Der Bruder - David Albahari - E-Book

Der Bruder E-Book

David Albahari

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Beschreibung

Wer ist der Verfasser des geheimnisvollen Briefs, durch den schlagartig alles aus den Fugen gerät? Das fragt sich Filip, der allein in einer zugestellten Wohnung lebt und sich in seinen Memoiren einen Verlierer nennt. Ist der Absender ein Betrüger oder wirklich der in Argentinien verschollene Bruder, von dem Filip bisher nichts ahnte? Ein Treffen im "Brioni" soll dieses Rätsel lösen. Doch Filips einstige Stammkneipe ist - ebenso wie bald sein ganzes Leben - nicht mehr wiederzuerkennen. Früher, nach dem Tod der Eltern und der Schwester, betrank er sich hier an unzähligen Abenden unter ruppigen Kellnern und wortkargen Kumpanen. Daran ist in dem so ganz anderen Ambiente nicht mehr zu denken, erst recht nicht, als der vermeintliche Bruder auftaucht. Der Balkan hat sich verändert und ist doch erschreckend gleich geblieben - wie der große serbische Romancier David Albahari mit diesem fantastischen Aufeinandertreffen klarmacht. Eine schmerzhafte Parabel, eine fulminante literarische Identitätssuche voller schwarzem Humor.

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Seitenzahl: 205

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Inhalt

[Cover]

Titel

I.

II.

Impressum

Kurzbeschreibung

Autorenporträt

Dabid Albahari

Der Bruder

Roman

Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann

Schöffling & Co.

Der Bruder

I.

ALS DER BRIEFTRÄGER IHM den Brief brachte, sagte Filip, sei er zunächst überzeugt gewesen, dass es sich um einen Irrläufer handele. Niemand schreibe heutzutage mehr Briefe, sagte er, und während der Briefträger ihm mit der rechten Hand den Umschlag reichte und mit der linken in seiner Tasche nach dem Heft suchte, in dem er mit seiner Unterschrift den Empfang bestätigen sollte, wartete er nur darauf, dass dieser ihm sagte, er habe sich geirrt. Er, Filip, sei dermaßen von einem Irrtum überzeugt gewesen, dass er sich nicht einmal den Umschlag angeschaut habe, was gewöhnlich ein jeder tue, neugierig darauf, wer geschrieben hat und woher der Brief kommt. Er habe ihn, äußerst erstaunt, sofort aus der rechten in die linke Hand getan und versucht, ihn dem Briefträger zurückzugeben – eine vergebliche Geste, denn der Briefträger steckte, weil er das Heft für die Empfangsbestätigungen nicht finden konnte, nun auch die andere Hand in die Tasche und wühlte darin, als wollte er einer Windbö oder einem sommerlichen Platzregen entkommen. Diese Schlampigkeit des Briefträgers verwirrte ihn, sagte Filip, denn er war überzeugt, wenn irgendwo, dann herrsche in den Briefträgertaschen Ordnung, jetzt aber stand er da mit dem Brief in der linken Hand und starrte den Briefträger an, der anscheinend voller Verärgerung und Wut bereits andere Briefe und Päckchen aus der Tasche holte, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn dieser plötzlich die Tasche umgestülpt und deren ganzen Inhalt ausgeschüttet hätte: Briefe, Drucksachen und Päckchen, die bei jeder anderen Gelegenheit Filips Aufmerksamkeit erregt hätten, da er, wie er sagte, noch nie derart kleine Pakete gesehen hatte. Sie waren so klein, sagte er, dass er sich fragte, was in ihnen steckte und warum die Post sie überhaupt beförderte, aber für solche Fragen gab es einfach keine Zeit. Der Briefträger hatte nämlich das Heft gefunden, hörbar aufgeatmet und erstaunt den Brief angeschaut, den Filip ihm mit der ausgestreckten Linken hinhielt, hatte kurz innegehalten, den Kopf geschüttelt und mit dem Zeigefinger auf die Stelle gedeutet, wo Filip unterschreiben sollte. Auch jetzt noch wisse er nicht, sagte Filip, warum er nicht protestierte, warum er nicht energisch seine Unterschrift verweigerte und erklärte, der Brief sei auf keinen Fall für ihn bestimmt. Stattdessen habe er ihn auf das Tischchen neben der Wohnungstür gelegt, das Heft gegen den Türrahmen gehalten und wie immer mit großen Buchstaben seinen Namen reingeschrieben. Der Briefträger nahm daraufhin das Heft an sich, steckte es wieder in die Tasche, blieb einige Sekunden, wie Filip meinte, in Erwartung eines Trinkgeldes stehen, ging dann aber, als er merkte, dass daraus nichts würde, wortlos die Treppe hinunter. Er machte, sagte Filip, die Tür zu und blieb allein mit dem Brief in der Diele zurück. Da fühlte er, wie ihn Angst überkam. Er wisse natürlich, dass es lächerlich sei, Angst vor einem Brief zu haben, aber nichts anderes habe er gefühlt: weder Neugierde noch Ratlosigkeit, noch Interesselosigkeit, noch Peinlichkeit, Unschlüssigkeit oder Unsicherheit. Nur Angst, als wäre dieses Wort in großen fluoreszierenden Buchstaben in ihm eingeschaltet gewesen, so wie auf Gebäuden Leuchtreklamen eingeschaltet werden, die abwechselnd an- und ausgehen oder deren einzelne Buchstaben nacheinander aufflackern, ehe das ganze Wort erscheint und gleich wieder verschwindet, und einem davon im Hirn nur der Abdruck des Lichts zurückbleibt. So sei auch diese Angst nur der Abdruck von Angst, ähnlich der Spur eines längst vergangenen Bangens gewesen. Er nahm den Brief mit ins Zimmer und setzte sich dort in einen Sessel. Er wusste nicht, wie lange er dort saß, vielleicht eine Stunde, vielleicht auch weniger, in den Händen den Umschlag, den er zunächst an den Rändern, später in der Mitte betastete in der vergeblichen Hoffnung, sagte er, unter seinen Fingern würden sich wie unter Röntgenstrahlen Buchstaben, Sätze, der ganze Text zeigen, und er würde endlich von dem Zustand der Benommenheit, Hilflosigkeit und Lähmung befreit, in dem er sich befand, seit der Briefträger erschienen war und ihm ohne jede Vorwarnung den Brief in die Hand gedrückt hatte. Hätte er ihm den Brief zuvor angekündigt, sagte Filip, hätte er die Fäuste fest zusammengeballt, und niemand, am wenigsten der Briefträger, wäre imstande gewesen, sie zu öffnen und irgendwas in sie hineinzudrücken. Aber jetzt saß er ratlos im Sessel, und der Brief wurde immer schwerer, immer sperriger, so dass er ihn schließlich auf den Boden legen musste. Da – daran erinnere er sich genau – dachte er zum ersten Mal, der Brief könne vielleicht doch für ihn bestimmt sein, der Briefträger hatte sich noch nie geirrt und ihm etwas ausgehändigt, was ihm nicht zustand. Er hob den Brief auf und sah darauf seinen Namen und seine Anschrift in winzigen Buchstaben geschrieben, ganz anders als die große Schrift, mit der er seine Unterschrift im Heft des Briefträgers geleistet hatte, genau an der Stelle, auf die der Briefträger gedeutet hatte. Sofort, sagte er, drehte er den Umschlag um und suchte den Absender. Es gab keinen, und er bedauerte noch einmal, dass er den Briefträger so schnell hatte ziehen lassen. Sie hätten, sagte er, gemeinsam den Brief prüfen sollen, so wie man im Geschäft einen zu erwerbenden Artikel auf Fehler untersucht, um später keine Zeit mit Reklamationen zu verlieren. Genau genommen ist auch ein Brief eine Ware, sagte er, also sollte man ihn wie eine Ware behandeln. Ein Brief ohne Absender gleiche einem Artikel ohne das Etikett des Herstellers, was sofort zur Vorsicht mahnen müsse, zumal wenn man wie er kein erfahrener Käufer sei, weswegen er es schon oft erlebt habe, dass geschickte Verkäufer ihm Dinge angedreht hätten, die er gar nicht haben wollte oder die jeder kluge Käufer sofort als mangelhafte Ware erkannt hätte. Solche Menschen würden bestimmt keinen Brief ohne Absender entgegennehmen, ihre Unterschrift wäre nicht im Heft für die Einschreibesendungen gelandet. So naiv wie er müsse man sein, sagte Filip, einen unerwünschten Brief anzunehmen, aber dann kam er zu dem Schluss, es sei doch nicht richtig, einfach dazusitzen und zu jammern, er stand also auf, legte den Brief auf den Schreibtisch und begann, im Zimmer hin und her zu gehen. Während er so, sich gezwungenermaßen zwischen den Möbelstücken hindurchschlängelnd, auf und ab spazierte, konnte er allerdings an nichts anderes denken als an diesen Brief, genauer an den Augenblick, als der Briefträger ihm diesen wortlos in die Hand drückte, um sich dann sofort dem Herumwühlen in seiner Tasche zu widmen auf der Suche, sagte Filip, nach dem Heft für die Einschreibesendungen. Und während er, sich zwischen den Möbeln hindurchwindend, auf und ab ging, dachte er ständig an diesen Augenblick, der gewissermaßen der Uraugenblick war, beziehungsweise der gewisse Augenblick, der später die Ursache für alle anderen Augenblicke sein sollte, aber die einzigen Augenblicke, in denen er an etwas anderes dachte, waren die, wenn er am Schreibtisch innehielt, genau dort, wo er vor dem Beginn seines Zimmerspaziergangs den Brief abgelegt hatte. Er spürte eine Flut von Fragen auf sich zurollen, was wohl in dem Brief stecke, wer ihn abgesandt habe und warum ausgerechnet an ihn, wo es auf der Welt Milliarden von Menschen gab, die überglücklich wären über einen Brief und Freudensprünge machen würden, wenn der Briefträger erschiene, die Hand in seine Tasche steckte und einen Brief daraus zöge, der sich natürlich von diesem da unterschiede, der anders frankiert und an jemand anderen adressiert wäre, obwohl man auch sagen könnte, dass es im Grunde ein Brief wie dieser wäre, der da auf seinem Tisch lag. Danach, sagte Filip, kamen ihm zwei Gedanken, erstens, dass er sich schnellstens von überflüssigen Möbelstücken trennen müsse, da der Slalom zwischen den Stühlen, Sesseln, Nachtkästchen und Regalen viel Zeit in Anspruch nahm und einen gewöhnlichen Spaziergang durch das Zimmer zu einer anstrengenden Wanderung machte, welche die durch das Aufundab-Gehen ursprünglich beabsichtigte Entspannung in äußerste Erschöpfung verwandelte. Am Ende war er derart fertig, sagte Filip, dass er gar nicht wahrnahm, dass der zweite Gedanke sich seiner schon bemächtigt hatte, der Gedanke, der bald alle anderen Gedanken verdrängen sollte, ohne ihm die Möglichkeit einer Wahl zu lassen, und der ihn einfach zwang, den Brief aufzuheben, zu öffnen und zu lesen, was darin stand. Etwas musste ja darin geschrieben stehen, sagte er, denn hätte in ihm etwas anderes als ein Stück Papier mit Wörtern gesteckt, zum Beispiel ein Gegenstand, hätte er es gefühlt, als er ihn im Sessel sitzend betastete in der Hoffnung, er könne ihn mit seinen Röntgenfingern lesen, ohne ihn zu öffnen. Hätte er diesen Gedanken zuerst gehabt, sagte Filip, wäre höchstwahrscheinlich nichts passiert, aber da er zuerst an seine Erschöpfung dachte, spürte er, wie sie völlig von ihm Besitz ergriff, so dass er glaubte, bald keinen Schritt mehr machen zu können, und sich deshalb beeilte, mit der ihm verbleibenden Kraft auf dem Schreibtisch nach dem Brieföffner, diesem Relikt aus einer längst vergangenen Zeit, als alle Welt noch Briefe schrieb, zu suchen, ihn in den Umschlag zu schieben und diesen an der längeren Kante aufzuschlitzen. Sobald er damit fertig war, sank er in sich zusammen, als hätte er in einem Steinbruch gearbeitet, und hätte er nicht neben dem Schreibtisch gestanden, an dem er sich festhalten konnte, wäre er wie ein Sack zu Boden gefallen. Da dachte er, sagte Filip, er müsse mehr trainieren, in ein Fitnessstudio gehen oder zumindest wandern, um eine bessere Kondition zu erlangen, seine Haltung zu korrigieren oder wenigstens seine Muskeln ein wenig zu festigen, aber all das habe bei ihm schließlich nur ein müdes Lächeln hervorgerufen, denn er wusste, dass er nach diesen Übungen noch erschöpfter sein würde als jetzt. Jetzt taten ihm wenigstens die Muskeln und die Sehnen nicht weh, nach solchen Übungen hingegen würden die Schmerzen nicht auszuhalten sein. Und so, sagte Filip, stand er neben dem Schreibtisch und durchlitt Schmerzen, die er gar nicht hatte. Er war dermaßen erschöpft, dass er nicht imstande war, den aufgeschlitzten Umschlag in die Hand zu nehmen und hineinzuschauen. Hätte er gewusst, sagte er, was er darin finden würde, hätte er ihn vielleicht gar nicht angefasst, so aber nahm er, sobald er wieder bei Kräften war, den Umschlag in die Hand, steckte die andere Hand hinein und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus. Das legte er auf den Schreibtisch, spreizte den Umschlag so gut es ging auseinander und spähte hinein. Nichts fand er darin, sagte er, es kam ihm nur, wie immer, wenn er irgendwo hineinspähte, seine Frau, seine Exfrau, in den Sinn, die von Beruf Frauenärztin war und es wahrscheinlich immer noch ist. Er, sagte Filip, könne ja noch verstehen, wenn ein Mann Frauenarzt werden wolle, es sei ihm aber unbegreiflich, dass eine Frau das gerne tue. Seine Frau habe sich natürlich über solche Interpretationsversuche lustig gemacht, die davon ausgingen, dass alles mit bestimmten erotischen Interessen zusammenhänge, und darauf bestanden, dass ihre Tätigkeit eine wie jede andere sei. Die einen, habe seine Frau gesagt, behandelten einen vereiterten Finger oder eine Blinddarmentzündung, der Gynäkologe hingegen Störungen an den weiblichen Reproduktionsorganen, was besage, habe seine Frau gemeint, dass es zwischen einem Finger und einer Scheide, zumindest im Sinne ärztlicher Handlungsweise, keinen Unterschied gebe. Er hingegen, sagte Filip, sehe zwischen einer Scheide und einem Finger einen gewaltigen Unterschied und würde nie das eine mit dem anderen verwechseln. Diese gegensätzlichen Ansichten hätten jedoch nicht im Entferntesten dazu beigetragen, dass sie sich vor einigen Jahren zur Scheidung entschlossen hätten, zu einer friedlichen Scheidung ohne Streit und Hader. Sie habe die Wohnung behalten, sagte Filip, er sei in die Wohnung seiner Eltern zurückgekehrt. Seine Eltern, sagte er, waren da schon lange tot, und er hatte die Wohnung viele Jahre vermietet, deshalb habe er sich dort anfangs seltsam gefühlt: alles war ihm bekannt, vielleicht weil es ihm gleichzeitig unbekannt vorkam; gegenwärtige Augenblicke vermischten sich mit vergangenen, mit Erinnerungen aus der Jugendzeit, und alles entwickelte sich zu imaginären künftigen Augenblicken hin, hin zu einer Zeit, die ihm die verlorene Gelassenheit zurückgeben sollte.

Es sei jetzt nicht nötig, sagte Filip, dass er sich in all diesen Details ergehe. Die wahre Kunst sei es – wie immer – zu wissen, wann man haltmachen solle, so wie er im Prozess der Entdeckung dessen, was im Brief steckte, haltgemacht habe, als er das gefaltete Blatt Papier auf den Schreibtisch legte. Er konnte sich diesem Papier nicht sofort widmen, sagte er, weil er zunächst den Gedanken an die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen einem Finger und einer Scheide loswerden musste; dies war nicht so leicht, wie er gedacht hatte, was gewiss nicht am Finger lag. Erst als sein Verstand wieder zu einer leeren Tafel geworden war, nahm er das Papier in Augenschein. Dann meinte er, es sei besser, sich in den Sessel zu setzen, als er sich jedoch hinsetzte, schien es ihm, es sei bequemer, auf dem gegenüberliegenden Sofa Platz zu nehmen, aber kaum saß er dort, stand er wieder auf und ging zum Fenster, um sich an die Fensterbank zu lehnen, sie war ihm jedoch zu hart, und er dachte ernsthaft daran, sich auf den Boden zu setzen, tat es aber nicht, weil das Zimmer mit Möbeln vollgestellt war und es auf dem Boden keinen Platz gab. Schließlich kehrte er zum Sessel zurück, fest entschlossen, den Verlockungen jedes anderen Orts zu widerstehen. Aber dann, als er endlich den besten Platz zum Lesen des Briefs gefunden hatte, stellte er fest, dass ihm das gefaltete Blatt Papier aus der Hand geglitten war oder er es verlegt hatte, und dass er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, wohin. Er hätte natürlich, sagte Filip, aufstehen und den ganzen Weg zurückverfolgen können, aber nachdem er so bequem saß, wollte er sich nicht um diesen Genuss bringen. Wenn er schon nicht den Brief lesen konnte, dann halt etwas anderes. Hinter ihm stand ein Bücherregal, er brauchte nur eine leichte Drehung zu machen, den Arm auszustrecken und ein Buch herauszuziehen, was er dann auch tat. Er habe nicht hingesehen, er habe sogar absichtlich die Augen geschlossen und die Fingerspitzen über die Bücher gleiten lassen, bis sie bei einem anhielten. Er nahm das Buch heraus, hob es mit einer etwas ungelenken Bewegung über seinen Kopf und legte es auf seinen Schoß. Erst dann öffnete er die Augen, sagte er, und verblüfft über die zufällige Wahl, die gar nicht so zufällig zu sein schien, spürte er sogleich den Wunsch, sie wieder zu schließen. Nach dem Titel Über die Schwangerschaft zu urteilen, gehörte das Buch seiner Exfrau, und er konnte sich nicht erklären, wieso es in seinem Regal stand. Nach der Scheidung hatte sie alle ihre Sachen behalten, insbesondere die Bücher, die sie brauchte, um sich besser auf schwierige Fälle und komplizierte Eingriffe vorzubereiten. In dieser Hinsicht, sagte er, sei sie genauso altmodisch wie er, sie blättere lieber in verstaubten Büchern, als dass sie wie ihre jüngeren Kollegen nach Informationen im Internet suche. Er, sagte Filip, könne ganz gut verstehen, wie es ihr in dieser Hinsicht gehe, da er selbst Bücher liebe, während ihn das Internet, dem er am Anfang zugeneigt war, jetzt abstoße. Es sei zu groß und zumindest für ihn zu einer Quelle der Angst geworden, sagte er, da er sich ihm gegenüber unbedeutend, winzig und, wenn man das so sagen könne, unsichtbar fühle, er traue sich nicht einmal, sich hineinzubegeben, aus Angst, er finde den Weg zurück nicht mehr. Damals hatte er über ein Computerprogramm nachgedacht, in dem man eine Spur hinterlassen könne, so wie Hänsel und Gretel Brotkrümel hinter sich streuten, als sie in den Wald gingen. Er hatte sich lange Gedanken darüber gemacht, bis ihm jemand sagte, dass jeder Nutzer bereits so verfahre, dass die Brotkrümel also gar nicht nötig seien, dass sie sogar das ordentliche Funktionieren der Tastatur gefährdeten, obwohl das die Menschen nicht im Geringsten daran hindere, über der Tastatur Unmengen von ungesundem Knabberzeug zu vertilgen und ganze Seen von Kaffee und Limo in sich hineinzugießen. Wegen alldem, sagte er, hatte er die virtuelle Welt des Internets nie mehr betreten und sogar daran gedacht, seine alte Schreibmaschine wieder hervorzuholen, die seit Jahren in dem Karton steckte, in dem er sie gekauft hatte. Das letzte Mal habe er sie Ende der 80er Jahre zur Inspektion gebracht, sagte er, also zu der Zeit, als die Computer langsam zu Haustieren wurden, und der Meister, ein grau melierter, etwas gebückter Mann, habe geklagt, er werde mangels Aufträgen sein Geschäft schließen müssen. Einst seien alle Regale voller Schreibmaschinen gewesen, sagte der Meister, aber sehen Sie jetzt, sagte er und zeigte darauf. Sie waren wirklich leer, und als der grau melierte Meister seine Schreibmaschine in das Regal stellte, verspürte er, Filip, eine bis dahin nie erlebte Einsamkeit. In dieser Nacht konnte er nicht einschlafen, vor seinen Augen flimmerte ständig seine Schreibmaschine, verloren in der Öde des Geschäfts für Inspektionen und Reparaturen. Er stand auf, bereit, zum Geschäft zu gehen, obwohl draußen Nacht herrschte und niemand mehr im Laden war. Er kehrte ins Bett zurück, sagte er, aber je mehr er sich bemühte einzuschlafen, umso wacher wurde er, so dass er sich schließlich anzog und in die Küche ging, um Kaffee zu kochen. Sobald er das getan hatte, überkam ihn natürlich der Schlaf, er schaltete den Herd aus, kehrte zurück, zog sich aus und legte sich wieder ins Bett. Sein Kopf hing vor Müdigkeit, bis zu dem Augenblick, da er das Kissen berührte, sagte er, aber sobald sein Gesicht das Gewebe des Kopfkissenbezugs spürte, gingen seine Augen auf, und er wusste, dass es sinnlos war, liegen zu bleiben, stand daher auf, zog sich an und ging in die Küche. Dort wiederholte sich das Ganze, er kehrte wieder ins Zimmer zurück, zog sich aus und legte sich hin, aber dann fiel sein Blick auf den Wecker, er sah, es war schon die Stunde, zu der er gewöhnlich aufstand, so zog er sich wieder an und ging in die Küche. Vor lauter An- und Ausziehen war er so müde geworden, dass er nur mit Mühe die Augen offen hielt, tatsächlich, als er den Kopf in seine linke Handfläche legte, schlief er sofort ein, und wer weiß, wie lange er geschlafen hätte, wäre sein Ellbogen nicht weggerutscht und sein Kopf auf die Brust gefallen, gleich über der Schüssel mit den in kalte Milch getauchten Cornflakes. Einen Augenblick lang starrte er auf die eingetauchten Maisflocken, sagte Filip, ohne zu kapieren, was er sah, wie jemand, der nach dem Aufwachen als Erstes einen Milchsee mit unregelmäßigen Auswüchsen sieht, die aus dieser Nähe betrachtet wie Felsen in der Ferne wirken. Da, sagte Filip, kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, das sich der Blick aus der nächsten Nähe und der aus der größten Ferne glichen, sowohl was die Unschärfe, als auch was die Möglichkeit verschiedener Deutungen des Gesehenen anbetrifft. Seine Nase zum Beispiel, sagte er, berührte fast die Milch, aber sein infolge des vielen An- und Ausziehens erschöpftes Bewusstsein signalisierte ihm, er befinde sich irgendwo in der Höhe und betrachte von dort aus einen milchig weißen See mit vielen rauen, etwas gelblichen Felsen. Er saß also da und versuchte sich zu erinnern, in welcher Höhe er sich befand, ob in einem Flugzeug oder im Korb eines Ballons, was ihm, obwohl es nur kurz dauerte, derart schlimme Kopfschmerzen verursachte, dass er sich am liebsten ausgezogen und wieder ins Bett gelegt hätte. Das ließ ihn an seine Versuche denken, einen bequemen Platz zum Lesen des Briefes zu finden, an den häufigen Platzwechsel, der im Grunde sinnlos war, denn der Brief befand sich ja nicht mehr in seinen Händen. In demselben Augenblick, sagte Filip, erblickte er jedoch das zusammengefaltete Blatt Papier auf dem Boden nahe seinem linken Fuß. Er bückte sich und hob es auf. Nur einen Augenblick davor war er überzeugt, an dieser Stelle nichts gesehen zu haben. Wäre er nicht jedem Glauben an übernatürliche Mächte abhold, sagte er, hätte er gedacht, dass ein freches Teufelchen oder, warum nicht, ein unartiges Engelchen mitten am Tag ein Spiel mit ihm trieb. Das genügte, ihn an der Richtigkeit des Briefs zweifeln zu lassen, den er dann mit unverhohlenem Argwohn auseinanderfaltete, überzeugt, dass das gleiche Teufelchen oder Engelchen ihm eine Falle stelle, mit der er nicht fertig würde. Was er dann sah, war jedoch viel mehr als ein Spiel oder eine Falle, das berührte geradezu, sagte er, den Sinn seines Lebens, denn würde es sich als wahr erweisen, verändere es alles, was er von sich wusste, so dass man sagen könne, in diesem Augenblick habe er ein neues Leben zu leben begonnen. Da habe er an mich gedacht, sagte er, und beschlossen, mich aufzusuchen und mir alles zu erzählen, ungeachtet der Tatsache, dass wir beide nicht mehr wüssten, wann wir uns zum letzten Mal gesehen hatten. Als er also endlich das Blatt entfaltete, sah er, dass der Brief drei oder vier Sätze enthielt, von denen einer etwas länger war, während die übrigen ganz schlicht waren, ohne unnötigen Zierrat und unnötige Wiederholungen. Bevor er den Brief las, sagte Filip, warf er, wie es die meisten Menschen tun, einen Blick auf die Unterschrift, und da blieb ihm ohne Übertreibung der Atem weg. Er dachte, er würde in Ohnmacht fallen. Die Unterschrift lautete nämlich: Dein Bruder Robert. Der Brief war mit der Hand geschrieben und der Strich in dem letzten Buchstaben »t« habe sich kalligrafisch über den Namen erhoben und sich mit dem großen Anfangsbuchstaben »D« vereint, wodurch er eine geschlossene, selbstständige Einheit bildete und – so schien es ihm wenigstens – ihm Probleme mit dem Träger dieses Namens ankündigte. Er starrte wer weiß wie lange auf den Namen und fragte sich, ob er überhaupt jemanden mit diesem Namen kenne, obwohl er besser auf das Wort »Bruder« hätte starren und sich fragen sollen, was das für sein Leben bedeute und wieso dieser gerade jetzt auftauche. Eigentlich sträubte er sich gegen diese Fragen, sagte er, weil er Angst hatte, dass die Fragen, einmal gestellt, nie enden würden und er keine Antwort bekommen würde. Er stand auf in der Absicht, im Zimmer auf und ab zu gehen und sich auf diese Weise zu beruhigen, aber der Gedanke, sich an den vielen Möbeln vorbeidrücken zu müssen, hielt ihn davon ab, und er setzte sich wieder. Die ganze Zeit, sagte er, hielt er den Brief in der Hand, ohne zu versuchen, die wenigen darin enthaltenen Sätze zu lesen, als fürchtete er, die Bedeutung des einen langen Satzes würde sich ihm dadurch entziehen, obwohl den Menschen öfter die Bedeutung ganz kurzer Sätze, einschließlich der Ausrufesätze, entgehe, wenngleich diese ja meist aus nur zwei, drei Wörtern bestünden. Einige Male, sagte Filip, sagte er sich verschiedene Ausrufesätze vor, er bot sogar an, sie für mich zu wiederholen, was ich höflich ablehnte, indem ich zuerst mit der Hand abwinkte und danach ihm mit derselben Hand ein Zeichen gab, er solle mit seiner Erzählung fortfahren. Nichts in seinem Leben wies darauf hin, sagte er, dass er einen Bruder habe. Mit keinem Wort, mit keiner Andeutung, auch nicht durch peinliches Schweigen oder durch Räuspern hätten ihm seine Eltern zu verstehen gegeben, dass es irgendwo in der Welt einen Menschen gab, der von sich behaupten konnte, sein Bruder zu sein. Von der Schwester habe er immer gewusst, sagte Filip, und er meine sogar, sie habe in seinem Inneren eine Spur hinterlassen, ein lächelndes Gesicht über ihm, das Worte aussprach, von denen er gar nicht wusste, dass es Worte waren, die er für Lärmbrocken hielt, mit deren Hilfe alle diese über ihn gebeugten Gesichter miteinander kommunizierten, bis er, sagte er, eines Tages ihr Gesicht nicht mehr sah und zum ersten Mal die fast mit der Hand zu greifende Leere verspürte, die jemandes Abwesenheit in uns hinterlässt. Später sollte er erfahren, dass sie Vilma hieß und tödlich verunglückte, als sie auf die Straße lief, er sah auch ihre Fotos in einem alten Familienalbum, aber von Robert habe niemand etwas verlauten lassen, und dessen Gesicht habe sich nie über seines gebeugt, dessen war er sich mehr als sicher, sonst hätte er nie das Buch Das Leben eines Verlierers