein Mann, der ihm direkt folgte, packte ihn an der Schulter und versuchte, ihn an sich vorbeizuziehen. Jede Person, die hinter einem stand, wäre ein Schutz vor den Kugeln, die noch im Magazin der Staatssekretärin steckten.

Panisch riss der Präsident den unverletzten Ellenbogen nach hinten und traf krachend ein Jochbein. Bevor der Getroffene von den Nachfolgenden überrannt werden konnte, schoss ihm ein Blutschwall aus der Nase.

Der Bundestagspräsident kam völlig atemlos an der zweiflügligen Eichentür an und rüttelte an den Griffen.

Nichts passierte.

Andere hetzten zum zweiten und dritten Ausgang. Auch diese ließen sich nicht öffnen.

Die Schreie aus der Menge, die vor Angst gelähmt schien, verstummten.

»Kollegen!«, rief die Staatssekretärin durch den Raum und stieg vom Pult herab. »Jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder! Das ist doch kein Grund, den Verstand zu verlieren.«

»Sind sie völlig wahnsinnig?«, brüllte ein Mann, der auf sie zu rannte.

Ein Schuss in den Hals erübrigte jede Antwort.

»Folgende Spielregeln!«

Ihre Laune verschlechterte sich.

»Wir haben ein Problem und wir müssen es verdammt noch mal lösen. Und am besten lösen wir Probleme, wenn wir Ruhe bewahren. Sie werden es kaum glauben, aber sobald Sie wieder Platz nehmen, hat der überwiegende Teil von Ihnen eine erhebliche Überlebenschance. Das gilt jedoch höchstwahrscheinlich nicht für die, die da hinten unter die Tische gekrochen sind. Bei so wenig Rückgrat bin ich geneigt, einen Schuss in den Bauch zu setzen – deutlich unangenehmer, als ein gut platzierter Kopftreffer.«

Keiner der Anwesenden zeigte eine Regung.

Die Staatssekretärin ging zur Vorsitzenden des Innenausschusses des Bundestages und setzte ihr die Pistole auf die Brust.

»Ich warte!«

In Schockstarre folgte noch immer niemand ihrer Anweisung.

Eins, zwei, drei!

Sie drückte ab.

Die Frau sackte in sich zusammen.

»Ich kann den heutigen Tagesordnungspunkt auch auf diese Weise klären und sämtliche Magazine aufbrauchen. Anschließend besetzen wir einfach Ihre Posten neu. Meiner Ansicht nach die beste Lösung, zumal wir damit als positiven Nebeneffekt auch gleich eine Menge Gottesleugner beseitigen werden. Aber«, sie zuckte mit den Schultern, »der Kanzler wollte, dass wir uns heute hier zusammenfinden und darüber reden. Ist das jetzt bei jedem angekommen?«

Ruhig schob sie den Hintern auf einen Tisch in der vordersten Reihe und wies mit der Waffe auf die vor sich befindlichen Sitze.

»Ich habe keine Eile. Ich fahre erst fort, wenn Sie wieder wie zivilisierte Menschen Platz nehmen.«

Zögerlich kamen der Generalinspekteur der Streitkräfte und zwei Minister in ihre Richtung und sorgten dafür, dass nach und nach auch der Rest der Anwesenden ihrer Anweisung folgte.

»Also zurück zum Kern. Ich erwähnte bereits, dass wir einer nicht unerheblichen Verantwortung unterliegen, indem wir entscheiden, was gut und was schlecht für das Volk ist. In schwierigen Zeiten, so wie diesen, kann das bedeuten, dass wir etwas durchsetzen, von dem die Bevölkerung erst viel später erkennt, dass es das Richtige war. Sehen Sie das genauso?«

Niemand antwortete.

»Die Bürger wissen oft nicht, was sie wollen. Sie sind leicht lenkbar. Genau deshalb ist es so wichtig, dass wir für sie entscheiden. Auch abseits der Gesetze, falls es nötig ist. Sie alle wissen, ich bin kein Freund der direkten Demokratie. Das war ich noch nie und werde es auch niemals sein. Stellen Sie sich vor, wir hätten in diesen Zeiten ständig Volksentscheide statt parlamentarischer Entscheidungen. Ein solches System kann nur in einer Katastrophe enden. Allein schon, wenn ich mir ansehe, wer in der Bevölkerung zu alternativ für eine rationale Entscheidung ist oder zu weit rechts oder schlicht und ergreifend zu blöd. Und da haben wir noch nicht mal die berücksichtigt, die grundsätzlich jeden Politiker hassen und die, die zu alt sind, um komplexere Zusammenhänge zu begreifen. Nehmen wir dieses Gesindel in der Summe, dann haben wir bereits eine Mehrheit, die jeglichen sinnvollen Volksentscheid blockiert, und es wurde noch nicht einmal ein Wort über die Ungläubigen verloren. Ich erinnere nur an die Flüchtlingsströme im dritten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende. Vor lauter Übergriffen und ›No Asyl‹-Geschreie war es nicht möglich, der Bevölkerung deutlich zu machen, dass dies unser Geburtenproblem hätte lösen können. Langfristig wäre die Rettung für das Rentensystem und vielleicht sogar für die Krankenversicherung realistisch gewesen. Ich weiß nicht, welcher Idiot damals auf die Schnapsidee kam, die Flüchtlingsfrage europaweit auf nationaler Ebene mittels Volksentscheiden klären zu lassen. Natürlich war der Ausgang klar und Europa wenig später die reinste Festung. Aber, meine Damen und Herren, DIESE OPFER WAREN NICHT UMSONST«, rief die Staatssekretärin viel zu laut in den Saal. »Seitdem Unzählige vor unseren Grenzen durch diese Entscheidungen verreckt sind, ist die direkte Demokratie ein Relikt der politischen Vergangenheit, welches hoffentlich niemand mehr ernsthaft aus dem Hut ziehen wird. Doch nicht nur das. Wer noch ein Stück weiter denkt, muss feststellen, dass auch die repräsentative Demokratie einen Makel hat, den wir heute beseitigen werden.«

Sie hielt die Waffe mit gestrecktem Arm und zielte wahllos auf die vor sich Sitzenden.

»Die Operation Theodizee ist überlebenswichtig! Und so wie es Schwachköpfe im Volk gibt, die das nicht begreifen, haben wir auch unter Ihnen, meine Damen und Herren, nicht nur Hochbegabte.«

Bei jedem, den Kimme und Korn streifte, schoss der Blutdruck in die Höhe, obwohl die Staatssekretärin den Abzug zu diesem Zeitpunkt nicht berührte.

Das ist also die politische Elite des Landes, dachte sie abfällig und beobachtete, wie sich die wegduckten, auf die der Lauf zeigte.

»Dieses Vorhaben wird im Großteil Europas umgesetzt«, fuhr sie fort. »Bis auf Polen. Da warten wir täglich darauf, dass die Regierung den Schwanz einzieht. Nicht anders zu erwarten!«

Sie zog die Augenbrauen zusammen.

»Und wie wir gestern erfahren mussten, liebe Kollegen, gibt es unter Ihnen Personen, die Kontakt zu den Kräften haben, die in unserem Nachbarland die Sache zum Scheitern bringen werden. Da frag ich mich natürlich, warum der Bundesnachrichtendienst dem Kanzler das nicht mitteilt, sondern wir andere Kanäle brauchen, um davon Kenntnis zu erlangen.«

»Scheiße! Scheiße! SCHEEIISSSSEEE!«, kreischte ein Mann mit Halbglatze auf der linken Seite. Hysterisch versuchte der Chef des Geheimdienstes, unter seinen Tisch zu kriechen.

Ohne eine Regung in ihrem Gesicht erkennen zu lassen, richtete die Staatssekretärin die Mündung auf ihn. Sie krümmte den Zeigefinger und riss die Waffe, kurz bevor sie den Druckpunkt des Abzugs überschritt, nach oben.

Der Schuss löste sich und trieb den Schlitten der Pistole zurück. Beinahe im selben Augenblick rastete er wieder in die Ausgangsstellung ein und wartete mit der nächsten Patrone in der Kammer.

»BERUHIGEN SIE SICH!«, schrie sie den Geheimdienstchef an, dessen Angst allgegenwärtig war, und warf einen Blick auf das Opfer eine Sitzreihe höher. Ein Lungenschuss – eine Ungenauigkeit, die sie mit einer Kugel in die Schläfe der Amtsleiterin korrigierte.

Eigentlich hattest du es verdient, dass ich dich ersticken lasse, überlegte die Staatssekretärin, während die Person ausblutete, die die Hauptverantwortung für den Kontakt zu den polnischen Regierungskritikern trug.

Die Schreie, die anfangs immer dann aufkamen, sobald sie die Waffe ruckartig bewegte, verstummten zunehmend. Es brach auch keine Panik mehr aus, wenn sie einen Schuss abgab. Die meisten hatten es aufgegeben, vor den Kugeln zu fliehen, und versuchten stattdessen, ihr Leben dadurch zu retten, dass sie nicht auffielen.

»Es befindet sich jetzt noch genau eine Person unter uns, bei der es ausgeschlossen ist, dass sie diesen Raum unbeschadet verlässt.«

Sie stand auf und kehrte ihre Überheblichkeit vollständig nach außen.

»Haben wir uns etwas vorzuwerfen, Kollege?«

Sie stützte die Arme auf den Tisch des Polizeichefs und suchte in seinem Blick eine Unsicherheit, die ihn verraten könnte.

»Nein, abgesehen davon, dass ich mich mit jemandem im gleichen Raum befinde, der eine Vernichtungsaktion plant, die dem Holocaust in nichts nachsteht.«

Überrascht von der Unverfrorenheit des Mannes bebte der Busen der Staatssekretärin.

»Na los, kommen Sie! Erschießen Sie mich«, ließ er nicht locker.

»Sie wollen mich provozieren?! Gut, dann lassen Sie uns das für einen Moment unterbrechen.« Sie legte die Pistole neben sich. »Keine Waffen, nur Argumente. In Ordnung?«

Der Polizeichef nickte.

»Wer von Ihnen hat Erinnerung an den Holocaust?«, fragte die Staatssekretärin. »Wer hat ihn miterlebt? Wohl keiner, da er hundert Jahre her ist. Damit bleibt nur noch das, was in Geschichtsbüchern steht, ja? Dann nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich mich nur von Dingen beeinflussen lasse, die ich selbst erlebt habe. Erinnern Sie sich nur an die Wiedervereinigung Deutschlands Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Damals wurden in den ostdeutschen Büchern derart viele Fakten geändert, weil die neu gebildete Regierung plötzlich eine andere Sicht der Dinge hatte. Die Dokumentation der Vergangenheit ist immer nur eine Sichtweise des aktuell herrschenden Systems und genau darum werden Sie von mir keine Verbindung der heutigen Ereignisse zum Dritten Reich hören.«

»Sie leugnen den Holocaust?«

»ICH LEUGNE ÜBERHAUPT NICHTS«, brüllte sie. »Aber was damals wirklich passiert ist, weiß niemand hier im Raum.«

Der Protest im Saal nahm zu.

»UND DAVON ABGESEHEN«, verschaffte sich die Staatssekretärin Gehör, »planen wir mit der Bildung der Kolonie keinen Völkermord. Es ist kein Volk, das wir ausschließen.«

»Sagen Sie lieber auslöschen«, fiel ihr der Polizeichef ins Wort, obwohl er sah, wie sie die Waffe wieder in die Hand genommen hatte.

»Wir überlassen lediglich dem von Gott bereits durch Krankheit abgespaltenen Rest der Menschheit seinem Schicksal.«

»Sie sprechen von einem Gott?«

»Ich spreche von meinem Gott!«

»Heißt es nicht: Wer seinen Nächsten verachtet, versündigt sich, aber wohl dem, der sich der Elenden erbarmt? Wie können wir da den Großteil der Bevölkerung dem Schicksal überlassen?«

»Sie meinen den gottlosen Rest vor den Toren?«

»Es sind doch nicht nur Ungläubige dort draußen!«

»WAS WOLLEN SIE EIGENTLICH? WOLLEN SIE GAR NICHTS TUN, BIS ES UNSERE GATTUNG NICHT MEHR GIBT?«

»Vielleicht. Vielleicht haben wir die Daseinsberechtigung tatsächlich verwirkt. Wie viele Chancen soll man uns denn noch geben«, entgegnete der Polizeichef. »Dürfen wir das Leben von Millionen opfern, damit Tausende weiterleben? Kein Verfassungsgericht der Welt würde dem zustimmen.«

»Soll ich Ihnen was sagen?! Ich scheiße auf die Gerichte! Und ich pfeife auf Ihre Meinung. Ich will wissen, wer unter Ihnen noch etwas zu verbergen hat. Sie offensichtlich nicht, Sie gehen mir nur auf den Geist. Aber vielleicht Ihr Nachbar?!«

Langsam sah sie zur Person rechts daneben und kam bis auf wenige Zentimeter an das Gesicht des Verteidigungsministers heran.

»Friedemann«, flüsterte sie. »Sorge dafür, dass sich der Anfangsverdacht, den wir gegen dich haben, nicht bestätigt. Und sei froh, dass es auf höchster Ebene jemanden gibt, der der Ansicht ist, dass wir dich noch brauchen. Diese Säuberungsaktion heute könnt ihr alle von nun an als Teil der Regierungsarbeit ansehen. So etwas wird es sofort wieder geben, sobald einer der Anwesenden nicht begreift, dass es nur um eines geht – um das Überleben. Und wir überleben ausschließlich mit Theodizee.«

Augenblicke später durchschlug ein Geschoss die Hand des Ministers und die darunterliegende Tischplatte.

4

 

 

 

»Alle da?«

Ohne es zu überprüfen, setzte der Lehrer die Führung fort. Er registrierte nicht, dass Liam seit dem Morgen kaum ein Wort gesprochen hatte und immer weiter von der Gruppe zurückfiel.

»Wie vorhin angedeutet befinden wir uns bei diesem Rundgang jetzt im Jahr 2023 bei einem Anschlag ganz anderer Dimension. Das, was ihr nun sehen werdet, hat es so noch nie gegeben. Nicht mal ansatzweise.«

Vor den Jugendlichen offenbarte sich eine riesige Videoinstallation mit einem Landstrich, der in einer Art dem Erdboden gleichgemacht wurde, wie es einem dritten Weltkrieg gleichkam.

»Dies hier ist das größte Täuschungsmanöver der Geschichte. Den Auslöser für die Katastrophe seht ihr zur Rechten.«

Er wies auf einen Torbogen zu einer Nebenhalle, welche komplett mit Blei ausgekleidet war und durch eine zentimeterdicke Glasscheibe von den Besuchern getrennt war. Darin stand der bis zur Unkenntlichkeit verformte Rest eines Geschützes, hergestellt in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Das Waffensystem erweckte den Eindruck, als wäre es kurzzeitig Tausenden von Grad ausgesetzt gewesen und einen Augenblick später sofort erstarrt.

»Mit dieser Artilleriewaffe schuf die ATG die Bühne, die sie brauchte, um die gesamte Welt für zwei Tage in die Irre zu führen.«

»Die Informantensache?«, fragte einer der Jungen.

»Florian, ich bin überrascht. Du bist nicht nur anwesend, du denkst ja sogar mit. Dreh- und Angelpunkt war tatsächlich ein skandinavischer Informant. Am Vorabend der Atomkatastrophe reiste dieser – hinter euch im Schaukasten seht ihr ein Foto – mit einem offensichtlich vom schwedischen Ministerpräsidenten unterzeichneten Brief nach Brüssel. Er kündigte an, dass sämtliche militärischen Provokationen von da an mit atomaren Reaktionen beantwortet werden sollten. Ein Dokument, welches in Kombination mit den Ereignissen der nachfolgenden Stunden zu einer verheerenden politischen Kurzschlussreaktion führte. Zwei Tage später wurde durch den Selbstmord des Informanten klar, dass er seit Jahren in engem Kontakt mit der ATG stand und das Schreiben gefälscht war.«