Das Tier in uns - Martin Bleif - E-Book

Das Tier in uns E-Book

Martin Bleif

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Beschreibung

Das menschliche Leben jenseits von Populismus, Ideologie und Rassismus verstehen Auch Menschen sind nur Tiere. Unsere Persönlichkeiten sind daher zutiefst mit unseren Körpern verbunden. Menschen neigen aber dazu, die Biologie des Körpers mit ideologischen Vorstellungen von Rasse, Sex und Vererbung zu überfrachten. Mitreißend zählt Martin Bleif all das auf, was wir wissen sollten, um über die Biologie des Menschen sachlich und ideologiefrei mitreden zu können. Mythen von Volk und Rasse, Sex und Gender, Vererbung oder Erziehung, die Versuche im »Dritten Reich«, Menschen zu züchten, oder die Selbstoptimierungsphantasien in Leistungsgesellschaften belegen, dass wir Menschen das Verhältnis zu unserem Körper klären müssen. Martin Bleif schildert erhellend und mit ansteckender Entdeckerfreude das Wunder unserer körperlichen und neurologischen Grundausstattung. In seinem fulminanten Werk veranschaulicht er, ausgehend von der menschlichen Evolution, die Funktion und Bedeutung menschlicher Gene und Zellen bis hin zur neurologischen Architektur des Gehirns. Sachlich und ideologiefrei vermittelt er die neuesten Erkenntnisse darüber, was die Biologie über den menschlichen Körper tatsächlich weiß. Wieder geraten wir ins Staunen über unsere überwältigenden Fähigkeiten, die emotionalen wie intellektuellen, ohne den Menschen erneut eine Sonderstellung in der Ordnung der Natur – etwa als Krone der Schöpfung – anzumaßen.

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Seitenzahl: 1102

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Martin Bleif

Das Tier in uns

Die biologischen Wurzeln der Menschlichkeit

Klett-Cotta

Impressum

Die »Literatur« steht zum Download auf www.klett-cotta.de zur Verfügung. Bitte geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Such-Code ein: OM96486

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Dr. Petra Kunzelmann, Coburg

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © akg-images (Agnolo Bronzino, Porträt von Cosimo I. de’ Medici als Orpheus)

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

ISBN 978-3-608-96486-8

E-Book ISBN 978-3-608-11655-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

Die Welt als ein mehrgeschossiges Gebäude

Eine Welt in Stockwerken

Die Gebrauchsanleitung

Teil I

Evolution

Das Geheimnis der Geheimnisse

Wie funktioniert Evolution?

Exkurs

Fitness

Die großen Fragen

Das Problem der exzessiven Strukturen oder die Erfindung des Sex

Exkurs

Mode

Exkurs

Gute Gene

Exkurs

Das Handicap-Prinzip

Das Lotterie-Problem: Gott würfelt nicht – aber die Evolution?

Das Problem der Sprünge

Exkurs

Sprünge I: Wie entstehen neue Arten?

Exkurs

Sprünge

II

: Was nutzt ein halber Flügel?

Exkurs

Sprünge

III

: Rennpferd, Grashüpfer oder Schnecke? – das Problem der wechselnden Geschwindigkeiten

Wo spielt die Musik? Das Problem der Objekte der Selektion

Erster Exkurs

Der Fluch der guten Tat? Versuch einer Typologie des Altruismus

Zweiter Exkurs

Über proximale Mechanismen und ultimative Ursachen

Exkurs

Argumente für die Individualselektion

Exkurs

Argumente für Verwandtenselektion und den Egoismus der Gene

Exkurs

Argumente für Gruppenselektion

Exkurs

Auf drei Beinen steht es sich am besten:

Multi-Level-Selektion

Erste Zwischenbilanz: Die Biologie der Evolution

Jenseits von Eden

Mythen vom edlen Wilden, von Lämmern und Wölfen und von Gut und Böse

Biologische Wurzeln der Moral?

Affenmoral

Steinzeitmoral oder die Evolution der Fairness

Wenn Kultur die Biologie überformt

Exkurs

Kurze Geschichte der Menschenrechte

Erste Schlussfolgerung: Zwischen Eigennutz und Mitgefühl

, der Moral des Kopfes, des Bauches und des Buches

Teil II

Gene

Die große Lücke

Ansätze zur Lösung der Frage: Was ist ein Gen?

Die platonische Phase der Genetik

Die materialistische Phase der Genetik

Die funktionalistische Phase der Genetik

Wie wirken Gene?

Wie werden Gene vererbt?

Warum verändern sich Gene?

Exkurs I

Quantitative Veränderungen: Copy Number Variations

Exkurs II

Qualitative Veränderungen:

SNP

s und Indel-Polymorphismen

Wie weit reicht die Macht der Gene?

Die schwierige Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp: Versuch einer Typologie

Exkurs

Die Mendel-Variante – einfache, eindimensionale Beziehungen: Ein Gen macht ein Protein und bestimmt ein Merkmal

BEISPIEL

Laktosetoleranz: Die Evolution zu Milchtrinkern

Pleiotropie, die radiäre Variante: Eine Ursache, viele Wirkungen (

ein Gen, ein Protein, viele phänotypische Konsequenzen

)

BEISPIEL

Mukoviszidose

BEISPIEL

Die Metamorphose der Feuerameisen

Polygenie, die konvergente Variante: Viele Gene konstituieren ein einzelnes Merkmal

BEISPIEL

Die Farbe der Augen

Die konvergente Variante (Polygenie) als Mischtyp: Viele Gene plus Umwelt

BEISPIEL

Die dunklen Seiten des ›dolce Vita‹ – Dickleibigkeit und »Altersdiabetes«

Die Mendel-Variante als Mischtyp: Ein Gen plus Umwelt

BEISPIEL

Nochmal die unschuldigen Dicken

Die radiäre Variante (Pleiotropie) als Mischtyp: Ein Gen plus Umwelt und viele verschiedene phänotypische Konsequenzen

BEISPIEL

TP

53

BEISPIEL

Noch einmal die Mukoviszidose

BEISPIEL

Das »Krieger-Gen« Monoamino-Oxidase-A

Exkurs

Jenseits der Gene: Die Ebene der Merkmale, die nur durch Umwelteffekte entstehen

Die große Melange

Zweite Zwischenbilanz: Die Biologie der Gene

Erbe und Erziehung: Zwischen Tabula rasa und genetischer Marionette

Mythen von Volk und »Rasse«, Sex und Gender, Erbe oder Erziehung, Menschenzucht und Perfektion

Tabula rasa?

Was ist Intelligenz?

Nature or Nurture?

Gute Gene, schlechte Gene? Die vergebliche Suche nach dem perfekten Genom

Der kleine Unterschied?

Zweite Schlussfolgerung: Macht und Ohnmacht der Gene

Teil III

Zellen

Was ist Leben?

Exkurs

Das alte Dilemma von Henne und Ei

LUCA

oder: Wer hat eigentlich Gott gemacht?

Die verlorene Stadt

Zwei große Sprünge

Die Atome des Lebens

Die Zellmembran

Zytoplasma oder: Leben ist flüssig

Exkurs

Die Fabriken

Exkurs

Die Kraftwerke

Exkurs

Die Zentrale, des Pudels Kern

Zellzyklus und Mitose: Die ewige Wiederkehr des Gleichen?

Homo ex cellula: Wann beginnt ein Mensch?

Die Ontogenese

Der erste Tag

Die erste Woche

Die zweite Woche

Zellen an der Hand der Gene – Gene in der Hand von Zellen

Wer regiert die Gene?

Ad-hoc-Genregulation

Das Transkriptom, Werk eines eigenwilligen Übersetzers

Proteome oder: Es kommt darauf an, was am Ende dabei herauskommt

Epigenetik: Das elefantöse Gedächtnis der Zellen

Der Histon-Code

Gene mit Vorhängeschloss

Ein Bund fürs Leben – oder gar darüber hinaus?

Böse Kindheit und schlimme Winter werfen lange Schatten

Weismanns Barriere

Doch noch ein Hintertürchen für Monsieur Lamarck?

Dritte Zwischenbilanz: Die Biologie der Zellen

Atome des Lebens: Mythen vom Anfang und vom Ende

, von den Grenzen, den Besonderheiten und den Freiheiten menschlicher Existenz

Der Anfang …

… und Ende

Chauvinisten zugunsten der eigenen Art?

Dritte Schlussfolgerung: Die Grenzen des Menschseins

Teil IV

Gehirne

Cogito, ergo sum: Das Ich-Organ

Die Gene des Gehirns

Die Zellen des Gehirns

Karte und Schaltplan

des Gehirns

Die Biographie eines Gehirns

Die Vogelperspektive

Die Froschperspektive

Die Leistungen und Fehlleistungen des Gehirns

Wahrnehmen

Exkurs

Wie kommen die Bilder in den Kopf? Phase 1: Transformation und Analyse

Exkurs

Wie kommen die Bilder in den Kopf? Phase 2: Transport und Rekonstruktion

Exkurs

Wie kommen die Bilder in den Kopf? Phase 3 – Konstruktion: Vom Sehen zum Erkennen

Denken und Handeln

Handeln

Denken, das wir nicht bemerken

Denken, das wir bemerken

Die Grenzen des Gehirns

Vierte Zwischenbilanz: Schlussfolgerungen aus der Biologie des Gehirns

Grenzfläche zwischen Tier und Mensch

Grenzfläche zwischen Irrtum und Erkenntnis

Grenzfläche zwischen Körper und Geist

Individuum, Ich

oder

Es? – Spiegel, Bühne

oder

Konstrukteur der Wirklichkeit?

Mythen vom Maschinenmenschen und vom Geist in der Maschine, vom Animal rationale, von der vernünftigen Vernunft, vom Hirn im Glas und vom Blick in die Wirklichkeit

Wo entsteht Wirklichkeit, im Kopf oder in der Welt?

Unser Gehirn hat eine Geschichte

Kants a priori wird zu Darwins a posteriori

Gehirne lügen (nicht)

Dürfen wir Wahrnehmungen trauen?

Wie vernünftig ist die Vernunft? Wie vernünftig sollte sie sein?

Vierte Schlussfolgerung: Die sich selbst zeichnenden Hände

Epilog

Anhang

Anmerkungen

TEIL I

Evolution

TEIL II

Gene

TEIL III

Zellen

TEIL IV

Gehirne

Abbildungsverzeichnis

Personenregister

Sachregister

Für Lina

Prolog

Die Welt als ein mehrgeschossiges Gebäude

Black lives matter! In den USA stirbt – wieder einmal – ein Afroamerikaner durch die Hand eines Polizisten. Wenige Tage später brennt es in den Städten, als wären die Rassenunruhen(1) der 1960er Jahre gestern gewesen. Das halbe Jahrhundert dazwischen, inklusive eines schwarzen Präsidenten Obama(1), scheint vergessen zu sein. Wenige Tage später werden in Hongkong Menschen verhaftet, weil sie die Formel »ein Land, zwei Systeme« ernst nehmen. Die Volksrepublik China, die größte Volkswirtschaft der Erde, lässt wenig Zweifel daran, dass sie keine Absicht hat, das gebeutelte Hongkong am Wesen von »System Zwei«, der Demokratie westlichen Zuschnitts, wieder genesen zu lassen.

Weiter westlich, in Afghanistan, greifen mittelalterlich anmutende Religionsschüler(1) unverhohlen nach der Macht: Nationbuilding, Säkularisierung, Frauenrechte perdu! Überhaupt, die Religionen! In vielen islamischen Ländern haben Demokratien keinen guten Ruf; Autoritarismus und Theokratie dagegen stehen hoch im Kurs. Selbst in Europa spült eine (Rück-)Besinnung auf »nationale Werte« Politiker in die Parlamente, denen die Spielregeln einer »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« wenig oder gar nichts bedeuten, damit aber unsere Demokratien infrage stellen und dies auch unumwunden zugeben. Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie haben auch in Europa Konjunktur. Gleichzeitig stellen seltsam diffuse »postkapitalistische« Blütenträume die Systemfrage von der anderen Seite des politischen Spektrums.

Schnitt! Dreißig Jahre zuvor sah die Welt ganz anders aus. Damals schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama(1) (*1952) sein Buch: Das Ende der Geschichte.[1] Das »Ende« war nicht im Mindesten apokalyptisch gemeint – im Gegenteil. Fukuyama vertrat die Ansicht, dass nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes der Streit der Ideologien ein für alle Mal beendet und Politik von nun an eine angenehm technokratische Angelegenheit sei, bei der sich Politiker vorurteilslos um die Lösung praktischer Menschheitsprobleme kümmern könnten.

Nun, die Jahre nach dem Fall der Mauer sind beinahe entgegengesetzt verlaufen. Warum nur? Wieso fällt es uns so schwer, die Kunst der vernünftigen »Regelung des Gemeinwesens« vom Mehltau der Vorurteile und der Ressentiments zu befreien? Dazu gäbe es unendlich viel zu sagen. Aber wenn wir mit besonders eklatanten Rückfällen in Egoismen oder gar in atavistische Brutalität konfrontiert sind, wird das Bild vom »Tier im Menschen« bemüht, als ob dieses »Tier« – unsere Natur – etwas ist, das uns nachhängt wie ein Schleppanker, der die Menschheit auf ewig hindern wird, wirklich human und mitmenschlich zu sein.

Hier kommt die Biologie ins Spiel, die für Natur und für Tiere zuständig ist. Für Menschen auch? »In der Politik geht es letztendlich«, schrieb vor einigen Jahren der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman(1), »um die Wünsche und das Wohl der Menschen. In jede politische Frage fließen bestimmte Annahmen über die menschliche Natur ein«.[2]

Um diese Frage geht es in diesem Buch: Kann die moderne Biologie etwas zum Streit über die Natur des Menschen beitragen? Die Vorstellung, wie und was der Mensch sei, ist der Humus, in dem unsere politischen Weltbilder wurzeln. Unsere Weltbilder haben entscheidenden Anteil daran, ob wir Menschen uns eher für gut oder für böse, für egozentrisch oder für mitfühlend, für erziehbar oder determiniert, für »Kultur(1)«- oder »Natur-Wesen« halten. Politik ist geleitet von expliziten und impliziten Urteilen und Hypothesen(1) über die Natur des Menschen. Dabei stellt sich ein Problem: Diese Form von Wissen lässt sich nicht in Expertengremien auslagern. Spekulationen über den »Naturzustand« des Menschen gibt es, seitdem Menschen über sich nachdenken. Lange Zeit existierte kein empirischer Zugang zu diesen fundamentalen Fragen. Bis tief ins 19. Jahrhundert waren sie Domäne von Philosophie, Theologie und Staatskunde. Ohne eine durch Empirie auf die Realität zurückgespiegelte Theorie standen sich die unterschiedlichen Ansichten leider oft aggressiv bedrohlich, wütend, zornig, aber auch unentscheidbar gegenüber. Bis tief ins 19. Jahrhundert trugen die Naturwissenschaften zur Stellung des Menschen in der Natur und zur Frage nach der conditio humana(1) wenig bei. Dies hat sich in den vergangenen 150 Jahren dramatisch geändert, und darauf versuche ich aufmerksam zu machen. Vielleicht kann die Biologie heute an einigen Stellen in die Rolle eines Schiedsrichters treten.

Bereits an dieser Stelle wird etliche Leser ein Gespenst erschrecken: Kirchen, Redaktionen, Feuilletons und Fakultäten rund um den Globus fürchten sich vor dem Gespenst des Biologismus(1)! Ein Begriff, der zum Schimpfwort geworden ist. Daher werde ich im vorderen Teil der vier Kapitel des Buches den Versuch unternehmen, dieses »Gespenst« aus der Nähe zu betrachten. Biologismus ist keine Biologie. Dennoch – es steckt ein Tier in uns, aber im rechten Licht betrachtet ist dieses ›Menschentier‹ freundlicher, als viele glauben mögen.

Eine Welt in Stockwerken

Das Geheimnis des »rechten Lichts« liegt in der Perspektive, in der Kunst, sich zu bescheiden und die richtigen Fragen zu stellen. Naturwissenschaften – Biologie ist keine Ausnahme – nehmen keine universelle Perspektive ein. Ihr Erfolg beruht auf Zerlegung, Begrenzung, Reduktion. Die Wissenschaften blicken auf die Welt wie auf ein mehrgeschossiges Gebäude und betreiben Arbeitsteilung. Für jedes Stockwerk fühlt sich eine Disziplin zuständig. Trotz dieses »begrenzten Blickes« sollten Theorien über den Menschen nicht in Widerspruch zu dem geraten, was wir über seine Physik(1), Chemie(1) oder Biologie wissen. Diese These belege ich im vorderen Teil der vier Kapitel des Buches. Um die Natur dieser Bedingtheit zu erklären, betrachte ich wie der Philosoph Nicolai Hartmann(1) (1882–1950) in seiner Ontologie die materielle(1) Welt als ein System »hierarchisch angeordneter Schichten«.[3] Ich habe mir erlaubt, Hartmanns Bild den Erfordernissen dieses Buches anzupassen:

Wir können uns demnach die Welt als ein Gebäude mit einem geheimnisvollen Keller und vier überirdischen Stockwerken vorstellen, wobei einige der Stockwerke in mehrere Untergeschosse unterteilt sind. Tief unter der Oberfläche der sichtbaren Welt, in dunklen und nicht vollständig erschlossenen Kellern, liegt der platonische(1) Zoo der subatomaren »Teilchen«, regiert von den Gesetzen einer immer noch nicht wirklich verstandenen Physik(2).[4] Dagegen ist das Erdgeschoss recht ordentlich kartiert. Hier sind die Atome(1) zuhause; sie konstituieren das »Material«, aus dem die Welt besteht. Den Grundriss dieses Geschosses entworfen und ihn gezeichnet hat der russische Chemiker(2) Dimitri Iwanowitsch Mendelejew(1) (1834–1907) im Jahr 1869. Seit Mendelejew ist der eine oder andere ›Bewohner‹, das eine oder andere Element, hinzugekommen,[5] aber das Geschoss blieb überschaubar.[6]

Die Etage darüber, der erste Stock, nimmt deutlich mehr Raum ein. In seinen hohen und lichten Sälen wurden inzwischen drei Zwischengeschosse eingezogen. Im Untersten finden wir einfache chemische(3) Verbindungen, wie Salze(1) (z.B. NaCl) und kleine anorganische(1)(1) Moleküle(1) wie Wasser(1) (H2O), Kohlendioxid(1) (CO2) oder Kalk(1) (CACO3). Hier gelten die Gesetze der anorganischen Chemie. Im Zwischengeschoss darüber logieren organische(1) Moleküle, etwas größere Aggregate von Atomen(2), die zwei Dinge gemeinsam haben: Ihr Rückgrat besteht aus Kohlenstoff(1). Und sie werden in der Regel von Lebewesen produziert. Beispiele sind Zucker(1), Aminosäuren(1), Nukleotide(1) oder Harnstoff(1). Im obersten Zwischengeschoss finden wir die Riesen unter den Molekülen. Dort sind Makromoleküle(1) zuhause, Eiweiße(1) (Proteine), große Kohlenhydrate(1) und Nukleinsäuren(1). Dem Verhalten(1) dieser komplizierten Gebilde widmen sich die organische Chemie und die Biochemie(1).

Zwischen diesem und dem nächsten Stockwerk verläuft eine mysteriöse Grenze, die Grenze zwischen Leben und Tod. Der zweite Stock gehört den Lebewesen. Dort wohnen Individuen(1). So unterschiedlich diese Individuen sind, sie verbindet eine Gemeinsamkeit. Sie sind einzigartig und lebendig![7] Anders als Strukturen der unbelebten Welt haben Lebewesen die Fähigkeit zur Selbstregeneration(1), zum Stoffwechsel(1) und zur Reproduktion(1). Dafür benötigen sie Energie und Baumaterial. Sie stehen daher in ständigem Austausch mit der Welt. Und bezogen auf solche Individuen ist es zum ersten Mal angebracht, von Interessen zu sprechen. Denn Individuen verfolgen Ziele – bewusst(1) oder unbewusst. Sie »wollen« überleben und sich vermehren; sie haben Interessen und werden von ihnen geleitet. Die Wissenschaft, die sich für dieses Panoptikum verantwortlich fühlt, ist die Biologie.

Unter all diesen Lebewesen findet sich eine Affenart, die einige ganz spezielle Eigenheiten entwickelt hat. Wegen dieses Affen, dem Homo sapiens(1), wurde das Weltgebäude um ein Stockwerk erweitert. Manche Eigenarten des Homo sapiens entziehen sich der Sprache der Biologie. Für seine Intentionen, Motive und sein bewusstes Denken(1) und Handeln(1) fühlen sich Psychologen(1), Linguisten(1) oder die Kulturwissenschaftler zuständig, ›vermessen‹ und deuten die Produkte des menschlichen Geistes. In diesem obersten Stockwerk finden wir ferner die Strukturen und Abstraktionen, die durch den Zusammenschluss menschlicher Individuen(2) entstehen: Familien, Dorfgemeinschaften, Stämme, Völker, Staaten und Organisationen. Ihre Eigenarten, Erscheinungsformen, Regeln und Produkte nennen wir Kultur(2).[8]

Dieses verführerisch übersichtliche Gebäude entspricht unserer zutiefst menschlichen – anthropomorphen – Sicht der Welt. Eine Kopfgeburt, aber »heuristisch(1) wertvoll«. Arbeitsteilung und Beschränkung sind Gründe für den Erfolg der Naturwissenschaften. Und demnach nehme ich im vorderen Teil der vier Kapitel die Perspektive der »Welt der Stockwerke« ein. Um sich im Riesenreich der Biologie zurechtzufinden, braucht es Karte und Kompass. So werden in diesem Buch drei zentrale Konzepte vorgestellt, die unterschiedlichen Stockwerken angehören, und ein weiterer Entwurf, der die Biologie erst zur Wissenschaft macht. Kapitel Eins beginnt mit einem kurzen Porträt der Evolutionstheorie(1), weil sie der Mörtel ist, der die Biologie im Innersten zusammenhält. Kapitel Zwei widmet sich dem Konzept der Gene(1) – materiell(2) betrachtet, nicht als große Moleküle(2). Sie wohnen daher im Erdgeschoss. Allerdings wird sich zeigen, dass sie Eigenschaften entwickelt haben, die über die Materie hinausweisen. Im dritten Kapitel wird das »Atom(3) des Lebens« behandelt – in zweifachem Sinn. Zellen(1) sind Lebewesen und daher im ersten Stock zuhause. Der Blick in die Zelle wird enthüllen, worin das Geheimnis des Lebens besteht. Kapitel Vier dreht sich um das Gehirn(1). Gehirne sind zunächst nichts anderes als Verbünde von Zellen, die es in sich haben. Denn nach Ansicht fast aller Biologen ist das Gehirn die Grundlage des Menschseins.

Am Ende jedes Kapitels dreht sich der Blickwinkel um 90°. Was die Biologie über Evolution(1), Gene(2), Zellen(2) und Gehirne(2) erzählt, führt direkt an die Kreuzungen, wo sich Menschen seit Jahrhunderten über die Natur des Menschen die Köpfe heißgeredet und viel zu oft auch eingeschlagen haben. Kapitel Eins schließt mit der Frage nach den biologischen Wurzeln von Gut und Böse. In Kapitel Zwei geht es um die rätselhafte Beziehung zwischen Genen und Merkmalen(1), um die Rolle von Erbe und Erziehung, um die vielen Mythen zwischen Tabula(1) rasa und genetischer Marionette, um Volk und »Rasse(1)«, Sex und Gender(1), Menschenzucht, Optimierung und vermeintliche Perfektion. Das Problem der Definition von Anfang und Ende einer menschlichen Existenz, die Fragen nach dem Geheimnis des Lebens werden am Ende von Kapitel Drei gespiegelt in dem Bild, das die Biologie von Evolution, Gen, Zelle und Gehirn gezeichnet hat. Kapitel Vier konfrontiert die biologischen Erkenntnisse über das Gehirn mit Fragen nach der Konstitution des menschlichen Ichs, seinen Fähigkeiten, Freiheiten und Grenzen. Ist unser Gehirn auf die Wirklichkeit bezogen und wenn ja, wie? Es geht aber ebenso um Maschinenmenschen, um Geister in der Maschine, um das Animal rationale und die (un)vernünftige Vernunft – es geht um uns und in gewisser Weise um alles, woran wir Menschen beteiligt sind, und darum, wer und was wir sind.

Die Gebrauchsanleitung

Das ist die eine Seite dieses Buches. Die andere Seite ist eine Art Gebrauchsanleitung, die in und zwischen den Zeilen versteckt liegt. Natürlich sind Menschen beides, Natur- und Kulturwesen(3). Und die Biologie ist pikanterweise selbst ein Kulturprodukt. Als solches ist sie nicht immer einfach zu lesen. Ein Blick auf die vergangenen 150 Jahre zeigt, dass die Furcht vor dem Gespenst des Biologismus(2) nicht unbegründet ist. Missbrauchte und missverstandene Biologie hat im 20. Jahrhundert viel Unheil angerichtet.

Die Gebrauchsanleitung beginnt daher mit zwei Geboten: Das erste Gebot heißt: Du sollst mich nicht überstrapazieren. Schließlich gibt es Aspekte des menschlichen Lebens, zu denen die Biologie nichts zu sagen hat. Eine biologische Theorie der barocken Lyrik etwa wäre im besten Fall grob unvollständig, vielleicht auch nur lächerlich. In diesem Sinne gibt es keine »Theorie für alles«.[9] Zweifeln ist der Wissenschaft näher als Glauben. Wer Wissenschaft zur Religion(2) erhebt, aus Biologie Biolog-ismus macht, versetzt ihr den Todesstoß. Ich werde über einige solcher unangemessenen Überdehnungen berichten.

Dennoch, der Homo sapiens(2) ist ein Produkt der Evolution(2). Und im weiteren Verlauf wird sich zeigen, dass das sowohl für den Gattungsbegriff Homo wie auch für den Zusatz sapiens zutrifft. Das zweite Gebot lautet deshalb: Du sollst mich nicht ignorieren. Die Geschichten von Evolution, Genen, Zellen(3) und Gehirnen(3) werden hoffentlich klar machen, mehr zu sein als beliebige und frei verhandelbare »Narrative«. Theorien der Biologie sind keine Moden, die einander ablösen, wie der Minirock den Maxirock. In der Regel löst in der Wissenschaft die bessere, die umfassendere die schlechtere und begrenztere Theorie ab. Kopernikus(1) ersetzte Ptolemäus(1) und Einstein(1) folgte auf Newton(1), nicht weil die Altvorderen nicht mehr »fancy« waren, sondern weil Einstein und Kopernikus Fragen beantworten und Widersprüche auflösen konnten, die ihre Vorgänger offenlassen mussten.

Zur Gebrauchsanleitung fehlen noch die »Leseregeln«: Die Metapher von der Welt als mehrgeschossiges Gebäude hat etwas verführerisch Übersichtliches. Das ist gut so! Für jedes Stockwerk ist eine Wissenschaft zuständig, die ihre speziellen Gegenstände, Fragen, Regeln und Methoden, sogar ihre eigene Sprache hat. Gerade die Sprache ist aber ein ewiger Quell von Missverständnissen. Mit dem Abstecken der Claims und mit der Mahnung zu sprachlicher Sorgfalt ist die Gebrauchsanleitung nicht komplett. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und den Verbrechen der Nationalsozialisten war die Vermischung von biologischen und gesellschaftlichen Fragen anrüchig geworden. In wunderbar dialektischer Manier schlug das Pendel in den 1950er und 1960er Jahren ins Gegenteil um. Die Lösung schien einfach und hieß von nun an: Schuster, bleibt bei euren Leisten! Jede Wissenschaft sollte sich auf ihren Kern konzentrieren und die Wissenschaften von der Natur sollten sich aus Fragen zu Mensch und Gesellschaft heraushalten. Heraus kam das, was der Brite Charles Percy Snow(1) Ende der 1950er Jahr als Spaltung des »intellektuelle[n] Leben[s] der gesamten westlichen Gesellschaft« in die »zwei Kulturen« diagnostiziert hat, eine Spaltung in die Welt der Naturwissenschaft und in die der Humanwissenschaften. Snow(2) beklagte diese Spaltung. Zu Recht! Denn der partitionierte Blick produziert Missverständnisse und Fehleinschätzungen, vor allem wenn im obersten Geschoss über den Menschen gestritten wird, ohne die Beschaffenheit der Etagen darunter zu kennen.

Die Natur von Missverständnissen dieser Art zu identifizieren, ist das dritte und letzte Ziel der »Gebrauchsanleitung«. Die Metapher vom »mehrgeschossigen Haus« sorgt für Übersicht. Spezialisierung ist notwendig, weil die immer komplexeren Strukturen auf jeder Ebene Phänomene produzieren, die sich nur mithilfe von Begrifflichkeiten innerhalb dieser Ebene erklären lassen.

Mit der Emergenz(2) ist allerdings ein Problem verknüpft. Eigenschaften komplexer Systeme lassen sich nicht immer vollständig aus den Teileigenschaften ihrer Bausteine herleiten oder erklären. Daher müssen zur Beschreibung emergenter Phänomene Begrifflichkeiten entwickelt werden, die auf den Beschreibungsebenen darunter, dort, wo die »Einzelteile« zuhause sind, keinen Sinn ergeben.[14]

Manche Freunde der Emergenz(3)schütten an dieser Stelle das Kind mit dem Bade aus und glauben, damit wäre der naturwissenschaftliche Anspruch auf allgemeine Gültigkeit ihrer Gesetze bis in die Grundfesten erschüttert. Emergenz wird gerne bemüht, um wissenschaftliche Theorien aus dem obersten Stockwerk, der Soziologie(1) oder Psychologie(2), gegenüber Zumutungen aus den Kellergeschossen in Schutz zu nehmen. Aber natürlich wirken die Gesetze der Physik(3) nicht nur in Atomen(4), sondern auch in Mäusen und Menschen. In diesem Sinn sind die Naturgesetze universell.

Nur ist die Sprache der Physik(4) nicht gemacht, um alle Phänomene zu beschreiben, die uns in den höher gelegenen Stockwerken begegnen. Selbst der scheinbar grundsolide und universelle Begriff Materie(4)zerfällt zu semantischem Staub, wenn er in die subatomare Welt der Quarks und Strings entführt wird.[15] Begriffe wie elektrische(1) Ladung oder Bindungsvalenz(1)[16] beziehen sich auf Atome(5) und Moleküle(4), sind also im Keller des Gebäudes, wo die subatomaren Teilchen hausen, ohne Sinn. Polarität(1), Chiralität(1) oder Tertiärstruktur(1)sind Eigenschaften von Molekülen. In dem Stockwerk, auf dem die Atome wohnen, haben diese Erscheinungen keine Bedeutung. Das Problem dieses terminologischen Relativismus zieht sich durch alle Ebenen. Jeder Begriff ist in seinem Bedeutungsraum zuhause und löst sich jenseits seiner Grenzen in Rauch auf. Gift und Giftigkeit macht nur in Bezug auf Lebewesen Sinn. Moleküle oder Minerale(1) lassen sich nicht vergiften, höchstens im metaphorischen Sinn. Wir werden sehen, was passiert, wenn Begriffe aus den obersten Stockwerken wie Information, Bedeutung, Absicht, Glück, Liebe, Schönheit, Bewusstsein(2), Wille, Sinn, Vergnügen, Hass oder Freiheit aus ihrer angestammten Heimat entführt und in die falschen Stockwerke verschleppt werden.

Kühlschränke und Küchenmixer produzieren emergente(4) Phänomene, genau wie Zellen(5) und Gehirne(4). Was die biologischen Systeme jedoch kompliziert und besonders macht, ist die Tatsache, dass hier Abhängigkeiten nicht nur von unten nach oben bestehen. Gene(3) prägen Zellen, diese prägen Gehirne, Gehirne prägen Kulturen und umgekehrt. Kulturen verändern Gehirne und – wie das eine oder andere Beispiel zeigen wird – sogar die Gene selbst. In diesem Buch versuche ich, einen Blick ins Innenleben dieses komplizierten Spiels zu werfen und den Rollen der Spieler auf die Spur zu kommen. So möchte ich eine Bauanleitung für ein Menschenbild liefern, das der Biologie gerecht wird, ohne sie überzustrapazieren, eine Bauanleitung allerdings, die komplizierter ist, als nur Klötzchen für Klötzchen übereinanderzustapeln oder zwei Teile Biologie mit drei Teilen Kultur(4) zu einem Cocktail zu mischen. Richtig verstanden, kann die moderne Biologie vielleicht wie eine Impfung gegen Populismus und Pessimismus wirken.

Teil I

Evolution(3)

»Licht wird fallen auf den Ursprung der Menschheit und ihre Geschichte«Charles Darwin[1]

Das Geheimnis der Geheimnisse[2]

Charles Darwin(1) sprach dieses große Wort nicht gelassen aus. Vom Menschen ist im wichtigsten Werk der Biologie kaum die Rede. Überhaupt hatte er lange gezögert, seine Ideen zum Ursprung der Arten(1) vor einem breiten Publikum auszubreiten. Erst als Darwin Wind davon bekam, dass Alfred Russel Wallace(1) (1823–1913) ähnliche Vorstellungen über das Geheimnis der Entstehung der Arten entwickelt hatte, entschloss er sich zur Veröffentlichung. Allerdings sollten weitere 13 Jahre vergehen, bis Darwin nachlegte und seine Theorie auch explizit auf den Menschen ausdehnte.[3] Selbst der Begriff Evolution(4) taucht 1859 in der ersten Ausgabe seines Opus magnum mit dem lapidaren Titel Über die Entstehung der Arten noch gar nicht auf. Trotzdem schlug das Buch sofort hohe Wellen.

Aber erst mit der Veröffentlichung von The Descent of Man im Jahr 1871 war der Skandal perfekt.[4] Noch 200 Jahre zuvor war der Priester und Astronom Giordano Bruno(1) (1548–1600) auf dem Campo dei Fiori in Rom für weit geringere Ungeheuerlichkeiten auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Seit Brunos grausamem Ende hatte sich Europa aber massiv verändert. Der heiligen Inquisition waren die Zähne gezogen. Die Macht der Kirche war auf dem Rückzug. Als Darwin(2) seine Gedanken zu Papier brachte, war die Säkularisierung in vollem Gang. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen waren seine Bücher eine Zumutung. Denn wenigstens der Ursprung des Lebens und des Menschen schien bis dato in den Zuständigkeitsbereich der Theologie zu fallen. Schließlich gab es keine gute Alternative zu der Idee, nur ein höheres, göttliches Wesen könne profaner Materie(5) Leben einhauchen. Plausible säkulare Erklärungen schienen lange nicht in Sicht. Zu komplex war das Problem, zu mächtig auch das heute noch manchmal strapazierte »Argument from Design«: Wer würde schon auf die Idee kommen, eine Taschenuhr als Produkt eines spontanen, natürlichen Entwicklungsprozesses zu erklären?[5] Und sind Menschen nicht weit komplexer als Taschenuhren? So oder ähnlich dachten zu Darwins Zeit viele Gläubige. Vor ihm gab es wenig Grund, an der Theorie der Schöpfung durch ein vernunftbegabtes »Wesen« zu zweifeln.

Das sollte sich ändern. Binnen 24 Stunden war die erste Auflage von Der Ursprung der Arten(2) vergriffen und bis 1871 wurden fünf weitere nachgedruckt. Das Buch war eine Sensation und hatte Erfolg. Es polarisierte(2). Begeisterte Anhänger sahen sich bald einer wachsenden Front von Kritikern gegenüber. Als Darwin(3) auch die Abstammungslinie des Menschen zurück zu den Altweltaffen zog,[6] war das Maß voll. Der sanfte und zurückhaltende Darwin erntete Ablehnung, Spott und Häme. Bewunderern wie Gegnern war klar, dass diese Theorie zur Evolution(5) der Arten zur zweiten großen narzisstischen Kränkung des Menschengeschlechts werden konnte.[7]

Trotzdem wurde immerhin ein Grundgedanke, nämlich die Entwicklung aller Arten(1) von Lebewesen aus einfacheren gemeinsamen Vorfahren, schon bald nach 1859 zumindest in den Kreisen der Naturforscher weitgehend anerkannt. Die Zeit war reif, dem theologischen Mythos[8] eine wissenschaftliche Theorie gegenüberzustellen. Darwin(4) war kein einsamer Solitär, die Evolutionstheorie(2) nicht vom Himmel gefallen. Elemente einer Theorie der Evolution(6) waren seit über 2000 Jahren Teil abendländischen Denkens(2). Schon der Vorsokratiker Anaximander(1) (um 610–547 v. Chr.)[9] war der Ansicht, alle Lebensformen stammten von den Meeresfischen ab und seien durch entsprechende Modifikationsprozesse zustande gekommen, um schließlich trockenes Land zu erobern. Aristoteles(2) mutmaßte: »Könnte nicht die zweckmäßige Einteilung des Gebisses in Schneide- und Backenzähne ganz natürlich durch Zufall entstanden sein? Könnte es sich dann nicht einfach erhalten haben, weil es so zweckmäßig war und bessere Überlebenschancen bot?«[10]

Die verschiedenen naturalistischen Erklärungsansätze konnten allerdings lange nicht zu einer konsistenten Theorie zusammengefasst werden. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Seit dem späten 4. Jahrhundert dominierten das Christentum und sein dezidierter Schöpfungsglaube über Europa. Das Verhältnis von Christentum und Wissenschaft ist durchaus ambivalent. Einerseits waren die Klöster im poströmischen Chaos eine der wenigen Inseln, auf denen Reste antiker Gelehrsamkeit die Irrungen und Wirrungen des Frühmittelalters überstehen konnten. Anderseits lag die christliche Dogmatik lange wie Mehltau über der Geisteswelt des Abendlandes. Denn die christliche Welt ist eine statische Welt.

Erst im frühen 16. Jahrhundert begannen die erwachenden Wissenschaften von der Natur, zunächst leise und vorsichtig, dann immer heftiger, am Harnisch der Kirche zu kratzen. Kopernikus(2)’ heliozentrisches(1) Weltbild war ein Hinweis darauf, dass die Bibel kein Tatsachenbericht ist. Die Geologie hatte Ende des 18. Jahrhunderts weitere Indizien gefunden, die Bibel nicht zu wörtlich zu nehmen. Die Erde ist weit älter, als es die biblische Chronologie glauben machen wollte.[11] Die Fossilienfunde des Barons de Cuvier(1) zeigten, in der Vergangenheit hatten Arten(3) existiert, die heute nicht mehr sind. Die Natur ist dem Wandel unterworfen, ein Befund, der im christlichen Weltbild nicht vorgesehen war. Cuviers Funde fügten sich außerdem auf wundersame Weise in eine neue geologische Chronologie ein. In den ältesten Gesteinsschichten fanden sich exotische Wesen, die mit heute lebenden Tieren kaum Gemeinsamkeiten hatten, während die neueren Funde, je jünger die Schicht, den rezenten Tieren immer ähnlicher wurden.

50 Jahre vor Darwin(5), im Jahr 1809, hatte schon ein anderer eine Theorie der Evolution(7) der interessierten Öffentlichkeit vorgelegt. Der Franzose Jean-Baptiste Lamarck(1) (1744–1829)[12] hat zwei Kerngedanken Darwins vorweggenommen. Auch für ihn war die belebte Welt eine Welt im Wandel. Lebewesen verändern sich, und mit der Zeit unterschieden sich manche Nachkommen so stark von ihren Urahnen, dass sie als neue Art betrachtet werden müssen. Er war zwar auch der Meinung, Eltern gäben ihren Kindern vererbliche Merkmale(2) in Form einer Botschaft oder Instruktion mit auf ihren Weg. Nur was die treibenden Kräfte hinter dem Wandel anging, da hatte Lamarck(2) sich getäuscht: Anders als Darwin glaubte er, Tiere würden Anpassungen(1) vererben, die sie im Lauf ihres Lebens durch Übung, Gebrauch oder Nichtgebrauch eines Körperteils erworben haben.

Der Boden war also bereitet.[13] Auch wenn im 19. Jahrhundert Ketzer nicht mehr in Flammen aufgingen, war sich Darwin(6), der im Jahr 1882 starb, durchaus bewusst(3), in ein Wespennest gestochen zu haben. Obwohl die Evolutionstheorie(3) schon zu seinen Lebzeiten heftige Reaktionen provoziert hatte, die großen Bewährungsproben standen erst bevor.[14] Die 1880er und 1890er Jahre waren eine schwierige Zeit für Darwinisten(1). Denn die Attacken kamen jetzt nicht nur von außen. Auch Biologen hatten gewichtige und durchaus berechtigte Einwände.[15] Zu vieles war noch Theorie ohne Empirie. Bei Licht besehen bestand seine Theorie der Evolution(8) eigentlich aus mehreren Teilbehauptungen, die sich jede für sich bewähren mussten:

Hypothese(2): Evolution(9) findet statt. Arten(4) verändern sich.

Hypothese(3): Die Veränderung vollzieht sich langsam und ziemlich kontinuierlich, ohne große Sprünge(1).

Hypothese(4): Alle Lebewesen stammen von gemeinsamen Vorfahren ab.

Hypothese(5): Im Laufe der Evolution(10) entsteht Vielfalt. Die Anzahl der Arten(2) wächst.

Hypothese(6): Die natürliche (+ die sexuelle) Selektion(1) sind die (wichtigsten) Motoren dieser Veränderungen.

Ein Teil dieser Thesen, insbesondere die Veränderlichkeit der Arten(5) und die gemeinsame Abstammung, wurde zumindest innerhalb der Biologie relativ rasch akzeptiert.[16] Über die Triebkräfte und Mechanismen(1) der Evolution(11), darüber, ob der Prozess langsam und kontinuierlich oder sprunghaft abläuft, wurde jedoch noch lange und heftig gestritten.[17] Erst mit der sogenannten »modernen Synthese« von Evolutionstheorie(4) und klassischer Genetik(4) in den 1930er und 1940er Jahren kam die Evolutionstheorie in ruhigeres Fahrwasser und wurde zu einem Gedankengebäude aus einem Guss.[18] 150 Jahre nach der Erstveröffentlichung von Der Ursprung der Arten, im »Darwin(7)-Jahr«, notierte der Evolutionsbiologe(1) Francisco J. Ayala(1) (*1934): »Darwin vollendete die kopernikanische Revolution, indem er für die Biologie die Vorstellung von der Natur als einem gesetzmäßigen System aus bewegter Materie(6) entwickelte, das der menschliche Verstand ohne Rückgriff auf übernatürliche Mächte zu erklären vermag«.[19]

Die Biologie hat seit Darwins(8) Tod eine steile Karriere hingelegt. Vom Blick in den Mikrokosmos der Zellen(6) oder der Dechiffrierung unserer Erbanlagen konnten Darwin und seine Zeitgenossen nicht einmal träumen. Erstaunlicherweise hat die Biologie trotzdem keine der fünf Hypothesen(7) Darwins zu Fall gebracht.[20] Die Molekularbiologie(1) und die molekulare(5) Genetik(5) haben Darwin nicht widerlegt, sondern – im Gegenteil – glanzvoll bestätigt.[21] Vieles von dem, was im 19. Jahrhundert noch spekulativ war, wurde inzwischen auf ein solides empirisches Fundament gesetzt. Lücken wurden geschlossen und Details ausgearbeitet. Der Kern der Theorie blieb aber erhalten.

Das mag verwundern, denn Darwins(9) Theorie hatte eine weit offene Flanke. Die Mechanismen(2) der Vererbung und die erbliche Grundlage der Varianz(1) innerhalb einer Art lagen für Darwin und seine Zeitgenossen im dichten Nebel der Unkenntnis. Viele Vorstellungen, die Darwin selbst von der Vererbung hatte, stellten sich als falsch heraus. Trotzdem ist die Evolutionstheorie(5) die Klammer, die die ganze Biologie zusammenhält. Der berühmte Evolutionsbiologe(2) Theodosios Dobzhansky(1) (1900–1975) ging noch weiter: »Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution(12)«[22] – Gründe genug, sich als Einstieg in die Biologie des Menschen erst einmal Darwins Theorie und ihre Karriere näher anzusehen.

Wie funktioniert Evolution?(13)

Auf den ersten Blick wirkt Darwins(10) Vorschlag abenteuerlich. Wie sollten alle lebenden Organismen in all ihrer Komplexität durch spontane, gar zufällige Prozesse, ohne eine lenkende Instanz entstanden sein? Schließlich übersteigt schon die Komplexität einer kleinen Stubenfliege alles, was Menschenhand bisher erschaffen hat, inklusive I-Phone und Jumbojet.

Damit sind wir beim ersten Missverständnis, der Rolle des Zufalls. Das Kochbuch der Evolution(14) verzeichnet erstaunlich wenige Zutaten: Die erste Zutat ist eine gewisse Varianz(2) zwischen den Individuen(3) einer Art. Diese kleinen Unterschiede sind offensichtlich. Wir (und die meisten anderen Lebewesen) sind keine eineiigen Zwillinge. Darwins(11) Theorie steht so in einem scheinbar paradoxen Spannungsfeld zwischen Stabilität und Veränderlichkeit. Sie setzt nämlich auch voraus, dass die Zugehörigkeit zu einer Art in einem überindividuellen, artspezifischen Bauplan angelegt ist. Dieser Bauplan ist es, der eine Spezies(1) konstituiert und Kontinuität zwischen den Generationen herstellt. Er ist der Keim, aus dem Kinder und Enkel hervorgehen. Gleichzeitig ist der Bauplan aber auch verantwortlich für die »kleinen Unterschiede«, die den ererbten Teil der Einzigartigkeit von Individuen ausmachen.

Die zweite Zutat der Evolutionstheorie(6) sind die Baupläne selbst und ihre Vererbung. Darwin(12) kannte das Wesen der Baupläne nicht. Er konnte nicht wissen, wie vererbbare Variationen zwischen verschiedenen Individuen(4) innerhalb einer Art entstehen.[1] Die Naturforscher seiner Zeit nannten die Saat, aus der eine neue Generation aufgeht, etwas hilflos das Keimplasma(1), ohne eine Vorstellung zu haben, was sich dahinter verbirgt. Darwin ging einfach vom Offensichtlichen aus, von den Unterschieden zwischen einzelnen Phänotypen(1).

Inzwischen kennen wir die Natur dieser Baupläne. Wir haben gelernt, dass sie in vieler Hinsicht einem Text gleichen.[2] Diese Texte sind das gemeinsame Erbe, im platonischen(2) Sinn die Essenz(1) einer Art. Sie sind das, was von Generation zu Generation weitergegeben wird. Wie bei anderen Texten, die immer wieder abgeschrieben werden, schleichen sich mit der Zeit Fehler ein. Diese Abweichungen sind erbliche Anteile der Varianz(3). Sie verdanken sich tatsächlich Zufallsprozessen,[3] und so kommt an dieser Stelle der Zufall zu seinem Recht. Die Natur der Texte – wir nennen sie heute Gene(6) – und der Mechanismus(3) des Zufallsprozesses wurden fast 100 Jahre nach Darwins(13) Tod entschlüsselt. Ihnen ist das nächste Kapitel gewidmet.

Versetzen wir uns jedoch zunächst nochmals in Darwins(14) Lage und gehen vom Offensichtlichen aus: So gesehen erscheint es selbstverständlich: Wenn Zebrafinken sich paaren, bringen sie wieder Zebrafinken zur Welt und nicht etwa Amseln oder Meisen. Aber warum ist das so?

Erblichkeit findet sich auch bei subtileren Merkmalen(3), die die Unterschiede zwischen einzelnen Individuen(5)innerhalb einer Art ausmachen. Ein japanisches Paar wird keine blonden, blauäugigen Nachkommen zeugen. Merkmale(4) wie die krumme Nase des Großvaters oder das pechschwarze Haar der Mutter überdauern in Familien oft Generationen. So weit, so offensichtlich. Bis zu diesem Punkt erscheint die Welt der Kreaturen statisch und unveränderlich, denn es ist kaum vorstellbar, dass zufällig, von einer Generation zur anderen, so viele neue Webfehler entstehen und dabei eine sinnvolle neue Konstruktion oder gar eine neue Art herauskommt. Leider wird jedoch genau dieses schräge Bild der Evolutionstheorie(7) noch immer genutzt, um sie lächerlich zu machen. Diese Genetische(7) Drift(1)[4] ist eine wichtige Zutat, aber sie reicht natürlich nicht aus, um die Entstehung neuer Arten(3) zu erklären.

Dafür kommt die dritte Zutat ins Spiel. Wir leben in einer Welt, die den Überlebens- und Fortpflanzungschancen(1) der Varianten(4) innerhalb einer Spezies(2) Grenzen setzt. Manche Individuen(6) sind erfolgreicher als andere. Die wählerische Umwelt(1) ist der Flaschenhals, durch den sich jede neue Generation hindurchzwängen muss. Darwin(15) bezeichnete diese Auswahl der besser angepassten Individuen als Selektion(1). Die Selektion ist der eigentliche Markenkern der Theorie. Gerne wird Selektion und damit die Bevorzugung besser angepasster Varianten auf die Formel survival of the fittest(1) gebracht. Der Begriff stammt nicht von Darwin, sondern von seinem Zeitgenossen, dem Naturphilosophen Herbert Spencer(1) (1820–1903).[5] Spencers Diktum ist sexy und griffig. Darwin hat es unglücklicherweise übernommen, denn es hat wie vielleicht kein zweites zu Missinterpretationen der Evolutionstheorie(8) verführt. Schließlich ist das Überleben (survival) für die Evolution(15) eigentlich von untergeordnetem Interesse. Gene(8), die einen Tiger mit überragender Kraft, Schnelligkeit und Jagdglück ausstatten, ihn doppelt so alt werden lassen wie seine Artgenossen, die ihn aber gleichzeitig impotent machen, würden sofort wieder aussortiert werden. Überleben ist nur die halbe Miete. Letztendlich geht es um etwas anderes.

Das sehen wir an einem Phänomen, das Biologen antagonistische Pleiotropie(1) nennen: Merkmale(5) können gleichzeitig verschiedene, teilweise sogar gegensätzliche Effekte haben. So hat die männliche Prostata eine hohe Stoffwechselrate(2), was der Beweglichkeit der Spermien und damit der Fortpflanzung zuträglich ist. Die Kehrseite der Medaille: Genau diese Eigenschaft prädestiniert die Prostata mehr als jedes andere männliche Organ dafür, Krebs zu entwickeln, ein möglicherweise tödlicher Pferdefuß.

Nicht das Überleben, sondern die erfolgreiche Weitergabe an die nächste Generation, die Fitness(1), ist die entscheidende Zielgröße evolutionären(16) Erfolgs. Fitness ist ein biologischer Terminus technicus und hat in diesem Kontext wenig mit unserem Alltagsverständnis des Begriffs zu tun. Gerne personifizieren wir den Selektionsdruck(1). Wir denken dabei in Szenarien von Jägern und Gejagten. Hasengene sind erfolgreich, wenn sie die Hasen mit Wachsamkeit und Geschwindigkeit ausstatten, um dem Luchs zu entgehen und umgekehrt.

Die Umwelt(2), in der sich Individuen(7) bewähren müssen, hat aber weit mehr Dimensionen und übt ihren Selektionsdruck(2) auf ganz unterschiedlichen, zum Teil sogar konkurrierenden(1) Ebenen aus. Zur Umwelt gehören nicht nur potentielle Konkurrenten, Fressfeinde[6] und Beutetiere, sondern auch Klima, geologische Gegebenheiten und vor allem begrenzte Ressourcen wie Licht, Luft, Nahrung und Wasser(3). Das Kaninchen muss sich ernähren, es muss überwintern, es muss Krankheiten überstehen, es muss sich paaren und dabei eventuelle Nebenbuhler erfolgreich ausstechen, es muss von der Häsin erwählt werden und es muss schließlich auch seine Kinder erfolgreich aufziehen können.

Exkurs Fitness(2)

Fitness(3), wie sie die Biologie versteht: In puncto Evolutionsbiologie(3) ist Fitness (w) zunächst nichts als eine Zahl. Diese Zahl ist das Produkt einer wohl definierten mathematischen Operation. Je nachdem, welche zeitliche Perspektive auf die Fitness(4) gewählt wird, zerfällt der Begriff in zwei Varianten(5). Die individuelle(8) Fitness(1) beschreibt, wie viel weniger Nachkommen eines gegebenen Allels (Version eines Gens) im Vergleich zu dem erfolgreichsten Allel(1) des betreffenden Gens in der Population(1) durchschnittlich pro Leben produziert werden.

Umwelt(3) muss – bezogen auf die genetische(9) Grundlage von Merkmalen(6) – sogar noch weitergedacht werden. Veränderungen in unseren Genen – das werden wir im nächsten Kapitel sehen – sind keine isolierten Ereignisse. Die Produkte der meisten Gene gleichen winzigen Rädchen in einem komplizierten Uhrwerk. Der Nutzen der Veränderung eines Bauteils muss sich daran messen lassen, wie gut er sich ins gesamte Funktionsgefüge einpasst.

Ein weiterer Aspekt der Fitness(6) kann gar nicht oft genug betont werden: Fitness ist relativ! Sie gilt nur in Bezug auf einen bestimmten räumlichen und zeitlichen Kontext. Ändern sich die Gegebenheiten, so können bewährte Merkmale(7) sogar vom Segen zum Fluch werden. Nehmen wir die Ohren der Füchse: Große Ohren haben Vorteile. Sie bündeln und fokussieren die Schallwellen und verbessern das Gehör. Im heißen Wüstenklima haben große Ohren einen weiteren Vorteil. Die gute Durchblutung und ihre große Oberfläche machen sie zur idealen Klimaanlage. Sie können Hitze aus dem Körper ableiten. Die größten Ohren aller Füchse relativ zur Körpergröße haben die Wüstenfüchse. In kalter Umgebung kann der Netto(1)-Nutzen großer Ohren aber rasch ins Negative abgleiten. In den Polarregionen geht es nicht um Kühlung, sondern darum, Wärmeverluste zu begrenzen. Nicht umsonst haben Polarfüchse die kleinsten Ohren. Die Ohren von Meister Reinicke, der in unseren gemäßigten heimischen Wäldern lebt, liegen naturgemäß zwischen beiden Extremen. Die Ohren der Füchse zeigen die Grenzen der Optimierung von einzelnen Merkmalen(8) auf. Der akustische Vorteil großer Ohren verwandelt sich in bestimmten Kontexten zum Netto-Nachteil, in anderen nicht. Noch etwas macht deutlich, dass Fitness nie absolut verstanden werden darf. Würde die Evolution(17) immer »fittere« Populationen(2) entwickeln, dann würde das Risiko auszusterben geringer werden, je länger eine Art existiert. Das aber ist nicht der Fall! Diese Erkenntnis verdanken wir dem Paläontologen(1) Leigh van Valen(1) (1935–2010).[7] Er verglich die Aussterberaten von fast 50 verschiedenen Gruppen von Organismen in Bezug auf die Dauer ihrer bisherigen Existenz.[8] Er musste feststellen, dass das Risiko, zu einem bestimmten Zeitpunkt auszusterben, unabhängig von der Zeit ist, die diese Art bereits auf der Erde verbracht hat. Die Evolutionstheorie(9) hat noch eine weitere Konsequenz. Mehr noch als Uhren, Automobile oder Taschenrechner sind Organismen komplizierte und vor allem interdependente Systeme, die nicht plötzlich und willkürlich jede beliebige neue Zustandsform annehmen können. Wenn die graduelle Privilegierung durch kleine zufällige Veränderungen im Erbgut einzelner Organismen die Evolution maßgeblich vorantreibt, dann müssten wir fast zwangsläufig mit quälend langsamen und vorwiegend schrittweisen Veränderungen rechnen. Am Ende wirkt es fast ein wenig enttäuschend, dass die Lösung des »größten Rätsels« in dem fast trivialen Dreiklang von Mutation(1),[9] (phänotypischer(2)) Varianz(1) und Selektion(3) (der fittesten Varianten) bestehen soll.

Die großen Fragen

Ganz so einfach ist die Sache nicht! Auch wenn es im Kern diese drei Zutaten sind, die die Evolution(18) vorangetrieben haben, so lädt dieses kondensierte Bild der Theorie doch zu kritischen Fragen geradezu ein.

Darwin(16) betonte den graduellen Charakter. Evolution(19) ist zum Synonym für langsamen, stetigen Wandel geworden. Der Blick auf die Lebewesen und ihre Geschichte konfrontiert uns aber mit einer Unzahl echter oder scheinbarer Sprünge(2) und Diskontinuitäten. Wie bringt ein solches Szenario so radikale Brüche wie die Gräben zwischen den Arten(6) zustande?

Die zweite dicke Nuss, die Darwins(17) Epigonen zu knacken hatten, ist die Erklärung komplexer Funktionsgefüge, die ihren biologischen Nutzen aber scheinbar erst dann entfalten, wenn das intakte Ganze komplett ist. Ein gerne zitiertes Beispiel ist das menschliche Auge. Es funktioniert nur ganz oder gar nicht.[10] Nun aber ist die Selektion(4) nun mal blind für die Zukunft. Sie kann nicht antizipieren, ob eine Veränderung irgendwann einmal von Nutzen sein könnte, und eine entsprechende Mutation(2) bis dahin archivieren.

Ein drittes Problem ist die Geschwindigkeit: Darwin(18) zeichnete das Bild eines langsamen, ruhigen Flusses. In Wirklichkeit finden sich in der Entwicklungsgeschichte Hinweise auf lange Phasen relativer Stagnation, die von kurzen[11] Episoden raschen Wandels unterbrochen werden, zumindest wenn wir auf die Ebene der Phänotypen(3) blicken. Wie passen diese wechselnden Geschwindigkeiten ins Bild?

Ein viertes, lange heiß umstrittenes Problem war die Frage nach dem Motor der Evolution(20). Was treibt sie an? Wird sie gar »gezogen« und strebt auf ein finales Ziel hin? Die meisten Naturwissenschaftler einigten sich ziemlich rasch darauf, der alten aristotelischen Idee von einem finalen Zweck als Triebkraft[12] eine Absage zu erteilen. Jedoch dauerte es bis in die 1930er Jahre, bis Darwins(19) Vorstellung von der natürlichen (und sexuellen) Selektion(2) als Motor der Evolution allgemein anerkannt wurde. Der Motor ist inzwischen wenig umstritten, aber bis heute streiten sich Biologen, ob wirklich jedes Merkmal(9) durch Selektion(5) geformt wurde.

Und dann wäre da noch ein Problem, das für das Thema dieses Buches von besonderer Bedeutung ist. Das Konzept der Selektion(6) der Fittesten(7) klingt wie eine Ode an den Eigennutz. Wenn die Selektion bei jedem Generationssprung immer die »erfolgreichsten« Individuen(9) privilegiert, dann scheint eine Entwicklung hin zum immer rücksichtsloseren, selbstverliebten Egoisten vorgezeichnet. Ist das aber wirklich der Fall?

Auch hier setzt die Realität die Theorie unter Rechtfertigungsdruck, denn überall in der Natur existieren Sozialsysteme, die ihren Erfolg der Kooperation(1) verdanken. Altruistisches(1) oder kooperatives Verhalten(2) findet sich an vielen Ecken und Enden des Tierreichs.[13] Ein Paradebeispiel ist das Konzept der Familie. Die Entstehung kooperativen oder gar altruistischen(2) Verhaltens ist ein Problem, das schon Darwin(20) umtrieb.

Eng verknüpft damit ist die Frage nach dem wahren Objekt der Selektion(7). Für frühe Darwinisten(2) schien die Antwort auf der Hand zu liegen. Natürlich sind es die Individuen(10), die den »Kampf ums Dasein« ausfechten. Was Darwin(21) aber nicht wusste: Die vererbbare Varianz(6) zwischen Individuen ist eine Frage der Chemie(4). Sie verdankt sich subtilen Unterschieden zwischen riesigen Molekülen(6). Die materielle(7) Grundlage der Varianz ist also einige Stockwerke tiefer im Weltgebäude angesiedelt. Wenn Individuen selektiert werden, dann sind die beiden essentiellen Zutaten der Evolutionstheorie(10), Varianz und Selektion, in verschiedenen Stockwerken des Weltgebäudes zuhause. Varianz entsteht auf der Ebene der Moleküle, selektiert werden Individuen. Diese Kluft bereitete Evolutionsbiologen(4) aus vielerlei Gründen Unbehagen.

Auch wenn Darwins(22) Theorie elegant und einfach ist, im Detail stecken viele kleine Teufel. Darwin gelang ohne Zweifel ein ganz großer Wurf, vielleicht das wichtigste Buch der Biologie. Aber – ein Kennzeichen eines guten Buches – es produzierte auch ein ganzes Bündel neuer verzwickter Fragen. In den folgenden Abschnitten soll erzählt werden, wie Biologen diese Nüsse geknackt haben. Beginnen wir mit einem echten Luxusproblem, das Darwin einiges Kopfzerbrechen bereitet hat, beginnen wir mit dem Problem der Schönheit.[14]

Das Problem der exzessiven Strukturen oder die Erfindung des Sex

Manchmal reicht ein einziger sperriger Baustein, um einen ganzen Turm ins Wanken zu bringen. Das gilt für reale Türme ebenso wie für die Türme der Wissenschaft.

Darwins(23) Theorie mit dem Paradigma des schrittweisen Wandels durch Anpassung(2), getrieben von der bevorzugten Auswahl der jeweils Bestangepassten, steht eindeutig unter dem Primat(1) der Nützlichkeit. Daher stehen scheinbar zweckfreie oder gar hinderliche Merkmale(10) der Theorie im Wege. Darwin sah das Problem sehr wohl: »Die(se) […] Bemerkungen veranlassen mich dazu, einige Worte über die […] von einigen Naturforschern vorgebrachte Verwahrung gegen die Nützlichkeitstheorie zu sagen, nach welcher nämlich alle Einzelheiten […] zum Vorteil ihres Besitzers hervorgebracht sein sollen. Dieselben sind der Meinung, dass sehr viele organische(2) Gebilde nur der Schönheit wegen vorhanden sind. […] Derartige Lehren müssten, wenn sie richtig sind, meiner Theorie unbedingt verderblich werden.«[15]

Schönheit war für Darwin(24) also ein Problem. Und in der Tat kann es Merkmale(11) geben, die nur Epiphänomene und nicht adaptiv(1)[16] sind, die daher nicht durch Selektion(8) optimiert wurden. Merkmale entstehen schließlich auch im Auge des Betrachters. Wohl mag es schlicht unser subjektives Urteil sein, wenn wir ein galoppierendes Pferd oder das Gefieder eines Papageis schön finden. Prinzipiell können Varianten(7) von Merkmalen(12) entstehen, die neutral sind und nicht gleich dem gnadenlosen Effizienztest der Selektion unterworfen werden. Neutral bedeutet, dass ein Merkmal(13) keinen Einfluss auf die Fitness(8) des betreffenden Individuums(11) hat. Neutrale Merkmale schwimmen als eine Art evolutionärer(21) Beifang im Strom der Zeit mit.[17] Ist Schönheit also nichts als Zufall? Das Konzept der neutralen Merkmale löst nicht alle Probleme, die wir mit der Schönheit haben.

Darwins(25) Ausweg heißt Sex: »… alle unsere prächtigst geschmückten Vögel, manche Fische, Reptilien, Säugetiere und eine Schar prächtigst gefärbter Schmetterlinge, die nicht der Schönheit wegen schön geworden sind, […], sondern durch geschlechtliche Selektion(3).«[18] Darwin deutete die Rolle der sexuellen Selektion(9) schon in Der Ursprung der Arten(7) an. Wirklich ausgeführt hat er die Idee aber erst in Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl.[19]

Was aber bedeutet Sex und wieso kann sexuelle Selektion(4) Merkmale(14) erklären, die nicht ins Bild der Selektion(10) als gnadenlose Optimiererin passen? Hunderte Millionen von Jahren kam das Leben ohne Sex aus. Bakterien(1) und Archeen (Prokaryonten(1)) vermehren sich ungeschlechtlich. Sie teilen sich einfach. Sie tun das mit großem Erfolg seit über 3,5 Milliarden Jahren.

Asexuelle (uniparenterale) Fortpflanzung erzeugt Nachkommen, die genetisch(10) mit ihrem Vorfahren identisch sind.[20] Die Biologen bezeichnen solche Nachkommen daher als Klone(1). Auch Menschen klonieren ständig. Ein Mensch entwickelt sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle(1) zu einem Organismus von Billionen von Zellen(7). Die Fähigkeit zum Klonieren, also zu asexueller Zellteilung, zur Mitose(1),[21] ist die Grundlage der individuellen(12) Menschwerdung, der Ontogenese(1). Diese Form der Zellteilung ist auch die Voraussetzung für das Überleben ausgewachsener Organismen. Viele Zellen unseres Körpers teilen sich permanent, von der Wiege bis zur Bahre. Sie bilden einen Pool ständiger Selbsterneuerung, eine Art von permanentem Jungbrunnen. Aus der Perspektive der Naturgeschichte wie auch aus der Perspektive der meisten Zelltypen ist die asexuelle Vermehrung der Normalfall und Sex die Ausnahme.

Mit der Erfindung des Sex vor etwa einer Milliarde Jahren[22] war es allerdings vorbei mit dem Frieden. Fast alle höheren Tiere und Pflanzen bevorzugen diese Variante(8) der Fortpflanzung. Warum wurde Sex ein Erfolgsmodell? Bevor wir uns jedoch über Vor- oder Nachteile Gedanken machen, sollte geklärt sein, was Sex eigentlich ist. Keine Bange, es folgt kein Exkurs in die Sexualaufklärung. Hier geht es nicht um Details, sondern um das biologische Wesen von Sex. Die Frage lautet: Was unterscheidet die sexuelle Form der Fortpflanzung von der schlichten Teilung eines Organismus, so wie es einzelne Zellen(8)[23] oder auch Bakterien(2) machen?

Für Darwin(26) war dieses Problem eine harte Nuss. Einem Biologen des frühen 19. Jahrhunderts war der Blick in die Welt der Zellen(9) und der Moleküle(7) verwehrt.[24] Was konnte Darwin also über Sex wissen? Offensichtlich existieren bei den meisten Arten(8) von Tieren und Pflanzen zwei Geschlechter.[25] Bei vielen Arten spiegelt sich das Geschlecht mehr oder weniger im Phänotyp(4) wider. Männchen sehen anders aus als Weibchen. Das nennen Biologen Geschlechtsdimorphismus(1). Die biologische Kategorie[26] des Geschlechts ist in den meisten Fällen zunächst einmal invariant(1), ererbt und in einem mathematischen Sinn diskret.[27] Das heißt, auf dieser Ebene sind Individuen(13) meist entweder Männer oder Frauen. Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Sexuelle Vermehrung funktioniert nur, wenn beide Geschlechter beteiligt sind. Anders ausgedrückt, sexuelle Vermehrung ist per definitionem ein Gemeinschaftsprojekt zweier asymmetrischer Kategorien von Lebewesen.

Darwin(27) wusste auch, Sex macht nicht zwangsläufig die Vereinigung zweier Leiber notwendig. Er wusste, dass manche Tiere und Pflanzen Sex aus ihrem Körper ausgelagert haben. Sie zeigten ihm, worum es beim Sex – biologisch betrachtet – wirklich geht: um die Verschmelzung zweier unterschiedlicher Sorten von Keimzellen(1) (Gameten). Sexuelle Fortpflanzung setzt also die Existenz zweier dafür spezialisierter Typen von Keimzellen voraus (Anisogametie(1)). Männer sind (in diesem Zusammenhang) dadurch definiert, Samenzellen(1) beizutragen, während die Frauen Eizellen(2) zur Verfügung stellen.

Fische oder Pflanzen produzieren Samenzellen(2) respektive Pollen en masse, denn diese erreichen die Eigelege der Fischweibchen oder die Stempel anderer Blüten meist nur per Zufallstreffer. Schiere Masse erhöht hier die Fortpflanzungschance(2). Exzessive Überproduktion ist notwendig, um eine hinreichende Anzahl an Treffern wahrscheinlich zu machen.

Überproduktion ist aber Ressourcenverschwendung. Viele Blütenpflanzen helfen daher dem Zufall ein wenig auf die Sprünge(3). Sie locken Boten in Gestalt von Insekten oder Vögeln an, die Pollen direkt von Blüte zu Blüte übertragen, anstatt sie den Launen des Windes anzuvertrauen. Den Preis für diese Botendienste entrichten die Pflanzen in Form von Nektar oder einer besonders attraktiven Ausgestaltung ihrer Blüte, um möglichst viele dienstbare Geister anzulocken.

Soweit war die sexuelle Fortpflanzung auch den Biologen des 19. Jahrhunderts zugänglich. Darwin(28) wusste aber nicht, was im Inneren der Keimzellen(2) vor sich geht. Sein Jahrhundert war geprägt von Mischungstheorien.[28] Ähnlich wie sich Wein und Wasser(4) zur Schorle vermischen, sollten Kinder eine Mischung mütterlicher und väterlicher Eigenschaften in sich vereinigen. Das Konzept des Mischens hat einiges für sich. So gibt es durchaus phänotypische(5) Merkmale(1), die gut zur Metapher der Schorle passen. Die Kinder kleiner Mütter und großer Väter tendieren zum Beispiel zur Mitte zwischen den Extremen.[29]

Darwin(29) ahnte aber, eine Theorie, die auf Vermischung beruht, könne nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Die Mischtheorie war nicht mit seiner Vorstellung von Evolution(22) in Einklang zu bringen, da durch Mischung schwerlich prägnante phänotypische(6) Varianten(2) entstehen können, sondern alles in einem Einheitsbrei münden würde. Zumindest die biologischen Merkmale(1), die ein Individuum(14) als männlich oder weiblich kennzeichnen, beruhen ganz offensichtlich auf Erbfaktoren, die sich eben nicht mischen, sondern in abgeschlossenen »Paketen« vererbt werden. Heute ist klar, dass alle Erbinformationen in Form solcher »Pakete« vorliegen. Wir nennen sie »Gene(11)«.[30] Jedes Elternteil legt seinem Kind seine Variante des Pakets in die Wiege. Die mütterliche und die väterliche Variante können identisch sein (Homozygotie(1)) oder sich in Details voneinander unterscheiden (Heterozygotie(1)).[31] Bei Menschen ist die Erbinformation auf 23 unterschiedliche Chromosomen(1) verteilt. Diese 23 Chromosomen liegen in doppelter Ausführung, also als Paare vor. Zellen(10), die über einen Satz von 2 × 23 Chromosomen und damit eine zweifache Ausführung aller Gene verfügen, nennt man diploid(1). Ein Chromosom jedes Chromosomenpaars stammt dabei ursprünglich von der Mutter und eines vom Vater. Alle Zellen unseres Körpers sind diploid, mit Ausnahme der Keimzellen(3).

Und das kommt so: Keimzellen(4) entstehen durch Teilungen von Stammzellen, die ursprünglich über 2 × 23 Chromosomen(2) verfügen. Diese Zellen(11) sind das Erbe der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle(3). Sie entstammen also zwei genetisch(12) unterschiedlichen Individuen(15). Wenn sich diese Stammzellen teilen und zu Spermien oder Eizellen(3) werden, dann passiert etwas Besonderes. In Abgrenzung zur Mitose(2) nennen Biologen die Zellteilungen, die schlussendlich reife Keimzellen hervorbringen, Meiose(1) oder auch Reduktions- oder Reifeteilung. Hierbei handelt es sich um eine Teilung in zwei Schritten:

Bei der ersten Reduktionsteilung wird zwar peinlich darauf geachtet, dass jede der beiden Tochterzellen(12) je ein Chromosom(3) der 23 Chromosomenpaare erhält. Ob es aber die väterliche oder die mütterliche Variante(9) des Chromosoms ist, darüber entscheidet der Zufall. Die Keimzellen(5), die aus der ersten Reifeteilung hervorgehen, sind haploid(1).[32] Ihre chromosomale Zusammensetzung ist aber neu und einzigartig, denn jede stellt eine zufällige Mischung aus mütterlichen und väterlichen Chromosomen dar.

Die Natur lässt aber die Lostrommel hier gleich zweimal kreisen. Als ob sie die endgültige Trennung ahnen würden, schmiegen sich die korrespondierenden (homologen(1)) Chromosomen(4) vor der ersten Reifeteilung wie zum Abschied zu Paaren aneinander. Der Tanz der Chromosomenpaare ist mehr molekularer(8) Abschiedsschmerz. Bei diesem Tanz gehen die einzelnen Chromosomen buchstäblich ineinander auf.

An vorher nicht festgelegten, aber jeweils identischen Stellen, brechen sie auseinander und tauschen die resultierenden Bruchstücke gegeneinander aus. Daraus gehen vollständige, aber neu arrangierte Chromosomenpaare(5) hervor. Die nüchterne Sprache der Biologie hat für diesen erstaunlichen Vorgang den prosaischen Ausdruck crossing over(1)parat.[33] Diese zweite Form der Vermischung durch Crossing over verteilt nicht nur die Chromosomen, sondern auch einzelne väterliche oder mütterliche Allele(3) nach dem Zufallsprinzip auf die Chromosomen der Tochterkeimzellen(13). Crossing over ist so etwas wie ein ultimativer molekularer(9) Liebesbeweis, denn mit ihm geben die Chromosomen ihre Identität auf. Durch die erste Reifeteilung entstehen also Keimzellen(6) mit individuellen(16), neu arrangierten Chromosomen, die jetzt mütterliche und väterliche Elemente auf ein und demselben DNA-Strang eines einzigen Chromosoms miteinander vereinen.[34] Ab diesem Zeitpunkt gibt es in den Keimzellen keine Chromosomen mütterlichen oder väterlichen Ursprungs mehr, sondern nur noch Chromosomen, die sowohl mütterliche und als auch väterliche Allele enthalten.

Die Zuordnung der Gene(13) zu den Chromosomen(6) und das räumliche Arrangement der Genloci(1) auf dem Chromosom[35] bleiben erhalten, aber manche Gene werden jetzt durch das väterliche Allel(4) und manche durch das mütterliche Allel vertreten. Waren vor dem Crossing over(2) auf Chromosom 7 die Allele a, b, x vereint, so könnten es jetzt A, B, x oder A, B, X oder auch a, B, X sein.