Das Tierreich - David Albahari - E-Book

Das Tierreich E-Book

David Albahari

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Beschreibung

Vier junge Männer finden scheinbar zufällig während ihres Militärdienstes bei der Jugoslawischen Volksarmee zueinander. Ihr Anführer Dimitrije Donkić gibt allen Tiernamen und nennt seine Gruppe das "Tierreich". Was anfänglich harmlos aussieht, ändert sich, als Miša dazu stößt: Er war maßgeblich an den Studentenunruhen in Belgrad 1968 beteiligt, aber das weiß nur der Tiger. In Aufzeichnungen, die dieser hinterlässt, um einen Mord zu ergründen, treibt ihn die Frage um, ob und von wem Miša enttarnt wurde. Seine eigene Rolle in dem tödlichen Spiel wird dem Tiger zunehmend unklar, und bald verliert er als Autor der Geschichte jegliche Gewissheit. Der Protest der Studenten scheint manipuliert und der Sieg der Mächtigen unaufhaltsam zu sein: "Alles bestätigte endgültig, dass die Zukunft nicht mehr das war, was sie früher war, und dass selbst die Vergangenheit nicht ganz sicher vor Veränderungen sein konnte." In der Tradition abgründig kommentierter Texte von Nabokovs "Fahlem Feuer" bis Ecos "Der Name der Rose" erzählt David Albahari vom verführerischen Sog des Bösen.

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Seitenzahl: 201

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INHALT

[Cover]

Titel

EINLEITUNG

PROLOG

DIE GESCHICHTE

EPILOG

ENDNOTEN

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Nichts in Sicht]

EINLEITUNG

Das dem Leser hier vorliegende Manuskript wurde Ende Juni 2005 am Belgrader Flughafen in einem Abfalleimer gefunden. Es steckte in einem blauen Ordner, der mit Figuren aus Walt Disneys Zeichentrickfilmen beklebt war. Der Mensch, der ihn aus dem Abfalleimer herausgefischt hatte, nahm ihn mit nach Hause im Glauben, es handele sich um Erzählungen für Kinder, aber sobald er merkte, dass im Text von Soldaten und Kasernen die Rede war, übergab er ihn dem Flughafensicherheitsdienst. Der Beamte, der das Manuskript in Empfang nahm, war ein Amateurdichter, Mitglied der literarischen Gesellschaft »Oskar Davičo«. Der Text machte ihn neugierig, er begann darin zu lesen und legte ihn bis zum Ende nicht aus der Hand. Dann gab er ihn dem Präsidenten der literarischen Gesellschaft und dieser seinem Trauzeugen, einem angesehenen Literaturkritiker, der seinerseits empfahl, diesen »packenden Roman« zu veröffentlichen. Die Empfehlung gelangte zu dem Inhaber des kleinen Verlags »Prostor«, der beschloss, das Manuskript herauszugeben. Der Verleger arbeitete lange daran und es gelang ihm, die meisten Unklarheiten zu beseitigen, wobei er besonderes Augenmerk auf die Endnoten richtete: Er brachte sie in die richtige Reihenfolge, strich einige unlogische Gedanken und überflüssige Wiederholungen, fand aber nicht heraus, wie viele Personen an der Abfassung des Manuskripts beteiligt waren. Schließlich muss hier angemerkt werden, dass er eigenmächtig entschied, auf den Hinweis zu verzichten, dass es sich um »das Werk eines unbekannten Autors« handele, zumal solche in der Literaturgeschichte in großer Anzahl anzutreffen seien. Stattdessen zog er es vor, sich irgendeinen Namen auszudenken, den die Leser mit dem Titel des Buchs in Verbindung bringen würden. Falls später der eigentliche Verfasser des Romans auftauchen sollte, würde man seinem Namen sofort den ihm gebührenden Platz auf dem Cover einräumen.

PROLOG

Seit gestern ist die Welt ein etwas besserer Ort.1 In ihr gibt es nämlich Dimitrije Donkić nicht mehr. Ich habe ihn getötet. Ich weiß nicht, wen das mehr überrascht hat, ihn oder mich, nehme aber an, dass es nicht zu vermeiden war: Ich war überrascht, dass er vergessen hatte, er war überrascht, dass ich mich erinnerte. Sich vierzig Jahre an etwas zu erinnern, noch dazu mit vielen Einzelheiten, ist in der Tat eine große Leistung, obwohl es Momente gab, in denen ich bereit war, sofort zum gegnerischen, zum Lager der Vergesslichen, überzulaufen. Es ist so schön zu vergessen, gebe ich offen zu, so leicht im Vergleich zu all dem, was man lernen muss, um fähig zu sein, sich zu erinnern. Man braucht sich nur der Zeit hinzugeben, und sofort beginnt das Vergessen am Gewebe jeder Erinnerung zu nagen. Das Gedächtnis hingegen fürchtet die Zeit, tut alles, um ihr zu entwischen, was eigentlich lächerlich ist, weil niemand ihr entkommen kann. Eine Ausnahme sind Menschen wie ich, Menschen, die sich in der Zeit und im Gedächtnis überhaupt nicht zurechtfinden und planlos dahinleben, jedoch nicht so, wie sie möchten, sondern wie andere es ihnen vorschreiben, selbst wenn sie, diese anderen, der Meinung sind, dass sie niemandem etwas vorschreiben. Kurzum, wäre ich damit beauftragt gewesen, Dimitrije Donkić zu finden, wäre es wahrscheinlich nie dazu gekommen. Und wer weiß, wie oft ich auf den Straßen Torontos an ihm vorbeigegangen bin.2 Eigentlich hat Mara ihn wiedererkannt, obwohl sie gar nicht wusste, dass das ein Akt des Wiedererkennens war. Ohne Mara gäbe es diese Geschichte nicht, oder es gäbe sie in einer anderen Form, und jeder von uns würde darin vielleicht eine andere Rolle spielen. Mara gehört zu den Personen, die scheinbar nichts um sich herum wahrnehmen, dabei aber fast alles sehen. Oft ist mir diese Eigenschaft an ihr aufgefallen und ich habe jedes Mal darüber gestaunt, was sie nur zum Lachen brachte. An dem Abend spazierten wir am Seeufer entlang. Es war warm, die Luft war feucht und schwer, junge Männer und Frauen stießen von Zeit zu Zeit hysterische Schreie aus, als wollten sie dadurch die unerträgliche Schwüle vertreiben. Plötzlich packte Mara mich am Ellenbogen und sagte: »Guck, der Mann dort im Regenmantel, er hat schwarze Ringe um die Augen wie ein Waschbär.« Das ist ein weiteres Beispiel aus dem Arsenal der Unterschiede zwischen uns beiden, denn wäre mir der Mann aufgefallen, dann wegen seines Regenmantels, der an diesem schwülen Abend unpassend war, und nicht wegen der Ringe um die Augen, die Mara an einen Waschbären denken ließen. Ja, Waschbär, das war das Stichwort. Damals, als wir Dimitrije Donkić Waschbär nannten, hatte keiner von uns dieses Tier je in der Natur gesehen. Im Zoo unserer Hauptstadt gab es Wölfe, Löwen, Tiger, Giraffen und Elefanten, verschiedene Mäuse und Fasane, aber an einen Käfig mit Waschbären kann ich mich nicht erinnern.3 Waschbären sah ich zum ersten Mal, als wir nach Toronto kamen, aber auch da dachte ich nicht an Dimitrije Donkić, ich dachte an nichts, weil ich den verzweifelten Wunsch hatte, alles hinter mir zu lassen, so schnell wie möglich ein neues Leben zu beginnen, wieder träumen zu lernen. Vielleicht bin ich, wie gesagt, an ihm vorbeigegangen – die Neuankömmlinge besuchen doch immer dieselben Orte –, ohne zu merken, dass er es war. Damals, jetzt, egal wann, das macht keinen Unterschied, weil es mir offenbar beschieden war, ihn zu töten, was heißt, dass das Ergebnis immer dasselbe gewesen wäre. Nach dem Tod, sagte ich zu Mara, gleiche sich ohnehin alles. »Nein«, antwortete Mara, »erst nach dem Tod treten die Unterschiede zum Vorschein.« Gut, pflichtete ich ihr bei, zuckte mit der Schulter und wollte weitergehen, weil ich wusste, dass es keinen Sinn hat, mit Mara zu streiten. Selbst wenn sie am Ende ihre Niederlage zugibt, tut sie es nur, damit sie sie als einen getarnten Sieg deklarieren kann. Tarnung ist ein gutes Wort, es erinnert mich an die Zeit, als ich Dimitrije Donkić kennenlernte. Mara kannte ich damals noch nicht, obwohl wir in derselben Stadt lebten und sie in einem Park spielte, den ich oft besuchte, aber damals war sie drei Jahre alt, und Puppen und anderes Spielzeug interessierten sie mehr als der grimmige, einsame Soldat, der entgegen allen Vorschriften auf einer Parkbank lag und döste. Siebzehn Jahre später, als ich sie an der Philologischen Fakultät in Belgrad kennenlernte, waren wir beide bemüht, diesen Park (und natürlich viele andere Orte) zu vergessen, aber als jemand in einem Korridor plötzlich laut Banja Luka erwähnte, schauten wir uns an, und seitdem hörten wir, wenn ich so sagen darf, nicht mehr auf, einander anzusehen. Und ich will es gleich sagen: Mara ist mein Gewissen. Mara ist mein guter Wille. Mara erledigt immer alles, was ich verspreche, aber nie einhalte. Ohne sie, das ist jetzt ganz klar, gäbe es auch mich nicht, oder ich würde als eine schwer fassbare Gestalt unter werweißwelchem Namen existieren. Sogar diese Geschichte, die Story von Dimitrije Donkić, ist zum Teil die Geschichte von Mara, egal, auf welche Weise ich sie erzähle. Allein der Versuch sei zum Scheitern verurteilt, warnte ich Mara, weil es Dinge, weil es Menschen und Ereignisse gebe, die größer seien als Worte; sie sprengten den Umfang der Sätze und überschritten die Grenzen der Erzählung. Dimitrije Donkić, sagte ich zu Mara, sei einer von ihnen gewesen.

DIE GESCHICHTE

Ich lernte ihn in Banja Luka kennen, in der Kaserne, in der wir unseren Militärdienst leisten sollten. Wir stellten uns immer als Belgrader vor, obwohl er in Neubelgrad und ich in Zemun lebte. Er kam auf mich zu, während ich in der Schlange stand, um mich registrieren und mir die Uniform verpassen zu lassen, neigte sich zu mir (er war größer und stattlicher als ich) und flüsterte mir ins Ohr: »Ich habe erfahren, dass du aus Belgrad bist, Gott sei Dank, denn diese anderen Stimmen und Akzente kann ich nicht ausstehen. Die sollte man alle kaltmachen, was sagst du dazu?« Ich sagte nichts, und er entfernte sich schnell. Jetzt bereue ich, dass ich nicht konsequent war und ihm nicht immer mit Schweigen antwortete, aber damals war ich noch eingeschüchtert von den Geschichten, die ich vor dem Militärdienst gehört hatte, denen zufolge der militärische Abschirmdienst genau wusste, wer einige Jahre zuvor bei den Studentenprotesten in Belgrad dabei gewesen war.4 Ich hatte eine unbedeutende Rolle gespielt – ich war Mitglied eines der vielen Ausschüsse und Komitees mit klingenden Namen, vielleicht hatte ich nur drei Mal irgendwelche Papiere in Räume gebracht, in denen andere, wohl wichtigere Ausschüsse tagten. Nie aber musste ich etwas zurückbringen, was wohl bedeuten mochte, dass ich Mitglied einer Arbeitsgruppe war, die lediglich Material für einen Ausschuss vorbereitete. Die Betonung meines belanglosen Engagements minderte jedoch nicht meine Befürchtungen. In Belgrad kursierten Gerüchte, wonach sogar Personen Schwierigkeiten bekamen, von denen alle wussten, dass sie nur stumme Beobachter gewesen waren. Einige schafften es beispielsweise nie, zu den vorgeschriebenen Terminen Prüfungen abzulegen, anderen kamen auf mysteriöse Weise ihre Reisepässe abhanden, den Dritten verweigerte man die Aufenthaltserlaubnis in der Hauptstadt, die Vierten wurden überraschend zum Militärdienst eingezogen. Soweit mir bekannt, ist keinem etwas Schlimmes zugestoßen, aber das Militär war eine derart finstere Welt, dass meine Sorge doch ernst zu nehmen war. Das war vermutlich ein weiterer Grund für mein Misstrauen gegenüber Dimitrije Donkić, obwohl es keinen Anlass zu Argwohn gab und sich alles auf die übliche Weise abspielte. In den folgenden zwei, drei Tagen trafen weitere Rekruten ein, und das anfängliche Chaos kam allmählich in geordnete Bahnen. Wir lernten, wo unsere Betten waren, wo sich die Schlafräume befanden und wo unsere Zehen zu sein hatten, wenn wir morgens vor unserem Gebäude in Reih und Glied antraten. Wir wurden zu Angehörigen von Zügen, die eine Kompanie bildeten, bekamen unsere Zugführer und Kompaniechefs, Leutnants und Oberleutnants. Wir bekamen Holzkisten, in denen wir unsere Sachen unterbrachten, und einige Tage später händigte man uns Waffen aus, manche bekamen ein Gewehr, andere eine Maschinenpistole, andere wiederum ein Maschinengewehr.5

Davor gab es das erste gemeinsame Duschen, begleitet von einer Menge vulgärer Sprüche und vom Piesacken solcher, die auf die eine oder die andere Weise aus der Reihe fielen, was dazu beitrug, dass sich sehr schnell verschiedene Cliquen bildeten, die sich redlich bemühten, uns zu zeigen, dass das Leben in der Kaserne für diejenigen, die außerhalb der Gruppen blieben, unerträglich war. Es gab jedoch auch solche, die es schafften, unabhängig zu bleiben und den Status des Einzelgängers zu bewahren. Auch mir gelang das eine Weile. Dann kapitulierte ich. Während der ersten Tage und Wochen nämlich hörte Dimitrije Donkić nie auf, um mich herum zu springen, Fragen zu stellen, sich zu erkundigen. Immerzu bat er um etwas, und wenn er es bekam, dachte er nicht daran, es zum abgemachten Zeitpunkt zurückzugeben, um mich später mit einem ungewöhnlichen Angebot oder einem kleinen Geschenk zu überraschen, etwa mit einer in Zeitungspapier eingeschlagenen Schachtel Neapolitaner. Beim Militär, wo der junge Soldat ständig das Gefühl hat, alle hätten ihn vergessen und er existiere nicht mehr als ein menschliches Wesen, bedeuten solche kleine Gesten viel mehr als in der Welt der Zivilisten. In der Militärwelt wirken sie aufrichtig, durch und durch rein, und wecken einige Hoffnung auf menschliche Güte. Ich will damit nicht sagen, dass der Aufenthalt in der Kaserne von Grausamkeit und Mangel an Menschlichkeit geprägt war, denn bei den Soldaten – so merkwürdig es auch klingt – überwogen solche, die glücklich waren, eine Uniform zu tragen. Und obwohl man bei einigen Soldaten – wie zum Beispiel bei mir – sah, dass die Verzweiflung für sie die schwerste Bürde war, konnte man von den Gesichtern vieler anderer einen Ausdruck von Freude ablesen. Allein das Gesicht von Dimitrije Donkić blieb unverändert, genauer gesagt, sein Gesicht konnte beides ausdrücken, je nachdem, mit wem er sprach.6 Mir zeigte er seine Verzweiflung, anderen seine Zufriedenheit, aber nichts deutete darauf hin, was von beiden echt war. Wie auch immer, ich gab ihm immer wieder nach und geriet allmählich unter seinen Einfluss. Hätte ich damals gewusst, wohin das führte, wäre alles anders geworden. In dem Fall könnte es zwar sein, dass auch ich nicht mehr am Leben wäre, was bedeutet, dass niemand erzählen könnte, was Dimitrije dem Waschbär, Miša dem Spatz, Redžep der Schlange und Goran der Zecke zugestoßen ist. Ja, mit anderen Worten, sie sind alle tot, alle außer mir, dem Tiger. Ich hatte ihnen nämlich das Tiger-Gedicht von William Blake vorgetragen. Zuerst auf Englisch (Tyger Tyger, burning bright, in the forests of the night; what immortal hand or eye could frame thy fearful symmetry?), dann in meiner wörtlichen Übersetzung, denn eine andere kannte ich nicht.7

Das Gedicht gefiel ihnen, sie drängten mich, es noch zweimal zu wiederholen, und belohnten mich anschließend mit Beifall. All das geschah vor der Militärkantine unter den vorhersehbaren Zurufen anderer Soldaten (»Soll dich der Tiger ficken«, »Deine Mutti ist eine Tigerin, Junge!« und Ähnliches). Dimitrije Donkić meinte dann, dass es, nachdem schon drei von ihnen, wie er sagte, tierische Spitznamen hätten, gerecht wäre, auch mir einen zu verpassen, und dass sie mich deshalb in Zukunft Tiger nennen würden. Bald bezeichnete jemand unsere Gruppe als »Tierreich«, und so bekam auch Miša, als er sich später zu uns gesellte, einen entsprechenden Spitznamen, er wurde nämlich Miša der Spatz. Bevor er zu Anfang des »Tierreichs« zu uns stieß, bildeten Dimitrije Donkić und ich ein Paar, da wir beide aus Belgrad waren, das andere Paar waren Redžep die Schlange und Goran die Zecke, die beide aus Priština kamen. Später verstand ich mich einige Zeit gut mit Redžep, während Goran und Dimitrije unzertrennlich wurden. Als Miša kam, änderte sich alles, weil mit der Aufnahme des fünften Mitglieds die Gruppe ihre einfache Symmetrie einbüßte. Wir betraten die Welt der asymmetrischen Zusammenschlüsse, zu der Geheimabsprachen, Einflussnahmen, Lügen und willkürliche Meinungsänderungen gehörten. Miša hatte anfangs nur mit mir Kontakt, was Redžep, Dimitrije und Goran veranlasste, die, wie Miša und ich sie nannten, »erste Stoßtroika des Tierreichs« zu bilden. Ich nenne ihn Miša, weil er sich so vorstellte, sein richtiger Name lautete Miodrag, doch früher hatten ihn alle Majk genannt. Majk und Miša, das klingt nicht gerade ähnlich, was für die Suche nach jemandem, der Miodrag hieß, bestimmt hinderlich war. Nachdem sich Miša später mit Dimitrije Donkić anfreundete, oder besser gesagt, nachdem er sich genötigt sah, wenigstens ein bisschen auf ihn zuzugehen, schloss sich Redžep wieder Goran an, und ich blieb allein. Aber das tat mir nicht leid. Beim Militär ist die Einsamkeit das höchste Gut, was bedeutet, dass die Mehrheit sie nicht respektiert. In dem Augenblick, da jemand versucht, sich abzusondern, kommen, als hätten sie nur auf diese Gelegenheit gelauert, zwei oder drei Soldaten auf ihn zu und beginnen ihn auf verschiedenste Weisen daran zu hindern. Das mag einem Außenstehenden wie ein Spiel vorkommen: Einer sondert sich von der Gruppe ab und will sich mit schnellen oder langsamen Schritten oder aber watschelnd wie eine Ente entfernen, doch egal, wie er sich bewegt, er kehrt immer zurück zu der Gruppe, die er verlassen wollte. Vermutlich hatte jemand an der Spitze des Militärs Angst, der Wunsch nach Einsamkeit könnte der Anfang eines Wegs ohne Ende, eines Wegs in den Selbstmord sein, der das Heer besudeln und die Zahl derer vergrößern würde, die sich vor dem Militärdienst zu drücken versuchen.8 Indessen spürte ich die ganze Zeit, ob allein oder nicht, wie Dimitrije mir im Nacken saß und auf einen günstigen Augenblick wartete, mir nahe zu kommen. Er kam langsam, ohne Eile auf mich zu, wobei er mich geschickt für sich einnahm und mir nicht gestattete, die Dinge so zu sehen, wie sie waren. Nach der Begrüßung neuer Rekruten, als er listig darauf bestand, dass wir als Großstadtkinder etwas Besseres seien als die anderen, als die, wie Dimitrije sie nannte, »armen Teufel«, denen das Schicksal beschieden hatte, in kleinen Städten und in Provinznestern des Landes geboren zu werden, erkannte ich mit Erstaunen, dass er mit diesen Worten etwas in mir berührte, das mir missfiel, aber mich leicht dazu verleiten konnte, ihm wie ein Hund zu folgen.9

Er hatte sich für mich jedoch etwas anderes ausgedacht. »Hunderollen« bekamen Redžep die Schlange und Goran die Zecke, während mir die Rolle des Köders zugedacht war für den, dessentwegen all das geschah. Hinter das Ganze kam ich erst viel später. In jenen Tagen ging ich voller Glücksgefühl zu einem Gebäude, in dem die Soldaten mehrerer Kompanien untergebracht waren, und wartete, dass Dimitrije Donkić erschien. Er kam immer mit einer Menge Informationen über die Kaserne, die Außenwelt, einzelne Soldaten und Offiziere und, was besonders wichtig war, mit einem Kännchen Kaffee. Er wusste immer, wo es einen einigermaßen abgelegenen Raum gab, in dem wir Kaffee trinken und uns unterhalten konnten. Dabei stellte sich heraus, dass er ähnliche Musik hörte wie ich und dass seine Lieblingsschriftsteller just die waren, die ich immer mochte, Saroyan und Wolfe und vor allem Faulkner. Später, als ich zusammen mit Mara versuchte, den ganzen Lauf der Geschichte nachzuverfolgen, fiel es uns schwer, zu verstehen, wieso ich ihm so blind hatte vertrauen können. Na gut, sagte ich mir, seine Forderungen waren, zumindest am Anfang, nicht hoch, und es stimmt auch, dass ich mich an ihn wie an ein Anhängsel gewöhnt hatte, das zwar für das Funktionieren des Organismus nicht unentbehrlich ist, mit dem man sich aber besser fühlt als ohne. Jetzt kann ich dafür nur jenes Gefühl einer schrecklichen Leere und Sinnlosigkeit verantwortlich machen, das einen befällt, wenn man in eine unliebsame Situation gerät, weil dann jede Geste guten Willens mehr bedeutet als im gewöhnlichen, täglichen Leben. Wie auch immer, ich zitterte in der Erwartung, Dimitrije Donkić zu sehen, statt mich zu fragen, woher er alles wusste, woher er die vertraulichen Informationen über verschiedene Leute und Ereignisse bekam. Damals war mir das nicht wichtig, weil mir Dimitrije Donkić gab, wonach ich mich sehnte: Er benahm sich mir gegenüber wie zu einem klar definierten Individuum und nicht wie zu einer Person ohne Identität, einer von vielen, die dem Militär passten und zu der uns das Militär machen wollte. An Samstagen, wenn wir gruppenweise in die Stadt gingen, stellten wir fest, dass wir eigentlich unsichtbar waren, denn die Leute gingen an uns vorbei, als gäbe es uns nicht. Das konnte man sehr gut an den Blicken der Mädchen beobachten. Sie gingen durch uns hindurch wie Röntgenstrahlen, und wenn wir uns erkühnten, die Mädchen anzusprechen, blickten sie erstaunt hoch über unsere Köpfe, als hätten sie soeben seltsame Stimmen aus einem im unendlichen Universum verlorenen Ort vernommen. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob der Soldat gut aussah, groß oder klein war, aus Fett oder aus Muskeln bestand. Das Ergebnis war immer dasselbe. Das war wohl jener »universelle Soldat«, den früher einmal der rebellische Donovan besang. »Aus euch werden nie anständige Soldaten«, sagte uns der Oberleutnant mit rauer Stimme, worauf mein Herz lospochte, als hätte er gesagt, ich könne nach Hause gehen. »Im Krieg«, sagte er weiter, »beträgt eure Lebenserwartung als Angehörige der motorisierten Infanterie etwa sieben Minuten, und unsere Aufgabe ist es, euch so auszubilden, dass ihr in jeder dieser sieben Minuten besser seid als irgendein Feind.« Er beendete seine Begrüßungsrede und befahl, zum Frühstück zu gehen. Wir folgten ihm mit gesenkten Köpfen, als führe man uns zum Schafott und nicht in die Kantine. »Der Oberleutnant redet Stuss«, lautete der Kommentar von Dimitrije Donkić beim Frühstück. »Von wegen sieben Minuten!« Ihm, Dimitrije, sagte er, seien andere Zahlen bekannt, nämlich solche, nach denen unsere durchschnittliche Lebenserwartung zwei Stunden und zwanzig Minuten betrage! Die Soldaten am Tisch begannen fröhlich zu grölen und einander in die Seite zu stoßen, als hätte der Krieg schon begonnen und sie hätten den ersten, wichtigen Sieg davongetragen. Dimitrije warf mir grinsend über den Tisch zu: »Für uns gilt das nicht, wir werden ewig leben.« Ich lachte und winkte ab. Mit der anderen Hand bemühte ich mich, die Haut vom Milchkaffee zu entfernen, aber sie zog sich lang und riss, und auf der aufgewühlten Oberfläche schaukelten nun weißliche Stückchen.

Die Haut auf der Milch mochte ich noch nie. Jetzt starrte ich die Tasse auf dem Tisch an und wiederholte stumm: Das nächste Mal nimmst du Tee, das nächste Mal nimmst du Tee! Trotzdem war ich ganz gelassen. Offensichtlich hatten Dimitrijes Worte auf mich beruhigend gewirkt, obwohl ich überzeugt war, dass er sich das ausgedacht hatte und dass die Angabe des Oberleutnants richtig war. Aber das ist gerade das Gute am Trost: dieses Angebot von Hoffnung, dieses Erwecken neuen Glaubens. Darin war Dimitrije ein wahrer Künstler, und wir scharten uns um ihn wie aufgeplusterte hungrige Küken, wann immer er einen von uns ansprach. Einmal wurden die Spannungen zwischen Redžep, Goran und mir so groß, dass er uns zusammenrief und androhte, sollten wir uns nicht ändern, würde er das »Tierreich« auflösen. Wir hörten auf ihn und änderten uns. Beim Militär lernt man, nichts aufzuschieben: Je schneller man reagiert, umso mehr Freiheit gewinnt man. Dimitrije Donkić machte auch keinen Hehl daraus, dass es wichtig war, freundschaftliche Kontakte zu den Kosovoalbanern zu pflegen, weil sie sehr gut organisiert waren und die Kontrolle über die Küche und das Verpflegungslager hatten. Gute Beziehungen zu Redžep garantierten uns den freien Durchgang durch ihr Territorium, die Unterstützung im Falle einer Auseinandersetzung und, was wohl am wichtigsten war, die besten Portionen oder Fleischstücke beim Mittag- und Abendessen. Völlig unbekannte Soldaten, Albaner, grüßten mich auf dem ganzen Kasernengelände, boten mir Zigaretten an oder baten mich um Hilfe, wenn sie auf dem Postamt Formulare für Einschreibesendungen und Pakete ausfüllen mussten. Sie hatten immer einen guten Draht zur Wache, und wenn man dringend in die Stadt musste, schaute der wachhabende Soldat weg, während man über den Zaun sprang oder sich zwischen den losen Zaunbrettern hindurchquetschte. Langsam lernte ich unser Kasernengelände kennen. Zunächst musste ich meine Abneigung überwinden gegenüber allem, was mit der Armee zusammenhing, dann aber öffneten sich verschiedene Wege und es offenbarten sich viele beinahe »geheime« Orte. Einer davon war die Bücherei. Ich traute meinen Augen nicht. Bis zu dem Augenblick war ich überzeugt, die einzige Militärbücherei befände sich im Haus der Jugoslawischen Volksarmee im Zentrum von Banja Luka, die jedoch zu den Zeiten, wenn wir Ausgang hatten, geschlossen war. Ich beklagte mich deswegen bei unserem Oberleutnant und beantragte einen Stadtbesuch außer der Reihe, um mir Bücher zum Lesen auszuleihen. Da erfuhr ich von ihm (während er lauthals über mein Anliegen lachte: »Ihr verdammten Studierten meint wirklich, der Militärdienst sei ein Spiel, so etwas wie Urlaub«), dass sich in der kleinen Baracke gegenüber dem Gebäude, in dem unsere Kompanie untergebracht war, die Garnisonsbücherei befinde. Die hatte ich bis dahin nicht entdeckt, weil ich überzeugt war, dass es in diesem Teil des Kasernengeländes nur Büros und Lagerräume gebe, und die waren selbst für einen Soldaten vollkommen uninteressant. Meine erste freie Minute benutzte ich dazu, die Behauptung des Oberleutnants zu überprüfen. Ich robbte mich an diese Baracke heran, als wartete darin eine Horde Bluthunde auf mich, richtete mich langsam auf und warf einen Blick durch das Fenster. Ich sah viele Regale mit Büchern, einen Zeitungsstapel auf einem Tisch und den Qualm einer Zigarette von jemandem, der nicht zu sehen war. Beim Anblick der Bücher lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich stand auf, wischte die Erde von Händen und Knien, klopfte an und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, ein. Der Soldat, der in der Bücherei arbeitete, war nicht besonders glücklich, mich zu sehen, und noch weniger, als er hörte, dass ich der Anwärter auf seinen Posten sei, aber ich sagte zu seiner Beruhigung, der Oberleutnant habe verfügt, dass ich bis zu seiner Entlassung nur aushelfen würde. Nebenbei gesagt, die Bücherei war eine wahre Schatzkammer. In ihr gab es zwar keine Neuerscheinungen und Übersetzungen, aber dafür viele alte Buchausgaben, an die man in Büchereien und Buchhandlungen schwer herankam. Der Zeitungsstapel auf dem Tisch zog mich ebenfalls an, zumal die Soldaten selten Zeitungen kauften, und wenn ja, sie eifersüchtig hüteten oder aus ihnen sofort die Artikel ausschnitten, die für sie wichtig waren. Ich hasse es, Zeitungen mit Lücken zu lesen; hier auf dem Tisch der Bücherei hingegen lag ein Berg fast unberührter Zeitungen, die täglich aus verschiedenen Teilen unseres Landes eintrafen.10