Das tödliche Spiel des Zufalls - Karlheinz Uhlenbrock - E-Book

Das tödliche Spiel des Zufalls E-Book

Karlheinz Uhlenbrock

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Beschreibung

Ihr herbstliches Fotoshooting im Salinenpark in Rheine hat sich Marie van Denggelen eigentlich anders vorgestellt. Doch statt das Gradierwerk im Morgennebel stimmungsvoll abzulichten, wird sie Zeugin eines brutalen Mordes. Das Opfer, eine junge Studentin, scheint grundanständig. Das Motiv für die Tat bleibt damit ebenso nebulös wie die Identität des Mörders, dem es gelungen ist, unerkannt zu entkommen. Kriminalhauptkommissar Luke Rumphorst und sein Team stehen vor einem Rätsel. War es ein Mord aus Eifersucht? Hängt der Tod der jungen Frau mit ihren studentischen Aktivitäten in Münster zusammen? Und was hat es mit dem Papierfetzen auf sich, den die Tote in ihren erstarrten Fingern hält und auf dem das Datum 31. März 1945 getippt ist? Die Fahnder hoffen auf Hinweise aus dem privaten und studentischen Umfeld der Verstorbenen. Währenddessen bleibt der Mörder nicht untätig. Denn er sucht etwas, und er ist bereit, bei seiner Suche über Leichen zu gehen. Eine fesselnde Mördersuche vor dem Hintergrund des in Deutschland erstarkenden Rechtspopulismus, ein dramatisches Ende und ein kräftiger Schuss Lokalkolorit - ein Muss für alle Münsterlandkrimi-Fans! Pressestimmen zu anderen Bänden der Reihe: "Ein Krimi voller überraschender Wendungen, in dem nur wenig so ist, wie es auf den ersten Blick scheint." MÜNSTERLÄNDISCHE VOLKSZEITUNG vom 4. September 2021 über "Die langen Schatten der Vergangenheit - Luke Rumphorst erster Fall" "Die Charaktere, von undurchsichtigen Gestalten bis zu sympathischen Ermittlern, fanden Anklang. Authentische Dialoge, überraschende Wendungen, dazu ein leiser Humor." MÜNSTERLÄNDISCHE VOLKSZEITUNG vom 24. November 2023 über "Der schale Geschmack der Rache - Luke Rumphorst dritter Fall"

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Seitenzahl: 315

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für Daniel

und für

Christiane, Conny, Dieter () Elli, Kalle (), Karl-Heinz, Kurt, Markus, Norbert, Petra (), Tobias, Wolfgang und all die anderen Bewohner des Jacob-Meyersohn-Hauses in Rheine

»In der Verschiedenheit liegt die Schönheit. Jeder Mensch hat etwas Einzigartiges zu bieten, das die Welt bereichert.«

(Desmond Tutu, 1931–2021, Erzbischof von Kapstadt und Träger des Friedensnobelpreises)

»Es ist eine unangenehme Tatsache, dass in der Geschichte der Welt die Autokratie – die Tyrannei, Diktatur oder welchen Begriff wir auch wählen – von Menschen jeglichen Standes abhängt, die sie akzeptieren, sich ihr anpassen oder sie sogar als System empfinden, in dem es sich bequem leben lässt. […] Es sind nicht die Gewalt oder die Geheimpolizei, sondern die Kollaboration und Kooperation, die – ob bewusst oder naiv, wohlmeinend oder nicht – die Autokratie am Leben erhalten.«

Mary Beard, Die Kaiser von Rom.

Aus dem Englischen von Ursula Blank-Sangmeister.

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2024, S. 462 f.

Inhaltsverzeichnis

STAMMBAUM DER FAMILIE MUNKELFELD

DIE HANDELNDEN PERSONEN

Prolog

ERSTER TEIL

AM OFFENEN GRAB

ZUM UHLENHOOK

ZWEITER TEIL

WOHNUNGSAUFLÖSUNG

DRITTER TEIL

IM MORGENGRAUEN

SCHLECHTE SICHT

AM KANAL

IM ALTEN GASTHAUS RIELMANN

FIT GEHT ANDERS

ZU HAUSE

NULLNUMMER

VIERTER TEIL

WIDERWILLIGE PLANUNG

FRÜHSTÜCK MIT DIALOG

FAMILIENGESCHICHTEN

EIN VERSUCH

IM KK 11

GERUCHSINTENSIV

EINE JAGDSZENE

EIN FUND

DAS TRISKELENMOTIV

HEIZKOSTENVERTEILER

SO VERDIENT MAN SEIN GELD!

PROFESSOR DR.KELVIN SCHIRMER

AUF DER SUCHE

EIN KOMMISSAR TAUCHT EIN IN DIE VERGANGENHEIT

ZUKUNFT UND VERGANGENHEIT

EIN VERKORKSTER ABEND

ELISA

FÜNFTER TEIL

WAS FÜR EIN MACHO!

IM AMTSGERICHT RHEINE

DURCHBRUCH

EIN SCHMERZLICHER ABSCHIED

HÜNENBORG

EIN UNGEBETENER BEIFAHRER

EINE ENTSCHEIDUNG

GLÜCKSKISTE

EIN BERECHNENDES MISTSTÜCK

ALSO DAS IST DER GRUND …

DER SICHERSTE SAFE DER WELT

EPILOG

GÖTTERDÄMMERUNG

DANKE …

FAKTEN UND FIKTION

QUELLENVERZEICHNIS

ÜBER DEN AUTOR

RHEINE AN DER EMS

Salinenparkplatz am Geburtshaus Josef Wincklers

Gaststätte

Zum Uhlenhook

Villa der Familie Mey

Fitnessstudio

Fitness-Wonder

Restaurant

Bote Veit

Buchhandlung

Glückkiste

Antiquitätengeschäft

Exquisit

Stadtbibliothek Rheine

Die Hünenborg

Altenheim

St. Josefshaus

Altes Gasthaus Rielmann

IN NEUENKIRCHEN:

Stelle der Notlandung einer Bf 109 am 20. Mai 1944

Der

Brink

in Sutrum-Harum

STAMMBAUM DER FAMILIE MUNKELFELD

DIE HANDELNDEN PERSONEN

MORITZ MEY

Sorgt als freier Mitarbeiter der Rheiner Allgemeinen Zeitung für Niveau im Lokalteil. Studierter Historiker. Taucht tiefer in die Familiengeschichte seiner Frau ein, als ihm lieb ist.

ANNA MEY

Lehrerin für Biologie und Mathematik am Rosalind-Franklin-Gymnasium in Rheine. Hadert, wie viele in unserem Land, mit dem Aufstieg der Rechtspopulisten.

LUKE RUMPHORST

Kriminalhauptkommissar und ein Ermittler alter Schule. Ruhig und entschlossen. Seit Kurzem auch als Ehemann und Vater gefordert, was sein notorisches Schlafdefizit erklärt.

AZRA CEYLAN

Attraktive Polizeibeamtin mit türkischen Wurzeln. Seit zwei Jahren mit Luke Rumphorst verheiratet. Expertin für Beißringe und Veilchenwurzeln, was die Zahnungsprobleme ihrer Tochter Elisa leider auch nicht aus der Welt schafft.

JAKOB BÄR

Macht seinem Namen alle Ehre: bärbeißiger Kriminaloberkommissar und kongenialer Partner seines Kollegen Rumphorst.

EDGAR FALTERMEYER

Spielt als Kriminalermittler eher die zweite Geige, auch weil er noch immer unter den Nachwirkungen einer Long-Covid-Erkrankung leidet. Hoffnung gibt die sich entwickelnde Beziehung zu einer charmanten Niederländisch-Dolmetscherin.

MARIE VAN DENGGELEN

In vielem eine Idealbesetzung: als Dolmetscherin für Niederländisch, als Schöffin beim Amtsgericht – und als unfreiwillige Zeugin in einem Mordfall.

DR. PAUL NOTTENDORF

Wortkarger, Pfeife rauchender Rechtsmediziner am Universitätsklinikum Münster, mit einem Hang zur theatralischen Inszenierung seiner Obduktionsergebnisse.

JUSTUS WAHLBRINCK

Ein aufstrebender junger Staatsanwalt. Arbeitet mit Einfluss im Hintergrund.

JÜRGEN BRENNER

Kellergeist der Kriminalpolizei in Greven. Spezialist der KTU und als solcher bereit, selbst anrüchige Details eines Mordfalls akribisch zu untersuchen.

KAI BÖTICHER

Ein Beispiel dafür, dass auch bei Vertretern des männlichen Geschlechtes körperliche Attraktivität ein Einstellungskriterium sein kann. Seine Erfahrungen mit Frauen sind dennoch äußerst gemischt.

KONSTANZE DIETZDORF

Gründungsmitglied und Generalsekretärin der Partei der Deutschen (PDD). Verehrt das Deutschtum und den Prosecco.

THERESA MOND/JENNIFER WEINHEIM/WILMA BÖRNENFURT

Mitglieder einer Mädels-WG in Münster mit einer kreativen Geschäftsidee, die sie jedoch bedauerlicherweise vom erfolgreichen Absolvieren ihres Studiums abhält.

HANS MUNKELFELD

Hochdekorierter Soldat im Zweiten Weltkrieg und Vorbild für alle, die preußische Tugenden wie Disziplin, Pflichtbewusstsein und Opferbereitschaft schätzen. Oder etwa nicht?

GERHARD MUNKELFELD

Ehemann von Luisa Munkelfeld, bis dass der Tod sie scheidet. In jungen Jahren ganz so, wie man sich einen Jungen vorstellt: zäh wie Leder, flink wie ein Windhund – und gesegnet mit einer Riesenportion Glück.

LUISA MUNKELFELD GEB. SEEBACH

Eine quicklebendige ältere Dame mit dem zweiten Gesicht – was immer das heißen mag.

MIRKO MUNKELFELD

Aufstrebender Stern der Partei der Deutschen (PDD) im Münsterland. Stolz auf seine Herkunft und die Leistung seiner Vorfahren. Selber im Beruf eher weniger erfolgreich.

ALOIS NICKEL

Chefredakteur der Rheiner Allgemeinen Zeitung und gewichtiger Liebhaber von Kaffee und süßen Versuchungen.

KELVIN SCHIRMER

Professor Dr. Kelvin Schirmer – so viel Zeit muss sein! Ein Mann mit exotischen Hobbys, die beim einen oder anderen schon einmal zu Schweißausbrüchen führen können.

GUSTAV SCHRÖDER

Für manche Deutsche ist seine Hautfarbe ein Problem, für andere sind es seine flinken und kraftvollen Körperbewegungen.

EMMA VOEGT

Studentin der Germanistik und Geografie. Eine attraktive, selbstbewusste Frau mit mehr als einem gut gehüteten Geheimnis. Ihr Auftritt im Roman ist ein kurzer, und doch ist sie im Grunde stets präsent.

REGINA UND BERND VOEGT

Die Eltern von Emma Voegt. Sie würden dem Satz »Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen« von Herzen zustimmen.

WULF-DIETER WITTMÄNNEKEN

Besitzer eines gut gehenden Antiquitätengeschäfts in Rheine. Auf den ersten Blick ein Kavalier der alten Schule. Und auf den zweiten?

PROLOG

Neuenkirchen, Samstag, 20. Mai 1944

Die Schule war aus, ein freier Sonntag lag vor ihnen. Kein Wunder, dass die beiden Jungen, die von Rheine aus über die Neuenkirchener Straße radelten, bester Laune waren. Mit Macht traten sie in die Pedale. Auf Höhe der Thie-Kluse hatte Gerhard die Parole ausgegeben: »Wer als Erster an der Abzweigung nach Sutrum-Harum ist!«, und dann einen fulminanten Antritt hingelegt. Inzwischen lag er weit vor seinem Klassenkameraden, der hechelnd versuchte, das mörderische Tempo des Führenden mitzuhalten.

Hinter den Wolken lugte, wenn auch zaghaft, die Sonne hervor. Der Nachmittag versprach schön zu werden, was nicht nur am Wetter, sondern vor allem an dem lag, was die beiden Jungen in Neuenkirchen erwartete. Denn Gerhard Munkelfeld und sein Schulfreund Werner radelten zum großelterlichen Hof am Brink in Sutrum-Harum, einem immer wieder gerne gewählten Ziel ihrer Samstagnachmittagausflüge. Anders als in den Elternhäusern der beiden, in deren Küchen die Mütter nur das zaubern konnten, was die Lebensmittelkarten hergaben, stand bei Oma Munkelfeld immer etwas Leckeres außer der Reihe auf dem Speiseplan. Ja, es war unbestreitbar von Vorteil, wenn man bäuerlicher Selbstversorger war und einen großen Garten sein Eigen nannte.

Für den Nachmittag hatte Oma Munkelfeld das Backen zweier Marmorkuchen angekündigt. Den einen sollte Gerhard mit zurück nach Rheine nehmen. Schließlich war morgen Muttertag, und da gehörte ein selbst gebackener Kuchen auf den Kaffeetisch, hatte die Oma gemeint. Und da ein guter Kuchen mit den Zuteilungen dieses fünften Kriegsjahres kaum hinzubekommen war, hatte sich eben die Oma angeboten, ihn zu backen. Sehr zur Freude der Mutter in Rheine. Dass ein zweiter Kuchen für die Munkelfeld’sche Kaffeetafel in Sutrum-Harum abfiel, behagte wiederum den beiden Jungen. Denn wenn man als Elfjähriger etwas immer hatte, dann war das Hunger. Und so bildete die Aussicht auf Kuchen am Nachmittag und Bratkartoffeln mit Spiegelei am Abend einen mächtigen Anreiz, die Fahrt von Rheine nach Neuenkirchen auf sich zu nehmen.

Aber da gab es noch etwas, das die beiden Jungen zum Munkelfeld’schen Hof zog. Seit dem Sommer ’41 arbeitete hier ein neuer Knecht. Nun, streng genommen war Sławomir Nowak kein Knecht, sondern ein Fremdarbeiter aus Polen. Man hatte ihn den Munkelfelds zugewiesen, weil deren Sohn Hans wie auch der Knecht Matthis, der noch bei Kriegsausbruch auf dem Hof gearbeitet hatte, an der Front waren. Inzwischen sprach Sławomir Nowak einigermaßen Deutsch. Er kam aus der Landwirtschaft und verstand es anzupacken. Die Munkelfelds schätzten seine Zuverlässigkeit. Und nicht zuletzt war der Pole der Liebling aller Kinder am Brink. Denn niemand konnte Märchen und Phantasiegeschichten so gut erzählen wie Sławomir Nowak, niemand aus Holzstecken so fabelhaft Tiere schnitzen oder ausgefallene Ideen für das Cowboy-und-Indianer-Spiel entwickeln wie er.

Mittlerweile hatten die beiden Radler das Tempo gedrosselt. Ihr Atem ging keuchend, und die Oberschenkel zwickten. Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl sollten sie nach dem Willen des Führers sein. Nun ja, bis dahin war es denn doch noch ein weiter Weg. Kurz vor der Abzweigung nach Sutrum-Harum hob Gerhard lauschend den Kopf. Von rechts hörte er ein tiefes Brummen, das immer lauter wurde.

»Achtung: Tiefflieger!«, rief er Werner als Warnung zu, der gut drei Fahrradlängen hinter ihm fuhr.

»Himmel, nein!«, schrie der zurück und verdoppelte seine Anstrengung, um Gerhard einzuholen.

Über dem Dörper Berg kam eine Rotte Jagdflugzeuge in Sicht.

»Ah, das sind unsere«, brüllte Werner erleichtert. »Focke-Wulf 190 aus Bentlage.«

»Ach Quatsch, Mann, da liegen doch nur Me 109.« Gerhard hatte sein Rad gestoppt, sodass Werner aufschließen konnte. Dröhnend zog die Formation an ihnen vorbei in Richtung Süden.

»Hast recht, sind Messerschmitt«, gab Werner zu, als er neben Gerhard anhielt.

»Hey, guck mal, eine der Maschinen hat offenbar Probleme. Der Pilot zieht sie hoch. Sie schert aus. Jetzt dreht sie um. Fliegt zurück in Richtung Bentlage«, kommentierte Gerhard atemlos das Geschehen am Himmel. Dann mit einem Mal die Erkenntnis: »Oh Gott, die Maschine brennt!« Aus dem Triebwerk der Messerschmitt züngelten Flammen. Das Jagdflugzeug zog eine dunkle Rauchfahne hinter sich her.

»Die kommt runter! Die kommt runter!« Werner war völlig aus dem Häuschen.

In diesem Augenblick lösten sich die Kabinenhaube und der unter dem Rumpf der Messerschmitt montierte Zusatztank. Der Pilot musste beides abgeworfen haben. Das Jagdflugzeug flog jetzt so tief, dass die Jungen den Flugzeugführer im Cockpit erkennen konnten.

»Das gibt Bruch!«, kreischte Gerhard und kniff kurz die Augen zusammen. Im gleichen Moment setzte das Flugzeug mit eingefahrenem Fahrwerk unter hässlichem, dumpfem Rumpeln auf einem gepflügten Acker jenseits der Rheiner Straße auf.

»Himmel, hoffentlich hat der Pilot das überlebt!«

»Komm, das schauen wir uns an!«, drängelte Werner. Seine Augen leuchteten. Verschiedene ihrer Klassenkameraden sammelten Bombensplitter und tauschten die erbeuteten Stücke in den Pausen auch schon mal gegen Glasmurmeln oder Sammelbilder aus Zigarettenpackungen, sofern jemand die noch aus besseren Zeiten zu Hause hatte. Hier und heute aber bot sich die Gelegenheit, ein noch wertvolleres Andenken zu erbeuten als einen Bombensplitter: ein Stück von einem deutschen Jagdflugzeug!

Die beiden Jungen radelten die wenigen Meter, die es zurückzulegen galt, bis von der Rheiner Straße ein Feldweg nach Norden abzweigte, der direktemang zur Stelle der Notlandung führte. Sie querten die Bahnlinie Rheine-Gronau. Links voraus sahen sie die notgelandete Maschine. Aus deren vorderem Teil schlugen Flammen. Nahe dem Flugzeug standen bereits einige Personen und diskutierten, unter ihnen offenkundig auch der Pilot. Als Gerhard und Werner sich der Messerschmitt näherten, stapfte der ihnen entgegen. Er humpelte, und seine mit Pelz gefütterte Fliegerkombi war an Armen und Beinen versengt.

»Jungs, macht, dass ihr wegkommt!«, herrschte er sie an. »Die Maschine kann gleich explodieren.«

Gerhard und Werner nickten. Und dachten doch keinen Moment daran, dieser Aufforderung tatsächlich Folge zu leisten. Zu groß war die Versuchung, ein Jagdflugzeug aus nächster Nähe zu sehen.

»Ob in der Pilotenkanzel vielleicht noch die Kartentasche liegt?« Werners Augen leuchteten. »Kommst mit nachschauen?«

»Nee, da kokelt’s mir zu viel.«

»Na, dann eben nicht.« Werner zuckte die Achseln und wieselte alleine in Richtung Flugzeug.

Aus dem Motorbereich stieg noch immer dunkler Rauch auf, durch den die weiße Spinnerspirale auf der Flugzeugnase kaum zu erkennen war. Bei ihrer Bruchlandung hatte die Maschine eine tiefe Furche in den Acker gezogen.

»Hier sind Fahrwerkteile«, schrie Gerhard in Richtung des Flugzeugwracks.

»Elefantös! Du glaubst es nicht, aber hier liegt die Kartentasche«, schallte es zurück. »Einfach so auf dem Boden. Da bleibt einem ja die Spucke weg.« Dann ein mehrfaches Husten. »Mann, ist das ein Rauch hier. Und schrecklich heiß ist’s auch. Ich glaub, ich hau wieder ab.«

Gerhard war in einiger Entfernung zum linken Flügel der Messerschmitt stehengeblieben. Selbst hier roch es nach Benzin, und die Hitze des Triebwerksbrandes war deutlich zu spüren. Er hielt sich die gekreuzten Hände vors Gesicht und linste durch die Lücken zwischen den abgespreizten Fingern. Mist, dachte er, näher ran geht’s nicht. Dabei hätte er sich die Messerschmitt und vor allem deren Pilotenkanzel gerne einmal von ganz Nahem angesehen. Mann, so eine Maschine möchte ich später auch mal fliegen. Pilot war einer seiner beiden Traumberufe.

Als er die Hände herunternahm, gewahrte Gerhard eine große Gruppe von Jungen und Mädchen, die auf den Unfallort zusteuerten. Die Nachricht von der Notlandung des Jagdflugzeugs musste sich wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitet haben. Eine solche Attraktion gab es nicht alle Tage, und erst recht nicht passend an einem schulfreien Samstagnachmittag.

Mit einem Mal fühlte sich Gerhard von hinten gepackt. »Hey, was soll das … wer …?«

»Du darfst nicht hier sein.«

Die Stimme mit dem harten slawischen Akzent kannte er. »Sławomir, was machst du denn hier? Lass mich los. Ich will mir doch nur das Flugzeug …«

»Nicht gut! Du musst hier weg!« Die großen, kräftigen Hände des Polen schoben Gerhard unerbittlich in Richtung Rheiner Straße.

»Lass mich sofort los!«, brüllte der Junge und schüttelte seinen Oberkörper, um sich von Nowak loszureißen. Doch der Versuch misslang.

»Nein, tue ich nicht«, knurrte der Pole. »Ist viel zu gefährlich!«

»Himmel nochmal, lass mich los! Ich will zum Flugzeug! Die anderen sind doch auch …«

In diesem Augenblick zerriss ein ohrenbetäubender Donnerschlag die Luft. Bruchteile von Sekunden später holte sie die Wucht der Detonation von den Beinen. Der Boden bebte. Metallteile sirrten durch die Luft. Aufschießende Erdfontänen zeigten deren Einschläge im Ackerboden.

Einen Moment war es still. Totenstill.

Dann erste klagende Laute, ein anschwellendes Jammern, Schreien und Weinen!

Der Acker am Dörper Berg bot ein grauenhaftes Bild. Die notgelandete Messerschmitt war ein Wrack. Ihre linke Tragfläche, in deren Nähe Gerhard eben noch gestanden hatte, war abgerissen und zerborsten. Bruchstücke von Motor und Pilotenkanzel waren wie Geschosse bis zu hundert Meter weit katapultiert worden. Überall lagen verletzte, schreiende Menschen und auch solche, die stumm waren und deren offene Augen, ohne etwas zu sehen, in den Mai-Himmel starrten.

»Bitte geh von mir runter«, keuchte Gerhard und versuchte, den breitschultrigen Polen hochzustemmen, der auf ihn gefallen war. Doch der reagierte nicht, und als Gerhard sich unter ihm hervorgearbeitet hatte, wusste er auch warum: Im Rückenteil der Joppe klaffte ein großes, gezacktes Loch, an dessen Rändern sich dunkelrot ein Blutfleck auszubreiten begann.

Entgeistert blickte der Junge auf den Schwerverletzten. Er brauchte einen Moment, dann begriff er.

»Hilfe! So helft mir doch! Sławomir stirbt!«, gellte sein verzweifelter Ruf über den Dörper Berg. Tränen strömten ihm über das bleiche Gesicht, und die Erkenntnis ließ ihn zittern: Wäre Sławomir Nowak nicht gewesen, dann wäre er jetzt tot.

ERSTER TEIL

Rheine, Montag, 3. Juni 2024

AM OFFENEN GRAB

Die letzten Schritte zum Grab würde die alte Dame kaum alleine schaffen. Für diese Erkenntnis hätte es Annas hektischen Handzeichens nicht bedurft. Immerhin ging Tante Luisa auf die Neunzig zu. In den vergangenen Tagen war ihr Gang zudem immer zittriger geworden. Der Tod ihres Mannes hatte sie tief getroffen, nur zu verständlich, nach fast fünfundsechzig gemeinsamen Ehejahren.

Moritz Mey straffte den Rücken. Der Bund seiner Anzughose schnitt in den Bauch. Die schwarze Hose saß merklich zu eng. Er hätte schwören können, dass sie bei ihrem letzten Einsatz noch perfekt gepasst hatte. Das musste … ja, das musste die Hochzeit von Malte vor gut zwei Jahren gewesen sein. Inzwischen war sein Sohn bereits Papa, und Moritz selber hatte offenbar an Bauchumfang zugelegt. Altersbedingt, wie er sich schnell zu beruhigen versuchte. Obwohl das Problem natürlich an anderer Stelle lag: Er kochte und aß einfach zu gerne.

»Aus Staub bist du, Mensch, und zum Staub kehrst du zurück. So übergeben wir denn, Gerhard Munkelfeld, deinen Leib der Erde und deine Seele in die Arme Gottes, des Allmächtigen.« Der Pfarrer räusperte sich. »Herr, gib ihm die ewige Ruhe.«

»Und das ewige Licht leuchte ihm«, klang es im Chor aus der kleinen Trauergemeinde.

»Herr, lasse ihn ruhen in Frieden.«

»Amen.«

Von der nahen B70 drang das Rauschen des Verkehrs herüber. Es passt schon, dass Gerhard gerade hier seine Grabstätte gefunden hat, dachte Moritz. Der Onkel war Zeit seines Lebens ein Autonarr gewesen. Den Geruch von Benzin hatte er geliebt wie Parfüm und seinen Führerschein erst mit neunzig Jahren abgegeben.

Mit einem letzten segnenden Kreuzzeichen trat der Pfarrer zur Seite und schaute Luisa Munkelfeld auffordernd an. Als Witwe hatte sie das Vorrecht, sich als Erste vom Verstorbenen zu verabschieden.

Anna gab Moritz erneut ein Zeichen. »Ja, ja, schon gut«, murmelte der leise und machte einen Schritt auf die vor ihm stehende Tante zu. »Gib mir deinen Arm, Tante Luisa, lass uns gemeinsam zum Grab gehen.«

Die alte Frau wandte ihm das blasse Gesicht zu. Ihre wasserblauen Augen blickten starr, so als schauten sie durch ihn hindurch. Moritz schien es, als käme Luisa gerade aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort zurück. Ihre Augenlider flatterten kurz, dann nickte sie und hakte sich bei ihm ein. Durch den Stoff seiner Anzugjacke spürte Moritz ihren knöchernen Arm. Mit kleinen, trippelnden Schritten wankten sie zur Fußseite des offenen Grabes. Schweigend, den Kopf gesenkt, verharrte Moritz an der Grabkante in Erwartung, dass seine Tante Blütenblätter oder Erdkrumen aus einer der bereitstehenden Schalen nehmen und auf den Sarg werfen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Vielmehr versteifte sich ihr Arm. Moritz schaute auf.

Seine Tante stand aufrecht und kerzengerade. Sie schien um Zentimeter gewachsen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf das Kopfende des Sarges. Mit einem Mal war es rundum todstill. Kein Windhauch, kein Vogelruf, selbst von der nahen B70 nur lautloses Schweigen. Luisas Gesicht schien eingefroren, maskenhaft erstarrt. Ihre Lippen bewegten sich, als versuchte sie, Worte zu formen. Doch ihr Mund blieb stumm.

Himmel hilf, sie hat einen Schlaganfall!, schoss es Moritz durch den Kopf.

Im gleichen Moment löste sich Luisas Starrkrampf. Ein Schrei hallte über den Friedhof. »Zwei!«, gellte es, »im Sarg liegen zwei!« Dann sackte die alte Frau in sich zusammen wie eine Marionette, deren Fäden zerschnitten wurden. Geistesgegenwärtig griff ihr Moritz unter die Arme, und es gelang ihm gerade noch, sie vor einem Sturz in das offene Grab zu bewahren.

ZUM UHLENHOOK

Im Nachhinein war Luisa Munkelfeld ihr Auftritt peinlich gewesen, äußerst peinlich sogar. Nachdem sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war – Anna und zwei weitere weibliche Verwandte hatten sich rührend um die alte Frau gekümmert – hatte Luisa erklärt, sich an nichts erinnern zu können. Weder an den Moment am Grab noch an das, was sie in diesem Augenblick getan oder gesagt hatte. Anna hatte angeboten, sie nach Hause zu bringen, und dieses Angebot war dankend angenommen worden.

So fand der Beerdigungskaffee im Anschluss an die Beisetzung ohne die trauernde Witwe statt. Im Saal der Gaststätte Zum Uhlenhook warteten auf weiß gedeckten Tischen Kaffee, belegte Brötchen und der obligatorische Butterkuchen auf die Trauergäste. Als Moritz den Raum betrat, der durch seine dunkle, rustikale Einrichtung dem traurigen Anlass in besonderer Weise angemessen schien, wurde am vorderen Tisch bereits die erste Lage Pils und Korn serviert. Ein Leichenschmaus bot eben nicht nur Raum für die Erinnerung an den Verstorbenen, sondern zugleich auch für das Feiern des Lebens. Auf dem Weg durch die Tischreihen grüßte Moritz Mitglieder des Turnvereins Jahn, diverse Schützenbrüder und eine Abordnung der Rheiner Feuerwehr. Sein Onkel war Mitglied in einer Reihe von Vereinen gewesen. Am Tisch der Doppelkopf-Freunde wurde verhalten gelacht. Noch im vergangenen Jahr hatte der Verstorbene in der Runde mitgemischt. Seine kauzige Art war immer wieder Anlass für Heiterkeit gewesen. So gab es denn auch mehr als eine amüsante Anekdote über den Verstorbenen, die erzählt werden wollte. Sogar Werner Solltau, Gerhards Freund seit Schülertagen, trug die eine oder andere Geschichte bei, obgleich seine Vorträge etwas schwer zu verstehen waren. Der 91-Jährige nuschelte fürchterlich.

Am Fenstertisch saßen die nahen Verwandten. Hier war die Stimmung gedrückt. Die Gespräche drehten sich um den Vorfall am Grab.

»So kann es nicht weitergehen! Das sind doch Anzeichen von Demenz«, stellte Alexandra Munkelfeld, die älteste Nichte des Verstorbenen, soeben mit vor Empörung zitternder Stimme fest. »Luisa darf nicht länger alleine in diesem großen Haus wohnen. Wir müssen einen Platz im Altenheim für sie finden.«

»Und wer soll den bezahlen? Du weißt doch selber, wie teuer so ein Heimplatz ist. Dafür reichen ihre Rente und die Witwenpension doch nie.« Ihr Bruder Mirko nahm einen Schluck Kaffee und biss herzhaft in eine mit Schinken belegte Brötchenhälfte.

»Willst du dich etwa um sie kümmern, jetzt, wo Onkel Gerhard nicht mehr lebt?«, fragte Alexandra spitz. »Na also. Ich bin an dieser Stelle auch raus. Meine Boutique auf der Emsstraße …«

»Ja, ja, wissen wir, dein Geschäft frisst dich auf, die Freizeit reicht kaum aus, um deinen Pflichten im Golfclub nachzukommen.« Mirko lachte gekünstelt. »Und für alles andere hast du diese Shalima aus Afghanistan, oder woher immer diese Kafferin stammt.« Er wedelte verächtlich mit der Hand, so als wollte er ein lästiges Insekt verscheuchen.

»Na und? Wer hat, der hat. Hättest du dein Studium damals abgeschlossen, statt dich mit dem Surfbrett auf Weltreise zu begeben, könntest du dir heute auch mehr leisten als diese schuhkartongroße Mietswohnung. Und Shalima kommt aus dem Iran, merk dir das doch endlich mal.«

»Aus Afghanistan, aus dem Iran, aus Hinterturkistan – das ist doch alles dasselbe.« Mirko Munkelfeld lachte verächtlich. »Die kommen doch alle nur zu uns, um sich in die soziale Hängematte zu legen, und schicken die Gelder, die sie abgreifen, zurück in ihre Heimat.«

»Also …«, Alexandras Gesicht lief rot an, »… du bist fürchterlich. Immer wieder die gleiche Leier.« Sie holte tief Luft. »Shalima ist anerkannte Asylantin und arbeitet hart für das Geld, das sie von mir bekommt. Härter, als du jemals gearbeitet hast!«

»Och, Schwesterchen ist böse mit mir.« Genussvoll biss Mirko ein weiteres Mal in sein Schinkenbrötchen. Kauend grinste er: »Wer hat, der hat. Ist doch nur der pure Neid.«

»Neid?! Worauf sollte ich denn bitte bei dir neidisch sein? Auf deinen Aushilfsjob im Antiquitätenladen? Oder auf die alte Möhre, die du fährst … oder auch mal schiebst, weil dir das Benzin ausgegangen ist? Neid? Pah, vergiss es.«

Auch das Gesicht ihres Bruders hatte inzwischen eine tiefrote Farbe angenommen. »Ja, okay, zugegeben, bisher war das noch nicht meine Saison. Aber das wird sich ändern, und zwar ganz bald, das verspreche ich dir.«

»Hast du im Lotto gewonnen? Oder ’ne reiche Tussi gefunden, die verzweifelt genug ist, dich zu heiraten?«

»Quatsch. Ist politisch, ’ne große Sache. Du hast ja keine Ahnung, wie groß.«

»Schau an, mein Herr Bruder wird der nächste Bundeskanzler. Hahaha! Nicht schlecht, Herr Specht. Immer noch das alte Großmaul«, frotzelte Alexandra.

Mirkos Gesicht wurde hart. Mit einer langsamen Bewegung legte er den Rest des Schinkenbrötchens auf seinen Teller. Abrupt stand er auf. Sein nach hinten geschobener Stuhl fiel polternd zu Boden. Wütend ballte er die rechte Hand zur Faust. Fast schien es, als wollte er sich auf seine Schwester stürzen.

Betreten schauten die übrigen Cousinen und Cousins zur Seite. Am Tisch wurde es mucksmäuschenstill.

Moritz hatte sich leise auf einen der freien Stühle am Tischende gesetzt in der Hoffnung, von den sich in Rage redenden Streithähnen unbehelligt zu bleiben. Was sich als Illusion entpuppte. Ohne ihren Bruder weiter zu beachten, drehte sich Alexandra zu ihm hin, auf dem Gesicht ein gefrorenes Lächeln. »Ah, Moritz, da bist du ja wieder. Wie geht es Tante Luisa? Habt ihr sie gut nach Haus gebracht?«

»Ich …«, Moritz räusperte sich, »ich denke, es geht ihr wieder besser. Anna ist bei ihr geblieben. Sie sollte heute vielleicht nicht allein bleiben.«

»Das gilt nicht nur für heute, darin sind wir uns doch wohl alle einig«, behauptete Alexandra und warf einen beifallheischenden Blick in die Runde. Ihren Bruder schaute sie dabei intensiver und einen Augenblick länger an als die anderen, woraufhin dieser, einige unverständliche Worte murmelnd, den umgestürzten Stuhl aufhob und sich wieder auf seinen Platz setzte. »Gerade als du kamst, haben wir darüber gesprochen, dass Tante Luisa ab jetzt wohl am besten in einem Altenheim aufgehoben wäre. Du denkst doch auch, dass sie unmöglich länger alleine in ihrem großen Haus bleiben kann, oder?«

»Das eben am Grab, das war doch lediglich ein kleiner Schwächeanfall«, wandte Moritz zaghaft ein. »In ihrer momentanen Situation ist der mehr als verständlich.«

»Schwächeanfall? Na, da bin ich mir nicht so sicher.« Bernd Voegt rieb sich nachdenklich die Nase. »Für mich sieht das eher nach einer beginnenden Demenz aus und in dem Fall sollte Tante Luisa …«

Eine klare, junge Stimme unterbrach ihn:

»Kennst du die Blassen im Heideland,

mit blonden, flächsenen Haaren?

Mit Augen so klar, wie an Weihers Rand

Die Blitze der Welle fahren?

Oh, sprich ein Gebet, inbrünstig, echt,

für die Seher der Nacht, das gequälte Geschlecht.«

»Die erste Strophe des Gedichts ›Vorgeschichte‹ von Annette von Droste-Hülshoff«, stellte Moritz mit einem erstaunten Blick auf die Vortragende fest. »Chapeau! Lernt man so was heute noch in der Schule?«

»In der Schule vielleicht nicht, aber im Germanistik-Studium.« Emma Voegt warf ihre brünetten Haare zurück und lächelte. »Zumindest an der Uni Münster.«

»So wie wir anno Tobak im zweiten Semester«, schmunzelte Moritz, selbst ein studierter Germanist.

»Und was bitte willst du uns damit sagen?« Alexandras Finger trommelten ein Stakkato auf den Holztisch.

»Ich könnte mir vorstellen, dass Großtante Luisa diese Worte am Grab nicht zufällig ausgesprochen hat.« Emma machte eine dramatische Pause. »Sie hat nämlich das ›Zweite Gesicht‹.«

Ungläubiges Staunen in der Runde. Als Erste fand Alexandra ihre Sprache wieder. »Du meinst, Tante Luisa ist ein Spökenkieker? Aber das ist doch Humbug, völliger Blödsinn. Spökenkieker gibt es nicht. Die existieren nur in Sagen und Märchen oder in der ausufernden Fantasie alter Bauerntrampel.«

»Also das sehe ich etwas anders«, widersprach Bernd Voegt. »Immerhin hat die Spökenkiekerei bei uns in Westfalen eine lange Tradition. Es gibt eine Reihe von Beispielen, die zeigen, dass es dieses Phänomen tatsächlich gibt. In Neuenkirchen etwa …«

»Spökenkiek … was? Kann mir mal jemand erklären, worüber hier überhaupt geredet wird?«, fuhr Mirko unwirsch dazwischen .

»En Spöökenkieker, dat is en Mensken, de mehr süht äs änner Lüe un sogar in de Tokunft kieken kann!«, ließ sich Gottfried Munkelfeld, der Großvater von Emma, vom Ende der Tafel her vernehmen. Dort saßen die Geschwister des Verstorbenen, die trotz leichter Schwerhörigkeit der Diskussion ihrer Kinder und Enkel mit wachsendem Interesse gelauscht hatten.

»Ähm, also ich verstehe nur Bahnhof! Kann mal jemand auf Deutsch …«

»Plattdeutsch ist Deutsch, du Banause!« Alexandra rümpfte die Nase.

»›Spökenkieker‹ heißen bei uns in Westfalen die Menschen mit dem ›Zweiten Gesicht‹«, belehrte Emma ihren Großcousin. »Man kann den Begriff vielleicht am besten mit ›Geister-Seher‹ übersetzen. Das sind Menschen, die die Fähigkeit haben, in die Zukunft zu schauen. Dabei sehen sie meist unheimliche oder bedrohliche Ereignisse voraus, wie Unfälle, Tod oder Krieg. Eine solche Gabe zu haben, ist oft eine schwere Bürde.«

»An so was glaubst du?« Mirko wirkte entgeistert.

»Jedem das Seine«, sagte Emma spitz.

»Dass Tante Luisa die Zukunft vorhersehen kann, also das halte ich gelinde gesagt für Unfug«, ließ sich vom Ende des Tisches Gottfried Munkelfeld vernehmen. »Sonst würde sie nicht seit Jahrzehnten Lotto spielen, ohne auch nur einen einzigen Sechser zu landen.«

Damit erntete er in der Runde einen erlösenden Lacher.

ZWEITER TEIL

Rheine, Dienstag, 3. September 2024

WOHNUNGSAUFLÖSUNG

Nun war es also doch so weit. Luisa Munkelfeld würde ihr gemütliches Haus an der Brechtestraße verlassen und in ein Seniorenheim umziehen. Nicht, dass sich ein Vorfall wie der am Grab ihres Mannes seither wiederholt hätte, keineswegs. Ihr Verstand funktionierte immer noch wie ein perfektes Uhrwerk. Was man von den Gelenken in ihren Knien und Hüften allerdings nicht behaupten konnte. So hatte sie sich denn schweren Herzens entschlossen, das Eigenheim aufzugeben. Ihren neunzigsten Geburtstag im Dezember würde sie im St. Josefshaus in der Eckener Straße feiern. Sofern sie ihn denn erleben sollte.

Luisa war eine Frau, die ihr Leben immer gradlinig und kompromisslos gestaltet hatte. Dieses Prinzip behielt sie auch beim Umzug in ihr vorletztes Domizil, das Zimmer im Seniorenheim, bei. »Denn nach dem Heim kommt nur noch der Sarg«, hatte sie ihrem Neffen Moritz rustikal erklärt und ihn gleichzeitig beauftragt, Möbel und Hausrat, die sie beim Umzug nicht mitnehmen konnte, gewinnbringend zu verkaufen oder kurzerhand zu entsorgen. »Du machst das schon, mein Junge.« Bei ihrer gemeinsamen Hausbegehung hatte Luisa weniger bedrückt denn aufgeräumt gewirkt.

»Fällt es dir nicht schwer, dich von all dem hier zu trennen? Da hängen doch sicherlich viele Erinnerungen dran.«

»Gute wie schlechte, mein Junge, gute wie schlechte. Aber warum sollte ich mich grämen. In meinem neuen Zimmer habe ich nun mal nicht mehr Platz. Und bald wird es für mich noch enger werden. Särge sind nicht besonders geräumig.« Beide hatten einen Augenblick pietätvoll geschwiegen. »Also nur weg mit all dem hier.«

An diese letzte Hausbegehung mit Luisa musste Moritz denken, als er im Wohnzimmer ihres Hauses stand und auf das Schellen der Türklingel wartete. Es war still im Haus, unnatürlich still. Seit gut drei Wochen lebte seine Tante nun schon im Seniorenheim. Und doch atmeten die verwaisten Räume noch immer den Geist des alten Ehepaares, das hier Jahrzehnte gelebt, gelacht und das Leben genossen hatte. Oh ja, Onkel Gerhard und Tante Luisa waren alles andere als Kostverächter gewesen. Was es an Schönem im Leben gab, sie hatten es mitgenommen.

Moritz’ Blick glitt über die Inneneinrichtung. Orientteppiche, Meißener Porzellan hinter blank geputzten Vitrinenscheiben, sorgfältig polierte Möbelstücke, einige von ihnen wahrscheinlich deutlich älter als einhundert Jahre, all das dürfte einen gewissen Wert haben, den Moritz allerdings nur schwer einschätzen konnte. Daher hatte er einen Experten zum Ortstermin gebeten, auch wenn ihm dies emotional nicht leichtgefallen war. Denn die Erinnerungen, die Moritz mit dem Geschäft Antiquitäten Exquisit und dessen aktuellem Besitzer Wulf-Dieter Wittmänneken verband, waren alles andere als angenehm. Bei seinem letzten Aufenthalt in den Räumlichkeiten des Antiquitätengeschäfts in der Münsterstraße 28b hatte er sich unversehens geknebelt und gefesselt in den Händen einer mörderischen Psychopathin wiedergefunden. Weiß Gott kein Erlebnis, an das man gerne zurückdachte. Doch Wulf-Dieter Wittmänneken, der Inhaber von Antiquitäten Exquisit, war nun einmal in Rheine unbestritten einer der angesehensten Experten für genau jene Objekte, die Moritz im Auftrag seiner Tante zu verkaufen gedachte. Nun ja, zugegeben, ein wenig dazu beigetragen, seine emotionalen Bedenken hintanzustellen, hatte auch die Umsatzbeteiligung von zehn Prozent, die ihm Luisa für den Verkauf in Aussicht gestellt hatte.

Bei seiner Wanderung durch die wie eh und je penibel aufgeräumten Zimmer war Moritz in der Küche angekommen. Auch hier keine Spur von Unordnung. Keine benutzten Tassen oder Gläser. Die Spülmaschine leergeräumt. Der Kühlschrank abgestellt. Alles atmete Stillstand und schien gleichermaßen für ein Ende wie auch für einen neuen Anfang bereit. Mit einem Seufzer setzte sich Moritz an den verlassenen Küchentisch.

Er dachte an Annas Erzählungen von den gemütlichen Mahlzeiten, die sie bei Onkel Gerhard und Tante Luisa genossen hatte. Möglicherweise neigten kinderlose Paare generell dazu, Nichten und Neffen im Kindesalter zu verwöhnen. Luisa und Gerhard hatten dies in jedem Fall getan. So kamen denn beim Frühstück mit ihrer Lieblingsnichte all die Dinge auf den Tisch, die Kinder mochten und die es im elterlichen Zuhause in aller Regel nicht gab: Nutella, Obstsalat aus der Dose, on top eine hausgemachte cremige Vanillesoße, süße Pfannekuchen mit Ahornsirup, alles schrecklich ungesund – und furchtbar lecker. Anna hatte das Frühstück bei Onkel und Tante geliebt!

Nach ihrer Hochzeit hatten ihn Gerhard und Luisa Munkelfeld kurzerhand als »angeheirateten Neffen« in die Familie aufgenommen. Ihr Verhältnis war von Anfang an ein herzliches und vertrauensvolles gewesen, was Moritz als großes Glück empfunden hatte. Für das Ehepaar Munkelfeld schien das Gleiche zu gelten. Wie sonst wäre es zu erklären, dass Luisa ihn mit dem Verkauf ihres Hauses betraut hatte?

Die Türklingel schrillte misstönend. Gütiger Himmel, das Ding klingt ja wie eine sterbende Krähe, dachte Moritz. Als neuer Besitzer würde ich die Schelle direkt nach dem Hauskauf austauschen. Vor der Tür stand ein Mann Mitte der Sechzig. Hellgrauer Tweed-Anzug, eine dazu passende hellgraue Weste, beide mit einem feinen Gitternetz aus unterschiedlich breiten weißen Streifen überzogen, darunter ein blütenweißes Hemd. Die orange-rote Krawatte war ein Blickfang und passte perfekt zur Ballonmütze mit dem grauen Karomuster und den feinen orangefarbenen Einsprengseln. Dem Anschein nach waren die braunen Lederschuhe handgefertigt.

Moritz musste unwillkürlich schmunzeln. Noch immer ein Dandy, wie er im Buche steht!, schoss es ihm durch den Kopf. Und noch immer klein genug, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mit seinen knapp ein Meter fünfzig schien der Mann tatsächlich prädestiniert dafür zu sein, in Menschenansammlungen übersehen zu werden.

»Herr Wittmänneken, schön, dass Sie es einrichten konnten.« Sie reichten sich die Hände. Händeschütteln, in der Corona-Pandemie außer Mode gekommen, erlebte inzwischen eine Renaissance.

»Herr Mey, wenn ich mich recht erinnere. Erfreut, Sie zu sehen.«

»Bitte.« Mit einer einladenden Handbewegung bat Moritz den Antiquitätenhändler in den Flur.

»Am Telefon sprachen Sie davon, dass Ihre Tante umständehalber ihren gesamten Hausstand …«

»Ja, so ist es. Tante Luisa ist ins Altenheim gezogen. Das Haus wird verkauft und ebenso ihr gesamter Hausrat.« Die beiden Männer waren im Wohnzimmer angekommen.

»Ihr gesamter Hausrat, so, so.« Wittmänneken rieb sich die Hände. »Beginnen wir mit dem Interessanten: Gibt es eine Münzsammlung, originale Gemälde, einen Bestand an alten Büchern? Wirklich alten Büchern, meine ich.«

»Leider ein dreifaches Nein. Eine Münzsammlung gab es, doch die hat einer ihrer Neffen vermacht bekommen. Und die Bilder an den Wänden hier stammen alle von unbekannten Künstlern.«

»Weitere Gemälde gibt es nicht?«

Moritz zuckte die Schultern. »Soweit ich weiß, nicht.«

»Und seltene antiquarische Bücher?«

»Die Tante ist eine begeisterte Leserin und eine treue Besucherin der Stadtbibliothek. Ich glaube nicht, dass sie irgendwo ein bibliophiles Schätzchen gehortet hat. Onkel Gerhard, nun, der hielt Lesen für unmännlich. Er hat lieber geschraubt.«

Wittmännekens Augenbrauen schnellten nach oben. »War er Schlosser oder Schreiner?«

»Weder noch«, lachte Moritz, »aber ein Autonarr und begeisterter Hobbybastler. Er hat Oldtimer restauriert und verkauft.«

Über Wittmännekens Gesicht huschte ein Ausdruck des Begehrens. »Gibt es …«

»Leider abermals ein Nein. Mit der Abgabe seines Führerscheins vor gut einem Jahr hat er sich auch von seinem letzten Oldie getrennt, einem Citroën DS 21 Pallas IE, Baujahr 1971.« In der Garage stand seitdem nur noch ein Golf, der Alltagswagen des Onkels, der zwar auch schon acht Jahre auf dem Buckel hatte, aber kaum als Oldtimer gelten konnte. Zudem hatte ihn Onkel Gerhard per Testament Mirko Munkelfeld vermacht.

Wittmänneken schüttelte enttäuscht den Kopf. »Ich verstehe nicht ganz, warum Sie mich unter diesen Umständen überhaupt …«

»Entschuldigen Sie, ich hätte bereits am Telefon deutlicher werden sollen. Mein Kaufangebot bezieht sich auf das Porzellan, die Möbel und die Teppiche meiner Tante.«

Eine Stunde später ließ sich Moritz im Wohnzimmer erschöpft auf das dunkelblaue Plüschsofa fallen. Wittmänneken hatte die infrage kommenden Objekte mit professioneller Gründlichkeit untersucht, mit der Handykamera fotografiert und sodann ein erstes Gebot abgegeben. Bedauerlicherweise war der Interessentenkreis für diese Objekte äußerst klein.

»Teppiche sind für mich nicht besonders relevant. Der Markt für gebrauchte Teppiche ist mehr als überschaubar. Das Angebot aus Wohnungsauflösungen ist einfach zu groß, Sie verstehen. Ihr Porzellan ist bis auf das Meißener Zwiebelmuster Standardware, kommt mithin für einen Ankauf meinerseits ebenfalls nicht infrage. Bei den Möbeln, nun, da wäre ich an den sechs Biedermeierstühlen mit der Lyra im Rückenteil interessiert. Sie sagten, das seien Erbstücke des Mannes Ihrer Tante?«

Moritz nickte. »Von seinen Eltern.«

»Die schwarze Polsterung ist doch original, ja?«

Erneutes Kopfnicken.

»Gut. Dann könnte ich mir auch noch den Ankauf des Sessels aus Kirschholz und des Sekretärs mit den Intarsien aus dem Arbeitszimmer vorstellen.«

Das war es dann auch schon. Wittmänneken hatte versprochen, Moritz bereits am nächsten Tag ein schriftliches Angebot zukommen zu lassen. Sollte dies angenommen werden, würde er die in Betracht kommenden Gegenstände in der kommenden Woche abholen lassen.

»Immerhin«, murmelte Moritz und seufzte. Viel würde der Verkauf nicht einbringen, aber wenig war immer noch besser als nichts. Für den Rest des Inventars sollte er die Caritas kontaktieren. Vielleicht konnte das ein oder andere Stück ja einen Platz im Sozialkaufhaus Brauchbar & Co. finden. Und was dann noch übrig war, nun, mit dessen Entsorgung würde er eine Entrümpelungsfirma beauftragen müssen, auch wenn ihm dabei das Herz blutete. Allein die Hoffnung blieb, dass einer der Verwandten doch noch kurzfristig sein Interesse an einem der Inventarposten bekunden würde. Eine entsprechende WhatsApp-Gruppe würde er jedenfalls einrichten.

Mit einem Mal fiel Moritz die Briefmarkensammlung seines Onkels ein. Möglicherweise besaß die ja einen gewissen Wert … Er hätte sie Herrn Wittmänneken zeigen sollen … ach, vielleicht eher nicht. Wer interessierte sich heutzutage noch für Briefmarken?

DRITTER TEIL

Rheine, Montag, 18. November 2024

IM MORGENGRAUEN

Marie van Denggelen stand am Fenster ihrer Wohnung und schaute auf die Straße. Keine Frage, heute Morgen waren die Bedingungen perfekt. Im diffusen Licht der Straßenlaterne erkannte sie wabernde Nebelschwaden, die wie überdimensionierte Wattebauschen über dem nassen Asphalt des Gehwegs hingen. Von den kahlen Zweigen der Trauerweide im Vorgarten des Nachbarn fielen dicke Tropfen auf den feuchtglänzenden Rasen. Draußen schien es windstill zu sein. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Ein Blick auf das Leuchtzifferblatt ihrer Armbanduhr: 7:02 Uhr. Es wurde Zeit, sich auf den Weg zu machen.

Mit routinierten Handgriffen zog Marie die dick wattierte blaugraue Steppjacke über, die sie in Erwartung der angekündigten frostigen Spätnovembertemperaturen erst wenige Tage zuvor im Modehaus auf der Emsstraße erworben hatte, und hüllte sich in Wollschal und Mütze. Sie schulterte die bereits am vorherigen Abend sorgfältig gepackte Fototasche. Ein letzter kontrollierender Blick in den Spiegel. Fertig. Mit einem leisen Klacken fiel die Wohnungstür ins Schloss. Im Hausflur begegnete ihr niemand. Die Mitbewohner waren längst schon auf dem Weg zur Arbeit oder lagen noch in den Federn.