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Rheine an einem nasskalten Montag im Mai 2021. Auf ihrer Joggingrunde entdeckt eine junge Frau im dunklen Wasser des Schleusenkanals die leicht bekleidete Leiche eines Mannes. Offensichtlich wurde er erdrosselt. Kurze Zeit später stolpert Lokalreporter Moritz Mey auf dem Alten Friedhof der Ems-Stadt über einen skelettierten menschlichen Schädel. In dessen rechter Augenhöhle stößt er auf die kaum noch zu entziffernde Signatur Here H 37. Wer ist der Tote aus dem Schleusenkanal und warum musste er sterben? Gibt es eine Verbindung zum grausigen Fund auf dem Alten Friedhof? Und: Welche Bedeutung hat der geheimnisvolle Schriftzug auf den bleichen Knochen des Schädels? Während eine Mordkommission unter Leitung von Kriminaloberkommissar Luke Rumphorst intensiv daran arbeitet, den rätselhaften Toten zu identifizieren und die Umstände seines Todes zu klären, recherchiert Moritz Mey auf eigene Faust. Dabei kommt er einem grausamen Geheimnis auf die Spur und gerät selbst in tödliche Gefahr. Denn der Täter hat nichts mehr zu verlieren .... Ein spannender Münsterland-Krimi, atmosphärisch dicht, mit reichlich Lokalkolorit und einem überraschenden Ende!
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Seitenzahl: 396
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für Antje, Christina und Dorothea. Ich erinnere mich gut daran, welch unbeschreiblich herrliches Gefühl es war, euch ein erstes Mal im Arm zu halten.
Nicht der Zweifel, die Gewissheit ist das, was wahnsinnig macht.
(Friedrich Wilhelm Nietzsche, 1844–1900, deutscher Philosoph, Lyriker und Schriftsteller)
Der Unwissende hat Mut, der Wissende hat Angst.
(Alberto Moravia, 1907–1990, italienischer Schriftsteller und Politiker.)
Untere Schleuse des Schleusenkanals
Villa der Familie Mey
Gymnasium Dionysianum
Alter Friedhof
Klippkouhle (Schotterweg zwischen Schleusenkanal und Kreyenesch)
Bungalow der Familie Randell
Haus der Familie Mosekamp
Antiquitätengeschäft Exquisit
Mathias-Spital
Bahnhof
Europäische Fachhochschule EU|FH (Campus Rheine)
NaturZoo Rheine
MORITZ MEY
Zeigt, dass man auch als studierter Historiker ein perfekter Hausmann sein kann. Sorgt zudem als freier Mitarbeiter der Rheiner Allgemeinen Zeitung für Niveau im Lokalteil. Selbst in scheinbar aussichtslosen Situationen nie um eine pfiffige Idee verlegen.
ANNA MEY
Lehrerin für Biologie und Mathematik am Rosalind-Franklin-Gymnasium in Rheine. Kann geduldig zuhören und kennt ihren Mann erfreulicherweise so gut wie niemand sonst.
LUKE RUMPHORST
Kriminaloberkommissar und ein Ermittler alter Schule. Ruhig und entschlossen – außer beim Umgang mit dem weiblichen Geschlecht. Daher auch mit 37 Jahren noch Junggeselle.
JAKOB BÄR
Macht seinem Namen alle Ehre: bärbeißiger, notorisch schlecht gelaunter Kriminalkommissar mit persönlichen Problemen.
EDGAR FALTERMEYER
Spielt als Kriminalermittler die zweite Geige und leistet die Fußarbeit, so wie es dem Assistenten in einer Mordkommission eben zukommt. Hat ein Faible für Obduktionen.
LEON BOCKSTEDT
Ein Polizeiobermeister, wie er im Buche steht – mollig rund und wohlgenährt, sorgfältig und penibel.
AZRA CEYLAN
Polizeibeamtin in Rheine, mit einer Schwäche für schnelles Fahren. Attraktiv und doch single – noch.
MARIE VAN DENGGELEN
Langes blondes Haar, Stupsnase und in Enschede geboren. Eine streitbare Niederländerin mit Nationalstolz, die in Rheine lebt und die Polizei bei Bedarf als Dolmetscherin unterstützt.
DR. PAUL NOTTENDORF
Wortkarger, Pfeife rauchender Rechtsmediziner am Universitätsklinikum Münster, dessen pedantische Arbeit nicht bei allen Kriminalbeamten Anerkennung findet.
JUSTUS WAHLBRINCK
Ein aufstrebender junger Staatsanwalt. Arbeitet mit Einfluss im Hintergrund.
NORBERT ALT / JÜRGEN NUSSBAUM / HENRIK BRUCHLEITNER
Geballte medizinische, juristische und chemische Fachkompetenz. Bilden zusammen mit Moritz Mey eine perfekte Doppelkopfrunde.
CLAAS CÖSTER
Sein Niederländisch ist ausgezeichnet, er liebt schnelle Autos, schöne Frauen und gutes Essen – und hat in manchen Dingen ein sehr weites Gewissen.
DIRK GRIESBAUM
Juniorchef eines holzverarbeitenden Betriebes in Neuenkirchen, der sich infolge väterlicher Knauserigkeit gezwungen sieht, sein mageres Gesellengehalt ein wenig aufzubessern.
PROF. DR. NEO KALTBACH
Kraniologin und Leiterin des Institutes für Ethik in der Medizin an der Europäischen Fachhochschule in Rheine – und das ist noch längst nicht das einzig Bemerkenswerte an ihr.
LUTZ LORENZ
Krankenpflegeschüler im Mathias-Spital in Rheine. Er erzählt gerne alles, was er weiß.
ULLRICH MORRETTI
Übt neben seinem eher langweiligen Job im Sekretariat einer stahlverarbeitenden Firma eine äußerst spannende Nebentätigkeit aus.
ISABELL MOSEKAMP
Eine attraktive Frau mit dunkler, warmer Stimme, die dem ein oder anderen Mann den Kopf verdreht. In die Tiefe ihrer Seele schaut dabei niemand.
NIKLAS MOSEKAMP
Elektriker auf Meisterkurs und seiner Mutter ein verlässlicher, starker Helfer.
ALOIS NICKEL
Chefredakteur der Rheiner Allgemeinen Zeitung und gewichtiger Liebhaber von Kaffee und süßen Versuchungen.
MARIUS PIRUS
Ein Schüler mit dem Potenzial für eine Karriere in der Strafjustiz – es fragt sich nur auf welcher Seite.
BEATE RANDELL
Genussmensch und Liebhaberin von Chips und Erdnussflips mit einem goldenen Händchen für das Designen von Räumen. Vom Schicksal allerdings nicht unbedingt sorgsam behandelt.
GREGOR RANDELL
Ewiger Student der Kunstgeschichte in München. Schätzt auch mit 31 Lenzen das Leben in der Kommune.
RAIMUND RANDELL
Als Antiquitätenhändler exquisit. Sein Auftritt im Roman ist ein kurzer, und doch ist er im Grunde stets präsent.
WULF-DIETER WITTMÄNNEKEN
Führt zusammen mit seinem Partner ein Antiquitätengeschäft. Auf den ersten Blick ein Kavalier der alten Schule. Und auf den zweiten?
PROLOG
ERSTER TEIL
IM WASSER LIEGT EIN MENSCH
ZWEITER TEIL
MISSION NUMBER ONE
ES DARF RUHIG EIN BISSCHEN HUMORIG SEIN
DAS STEINERNE GESCHICHTSBUCH
BLANKE KNOCHEN
KALT UND STARR
ER IST IM SYSTEM!
HAUSBESUCH IM SALZWEG
DRITTER TEIL
ÜBERRASCHENDE WAHRHEITEN
VON BERUF STIEFSOHN
DER FAHRER MUSS EIN ECHTER CHAUVI SEIN!
HIER ZAHLTEN SICH DIE 271 PS ENDLICH AUS
GEEN ROZEN ZONDER DOORNEN
DU BIST CLEAN
LEGAL, VOLLKOMMEN LEGAL
DIE FRAGEN HIER STELLEN WIR
ZWISCHEN SÖCKCHEN UND KNIESTRÜMPFEN
DARF MAN MIT MENSCHENSCHÄDELN HANDELN?
VIERTER TEIL
IN DER OPER IN GOCH
LACHSFARBEN, 3XL, 58
EIN RAUB AUF BESTELLUNG
SCHON WIEDER EINE NIETE
DAS WAR KEINE KATASTROPHE, DAS WAR EIN VÖLKERMORD!
SIE SIND NICHT WEGEN DES EINBRUCHS HIER
DAS GESCHÄFT HAT BEREITS GESCHLOSSEN
… UND SCHNÜRTE IHR DIE LUFT AB
SO NAHE LIEGEN HIMMEL UND HÖLLE BEIEINANDER
GEBEN WIR IHM EINEN KLEINEN VORSPRUNG
DREIMAL KURZ – DREIMAL LANG – DREIMAL KURZ
NICHT GERADE EINE ÜPPIGE REISEAUSSTATTUNG
FÜNFTER TEIL
TROPFEN FÜR TROPFEN WIRD ZU EINEM SEE
ONE DAY, WHEN THE TONGUIN’ IS DONE, WE’LL TAKE OUR LEAVE AND GO
Warum sollte man ein Glas Champagner ablehnen, das einem bereitwillig angeboten wird? Warum ein pikantes Abenteuer, wenn es in Griffweite ist?
Er war noch nie ein Kostverächter gewesen. Sein ganzes Leben, und es war weiß Gott ein aufregendes gewesen, mit fulminanten Höhen und rabenschwarzen Tiefen, sein ganzes Leben lang hatte er jede sich bietende Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Wenn es eine Bezeichnung gab, die ihn und seine Geisteshaltung am besten beschrieb, dann war es das Wort »Bonvivant«. Das Gestern vergessen, das Jetzt genießen und an das Morgen nicht denken. Dies, genau dies war seine Lebensphilosophie. Auch in Augenblicken wie diesen, was manch Außenstehender als moralisch verwerflich ansehen mochte. Doch Moral war etwas für Asketen, den Feinden des Genusses schlechthin. Ebenso wie auch die Ehrlichkeit. Große Männer hatten es vorgemacht: Donald Trump, Boris Johnson, Wladimir Putin, um nur einige zu nennen. Mit einer Lüge oder auch zweien gelangte man zu Geld und Macht, mit Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit eher nicht.
Gut, irgendwann kam es vielleicht zum Schwur. Zum berühmten Moment der Wahrheit. So wie für ihn gerade eben. Dann musste man bereit sein, die Wut des Gegenübers auszuhalten. Schuft, Lump, Schweinehund – das waren noch die netteren der Schimpfworte, mit denen er bedacht worden war.
Nun, er konnte die Wut verstehen. Diese Lüge war sicherlich eine der schäbigsten gewesen, die er in seinem Leben je ausgesprochen hatte. Die Wahrheit war daher umso grausamer. Sie hatte alle Zuversicht, alle Hoffnung jäh zerplatzen lassen wie eine Seifenblase.
Er zündete sich eine Zigarette an. Mit lässig gespitztem Mund blies er das Streichholz aus. Er sollte jetzt besser gehen. Sich anziehen und gehen. Denn mehr war hier und heute nicht zu erwarten. Das, was gesagt werden musste, war gesagt. Jedes weitere Wort wäre allein aus Bitternis und Hass geboren. Er wandte sich um. Auf dem Stuhl neben dem zerwühlten Bett lag seine Kleidung, sorgfältig drapiert, ohne jeden Knitter, die Bügelfalte der Hose akkurat und messerscharf.
Nur kurz streifte die schwarze Schlinge sein schütter werdendes Haar, legte sich dann fast zärtlich um den faltigen Hals und wurde brutal zugezogen. Verzweifelt suchten seine Hände sie zu greifen, sie wegzuzerren, zu zerreißen. Vergebens. Aus seinem Mund kam ein heiseres Krächzen. Luft. Luft! LUFT! Himmel …
Ein Blitz traf sein Herz, dann war nur noch Dunkelheit.
Rheine, Montag, 3. Mai 2021
Der von einem Smartphone abgesetzte Notruf erreichte die Kreisleitstelle in Rheine um 16.32 Uhr.
»Im … im Wasser liegt ein Mensch … Ich glaube … er ist tot!«
Durch das Telefon hörte der Disponent der Leitstelle das heftige Atmen der Anruferin. Sie schien zu hyperventilieren. Womit die Gefahr bestand, dass am Ende auch sie noch im Wasser landete. Die nächsten Satzfetzen, die aus dem Lautsprecher drangen, bestätigten diese Befürchtung.
»Mir ist … übel …«
»Bleiben Sie ruhig! Atmen Sie gleichmäßig. Setzten Sie sich auf den Boden. Ich schicke einen Krankenwagen. In wenigen Augenblicken ist er bei Ihnen.«
Die beruhigenden Worte waren Routine. Ebenso die Ermittlung des Standortes der Anruferin. Dank AML-Technologie wurde seit Ende 2019 die Position eines Smartphones, von dem ein Notruf abgesetzt wurde, automatisch und punktgenau an die Leitstelle übermittelt. Der Blick auf die Koordinaten zeigte: Der Einsatzort für die Rettungskräfte befand sich im Bereich der unteren Schleuse des Schleusenkanals in Rheine.
Wenige Minuten später erreichten Rettungswagen und Notärztin über den asphaltierten Laufweg am Timmermanufer den Kanal. Die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge tauchten den Schleusenbereich in ein gespenstisch flackerndes Licht. Einer der beiden Rettungssanitäter, den Notfallrucksack über der Schulter, sprintete über das Laufgitter des geschlossenen Schleusentores. Das hektische Stakkato seiner Schritte unterstrich die Dringlichkeit des Einsatzes. Vor der steinernen Pegelstation auf dem Wall zwischen Schleusenkanal und Ems lag eine junge Frau regungslos am Boden. Der Sanitäter kniete neben der Ohnmächtigen und sprach sie an. Ihre Augenlider flatterten, ein Zeichen, dass sie aus der Bewusstlosigkeit ins Leben zurückkehrte.
»Ich mache hier weiter. Kümmern Sie sich um den Mann im Wasser, der uns gemeldet wurde«, stieß die herbeigeeilte Notärztin atemlos hervor und dirigierte die beiden Rettungssanitäter mit einer herrischen Handbewegung in Richtung Schleusenkanal.
An der Emsseite des Kanals lagen in einem durch einen Maschendrahtzaun gesicherten Areal zwei flachbödige Schuten vertäut. Das Tor im Zaun stand offen. Mit suchenden Blicken auf das Wasser gingen die beiden Sanitäter die Mole entlang.
»Rudi, da vorn!«
In der schmalen Lücke zwischen den beiden Schiffen schwamm bewegungslos ein Mensch. Mehr noch als der Umstand, dass er vollständig bekleidet war, ließ die Tatsache, dass er mit dem Gesicht nach unten schwamm, die beiden Männer zu der Einsicht kommen, dass der Mann tot war. Sein von schütterem Haar bedeckter Hinterkopf ragte wie eine von Seegras umrahmte Insel aus dem Wasser.
»Komm, wir holen ihn raus. Pack mal mit an«, forderte der jüngere der beiden Rettungssanitäter seinen Kollegen auf.
Die Bergung des leblosen Körpers erwies sich indes alles andere als einfach, was auch daran lag, dass sich zwei dunkel lasierte Holzbretter in der Kleidung des Toten verfangen hatten – wohl der Grund dafür, dass die Leiche an der Wasseroberfläche trieb. Erst unter Verwendung zweier Rettungsstangen, die vorschriftsgemäß beidseits der Schleuse aufgehängt waren, gelang es den Sanitätern schließlich, den Mann aus dem Wasser zu ziehen. Rücklings auf den kalten, grauen Pflastersteinen liegend, blickte der Tote mit weit geöffneten Augen starr in den wolkenverhangenen Abendhimmel. Sein bleiches Gesicht zeigte einen Ausdruck hilfloser Überraschung.
Die beiden Rettungssanitäter wischten sich den Schweiß von der Stirn. »Ich denke, der hat es hinter sich. Für den können wir nichts mehr tun«, stellte der ältere lakonisch fest.
»Stimmt, der ist eher ein Fall für die Kripo.«
»Bleib du hier, ich verständige die Leitstelle.«
Nur wenige Minuten, nachdem sie per Funk über den Leichenfund informiert worden waren, erreichten Polizeikommissarin Azra Ceylan und ihr Kollege Polizeiobermeister Leon Bockstedt die untere Schleuse. Routiniert begannen sie mit der Absperrung des Fundortes. Inzwischen standen auf dem geteerten Uferweg eine Reihe von Fußgängern und Joggern. Sie alle starrten interessiert auf die Szene am gegenüberliegenden Ufer des Schleusenkanals.
»Bitte bleiben Sie nicht stehen! Gehen Sie weiter! Dies ist ein Polizeieinsatz. Gehen Sie doch weiter!«, versuchte Bockstedt, die Gaffer zum Verlassen des Uferweges zu animieren. Seine Worte zeigten jedoch keine Wirkung.
Verständnislos schüttelte Ceylan den Kopf. Es war immer das Gleiche: Ereignete sich ein Unfall oder kam es aus irgendeinem anderen Grund zu einem Polizeieinsatz, so drängten sich bereits kurze Zeit später Schaulustige um die Unfallstelle und versuchten, einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen oder, seit es Handykameras gab, gerne auch mal ein Foto zu schießen. Mahnende Worte vonseiten der Polizei und selbst die Drohung mit einem Bußgeld, das für Gaffer immerhin bis zu 1.000 Euro betragen konnte, zeigten oftmals keine Wirkung. Und wenn man Fotofetischisten die Kamera oder das Smartphone wegnahm und ihnen klarmachte, dass sie im Begriffwaren, eine Straftat zu begehen, die seit Anfang des Jahres sogar mit bis zu zwei Jahren Gefängnis geahndet werden konnte, wurde man angepöbelt oder es wurden einem sogar Prügel angedroht. Ceylan seufzte. Polizistin zu sein, war oft alles andere als einfach. Immerhin respektierten die Gaffer auf dem Uferweg das rotweiße Flatterband mit dem Aufdruck »Polizeiabsperrung« und blieben in gebührendem Abstand zum Fundort der Leiche stehen.
Mit routinierten Handgriffen streifte sich Ceylan Einmalhandschuhe über. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Person wahr, die sich mit energischen Schritten von der Bayernstraße her näherte. Die Silhouette kam ihr seltsam vertraut vor. Beim Näherkommen erkannte sie mit freudigem Schreck, dass es sich bei der Person um Kriminaloberkommissar Luke Rumphorst handelte. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.
»Ah, liebe Kollegin, sehr erfreut, Sie hier zu sehen«, begrüßte sie Rumphorst, als er unter dem Absperrband durchschlüpfte, das sie für ihn in die Höhe hielt. In der Stimme wie auch in den Augen des Kommissars glaubte Ceylan, tatsächlich Freude zu erkennen. Offenbar war das Gesagte also keine leere Floskel. Das Pochen ihres Herzens verstärkte sich und ihre Wangen überzog ein zartes Rot.
Vor gut einem Dreivierteljahr hatte Rumphorst die junge Kollegin bei seinem Einsatz im Rahmen des Falkenhof-Mordes kennengelernt. Er fand sie äußerst attraktiv. Sie mochte seine ruhige, freundliche Art. Seither waren sich die beiden einige Male dienstlich begegnet. Beim letzten dieser Kontakte, der schon gut einen Monat zurücklag, hatten sie einen Kaffee zusammen getrunken und ihre Mobilnummern ausgetauscht. Immerhin. Zu mehr hatte sich weder der siebenunddreißigjährige Junggeselle noch die acht Jahre jüngere Polizistin durchringen können. Benutzt hatte die Mobilnummer des jeweils anderen bisher weder sie noch er.
»Herr Oberkommissar, Sie …«, Ceylan räusperte sich, um den Frosch in ihrem Hals loszuwerden, »Sie sind aber schnell vor Ort.«
»Ich hatte heute Nachmittag einen Termin an der Fachhochschule in Rheine und war gerade auf dem Rückweg zu meinem Wagen, als mich der Anruf erreichte. Da war die Anfahrt natürlich eine kurze.« Rumphorst schaute sich um. »Ist die Zeugin, die den Toten gefunden hat, noch hier?«
»Ja, sie sitzt im Rettungswagen.« Ceylan deutete in Richtung der noch immer rotierenden Blaulichter. »Sie ist kollabiert, nachdem sie die Wasserleiche der Leitstelle gemeldet hatte. Ist ja auch kein schöner Anblick, den steckt nicht jeder so einfach weg. Aber jetzt dürfte sie wieder auf dem Damm sein.«
»Und der Tote?«
»Liegt dort drüben auf dem Kai, neben den beiden Booten, so wie ihn die Notfallsanitäter aus dem Wasser gezogen haben.«
Rumphorst überlegte kurz. »Als Erstes werde ich mir den Toten anschauen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir dabei assistieren würden, solange die Kollegen von der Spurensicherung noch nicht greifbar sind«, sagte er steif.
»Gerne, Herr Oberkommissar.«
Über das von leuchtend gelben Metallgeländern flankierte Laufgitter passierten sie das Schleusentor und betraten den umzäunten Bereich des Uferdamms. Die Schuten schaukelten auf dem leicht bewegten Wasser. Der ältere der beiden Rettungssanitär stand stocksteif neben dem Leichnam, so als hielte er die Totenwache am Sarg eines Soldaten. Möglicherweise hatte er gedient. Im Gehen streifte sich Rumphorst Einmalhandschuhe über.
»Moin«, begrüßte sie der Sanitäter.
»Moin. Sie haben den Toten aus dem Wasser gezogen?«
»Haben wir, mein Kollege und ich. War ganz schön schwierig, den Mann an Land zu bekommen. Seine Kleidung hatte sich vollgesogen und er hing an Brettern fest. Die schwimmen noch da vorn zwischen den beiden Booten.« Er deutete mit dem Daumen nach rechts.
»Was sind das für Schiffe?«
Der Notfallsanitäter zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Sie tragen die Kennung ›WSA Rheine‹, dürften also zum Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt gehören«, sprang ihm Ceylan bei. »Das Dienstgebäude des WSA-Außenbezirks Rheine liegt da drüben, direkt gegenüber dem unteren Schleusentor.«
»Rheine hat ein eigenes Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt?«
»Hatte. Bis zum vorigen Jahr. 2020 sind die Ämter Duisburg-Meiderich und Rheine zum Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Westdeutsche Kanäle zusammengelegt worden. Dieses ist jetzt für die Unterhaltung und den Ausbau der Bundeswasserstraßen hier im Westen zuständig.«
»Danke, Sie sind ja bestens informiert«, zollte Rumphorst dem Detailwissen Ceylans Respekt. Er ging zur metallverkleideten Kante der Mole und blickte in die Lücke zwischen den beiden Schuten. Im Wasser dümpelten zwei dunkel lasierte Holzplanken, deren gesplitterte Enden darauf hindeuteten, dass es sich um Bruchstücke ursprünglich längerer Bretter handelte. Die Unterseite wies über die gesamte Länge eine schwarz-grau-oliv getupfte Styroporauflage auf, deren Fleckenmuster an Tarnanzüge der Bundeswehr erinnerte. An den Enden ragten Schrauben aus dem Holz.
»Hm, könnte Teil einer Wand- oder Deckendämmung sein«, murmelte Rumphorst. »Die Leiche lag auf den Brettern?«, wandte er sich erneut an den Sanitäter.
»Ja. Die Schrauben hatten sich in seiner Kleidung verhakt. Auch deswegen war es so schwer, den Mann aus dem Wasser zu holen.«
»Verstehe.« Rumphorst kniete sich neben den Toten.
Der Mann mochte ungefähr fünfzig Jahre alt sein. Sein bleiches Gesicht war bartlos. Die dunklen, mittellangen Haare wurden schon licht. Der zurückgehende Haaransatz und die Geheimratsecken ließen die markante Stirn noch höher wirken. Die graublauen Augen des Mannes blickten starr, was seinem Gesicht einen Ausdruck ohnmächtiger Hilflosigkeit verlieh. Vorsichtig drehte Rumphorst den Kopf zur Seite. Am Hals war rundum eine dunkle Linie zu erkennen. Möglicherweise eine Drosselmarke.
›Der Mann könnte stranguliert worden sein‹, grübelte Rumphorst. Er beugte sich tiefer über den Hals des Toten. Die Lichtverhältnisse waren nicht mehr die besten.
»Darf ich Ihnen leuchten, Herr Kommissar?«
Als Rumphorst aufblickte, sah er, dass Ceylan eine Taschenlampe in der Hand hielt. »Eine gute Idee. Leuchten Sie bitte hierher, auf den Hals des Toten. Perfekt.«
Im Lichtkegel der Stablampe waren die Strangulationsmerkmale besser zu erkennen. Die durch das Drosselwerkzeug hervorgerufene Eintiefung der Haut wirkte allerdings verwischt und undeutlich. Möglicherweise war dies einem längeren Aufenthalt des Toten im Wasser geschuldet. Doktor Nottendorf würde dazu sicherlich Genaueres sagen können. Wenn er sich denn endlich am Tatort eingefunden hatte.
Der Kommissar richtete sich auf. Dies war kein Badeunfall, so viel stand fest, sondern ein Todesfall durch Fremdverschulden. Ob Mord, Totschlag oder fahrlässige Tötung, das würde man sehen. »Bitte leuchten Sie einmal auf die Hosentaschen«, wies er Azra Ceylan an.
Der Tote war vollständig bekleidet, sah man davon ab, dass er weder Pullover noch Jacke trug, was angesichts der doch recht frischen Temperaturen – das Thermometer hatte auch heute wieder die 15-Grad-Marke nicht erreicht – merkwürdig erschien. Das dunkelgraue Oberhemd ohne Brusttaschen war mit auffälligen bronzefarbenen Knöpfen versehen. Die graue Hose wurde durch einen schwarzen Ledergürtel gehalten. Beide Kleidungsstücke wirkten hochwertig. Sicherlich keine Stangenware. Mit routinierten Griffen durchsuchte Rumphorst die Gesäß- und Seitentaschen der Hose. Sie waren leer. Sein Blick glitt zu den Füßen. Der Tote trug elegante schwarze Lederschnürschuhe, die augenscheinlich handgefertigt waren. Die hochgerutschten Hosenbeine gaben den Blick auf schwarz-grau-geringelte Socken frei. Fast schon ein optischer Eyecatcher angesichts der ansonsten eher klassisch-schlichten Kleidung des Toten.
»Die Hände sollten wir uns noch genauer anschauen«, murmelte Rumphorst leise, doch so, dass Ceylan es hören konnte.
Zitternd glitt der Lichtkegel der Stablampe über den rechten Arm des Toten und kam an der Hand zum Stillstand. Die schlaffen weißen Finger mit den für Wasserleichen typischen gerunzelten Fingerkuppen wirkten wie ausgeblichene, blutleere Würmer. Behutsam hob Rumphorst die Hand des Toten. Am Ringfinger glitzerte es golden. Ein einfacher, schmaler Goldreif.
»Offenbar ein Ehering«, vermutete der Kommissar.
Angesichts der aufgequollenen Finger verzichtete er auf den Versuch, dem Toten den Ring abzuziehen. Das würde der Rechtsmediziner besorgen. Die hochgeschobene Manschette des Oberhemdes gab am rechten Handgelenk den Blick auf ein Tattoo frei. Zwei Vögel, offensichtlich Tauben, die mit elegantem Flügelschlag über einem Blütenzweig schwebten. Das Tattoo wirkte alt. Die ehemals glatten Linien schienen verschwommen. Was auch daran liegen mochte, dass das Licht der Taschenlampe schwächer wurde. Zumindest hatte der Kommissar diesen Eindruck. Möglicherweise waren die Batterien nicht mehr die frischesten. Jedenfalls blieb das Erkennen von Details bei diesen Lichtverhältnissen Glückssache.
Rumphorst wandte sich der linken Hand der Leiche zu. Finger und Handgelenk waren nackt. Es gab keinen Ring und keine Armbanduhr. Vielleicht gehörte der Tote ja zu den Menschen, die es trendig fanden, das Smartphone als Zeitgeber zu nutzen und auf eine Armbanduhr verzichteten. Apropos Smartphone: Bei seiner Durchsuchung hatte Rumphorst keins gefunden. Sollte der Mann etwa kein Handy bei sich gehabt haben? Kaum denkbar heutzutage. Wahrscheinlicher dürfte es sein, dass der Täter es ihm abgenommen oder dass er es auf seiner unfreiwilligen Reise bis zur Kanalschleuse verloren hatte.
Mit einem leichten Stöhnen richtete sich der Kommissar auf. »Danke, Frau Kollegin. Sie können jetzt die Batterien schonen und Ihre Taschenlampe ausschalten. Das war’s an dieser Stelle.«
»Kann ich dann gehen?«, meldete sich der Rettungssanitäter, den Rumphorst völlig vergessen hatte.
»Natürlich, ja, natürlich, Sie können gehen.«
Erleichtert entfernte sich der Sanitäter in Richtung Rettungswagen. Der Kommissar streifte die Handschuhe ab. »Sie bleiben bitte bei der Leiche, bis die Kollegen vom Erkennungsdienst eintreffen«, wandte er sich an Ceylan.
Die Polizistin nickte.
Rumphorst folgte dem Sanitäter. Beim Passieren des Schleusentores stellte er überrascht fest, dass unter ihm Wasser gurgelte und rauschte. Auf dem Hinweg war er dermaßen auf den Leichenfund fokussiert gewesen, dass er das Geräusch schlicht ausgeblendet hatte. Ein Blick über das gelbe Sicherungsgitter des Tores zeigte ihm, dass die beiden Torflügel nicht gänzlich geschlossen waren und durch die Lücke zwischen ihnen das Wasser strömte. Als er aufschaute, nahm er auch die beiden Kurbelvorrichtungen wahr, mit deren Hilfe die Schleusentore manuell bewegt werden konnten.
›Die Schleuse muss also nach der Durchfahrt eines Bootes per Hand geschlossen werden‹, stellte Rumphorst nachdenklich fest. ›Der letzte Nutzer hat das offenbar nicht mit der nötigen Sorgfalt getan, wodurch im ansonsten stillen Kanal eine leichte Strömung entstanden ist. In Verbindung mit dem Wind könnten das Bretterfloß und seine Totenfracht so eine ganze Strecke im Wasser getrieben sein‹, überlegte er weiter. ›Womit sich die Frage stellt: Wo wurde das Floß zu Wasser gelassen?‹ In Gedanken versunken setzte der Kommissar seinen Weg zum Rettungswagen fort.
An dessen geöffneten Hecktüren warteten die beiden Rettungssanitäter bereits ungeduldig. Im erleuchteten Wageninnern gewahrte Rumphorst eine junge Frau in farbenfrohem Joggingoutfit. Man hatte ihr eine Wärmedecke um die Schultern gelegt. Dennoch war ihr Gesicht bleich und sie zitterte. Offenkundig stand sie unter Schock. Rumphorst entschied sich, bei der Befragung behutsam vorzugehen. Er zückte sein marineblaues Notizbuch, bevor er die Frau ansprach: »Mein Name ist Luke Rumphorst. Ich bin Kriminaloberkommissar bei der Kripo in Greven und hätte einige Fragen an Sie. Fühlen Sie sich in der Lage, diese zu beantworten?«
Die Frau blickte ihn einen Augenblick hilflos an. Dann nickte sie. »Fragen Sie, Herr Kommissar«, sagte sie mit müder Stimme.
»Nennen Sie mir bitte zunächst Ihren Namen und Ihre Adresse.«
»Belinda Lacroix. Ich wohne hier in Rheine, in der Lingener Straße 43.«
»Beschreiben Sie mir, wie Sie den Toten gefunden haben«, forderte Rumphorst sie auf, während er Name und Anschrift in sein Notizbuch eintrug.
»Ich … ich laufe zwei-, dreimal die Woche, meist entlang der Ems«, begann Lacroix stockend. »Der Emsuferweg ist von meiner Wohnung aus die nächstgelegene gute Laufstrecke. Mal bleibe ich auf dem Uferweg, mal jogge ich durch den Wald, je nach Lust und Wetter. Auf dem Rückweg nehme ich auch ab und zu den Weg auf dem Wall zwischen Schleusenkanal und Ems, so wie heute. Als ich an dem Gelände vorbeilief, das durch den Maschendrahtzaun abgesperrt ist, habe ich bemerkt, dass das Tor im Zaun offenstand.« Lacroixs Stimme wurde lebhafter. »Ich fand das merkwürdig und bin nachsehen gegangen. Zunächst ist mir nichts Besonderes aufgefallen. Hinten im abgesperrten Areal lagen gelbe Bojen, ansonsten war da alles leer. Bis auf die beiden Schiffe natürlich, die auf dem Kanal schwammen und mit Seilen vertäut waren. Dann aber habe ich den Mann gesehen.« Lacroix schauderte. »Er schwamm im Wasser zwischen den beiden Schiffen. Ich konnte nur seinen Hinterkopf sehen. Er musste also mit dem Gesicht nach unten im Wasser schwimmen. Er … bewegte sich nicht … war völlig steif. Mir wurde klar, dass er … dass er tot war.« Lacroix fuhr sich mit der Hand über die Augen, so als könne sie auf diese Weise die grässlichen Bilder wegwischen.
»Haben Sie versucht, den Mann aus dem Wasser zu ziehen?«
»Nein!« Lacroix schüttelte sich. »Einen Toten anfassen, das könnte ich nicht! Zudem wäre der Mann doch auch viel zu schwer für mich gewesen. Viel zu schwer.« In den Augen der Frau glitzerte es.
»Also haben Sie die Polizei verständigt.«
»Ja. Zum Glück hab’ ich beim Joggen immer mein Handy dabei. Ich hab’ den Notruf gewählt und wenig später war der Rettungsdienst da. Was hätte ich denn sonst noch tun können?« Lacroix vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Was!?«
»Sie haben sich völlig richtig verhalten«, beruhigte Rumphorst die Frau. »Ich möchte Sie bitten, morgen im Verlauf des Tages in der Polizeiwache in Rheine vorbeizukommen und das, was Sie mir eben erzählt haben, zu Protokoll zu geben.«
»Kann … kann ich dann jetzt gehen?«
»Wenn Sie sich wieder fit genug fühlen, können Sie nach Hause gehen.«
»Wir bringen Sie nach Hause«, bot der ältere der beiden Rettungssanitäter an. »Über die Lingener Straße zu fahren, ist für uns nur ein kleiner Umweg.«
Eine halbe Stunde später herrschte am Fundort der Leiche reger Betrieb. Beamte des Erkennungsdienstes in weißen Overalls und mit Masken vor dem Gesicht untersuchten das Areal. Da die Lichtverhältnisse inzwischen noch schwieriger geworden waren, hatten sie mobile Scheinwerfer aufgestellt. In unregelmäßigen Abständen leuchtete Blitzlicht auf, wenn einer der Beamten die Leiche, die Bretter, auf denen sie geschwommen hatte, und das Umfeld der Fundstelle fotografierte. Neben dem Toten kniete Dr. Nottendorf und außerhalb des umzäunten Areals warteten zwei schwarz gekleidete Männer mit einem grauen Zinksarg.
Rumphorst und Bär standen an der Schleuse. Der Oberkommissar setzte seinen Kollegen über die Fundumstände der Leiche ins Bild. Ein wenig zögerlich näherte sich Azra Ceylan den beiden Kripo-Beamten. Ihr Dienst war lange beendet und angesichts der großen Zahl emsig und akribisch arbeitender Kollegen der Spurensicherung hatte sie das Gefühl, überflüssig zu sein. Zwar wartete in ihrer Single-Wohnung niemand auf sie und ehrlicherweise musste sie zugeben, dass sie der Stille und Einsamkeit ihrer eigenen vier Wände nach dem Fund einer Leiche, schon gar einer wachsbleichen Wasserleiche, jedes Mal mit Unbehagen entgegensah, dennoch würde sie sich und den Kollegen Bockstedt jetzt in den Feierabend abmelden. Als Ceylan die beiden Männer erreichte, hörte sie, wie Bär fragte: »Wer bitte kommt denn auf die Idee, eine solch schmale Schleuse zu bauen? Und dann noch mit Handbetrieb!«
»Vielleicht kann uns ja dazu die Kollegin Ceylan Auskunft geben. Die hat hier den Heimvorteil.« Die beiden Männer wandten sich der Polizistin zu. »Sie kommen doch gebürtig aus Rheine, wenn ich mich recht erinnere«, sagte Rumphorst lächelnd.
Ceylan errötete und ärgerte sich im gleichen Moment darüber. In ihrem Hals saß schon wieder ein Kloß. Warum brachte sie dieser Mann selbst mit einer einfachen Frage so aus dem Konzept? Oder war es das Lächeln, mit dem er sie anstrahlte, das sie so irritierte? Dermaßen irritierte, dass sie ihre ganze Professionalität verlor? »Ja«, antwortete Ceylan mit belegter Stimme. Fieberhaft überlegte sie, was sie über den Schleusenkanal und seine Entstehungsgeschichte wusste. In der Oberstufe hatte sie eine Facharbeit zum Thema Die Textilindustrie in Rheine im 19. Jahrhundert verfasst, in der auch der Schleusenkanal eine gewisse Rolle gespielt hatte. Doch das war inzwischen gut ein Jahrzehnt her. Gar so viel war davon nicht hängen geblieben.
»Schön«, knurrte Bär. »Was hat es nun mit diesem Gewässer hier auf sich?«
»Das ist der Schleusenkanal. Etwas stromaufwärts gibt es in der Ems Kreideklippen. Die damit verbundenen Stromschnellen zu überwinden, war für Schiffe schon immer schwierig. Im 19. Jahrhundert, als sich in Rheine die Textilindustrie entwickelte, wurde der Warentransport auf der Ems für die Stadt immer wichtiger. Gut ausgebaute Straßen waren zu jener Zeit aber kaum vorhanden.«
»Ach, und da hat man mal eben diesen engen Kanal gebaut? Als ›gut ausgebaut‹ würde ich den auch nicht gerade bezeichnen«, spöttelte Bär.
»Der Bau eines solchen Kanals war für die damalige Zeit schon ein Großprojekt.« Ceylan blieb ernst. Von diesem Chauvi würde sie sich nicht provozieren lassen. »Es ging, glaube ich, auch darum, die Ems bis Greven, dem Emshafen Münsters, schiffbar zu machen. Das haben sich die Preußen, die damals hier die Landesherren waren, schon etwas kosten lassen. Über 20 Millionen Euro haben sie umgerechnet in den Bau gesteckt, wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe.« Mit einer ausholenden Handbewegung deutete Ceylan auf das dunkel daliegende Gewässer. »Der Schleusenkanal ist nicht ganz einen Kilometer lang. An beiden Enden gibt es jeweils eine Schleuse. Die Schleusentore mussten von den Schiffern per Hand bewegt werden, da es damals in Rheine natürlich noch keinen Strom gab. Der Handbetrieb ist bis heute geblieben.«
»Schiffer? Was waren denn das für Kähne, die in diese enge Schleusenkammer gepasst haben?«, frotzelte Bär.
»Emspünten«, antwortete Ceylan knapp. »Hölzerne Schiffe mit flachem Boden. Sie konnten aber locker das Zehnfache von dem transportieren, was damals ein Pferdegespann schaffte.«
Bär wollte bereits zu einem bissigen Kommentar ansetzen, als Rumphorst ihm zuvorkam: »Danke für Ihre sehr informativen Erklärungen.«
»W erden Polizeiobermeister Bockstedt und ich noch länger gebraucht? Unsere Dienstzeit ist seit einigen Stunden beendet.«
»Nein, nein«, beeilte sich Rumphorst zu versichern. »Für Sie ist Dienstschluss. Die weitere Arbeit hier übernimmt die Kripo. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Feierabend.« Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens fügte er hinzu: »Morgen früh dürfte es allerdings im Zusammenhang mit unserem Leichenfund weitere Aufgaben für Sie geben.«
Ceylan nickte. Sie hatte nichts anderes erwartet. Wie üblich würde die Kripo bei Hausbefragungen und Suchaktionen rund um den Fundort der Leiche auf die Hilfe der uniformierten Kollegen aus Rheine setzen. »Natürlich. Sie haben ja meine Mobilnummer, Herr Oberkommissar.« Mit ihren großen, dunkelbraunen Augen schaute sie Rumphorst an, einen Moment nur, doch der erschien ihm wie eine Ewigkeit. Dann zwinkerte sie, als wäre ihr ein Sandkorn ins Auge geraten, wandte sich um und ging zum Einsatzwagen, der nach wie vor auf dem asphaltierten Uferweg stand, wenngleich inzwischen mit ausgeschaltetem Blaulicht.
Wie konnte sie nur! Ceylan hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Natürlich war ihr klar, dass Rumphorst sie in dienstlichen Belangen auf dem Dienstweg kontaktieren würde und nicht über ihre private Mobilfunknummer. Warum um alles in der Welt hatte sie diese dann ins Spiel gebracht? Weil sie sich einen privaten Kontakt erhoffte? Ein privates Gespräch mit dem Kollegen, der ihr schon beim ersten Zusammentreffen so verdammt attraktiv erschienen war, mit seinem offenen Blick, den vielen Lachfältchen um die Augen, der zurückhaltenden, stets freundlichen Art, mit der er Gespräche anging? Azra Ceylan warf ihren Kopf in den Nacken – und wusste dabei selbst nicht, ob dies den türkischen Sitten nach ein ›Nein‹ oder den deutschen Gepflogenheiten nach ein ›Ja‹ auf diese Frage bedeuten sollte.
An der Schleuse blieb ein verblüffter Luke Rumphorst zurück. War dies gerade eine zarte Aufforderung der Kollegin gewesen, sie privat zu kontaktieren? Oder nur ein Freud’scher Versprecher und die Kollegin hatte eigentlich ›Dienstnummer‹ sagen wollen?
»Diese Ceylan geht aber ran. Ich hätte da Puls!«, grinste Bär.
»Was?«
»Na, viel direkter kann man kaum flirten! Hast du doch mitbekommen, oder?«
»Hmhm«, brummte Rumphorst.
»Wenn die Herren sich wieder auf die dienstlichen Belange konzentrieren würden, könnte eventuell auch ich heute noch zu meinem Feierabend kommen«, tönte die Stimme Nottendorfs direkt hinter ihnen. Unbemerkt war der Rechtsmediziner, einen weißen Schutzanzug über dem Arm, an sie herangetreten. In seinem seriösen Zwirn wirkte der Doktor im rustikalen Ambiente des Schleusenkanals irgendwie deplatziert. Er hängte den Overall über das gelb gestrichene Geländer des Schleusentores und zog mit einer geschmeidigen Bewegung Pfeife und Tabaksbeutel aus den Seitentaschen seines Jacketts.
»Können Sie zu unserer Leiche schon Genaueres sagen?«, fragte Bär ungeduldig.
Es schien, als habe Nottendorf diese Frage nicht gehört. Bedächtig stopfte er seine Pfeife, zündete sie umständlich an und zog einige Male. Bär wippte derweil erwartungsvoll von einem Bein aufs andere, was der Aufmerksamkeit des Rechtsmediziners nicht entging, ihm allerdings nur ein belustigtes Grinsen entlockte.
»Mensch, Doktor, Sie wollen doch in den Feierabend. Also spannen Sie uns nicht auf die Folter.« Der Kommissar bemühte sich krampfhaft, höflich zu bleiben. Das betuliche Gehabe Nottendorfs ging ihm gehörig auf die Nerven.
»Nun denn, die Herren, hier einige erste Befunde.« Das klang, als gäbe es Bedeutsames zu verkünden. »Zunächst einmal zur Kleidung des Toten. Sie ist maßgeschneidert. Das eingenähte Etikett ›cove‹ spricht hier eine eindeutige Sprache. Wie sie sicherlich wissen, handelt es sich bei ›cove‹ um eine Maßschneiderei in Münster.« Der rasche Blick, den Rumphorst und Bär tauschten, zeigte, dass beiden diese Firma gänzlich unbekannt war. »Sehr exquisit, aber nicht unbedingt preiswert, wie ich aus eigener Erfahrung sagen kann. Auch die Schuhe sind definitiv maßgefertigt. Erlesenes Leder, hervorragende Handarbeit. Was summa summarum den Schluss zulässt, dass der Tote zu Lebzeiten durchaus wohlhabend gewesen sein dürfte.«
»So weit waren wir in unseren Überlegungen auch schon«, knurrte Bär. »Erzählen Sie uns mal was Neues!«
Ein missbilligender Blick seines Kollegen ließ ihn schweigen.
»Die Strangulationsmerkmale am Hals des Toten haben die Herren sicherlich auch bemerkt. Ohne dem Ergebnis der Obduktion vorgreifen zu wollen, scheint mir darauf basierend die Annahme berechtigt, dass der Tote nicht ertrunken ist, sondern erdrosselt wurde.«
»Gibt es Hinweise darauf, dass die Tat hier, im Bereich der Anlegestelle verübt wurde?«
Der Doktor zog bedächtig an seiner Pfeife, bevor er antwortete. »Ich würde sagen, es gibt eher Hinweise auf das Gegenteil. Im Bereich der Schnürung der Schuhe habe ich einige Grashalme gefunden, die sich in den Schuhbändern verfangen haben. Zudem weisen die Hemdmanschetten und die Hosenbeine grüne Streifen auf. Auch wenn sie durch den Aufenthalt im Wasser bereits verblasst sind, würde ich sagen, es handelt sich hier um Grasflecken. Der Mann dürfte also kurz vor oder aber nach seinem Tode über eine grasbewachsene Fläche gezogen worden sein. Gras gibt es allerdings hier, im gepflasterten Bereich am Uferdamm keines.«
»Dann wäre der Fundort der Leiche nicht der Tatort«, überlegte Rumphorst. »Ja er wäre nicht einmal unbedingt der Ort, an dem der Tote ins Wasser gelangt ist.«
»Ich komme nicht umhin, Ihrer Schlussfolgerung zuzustimmen«, erklärte Nottendorf steif. »Die Leiche dürfte, Erkenntnisstand jetzt, postmortal ins Wasser verbracht worden sein, und das nicht hier an der Schleuse.« Nottendorf stopfte seine Pfeife nach.
»Man hat den Mann also erdrosselt und den Toten anschließend ins Wasser geworfen, um das Tötungsdelikt zu vertuschen«, stellte Rumphorst fest.
»Leichen-Dumping«, warf Bär fachmännisch ein.
Nottendorf nickte, wenn auch erkennbar widerwillig.
»Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«
Der Doktor überlegte einen Augenblick. »Gestern am sehr späten Abend oder heute am sehr frühen Morgen. Genaueres kann ich allerdings erst nach der Obduktion sagen.«
Rumphorst seufzte tief.
»Was ist, Herr Kriminaloberkommissar? Haben Sie Probleme mit meiner Zeitangabe?«
»Nein, nein, nur mit gewissen stereotypen Floskeln. Wie lange kennen wir uns jetzt, Doktor? Fast zehn Jahre«, beantwortete Rumphorst seine Frage gleich selbst. »In dieser Zeit habe ich die Phrase ›Genaueres nach der Obduktion‹ einige Dutzend Male von Ihnen zu hören bekommen. Eine Binsenweisheit! Vielleicht denken Sie sich für unser nächstes Zusammentreffen einmal etwas Neues aus.«
»Ach«, Nottendorf zog seine Augenbrauen hoch. »Hervorragende rechtsmedizinische Arbeit reicht den Herren Kriminalbeamten nicht mehr. Jetzt werden sie auch noch anspruchsvoll, was Wortwahl und Ausdrucksform anbelangt.« Er nuckelte an seiner Pfeife. »Nun, dann werde ich einmal nach einem Kurs ›Angewandte Linguistik für Rechtsmediziner‹ Ausschau halten. Sollte ich einen solchen gefunden haben, werde ich mir erlauben, die Herrschaften darüber zu informieren, damit sie die dann in meinen Ausführungen zu erwartenden sprachlichen Delikatessen auch recht zu würdigen wissen.« Mit einem verschmitzten Lächeln drehte sich Nottendorf um und verschwand grußlos in der Dunkelheit.
»Er scheint mir heute ein wenig stachelig, der liebe Herr Doktor«, stellte Bär verblüfft fest.
›Da kenne ich noch jemanden, der das in letzter Zeit ist‹, dachte Rumphorst und schaute dabei seinen Kollegen an.
»Hast du Münster schon informiert?«, erkundigte sich Bär. Die überregionale Zuständigkeit für Tötungsdelikte im Kreis Steinfurt lag beim Polizeipräsidium Münster als Kriminalhauptstelle.
»Hab’ dafür bisher noch keine Zeit gehabt, mache ich aber jetzt«, knurrte Rumphorst und fischte sein Handy aus der Jackentasche.
Eine Viertelstunde später beendete er sein Telefonat mit ernstem Gesicht.
Bär, der gleichfalls sein Smartphone in der Hand hielt und stirnrunzelnd auf das Display starrte, schaute auf. »Na, was sagt Münster?«
»Wie zu erwarten: Es wird eine Mordkommission eingerichtet. In Münster sind allerdings drei Hauptkommissare in Corona-Quarantäne.« Rumphorst schwieg.
»Na und? Was heißt das?«
»Dass man dort eine eklatante Personalnot hat. Daher übernehmen in diesem Fall wir den Ermittlungsdienst … und die Leitung der Mordkommission.«
»Wir, das heißt doch: du?! Mensch, Leiter der Mordkommission. Meinen herzlichen Glückwunsch. So schnell kann man befördert werden.« Bär strahlte.
Rumphorst hingegen blickte eher säuerlich drein. »Wir arbeiten natürlich in enger Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft. Ich darf mich gleich bei Staatsanwalt Wahlbrinck melden. Und zudem alle Ermittlungsschritte und Ergebnisse schnellstmöglich an Münster melden. Was jede Menge zusätzlichen Schreibkram bedeutet. Zum Kuckuck, auf solch eine Beförderung kann ich verzichten.«
»Tja, wo Licht ist, ist auch Schatten«, grinste Bär.
Rumphorst deutete auf das Smartphone des Kollegen. »Was hast du im Netz gesucht?«
»Informationen zum Schleusenkanal und zu dessen Umfeld. Wusstest du, dass gleich hinter der Emsbiegung Kuba liegt?«
»Ist klar, Kuba.« Rumphorst lachte. »Aus welcher Internetquelle stammt denn diese geografische Weisheit? Der Autor dürfte in jedem Fall eine blühende Fantasie haben. Oder er hat zu tief ins Rum-Glas geschaut.«
»Die Information ist seriös«, knurrte Bär. »Da gibt es eine alte Weberei und daneben eine Werkssiedlung, in der die Arbeiter aus der Fabrik gewohnt haben. Die Fabrik und die Siedlung heißen im Volksmund ›Kuba‹, weil die Fabrik während der Kubakrise gebaut wurde.«
»Also 1962«, versuchte Rumphorst, mit seinem Geschichtswissen zu punkten.
»Falsch. 1898.«
»Wie, in dem Jahr gab es auch eine Kubakrise?«
»Ja. Bis dahin war Kuba eine spanische Kolonie. 1898 kam es dann zum Spanisch-Amerikanischen Krieg, den Spanien verlor. So wurde Kuba von US-Truppen besetzt.« Bär zuckte die Achseln. »Zumindest bis 1902. Weiter bin ich mit dem Lesen noch nicht gekommen.«
»Und weil man zeitgleich die Weberei gebaut hat, nannte man diese ›Kuba‹?«
»Im Volksmund. Behauptet zumindest das Internet.«
»Hm, bisher dachte ich bei ›Kuba‹ immer an Sonne, Rum und Zigarren«, sagte Rumphorst nachdenklich. »Aber wenn das stimmt, was im Netz steht, dann schwingt für mich ab jetzt im Namen ›Kuba‹ auch Pulverdampf und Tod mit.«
Rheine – Greven, Dienstag, 4. Mai 2021
Polizeiobermeister Bockstedt hätte sich zufrieden die Hände gerieben, wäre dies mit den Vorschriften für korrektes Verhalten von Polizeibeamten im Dienst vereinbar gewesen. Ein zufriedenes Lächeln aber erlaubte er sich, als er an der Polizeiwache in Rheine in den Streifenwagen stieg. Heute gab es keine langweilige Dienstroutine. Die Kriminalpolizei hatte um Amtshilfe im Fall des Toten aus dem Schleusenkanal gebeten. Statt des üblichen Streifendienstes stand ebendeshalb eine Suchaktion im Gelände östlich des Kanals an, die zumindest ein Quantum Spannung und Abwechslung versprach. Dass ihn dabei die Kollegin Azra Ceylan begleitete, verbuchte Bockstedt als weiteren Pluspunkt. Sie war ihm gegenüber immer höflich aufgetreten, hatte weder Anspielungen auf seine Figur noch auf seine, nun ja, etwas gemütliche Art sich zu bewegen gemacht. Im Gegensatz zu den durchtrainierten männlichen Kollegen, mit denen er ansonsten zu tun hatte. Die bezeichneten ihn hinter seinem Rücken, doch durchaus in einer Lautstärke, die es ihm unmöglich machte, es zu überhören, als ›Fettwanst‹ und ›träge Landschnecke‹. Bockstedt seufzte. Mobbing gab es auch bei der Polizei. Nein, Azra war mit Abstand die angenehmste Kollegin auf der Wache. Zudem sah sie zum Anbeißen aus. Allenfalls könnte Bockstedt ihr empfehlen, das kurz geschorene schwarze Haar länger zu tragen. Aber natürlich würde er sich niemals trauen, ihr dies tatsächlich zu sagen.
Ihre Mission Number One war die Suche nach Hinweisen auf jenen Ort, an dem die Leiche, die sie gestern im Schleusenkanal gefunden hatten, ins Wasser verbracht worden war. Im Klartext hieß dies für ihn und Azra: Sie mussten das Timmermanufer und den Wall zwischen Schleusenkanal und Ems systematisch nach Spuren absuchen, die auf das Verbringen eines schweren Gegenstandes in das dunkle Wasser des Kanals hindeuteten, was bedauerlicherweise nur zu Fuß möglich war. Eine Fortbewegungsart, die von Bockstedt nicht gerade präferiert wurde. Doch bis zum zweiten Frühstück war man damit hoffentlich durch. Allein der Gedanke an den Kaffee in der Thermoskanne und die Croissants, die er vorsorglich vor Dienstbeginn gekauft und im Streifenwagen auf dem Parkplatz am Rosalind-Franklin-Gymnasium deponiert hatte, ließ Bockstedts Magen knurren. Liebevoll strich er sich über den prallen Bauch, der sich deutlich unter seiner Uniformjacke abzeichnete.
»Leon!«
Azra, ihm wie immer einige Schritte voraus, schien etwas entdeckt zu haben. Sie stand neben einem rot-weiß lackierten Geländer, das auf Höhe eines vom Uferweg abzweigenden schwarzen Schotterpfades ungestüme Zeitgenossen von einem unfreiwilligen Bad abhalten sollte. Hier wucherten am steilen Abhang zum Kanal Gräser und Giersch in üppiger Fülle. Direkt neben der etwa zwei Meter langen Brüstung allerdings waren die Pflanzen geknickt und niedergedrückt.
Als Bockstedt, ein wenig außer Atem, die Stelle erreichte, beugte sich seine Kollegin bereits über die Schneise im Grün, die offensichtlich daraus resultierte, dass hier ein schwerer Gegenstand die Böschung hinabgerutscht war.
»Hast du mal einen Beutel für mich?« Mit der behandschuhten Rechten nahm Azra einen Gegenstand vom Boden auf und ließ ihn in den Asservatenbeutel gleiten, den Bockstedt ihr entgegenhielt. Bei dem Gegenstand, das erkannte der Polizeiobermeister auf den ersten Blick, handelte es sich um Styropor. Allerdings war dieses farblich ungewöhnlich, wies es doch ein schwarz-grau-olives Fleckenmuster auf.
»Genau so sah das Styropor auf den Brettern aus, auf denen die Leiche im Kanal geschwommen ist«, stellte Azra fest.
»Wenn du es sagst«, brummte Bockstedt, der am Montagabend zwar die weiträumige Absperrung des Leichenfundortes organisiert, den Fundort selbst und auch die Bretter, auf denen der Tote schwamm, aber nicht in Augenschein genommen hatte.
Azra kniete auf dem Uferweg und inspizierte das niedergedrückte Grün aus nächster Nähe. Vorsichtig bog sie einzelne Pflanzen zur Seite. »Hey, hier liegen auch Holzsplitter.« Mit spitzen Fingern zupfte sie einige helle Holzspäne aus dem Gras und gab sie in den Beutel, den Bockstedt ihr unaufgefordert reichte. Dann zückte sie ihr Smartphone und fotografierte die Stelle. Mit flinken Bewegungen tippte sie eine Kurzbeschreibung der Funde und des Fundortes in ihr Smartphone. »Wie würdest du die Entfernung zur unteren Schleuse schätzen?«, fragte sie den Kollegen ohne vom Display aufzuschauen.
»Hm, gut 570 Meter, würde ich sagen«, schätzte Bockstedt.
»Danke.« Sie tippte auch diese Information ein.
»War es das, Azra?« Geräuschvoll signalisierte Bockstedts Magen sein Verlangen nach Nahrung.
»Ich denke, ja, das war’s. Dies dürfte die Stelle sein, an der unser unbekannter Toter in den Schleusenkanal befördert worden ist.« Azra wandte sich um. Ein schmaler Schotterpfad zweigte im Neunzig-Grad-Winkel vom asphaltierten Emsuferweg ab und führte zwischen einer dunklen Begrenzungswand auf der linken und einem in zartem Grün stehenden Baumbestand auf der rechten Seite steil bergan.
»Das ist die Klippkouhle«, beeilte sich Bockstedt einzuwerfen, als er ihren Blick bemerkte. »Nur ein Fußweg und ganz schön abschüssig und rutschig«, setzte er brummend hinzu.
»Dennoch gut möglich, dass man die Leiche auf diesem Weg zur Ems transportiert hat«, fuhr sie unbeirrt fort. »Wir sollten nachsehen, ob es dort weitere Spuren gibt.«
»Eigentlich ist jetzt die Zeit für mein zweites Frühstück«, wagte Bockstedt einzuwenden. »Kaffee und Croissants sind im Streifenwagen.« Schon bei dem Gedanken daran lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
Doch Azra schien seine Worte gar nicht gehört zu haben. Ohne sich umzudrehen, stapfte sie, die Augen auf den Boden gerichtet, den Schotterweg hinauf. Wohl oder übel musste Bockstedt ihr folgen. Der Trampelpfad mündete in eine asphaltierte Straße, den Kreyenesch, wie das Straßenschild verriet. Bisher hatten die beiden Polizisten außer einer leeren Zigarettenpackung nichts Auffälliges entdecken können. Nun wandten sie sich nach links. Vor dem ersten Grundstück am Kreyenesch parkte ein Kastenwagen. »GRIESBAUM – Tischlerei, Zimmerei, Carportbau – Holzhandwerk mit Leidenschaft und Kompetenz« stand in großen Lettern auf der Seitentür. Die Luft war erfüllt von Hämmern und Sägen. Die beiden Polizisten umrundeten den Wagen und standen vor einer Baustelle. Augenscheinlich wurde hier ein Gartenhaus errichtet. Zielstrebig steuerte Azra auf einen Stapel dunkel lasierten Holzes zu, der rechts vor dem halbfertigen Blockhaus lag.
»Was wollen Sie denn hier? Dies ist ein Privatgrundstück.« Eine groß gewachsene Mannsperson in traditioneller Zimmermannskleidung, die Daumen in die Taschen der Zunftweste gehakt, baute sich vor den beiden Polizeibeamten auf.
»Ich bin Polizeikommissarin Ceylan und das ist Polizeiobermeister Bockstedt. Wir würden uns gerne einmal die Baumaterialen dort drüben ansehen.«
»Woll’n Sie sich auch so ’ne Liebeslaube bauen lassen?« Der Zimmermann deutete hinter sich auf das halb fertige Gartenhaus und grinste anzüglich. »Ich steh’ gerne zu Ihren Diensten, falls Sie Bedarf haben sollten.«
»Wir sind dienstlich hier.« Ceylans Rücken straffte sich. Wie oft hatte sie schon mit solchen Typen zu tun gehabt, die selbst einer Frau in Uniform gegenüber ihr loses Mundwerk nicht im Zaum halten konnten. Inzwischen wusste sie sehr gut, mit solchen Männern umzugehen. Sie zückte ihr Notizbuch. In den Augen des Zimmermannes flackerte Unsicherheit auf. »Es geht um den Mord an einem bisher noch unbekannten Mann.« Ihre Stimme war eisig.
Jetzt wich auch der letzte Rest der zuvor gezeigten Überheblichkeit aus dem Gesicht des Zimmermannes. »Wir bau’n hier nur ein Gartenhaus auf. Mit ’nem Mord haben wir nix zu tun.«
»Was ich auch nicht behauptet habe. Uns interessieren vielmehr die Bretter, die Sie verarbeiten. Wir würden uns die gerne ansehen.«
»Ich weiß nich’ … die Bauherr’n sind in Berlin … beruflich … ob ich Ihnen da Zugang zum Grundstück geben darf?«
»Sie dürfen.« Ceylan ließ sich auf keine weiteren Diskussionen ein. Mit energischen Schritten stapfte sie auf den Holzstapel zu. Dunkel lasierte Bretter, auf deren Unterseite eine Dämmung aus Styropor in einem schwarz-grau-oliven Fleckenmuster geklebt war. Keine Frage: Die Herkunft der Bretter aus dem Schleusenkanal war geklärt.
»Wo, sagten Sie, sind die Hauseigentümer momentan?«
»In Berlin, seit Sonntag.«
»Dann hätte ich gerne zwei Namen: Ihren und den Namen des Hausherrn.«
Auf der linken Seite der Ems liegt, etwa auf Höhe der ersten Schleuse des Schleusenkanals, jene Stelle, an der in den Zeiten der Sachsenkriege die Mannen Karls des Großen den Anfangspunkt für die Geschichte der Stadt Rheine setzten. Sie gründeten hier zur Sicherung der für den Nachschub wichtigen Emsfurt einen Wehrhof. Heute erhebt sich auf dem markanten Kalksporn hoch über der Ems der Falkenhof, eindrucksvolles Domizil für das Stadtmuseum und den stimmungsvollen Festsaal der Stadt. Unweit des Falkenhofes befindet sich das Gebäude des Gymnasium Dionysianum, dessen wuchtiges Eingangsportal an die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei aus den Romanen von J. K. Rowling erinnert. Gegründet im Jahre 1658 ist das Dionysianum das älteste Gymnasium der Emsstadt. Das imposante Schulgebäude, errichtet in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts, ist inzwischen allerdings längst zu klein und durch eine Reihe von Neubauten erweitert worden. Geht man vom Dionysianum aus nur wenige Schritte in Richtung Bahnlinie, so gelangt man zu einer weiß getünchten Villa, dem Zuhause der Familie Mey.
Ein feiner Nieselregen nässte die mannshohe Buchenhecke, die die Villa vor den neugierigen Blicken der Passanten verbarg. Im Garten des Anwesens zeigten die Bäume und Sträucher an all den Stellen, an denen man um diese Jahreszeit eigentlich schon einen kräftigen Blattwuchs erwarten würde, allenfalls ein zartes Grün. Das Frühjahr 2021 war ohne Frage einfach zu kühl. Der im Windfang des Hauses angebrachte Temperaturmesser zeigte acht Grad. Für die nächsten Stunden und den morgigen Tag hatte der Wetterdienst stürmische Böen aus westlicher Richtung angekündigt.
›Eigentlich geht Mai anders‹, dachte Moritz Mey und musste im gleichen Moment grinsen, als er sich des Wortspiels mit seinem Familiennamen bewusst wurde. Mit beiden Händen massierte er sich das herb riechende Männer-Shampoo ins Haar, das ihm seine Kinder zum Geburtstag geschenkt hatten. Er mochte den Duft, auch wenn der auf der dunkelbraunen Flasche versprochene Anschubeffekt in Richtung volleres und dichteres Haar bisher noch auf sich warten ließ. Der angenehm warme Brauseregen der Dusche ließ ihn die kühlen Außentemperaturen vergessen. In diesem Augenblick schrillte das Telefon.