Das Unbewusste und die Klimakrise - Christine Bauriedl-Schmidt - E-Book

Das Unbewusste und die Klimakrise E-Book

Christine Bauriedl-Schmidt

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Beschreibung

Die Psychoanalyse trug schon immer auch jenseits der Couch zum gesellschaftspolitischen und kulturellen Diskurs bei und tut dies auch heute noch. Diesem Ziel folgt auch das Jahrbuch für klinische und interdisziplinäre Psychoanalyse; dieser erste Band befasst sich mit den unbewussten subjektiven, emotionalen Auseinandersetzungen mit der Klimakrise.

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Christine Bauriedl-Schmidt / Markus FellnerKathrin Hörter / Ines Schelhas (Hrsg.)

Das Unbewusste und die Klimakrise

Jahrbuch für klinische und interdisziplinäre PsychoanalyseBand 1

Jahrbuch für klinische und interdisziplinäre Psychoanalyse

Reihenherausgeber:Christine Bauriedl-Schmidt, Markus Fellner, Kathrin Hörter, Ines Schelhas

Die Psychoanalyse ist über ihre Anwendung in den verschiedenen psychodynamischen, therapeutischen Verfahren hinaus eine besondere Theorie des Subjekts, die sich in einem epistemiologischen Feld zwischen naturwissenschaftlichen Befunden und hermeneutischer Methodologie bewegt. Ihre Gegenstände liegen in der Klinik wie auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften, in der Biologie wie auch in den Sprach- und Geisteswissenschaften. Aufgrund dieser Pluralität und ihrer Vermittlungsfunktion ist die Psychoanalyse deshalb maßgeblich auf die Erarbeitung und Reflexion interdisziplinärer Schnittstellen angewiesen. Die neue MAP-Buchreihe versteht sich dabei als ein Forum der Auseinandersetzung und Beitrag in der Vernetzung der Psychoanalyse.

Christine Bauriedl-Schmidt / Markus Fellner Kathrin Hörter/ Ines Schelhas (Hrsg.)

Das Unbewusste und die Klimakrise

Jahrbuch für klinische und interdisziplinäre PsychoanalyseBd. 1

Beiträge vonChristine Bauriedl-Schmidt, Arne Burchartz, Paul Cash, Markus Fellner, Martina Gast, Delaram Habibi-Kohlen, Kathrin Hörter, Joachim Küchenhoff, Donna M. Orange, Franz Schambeck, Ines Schelhas, Wolfgang Schmidbauer, Regine Scholz, Sally Weintrobe

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1. Auflage 2023

© Brandes & Apsel Verlag GmbH, Frankfurt a. M.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, Mikroverfilmung, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen oder optischen Systemen, der öffentlichen Wiedergabe durch Hörfunk-, Fernsehsendungen und Multimedia sowie der Bereithaltung in einer Online-Datenbank oder im Internet zur Nutzung durch Dritte.

Umschlag: Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt a. M. unter Verwendung eines Bildes von Pixabay.

DTP: Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt a. M.

Druck: STEGA TISAK, d. o. o., Printed in Croatia

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem und chlorfrei gebleichtem Papier.

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-95558-340-8

eISBN 978-3-95558-362-0

Inhalt

Christine Bauriedl-Schmidt & Markus Fellner & Kathrin Hörter & Ines Schelhas

Einleitung

1. Subjekt- und gesellschaftstheoretische Perspektiven

Donna M. Orange

Klimagerechtigkeit und Psychotherapie

Christine Bauriedl-Schmidt & Paul Cash & Markus Fellner & Monika Krimmer

Klima-Ungerechtigkeit als soziale Pathologie

Psychoanalytische Perspektiven zur Klimakrise vor dem Hintergrund Kritischer Theorie

Delaram Habibi-Kohlen

Das Leben in der Dauerkrise und die Erschütterung der Ordnung: Klimakrise, Pandemie und Krieg

Christine Bauriedl-Schmidt

Earth4All – Solidarität mit der nicht-menschlichen Umwelt

Regine Scholz

Klimakatastrophe und andere Krisen – Soziale und psychologische Folgen und ihre Anforderungen (nicht nur) an die Gruppenanalyse

Joachim Küchenhoff

Klimawandel: Psychoanalytischer Versuch über die Schwierigkeit, »nein« zu sagen zur Zerstörung der Zukunft unserer Kinder

2. Subjektives Erleben und seine Folgen

Wolfgang Schmidbauer

Don’t look up!

Die manische Abwehr als Risikoprinzip der Konsumgesellschaft

Christine Bauriedl-Schmidt & Markus Fellner

Der Beitrag von Kreativität und Humor zur »Klimaresilienz« aus psychoanalytischer Sicht

Arne Burchartz

Wer lehrt uns das Fürchten?

Über die pathologische Angstfreiheit in der Klimakrise

Sally Weintrobe

Die Gnade haben, mit gespaltener und traumatisierter Psyche zuzuhören

3. Generativität

Christine Bauriedl-Schmidt & Kathrin Hörter & Ines Schellhaas

»Ich würde gerne irgendwann keine Aktivistin mehr sein müssen.«

Ein Interview mit drei Aktivist*innen der Fridays for Future

Kathrin Hörter

»Es macht mich traurig, dass so viel Wald brennt!«

Kindheit und Jugend im Kontext der Klimakrise

Martina Gast & Ines Schelhas

»Ich bin es meiner Tochter schuldig.«

Wie Eltern mit der Klimakrise umgehen Tiefenpsychologische Interviews mit klimaengagierten Eltern

Franz Schambeck

Weniger ist mehr

Klimakrise – Psychoanalyse und die Renaissance des bioethischen Ansatzes von Hans Jonas

Die Autorinnen und Autoren

1. Subjekt- und gesellschaftstheoretische Perspektiven

Christine Bauriedl-Schmidt & Markus Fellner & Kathrin Hörter & Ines Schelhas

Einleitung

Am 15. März 2019 gingen rund um die Welt junge Menschen auf die Straße, erhoben als Fridays for Future die Stimme, um auf die Klimakrise sowie deren verheerende global wirksame Folgen aufmerksam zu machen und um Klimagerechtigkeit zu fordern. Die Gesichter dieser Bewegung sind jung, meist weiblich und sie sprechen beeindruckend eloquent. Die Fridays for Future-Bewegung fand schnell Resonanz in den erwachsenen Generationen, so dass sich Flügelorganisationen gründeten, denen auch die Bandherausgeber:innen angehören. In unserem Fall sind dies die Psychologists for Future, die All for Future oder die Parents for Future. Die Bandherausgeber:innen sind Psychoanalytiker:innen, Eltern und Mitglieder der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse (MAP) und als Einzelpersonen Mitglieder diverser anderer Klimagruppierungen, z. B. der seit 2019 bestehenden bundesweiten Psychoanalyse AG der Psychologists for Future oder der 2020 gegründeten Klima AG der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie e.V. (DGPT). Aufgeweckt durch den Protest der Jugend haben wir 2019 den MAP Arbeitskreis Klimakrise gegründet, mit dem Ziel, die psychoanalytische (Kultur-)Theorie und unsere therapeutische Erfahrung für die individuelle sowie die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Klimakrise fruchtbar zu machen. Dieser gemeinsame Reflexionsraum ist uns eine große Hilfe, die Gefühle, die mit diesem komplexen, bedrohlichen Thema einhergehen, auszuhalten. Wie ein Kollege kürzlich bemerkte: »Wenn wir uns alleine mit der Klimakrise auseinandersetzten, dann würden wir wohl verrückt.«

Am 21. Januar 2022 stand die von Atomwissenschaftler:innen in den 1940er-Jahren kreierte Doomsday Clock auf 100 Sekunden vor Mitternacht und signalisierte damit die große Bedrohung für die Erde und für die auf ihr beheimateten Lebewesen. Im Jahr 2009 hat der Klimawissenschaftler Johan Rockström planetarische Grenzen definiert, die eingehalten werden müssen, damit unser Planet Erde nicht in Gefahrenzonen gelangt, bei denen unwiderruflich Kipppunkte erreicht werden würden, durch die sich unumkehrbar und unvorhersehbar die Lebensbedingungen auf der Erde dramatisch verändern. 2021 hat ein weiterer Klimawissenschaftler, Michael Mann, in seinem Buch Propagandaschlacht um das Klima die strategischen Lügen herausgearbeitet, mit denen die Verantwortlichen für die fossile Brennstoffindustrie systematisch die Verantwortungszusammenhänge tarnen und verschieben. All dies ist kein Geheimnis, wir kommen nicht an den Nachrichten vorbei, die über Naturkatastrophen, Auswirkungen der Klimakrise in anderen Teilen der Welt und vor der eigenen Haustür oder über die Klimakonferenzen berichten. Mittlerweile gibt es einige Filme, die sowohl die naturwissenschaftliche Seite der Klimakrise wie auch deren psychologischen Aspekte sehr anschaulich beleuchten und ansprechend präsentieren. Und dennoch wird vergleichsweise wenig getan – weder von der Politik noch von Individuen oder Gemeinschaften. Diese lähmende Apathie steht in krassem Gegensatz zu den verheerenden Prognosen, die auch wiederum nicht verheimlicht werden. Wie es zu diesen individuellen und kollektiven Abwehrbewegungen kommt und welche sozialpsychologischen Effekte dabei an Bedeutung gewinnen, das sind die Interessensfelder des kritischen psychodynamischen Klimadiskurses.

Wir können mit 2010 einen Startpunkt für eine Welle des Klimadiskurses setzen, um die Beschäftigung mit der Klimakrise in eine psychodynamische Traditionslinie einzuordnen. Im Oktober 2010 fand in London eine psychoanalytische Konferenz zum Klimawandel statt: Engaging with climate change: Psychoanalytic Perspectives, die als interdisziplinärer Austausch von Wissenschaftler:innen mit Psychotherapeut:innen, Umweltaktivist:innen und Politiker:innen angelegt war. Für den deutschsprachigen Raum haben dazu Lothar Bayer und Jeremy Gaines (2011) einen Tagungsbericht in der Psyche veröffentlicht. Bei dieser Konferenz traten mit Sally Weintrobe, Irma Brenman-Pick, Paul Hoggett, Rosemary Randell, John Steiner und Renée Lertzman Vertreter:innen der objektbeziehungstheoretischen Schule auf, die auch heute noch wesentlich im psychodynamischen Klimadiskurs aktiv sind. Die durch die Konfrontation mit der Klimakrise in Gang gesetzten destruktiven, psychologisch wirksamen Dynamiken wie die Unbewusstmachung und Leugnung der Klimakrise können mit der Dominanz einer narzisstischen Weltsicht in Verbindung gebracht werden sowie mit der Notwendigkeit einer kritischen Betrachtung von Neoliberalismus, Kapitalismus und dem daraus resultierenden konsumorientierten Lebensstil der Industrienationen. All das wurde bereits 2010 thematisiert, während auf die besondere Verantwortung der Industrienationen, in denen die Klimakrise zum größten Teil versursacht wird, hingewiesen wurde. Die Hauptvorträge sowie die Beiträge der Diskutant:innen hat Sally Weintrobe (2013) in einem Buch unter gleichklingendem Titel veröffentlicht. Etwas später zog die intersubjektive Schule mit relevanten Veröffentlichungen nach. Zu nennen ist hier beispielsweise Donna M. Oranges (2017) sozialphilosophisch und kapitalismuskritisch ausgerichtetes Buch Climate Crisis, Psychoanalysis, and Radical Ethics, in dem sie den Begriff der Klimaungerechtigkeit vor dem Hintergrund eines historischen Unbewussten herausarbeitet und hier auch die Psychoanalytiker:innen in die Pflicht nimmt, aus ihrer »Blase« herauszutreten und sich der Verantwortung für die Konsequenzen eines konsumorientierten Lebenswandels zu stellen. Die Begründung dieser moralischen Forderung unterlegt sie dabei im Rahmen eines »ethical turns« mit der Subjekttheorie des seit 15 Jahren immer mehr beachteten litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas. Dass psychodynamische Psychotherapeut:innen Gefühlsregungen nicht allein unter dem Aspekt der möglichen neurotische Deregulierung betrachten, sondern als Realgefühle und Ausgangspunkt für klimapolitisches Handeln (bzw. auch dessen Fehlen) ernst nehmen können, ist der Kern des relativ neuen Begriffs der »Klimagefühle«. Renée Lertzman (2015) beispielsweise identifizierte hinter der scheinbaren Teilnahmslosigkeit komplexe psychische Prozesse, die sie als posttraumatische Erstarrung und später als environmental melancholia bezeichnet, während andere Autor:innen eher Klimaangst (z. B. Sally Weintrobe) oder Klimaschuld (z. B. Rosemary Randall) fokussieren.

Den meisten psychodynamischen Ansätzen zur Betrachtung der Klimakrise gemeinsam ist eine gesellschaftskritische Perspektive, die die Umwelt- und Klimakrise als humanitäre Katastrophe begreift. In der Verschränkung von psychodynamischem Diskurs und gesellschaftspolitischen Themen kommen wir nicht umhin, den Blick noch in die Vergangenheit zu lenken: Blitzlichtartig fällt hier der Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud ein, mit dem Verweis auf eine Verpflichtung der Vernunft zu einem militanten Pazifismus sowie Freuds Konzeption der Psychoanalyse als einer kritischen Kulturtheorie, in deren Kern der Psychoanalyse über ihren klinischen Kontext hinaus ein »zweiter Auftrag« im Sinne einer emanzipatorischen Subjektwissenschaft zukomme (Parin 1978, S. 341). Dieser Grundgedanke wurde angesichts des Fortschreitens von Industrialisierung, Nuklearisierung und Technisierung auch in den 1960er- und 1970er-Jahren aufgegriffen, beispielsweise vom Psychoanalytiker und Psychiater Harold Searles, der sehr für die Anerkennung der Bedeutung der nicht-menschlichen Umwelt für die Entwicklung des Menschen eintrat. Im Kern des nachlässigen und zerstörerischen Umgangs des Menschen mit der Natur liegt für Searles die abgewehrte, große Angst des Menschen vor den archaischen und nicht-menschlichen Ursprüngen als eine Angst vor dem Vernichtet-Werden verborgen. Bereits bei Eissler (1968) finden wir den Hinweis auf die durch Wissenschaft errungenen Effekte als disharmonisch im Hinblick auf das Gesamtkollektiv, womit er – so können wir sagen – den Gedanken der Klimaungerechtigkeit bereits pessimistisch und mit kritischem Blick auf das Abendland umreißt: »Ihre Ergebnisse zeitigen Effekte, die heilsam sind und integriert werden können, gleichzeitig aber solche, die weit über die gegenwärtigen sozialen Möglichkeiten hinausgehen und erschreckende Destruktionsmöglichkeiten enthalten.« (ebd., S. 648) Natürlich darf in diesem Blitzlicht nicht der Hinweis auf Horst Eberhard Richters (1984) Entwurf eines im Gotteskomplex gefangenen Menschen fehlen, der seine unerträgliche Ohnmachtsangst durch narzisstische Omnipotenz und megalomane Technikgläubigkeit abwehrt. Bereits bei Eissler und Richter lässt sich ein Hinweis auf das Bild des abendländischen Menschen finden, der narzisstisch aus der Balance gekommen ist, der mehr auf das Ego denn auf die Gemeinschaft achtet. So kommt Eissler (1968) dann auch zu dem Schluss, dass es die aus der kindlichen Angst hervorgegangene Sorge des reifen Erwachsenen ist, die die liebevoll-fürsorgende Verbindung zur Umwelt gewährleistet und deren große Schnittmenge zwischen Ich und Überich zu sinnvoll regulierenden Handlungsvollzügen führt.

Bevor wir nach diesem (Rück-)Blick auf den psychodynamischen Diskurs gesellschaftlicher Krisen die einzelnen Kapitel in diesem Buch vorstellen, ist es uns wichtig, noch die Hoffnung anzusprechen, ohne die sich auch bei großer Bedrohung keine Progression entwickeln kann. Die auch heute wieder in den Diskurs gebrachte Sorge für andere kann als der wesentliche Antreiber für die Auseinandersetzung mit einem wichtigen Thema betrachtet werden. Gemeint ist der Verzicht – und zwar der Verzicht auf Vorteile, die lediglich die eigene Person oder die eigene Zugehörigkeitsgruppe betreffen. Als globale Gesellschaften diese Wendung vollziehen zu können, darin liegen Hoffnung und Forderung auch an Psycho- und Gruppentherapeut:innen sowie insgesamt an die psychoanalytische Theorie und Forschung.

Jenseits der Couch trug die Psychoanalyse sowie die in ihr begründeten Verfahren (z. B. die auch soziologisch geprägte Gruppenanalyse) schon immer und trägt sie auch heute noch zum aktuellen gesellschaftspolitischen und kulturellen Diskurs bei. Diesem Ziel folgt das Jahrbuch der klinischen und interdisziplinären Psychoanalyse, das mit diesem Band Das Unbewusste und die Klimakrise seinen Auftakt nimmt. In den einzelnen Beiträgen soll untersucht werden, wie sich die Klimakrise im Spiegel von Subjekt, Gesellschaft und Generativität psychodynamisch fassen lässt. Ausgehend von sozialphilosophischen und metapsychologischen Perspektiven im ersten Abschnitt wendet sich der zweite Abschnitt der emotionalen Dimension der Klimakrise zu. Die Klimagefühle können abgewehrt werden und so zu emotionaler Blindheit gegenüber der drohenden Katastrophe werden, doch können sie auch – und darin liegt die Hoffnung – zum Ausgangspunkt für Kreativität, Gemeinschaft, wirkungsvollem Protest und Klimaresilienz werden, sofern sie als Signal wahr- und ernstgenommen werden. Der letzte Abschnitt des Buches fokussiert das Thema der Generativität in seiner gegenwarts- und zukunftsbezogenen Dimension, die durch Handlung, Hoffnung, Verantwortung und Begrenzung skizziert werden kann. In diesem Band kommen neben international bewährten Autor:innen wie Sally Weintrobe, Donna M. Orange, Joachim Küchenhoff, neben Psycho- und Gruppentherapeut:innen auch die Klimaaktivist:innen selbst zu Wort.

Klimagerechtigkeit und Psychotherapie ist der Titel der Arbeit von DONNA M. ORANGE. Als zentralen Bezugspunkt ihrer Überlegungen stellt Orange die Verletzlichkeit des / der Anderen in den Fokus ihrer »radikalen Ethik«. Dass es überhaupt möglich wurde, diese Verletzlichkeit zu ignorieren, sieht sie im Zusammenhang mit kolonialer Vergangenheit und gesellschaftlichhistorisch begründeten Selbstverständnis von Dominanz. An dieser Stelle beleuchtet sie auch die psychoanalytische Community kritisch und stellt die unbequeme Frage: »Sind wir Psychoanalytiker, die es vielleicht besser machen sollten, Verschwörer oder Mitwisser, die ein ökologisches Unbewusstes aufrechterhalten?«

In dem Artikel Klimagerechtigkeit im gesellschaftlichen Zusammenhang sozialer Pathologien. Psychoanalytische Perspektiven zur Klimakrise vor dem Hintergrund Kritischer Theorie berufen sich die Autor:innen CHRISTINE BAURIEDL-SCHMIDT, PAUL CASH, MARKUS FELLNER und MONIKA KRIMMER auf zwei moderne sozialphilosophische Konzepte, die theoretische Perspektiven für die angesichts von Klimakrise und -ungerechtigkeit notwendig zu fordernde soziale Transformation aufzeigen: Erstens das Konzept der doppelten Asymmetrie des Sozialen (Herrmann), welche die Kraft von sozialen Bindungen aus der Akzeptanz von Unterschiedlichkeit heraus definiert. Zweitens der werteorientierte philosophische Ansatz zur radikalen Veränderung der Muster alltäglicher Lebenspraxis (von Redecker). Es wird dabei gezeigt, wie Prozesse der Unbewusstmachung in den Individuen einer Gesellschaft gleichgerichtet wirken und so bewirken können, dass der Zugang zur Erkenntnis der Realität, d. h. zur Anerkennung der Klimakrise systematisch beeinträchtigt wird, und zwar in der Weise, dass die herrschenden Verhältnisse geschützt werden.

Die Beiträge von DELARAM HABIBI-KOHLEN und REGINE SCHOLZ nehmen die Klimakrise – und mit ihr stellvertretend bzw. ihr aufliegend auch andere Krisen – unter dem Aspekt des Verfalls der Ordnung und den daraus folgenden, häufig übersehenen destruktiven sozialen Folgen in den Blick. DELARAM HABIBI-KOHLEN fokussiert in Das Leben in der Dauerkrise und die Erschütterung der Ordnung: Klimakrise, Pandemie und Krieg auf die individuellen und kollektiven Abwehrprozesse, die sich um die Figur der Verleugnung (»turning a blind eye«, John Steiner) gruppieren, kumulieren und die zu sich wechselseitig bedingenden, durch diese Verschränkung sehr stabilen Verformungen führen. Sie rekurriert auf Carsten Kavens soziologische Diagnose des Verfalls von sicher geglaubten Ordnungen, bei der es durch die Interdependenz von Kontrolle über die Natur, das Soziale und das Selbst zu einer wechselseitigen Schwächung kommt mit dem unmöglichen Versuch, Sicherheit und Kontrolle wieder zu errichten. Kann die Psychoanalyse ihre aufklärerische Kraft zur Bewältigung der »magischen Blase« (Sally Weintrobe) nutzen, damit dennoch Hoffnung und Handeln entstehen, die in der Realität verankert sind?

Aus gruppenanalytischer Perspektive greift REGINE SCHOLZ in Klimakatastrophe und andere Krisen – Soziale und psychologische Folgen und ihre Anforderungen (nicht nur) an die Gruppenanalyse auf, wie sich die äußeren Krisen auf das Identitäts- und Zugehörigkeitserleben bzw. das Erleben von Ausschluss in Gemeinschaften auswirken kann. Durch Krisen kann es zur Aktualisierung von Traumatisierung in der historischen Matrix kommen, die so in Gemeinschaften wie auch in gruppenanalytisch geführte Klein- oder Großgruppen prävalent wird. Im Rückgriff auf John Schlapobersky beschreibt sie einen erweiterten Anspruch an psycho- und gruppendynamisches Wirken, dessen Richtung sich »von der Couch, zum Kreis und auf die Straße« bestimmen lässt. Das Arbeiten in der Krise stellt die:den Psychoanalytiker:in und die:den Gruppenanalytiker:in vor die Situation, die eigene Rolle im Hinblick auf das Kriterium der Neutralität zu überprüfen, um einen sicheren Rahmen zu gewährleisten für das Aushandeln der schwierigen Gefühle.

In dem Beitrag Earth4All – Solidarität mit der nicht-menschlichen Umwelt von CHRISTINE BAURIEDL-SCHMIDT wird der Frage nachgegangen, wie im Hinblick auf die tiefgehende Naturhaftigkeit des Menschen und seine Verletzlichkeit und Abhängigkeit auch die nicht-menschliche Umwelt psychoanalytisch als ein Subjekt gedacht werden kann, zu dem der Mensch in einer existentiellen Beziehung steht. Die Perspektive des intersubjektiven Feldes wird so gewissermaßen über das Soziale hinaus ins allgemein Naturhafte oder, um einen Begriff zu verwenden, der im Klimadiskurs zunehmend Bedeutung gewinnt, ins Planetarische erweitert. In Bezug auf die Klimakrise spielen hierbei die Auseinandersetzung mit der wechselseitigen Abhängigkeit von menschlichen und nichtmenschlichen Systemen auf unserem Planeten sowie dem Widerspruch zwischen dem Gefühl der Unsterblichkeit im Unbewussten und der faktischen Endlichkeit des Individuums eine zentrale Rolle – um Perspektiven für ein durch Verantwortung und Gleichheit geprägtes Paradigma einer ›Erde für Alle‹ zu skizzieren.

In dem Beitrag Klimawandel: Psychoanalytischer Versuch über die Schwierigkeit, »nein« zu sagen zur Zerstörung der Zukunft unserer Kinder von JOACHIM KÜCHENHOFF wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise die Klimakatastrophe mit einer individuellen sowie kollektiven Selbstzerstörung einhergeht und wie im Kern eines Verständnisses dieser Selbstzerstörung wiederum die Notwendigkeit einer universalen Antwort auf die Klimakatastrophe im Sinne einer radikalen Ethik systemverändernder Prozesse begründet ist. Hierbei stützt sich KÜCHENHOFF auf einen Text des Religionsphilosophen Klaus Heinrich, in dem der Protest gegen die Zerstörung auf eine Fähigkeit des ›Nein-Sagens‹ verweist, in dem das ›Nein‹ in dialektischer Weise selbst aus seinen affirmativen Ummantelungen und aus der Sprachlosigkeit heraus zu entwickeln ist.

Ausgehend vom gleichnamigen Film illustriert WOLFGANG SCHMIDBAUER im Artikel »Don´t look up«. Die manische Abwehr als Risikoprinzip der Konsumgesellschaft die Dynamik von manischer Abwehr in Konsumgesellschaften. Er entlarvt die uns alle betreffenden psychischen Mechanismen und das daraus resultierende Verhalten als Größenfantasie, die im Rahmen einer sich längst etablierten »Eventkultur« für den psychischen Apparat eine stabilisierende Funktion übernimmt, gleichzeitig jedoch zerstörerische Folgen für die Menschheit und den Planeten Erde hat.

CHRISTINE BAURIEDL-SCHMIDT und MARKUS FELLNER zeigen in ihrem Artikel Der Beitrag von Kreativität und Humor zur Klimaresilienz aus psychoanalytischer Sicht die Bedeutung von Humor und Kreativität als eine Form der möglichen Bewältigung der psychischen Herausforderung vor dem Hintergrund der Klimakrise und als eine wichtige Quelle von Resilienz auf. Sie schlagen dabei unter Einbeziehung kulturgeschichtlicher und kunstpsychologischer Bezüge den Bogen von der intersubjektiven zur gesellschaftstheoretischen Dimension von Kreativität. Die Fähigkeit, humorvoll und künstlerisch in Resonanz mit der Welt zu kommen, ist dem Menschen eigen, kann das Selbst stärken, Schweres leichter werden lassen und emanzipatorische Perspektiven eröffnen.

In seinem Beitrag Wer lehrt uns das Fürchten? Über die pathologische Angstfreiheit in der Klimakrise geht ARNE BURCHARTZ der Frage nach, warum weder auf der Ebene politischer wie ökonomischer Verantwortungsträger:innen, noch im alltäglichen Verhalten eines Großteils der Menschen eine tiefgreifende Entschlossenheit und Bereitschaft erkennbar ist, die notwendigen Maßnahmen zur Abwendung der Klimakrise zu ergreifen. Dass wir nicht entsprechend unseres umfänglichen Wissens handeln, könnte u. a. daran liegen, so die These des Autors, dass das Angstsystem des Menschen auf das Ausmaß dieser massiven Bedrohung nicht eingestellt ist.

SALLY WEINTROBE beschäftigt sich in ihrem Beitrag Die Gnade haben, mit gespaltener und traumatisierter Psyche zuzuhören mit dem, was sie ›moralische Psyche‹ nennt. Sie geht, Freuds Konfliktmodell folgend, vom steten Widerstreit zwischen einem fürsorglichen und einem nicht-fürsorglichen Teil in uns aus. Die Autorin konstatiert, dass wir in einer Kultur der ›mangelnden Fürsorge‹ leben, die dazu beiträgt, dass der nicht-fürsorgliche Teil in uns immer wieder die Oberhand über den fürsorglichen Teil gewinnen kann, so dass es zu einem Ignorieren bzw. Verschärfen der Klimakrise und deren Folgen kommen kann. Verschiedene gesellschaftliche wie innerpsychische Mechanismen (Verneinung, Dis-Assoziation, Kollusion etc.), die das Zurückdrängen der Fürsorglichkeit in uns möglich machen, werden von ihr reflektiert.

In dem Artikel Ich möchte gerne irgendwann keine Aktivistin mehr sein müssen kommen junge AKTIVIST:INNEN DER FRIDAYSFORFUTURE-BEWEGUNG im Rahmen eines Gruppen-Interviews selbst zu Wort. Sie schildern, wie sich sowohl die Bedrohung ihrer Zukunft als auch ihr Aktivismus auf ihr Leben auswirken. In dem sehr offenen Gespräch geben sie einen Einblick in ihr Engagement und in ihr inneres Erleben, in dem die Bandbreite der Gefühle von Angst bis Hoffnung für die Leser:innen erlebbar wird.

Die Perspektive des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen unter bedrohlichen klimatischen Veränderungen ist Thema des Aufsatzes Es macht mich traurig, dass so viel Wald brennt – Kindheit und Jugend im Kontext der Klimakrise von KATHRIN HÜRTER. Es werden sowohl empirische Befunde zur psychischen Belastung von Kindern und Jugendlichen als auch der Aspekt der »climate injustice« im Sinne eines Bruchs in der Generationengerechtigkeit dargestellt. Ergänzt wird dies durch gesellschaftskritische, psychoanalytische Zugänge und den Versuch, Antworten auf die Frage zu finden, was denn eine »klimafreundliche Psychoanalyse« kennzeichnen würde.

Anknüpfend an die Problematik der Klimakrise, wie sich für Kinder und Jugendliche darstellt, werden Sichtweisen und das Erleben von engagierten Eltern untersucht. Unter dem Titel Ich bin es meiner Tochter schuldig interpretieren MARTINA GAST und INES SCHELHAS vier tiefenpsychologische Interviews mit Aktivist:innen der Parents for Future-Bewegung. Hier zeigt sich, in welcher Weise die befragten Eltern in Anbetracht der drohenden Klimakatastrophe Verantwortung für ihre Kinder und die nachfolgenden Generationen übernehmen und dabei zutiefst verunsichert sind. Neben den Gefühlen der Ohnmacht werden dabei auch Perspektiven der Hoffnung und Handlungsfähigkeit deutlich, die in Zusammenhang mit dem Erleben von solidarischer Gemeinschaft im Rahmen des politischen Engagements verortet werden.

Der Artikel von FRANZ SCHAMBECKWeniger ist mehr. Klimakrise – Psychoanalyse und die Renaissance des bioethischen Ansatzes von Hans Jonas verbindet psychoanalytische Entwicklungspsychologie, hier vor allem D. W. Winnicott und Sigmund Freud, mit den Ideen des Philosophen Hans Jonas. Verantwortungsübernahme, Begrenzung und Verzicht nehmen bei Jonas eine zentrale Stellung ein, woraufhin der Autor der Frage nachgeht, wie diese Fähigkeiten in der psychischen Entwicklung des Menschen entstehen können.

Die Entstehung dieses Buches ist vor dem Hintergrund der Vernetzung mit vielen Kolleg:innen und Gruppierungen zu sehen. Zunächst sind da die Menschen in unserem MAP Arbeitskreis Klimakrise zu nennen, in alphabetischer Reihenfolge sind dies gemeinsam mit den Herausgeber:innen dieses Buches: Roland Apsel, Isabel Behr, Martina Gast, Michael Golla, Ulrike Purkert, Roswitha Schroeter und Sabine Winter. Sich mit Kolleg:innen über das eigene Erleben der Klimakrise, die Ohnmacht oder die Hoffnung zu unterhalten im Versuch, die einzelnen Schichten dieses komplexen Themas zu verstehen, stellt einen Container dar, in dem auch schwierige Gefühle transformiert oder zumindest ausgehalten werden können. Aus dem Arbeitskreis sind viele Gedanken entstanden, die sich im Buch wiederfinden. Ganz besonders möchten wir unseren Interviewpartner:innen von den Fridays for Future, den Parents for Future und Extinction Rebellion danken, die sich unseren Fragen geduldig und engagiert gestellt haben und sich in ihren Antworten als Menschen gezeigt haben, die sich täglich und teilweise in einer sehr berührenden Weise der Dramatik stellen, die die Auseinandersetzung mit der Bedrohlichkeit der Klimakrise im Inneren von Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern nehmen kann. In diesen Interviews wird besonders deutlich, dass die Bedrohung nicht verleugnet werden muss, dass es Wege für sinnvolles politisch-gesellschaftliches Handeln gibt, die durchaus für einige zu reichen Erfahrungsräumen für Neues und Probehandeln werden.

Literatur

Bayer L., Gaines J. (2011): Tagungsbericht: Engaging with climate change: Psychoanalytic Perspectives, London 16./17.10.2010. Psyche – Z Psychoanal 65, 2011, 464–468.

Eissler, K. R. (1968): Zur Notlage unserer Zeit – Ein Schreiben an Herrn Prof. Alexander Mitscherlich anläßlich seines 60. Geburtstages. Psyche – Z Psychoanal, 22(9/11), 641–657.

Lertzman, R (2015): Environmental melancholia: Psychoanalytic dimensions of engagement. London, New York: Routledge.

Mann, M. (2021): The New Climate War. The Fight to Take Back Our Planet. Scribe Publications. New York: Public Affairs.

Orange, D. M. (2017): Climate Crisis, Psychoanalysis, and Radical Ethics. Routledge, New York.

Parin, P. (1978): Warum die Psychoanalytiker so ungern zu brennenden Zeitproblemen Stellung nehmen. Eine ethnologische Betrachtung. Psyche, 32(5/6), 385–399.

Richter, H.-E. (1984): Sterbeangst und Destruktivität. Psyche – Z Psychoanal., 38(12), 1105–1123.

Rockström, J., Steffen, W., Noone, K., Persson Å., Stuart III Chapin, F., Lambin, E., Lenton, T., Scheffer, M., Folke, C., Schellnhuber, H., Nykvist, B., De Wit, C., Hughes, T., van der Leeuw, S., Rodhe, H., Sörlin, S., Snyder, P., Costanza, R., .Svedin, U., Foley, J. (2009). Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity. Ecology and Society, 14(2): Art. 32. http://www.ecologyandsociety.org/vol14/iss2/art32/ (20.05.2022).

Weintrobe, S. (2013): The difficult problem of anxiety in thinking about climate change. In: Weintrobe, S. (2013) (ed.). Engaging with Climate Change. Routledge, New York.

Donna M. Orange

Klimagerechtigkeit und Psychotherapie

Ihre Einladung, heute zu Ihnen zu sprechen, empfinde ich als eine enorme und unverdiente Ehre. Aber Ihre Entscheidung, uns zu bitten, über die vielleicht größte Bedrohung zu sprechen, der wir alle gemeinsam gegenüberstehen, ist eine Ehre für Sie. Es ist demütigend, um mit Jeremy Ornstein zu sprechen, einem Führer der Sunrise-Bewegung und Enkel einer meiner liebsten Lehrerinnen und Freundinnen seit mehr als 30 Jahren. Sie ist leidenschaftlich an der Situation interessiert, die wir ansprechen werden, und sieht wahrscheinlich zu.

Seit ich das meiste von dem, was Sie hören werden, zum ersten Mal nach meinem Buch von 2015 zu diesem Thema geschrieben habe, hat sich die Situation, wie Sie sehr wohl wissen, sehr zum Schlechten verändert. Die wissenschaftlichen Informationen über das Klima beschreiben nicht mehr den Wandel, sondern den Notfall. Der politische Wille, sich dieser Realität zu stellen, ist geschwunden. Auch wenn er manchmal wieder aufzutauchen scheint, bleibt er es aus für uns alle erkennbaren Gründen nicht erhalten. Meine Freunde von der Klimapsychologie-Allianz hören Stimmen wie die von Jem Bendell, der von tiefgreifender und menschlicher Anpassung schreibt, während wir uns auf das bevorstehende Ende eines bewohnbaren Planeten vorbereiten. David Wallace-Wells schreibt Artikel wie »Zeit für Panik«. Die große Frage ist nun: Haben wir die Zeit, den Kurs zu ändern, falls wir den politischen Willen dazu aufbringen könnten? Wenn nicht, wie sollen wir dann einstweilen leben?

Beginnen wir also, als hätten wir noch Zeit.

Obwohl wir Psychoanalytiker uns heute unserer Verantwortung gegenüber den schwächsten Menschen der Welt und unserer Solidarität mit den Leidenden bewusster sind, scheinen wir immer noch weitgehend in einer Blase zu leben. Der Klimawandel ist bereits, wie uns die Wissenschaftler auf die eindringlichste Weise, die sie finden können, mitteilen, zu einem Notfall geworden, der alle Versuche zu überwältigen droht, die hauptsächlich vom Menschen verursachte Katastrophe aufzuhalten. Dennoch arbeiten wir Psychoanalytiker still und gewissenhaft weiter, leben wie eh und je, fahren und fliegen weniger, letzteres jedoch vor allem wegen COVID, wässern unseren Rasen, essen und konsumieren gedankenlos. In der Zwischenzeit konspirieren die meisten politischen und finanziellen Führer, um bedrohliche Wahrheiten zu verbergen, die nicht mehr nur unbequem, sondern schrecklich sind, und wir erlauben es uns, sie nicht zu bemerken. Sind wir Psychoanalytiker, die es vielleicht besser machen sollten, Verschwörer oder Mitwisser, die ein ökologisches Unbewusstes aufrechterhalten? Tragen wir dazu bei, den Kanarienvogel im Kohlebergwerk zum Schweigen zu bringen?

Nachdem wir eine umfassende Ausbildung und Schulung erhalten haben, einschließlich der obligatorischen persönlichen Analyse, um uns auf unsere Arbeit vorzubereiten, haben wir, so glaube ich, zumindest auf moralischer, wenn auch nicht auf wissenschaftlicher Ebene, auch die Verantwortung erworben, bei der Bewältigung der globalen Krise, in der wir leben, eine führende Rolle zu spielen. Wir verfügen über die intellektuellen und gemeinschaftlichen Ressourcen, um diese Verantwortung zu übernehmen. Bislang haben wir jedoch eisern geschwiegen.

Wo sind die Psychoanalytiker, wir, die wir uns – zu Recht oder zu Unrecht – als intellektuelle Führer in der Psychotherapie und im Verständnis der menschlichen Motivation betrachten? Vielleicht haben wir nichts aus dem Beispiel Sigmund Freuds gelernt, der, geblendet von seiner Leidenschaft für seine Arbeit, seiner Liebe zur deutschen Aufklärungskultur und seinem Bedürfnis, so wichtig zu sein wie Kopernikus und Darwin, nicht erkennen konnte, dass er und seine jüdische Familie sowie die Psychoanalyse selbst im Wien der späten 1930er-Jahre in Lebensgefahr schwebten. Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel: Einige Jahre später, während des Londoner Blitzkriegs, stellte Donald Winnicott in einer der heftigen Auseinandersetzungen der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft über die Ursprünge von Hass und Aggression deren aktuellen Auswirkungen fest: »Ich möchte darauf hinweisen, dass gerade ein Luftangriff stattfindet.« (Grosskurth, 1986, S. 321) Sind auch wir so vertieft in unsere Theorien und, schlimmer noch, in unsere theoretischen und interkonfessionellen Streitigkeiten darüber, wer dazugehört und wer nicht, dass wir nicht bemerken, dass die vom Menschen verursachte Erwärmung der Erde die Welt zu zerstören droht, in der wir unseren geliebten Beruf ausüben? Wir sagen, dass das alles Mahlgut für die psychoanalytische Mühle ist, aber was, wenn diese Krise das Überleben der Mühle selbst bedroht?

Ich glaube, dass wir Psychoanalytiker zusammen mit unseren Kollegen in anderen therapeutischen Bereichen in diesem entscheidenden Moment einen einzigartigen Beitrag leisten können. Wir können nicht nur dazu beitragen, unsere eigene Aufmerksamkeit auf die drohenden Gefahren für unsere eigene Lebensweise zu lenken, sondern auch für die verletzlichsten Menschen der Welt und für die Erde, die uns alle trägt. In der besten psychoanalytischen Tradition können wir die Formen des historischen Unbewusstseins beobachten, die immer noch wandelnden Gespenster des narrativen Unbewussten (Freeman, 2012), die uns gefühllos machen für das Leid, in das wir verwickelt und für das wir verantwortlich sind. Wir können die egoistischeren Abwehrmechanismen benennen, die uns in einer Vermeidungshaltung belassen, und die Formen des traumatischen Schocks, die uns zu sehr lähmen, um angemessen zu reagieren. Wir können bei den Trauerprozessen helfen, nicht nur um die erinnerten Lebensweisen, sondern auch um den Verlust vieler Arten von Hoffnung und Gewissheit für die Zukunft. Wir können von den lateinamerikanischen Führern im Bereich der Klimagerechtigkeit, von den Führern der Ureinwohner in Kanada und anderswo lernen und uns und einander – einschließlich unserer Patienten – fragen, was in Krisenzeiten wirklich wichtig ist, und so kreativer reagieren, als es unsere analytischen Vorfahren getan haben. Aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Um es mit den Worten von Bill McKibben (2015, S. 41) zu sagen: »Es gibt kein ›auf lange Sicht‹ mehr.«

Ich werde den größten Teil des wissenschaftlichen Bereichs aus zwei Gründen auslassen:

1) Ich gehe davon aus, dass diese Gruppe bereits über den Anstieg des Meeresspiegels, das schwindende Eis, die schnell voranschreitende Wüstenbildung und die zunehmenden Stürme und Brände Bescheid weiß, und

2) es wird jeden Monat exponentiell schlimmer, wobei die Nachrichten die Vorhersagen übertreffen.

Aber seit einigen Jahren betonen sogar die Wissenschaftler der NOAA1 und des IPCC2 folgendes:

Die Risiken sind ungleich verteilt und für benachteiligte Menschen und Gemeinschaften in Ländern aller Entwicklungsstufen im Allgemeinen größer.

Die bereits stattfindenden bedeutenden Klimaveränderungen werden umfangreiche Anpassungen erfordern, insbesondere zum Schutz der verletzlichsten Menschen. Ganze Inselbevölkerungen müssen angesichts des steigenden Meeresspiegels umgesiedelt werden, während Kriegs- und Hungerflüchtlinge bereits nach Europa strömen (Ryde, 2016). Ohne eine sofortige radikale Abkehr von fossilen Brennstoffen, einschließlich einer erheblichen Verringerung des Verbrauchs, ist eine Erwärmung um 4 Grad sehr wahrscheinlich und wird unseren Planeten bis zum Ende dieses Jahrhunderts unbewohnbar machen. Wie die IEA (International Energy Agency) warnt auch der IPCC, dass alle Ebenen (weltweit, regional, national, subnational, lokal) sofort radikale Veränderungen vornehmen müssen, um die schlimmsten Folgen zu vermeiden. Diese Vorhersage aus dem Jahr 2014 gilt inzwischen als völlig überholt. Dass sich die USA aus dem Pariser Abkommen zurückgezogen haben3 und die meisten Klimaregelungen rückgängig machen, bedeutet, dass sich die ganze Welt auf einem rasanten Weg in die Zerstörung befindet. Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen.

Die meisten von uns machen so weiter, als hätten wir diese Warnungen nicht gehört. Sind unsere Gehirne einfach so verdrahtet, dass sie schlechte Nachrichten ausschließen, wie George Marshall glaubt (Marshall, 2014)? Sind wir von einer »Umweltmelancholie« befallen, wie die Sozialwissenschaftlerin und Rezipientin der Psychoanalyse Renée Lertzman (2015) meint, oder sind wir durch ein Klimatrauma erstarrt, wie ich mich gefragt habe (Orange, 2016)? Oder haben wir einen philosophischen Egoismus geerbt, der mit einer narzisstischen Mentalität voller Ansprüche verbunden ist, vielleicht sogar mit einem unbewussten rassistischen Privileg, das wir aus Jahrtausenden der Sklaverei geerbt haben (Davis, 2006) und das uns gefangen hält und lähmt? All das mag wahr sein, aber wenn die Disziplinen Philosophie, Geschichte und Psychoanalyse uns helfen können, unser Problem schnell zu erkennen, dann kann eine Allianz mit den moralischen und religiösen Führern der Welt vielleicht die politische Wende einleiten, um einen »Kipppunkt« der Solidarität zu schaffen, um den sich bereits abzeichnenden Kipppunkten beim Kohlenstoff zu begegnen.

Aufklärungs-Egoismus

Wir Westler tragen einen übergroßen Teil der Schuld und Verantwortung für den Klimawandel. Was immer wir jetzt von China halten mögen, wir im Westen haben das Muster der Industrialisierung um jeden Preis vorgegeben, dem sie gefolgt sind. Wie Stephen M. Gardiner schreibt, »sind die USA für 29 Prozent der globalen Emissionen seit Beginn der industriellen Revolutionen (von 1850 bis 2003) verantwortlich, und die Länder der EU für 26 Prozent; China und Indien sind dagegen für 8 Prozent bzw. 2 Prozent verantwortlich« (2011, S. 315). Um zu verstehen, was in unserer Beziehung zur Erde so schiefgelaufen ist, einschließlich unserer Gleichgültigkeit gegenüber den Ärmsten, müssen wir zunächst die egoistischen Wurzeln des wissenschaftlichen Rationalismus und des politischen Individualismus erwähnen, die sich im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelt haben. Diese wurden zu Gründungsidealen der Vereinigten Staaten.

Wir müssen auch bedenken, dass die Klimakrise uns Menschen auf ungleiche Weise trifft, dass es einigen von uns noch einigermaßen gut geht, während bereits viele, und zunehmend eine große Mehrheit, hungern, obdachlos und mittellos sind. Einige von uns verfügen über weitaus mehr Ressourcen zur Bewältigung der Krise als unsere Brüder und Schwestern auf der anderen Seite der Gleise oder auf der anderen Seite der Welt. Einige von uns können dem steigenden Wasser, dem Hunger und dem Krieg entkommen. Wir könnten mit Emmanuel Levinas, dem Phänomenologen und Propheten, dessen radikale Ethik wir später aufgreifen, sagen, dass wir, um ethisch zu reagieren, zulassen müssen, dass wir traumatisiert werden, als Geiseln genommen werden vom sinnlosen Leiden dieser Anderen. Er zitiert aus dem Talmud:

»Die Menschen ohne Nahrung zu lassen – das ist ein Vergehen, das kein Umstand mildert; die Unterscheidung zwischen willentlich und unwillentlich findet hier keine Anwendung.« (Levinas 1987, S. 288f.; Orig. 1961)

Mit anderen Worten: Wenn ich nicht weiß, dass mein Lebensstil Hunger und Elend für andere verursacht, ist das keine Entschuldigung; die Schuld bleibt bestehen. (Theoretiker der Klimagerechtigkeit sprechen daher von einer »Kohlenstoffschuld«, die Verschmutzer wie wir denjenigen schulden, deren Gesundheit und Überleben durch unsere Lebensweise weiterhin zerstört wird, ob wir es nun wissen oder nicht.) Levinas kommentierte: »Angesichts des Hungers der Menschen gibt es für die Verantwortung nur ein ›objektives‹ Maß.« (ebd., S. 289)

Er zitierte oft aus Dostojewskis Brüder Karamasow: »Jeder von uns trägt allen gegenüber an allem Schuld, und ich mehr als alle.«

Unaufrichtigkeit (i. O. double-mindedness), selbst wenn sie traumatisch bedingt ist, entlastet nicht. Sie führt lediglich dazu, dass Menschen, die gesehen haben, wie ihre Nachbarn in Güterwaggons verladen und abtransportiert wurden, sagen: »Wir haben nichts gewusst.« Auch wir tun so, als wüssten wir nichts, vor allem nicht, wie unser privilegiertes Leben unsere Mitmenschen verarmen lässt und in Gefahr bringt. Ist uns bewusst, dass viele, wenn nicht sogar die meisten der Flüchtlinge, die Europa und die USA abweisen, Klimaflüchtlinge sind und dass es noch viele weitere geben wird, auch hier?

Aber traumatisch gelähmt bemerken wir vielleicht unsere Schuld und Verantwortung nicht. Oder wir fühlen uns von den Ausmaßen dieser Krise so überwältigt, dass wir nicht wissen, wo wir anfangen sollen, und einfach weitermachen wie bisher. Die »unerbittliche Dringlichkeit des Jetzt« (King, 1967, Übers. K. H.) beunruhigt viele von uns: Bis wir aufwachen, werden weitere Millionen der Ärmsten der Welt an Hunger gestorben sein und die schlimmsten Auswirkungen der globalen Erwärmung könnten nicht wieder gut zu machen sein.

Historisches Unbewusstes und die unsichtbare Gegenwart: Siedlerkolonialismus und Sklaverei

Unbewusst und schweigend gegenüber der amerikanischen Geschichte des Siedlerkolonialismus, unwissend und stumm gegenüber unseren Verbrechen der Sklaverei und der rassistischen Vorherrschaft, können weder Regierungen noch Bürger ernsthaft gegen Climate Injustice vorgehen, solange wir uns nicht mit dieser 400-jährigen Geschichte auseinandersetzen.4 Dies ist meine These. Sie klagt das »Ich« an, das immer schuldig und verantwortlich ist, verortet aber die Probleme in einem gemeinsamen historischen und narrativen Unbewussten, in einem »Wir«. Stellen wir uns also eine andere Schar von Geistern vor, die unser ethisches Unbewusstes bewohnen. Auch wenn intellektuelle Gespenster weiterleben und Probleme verursachen können – denken wir an Descartes und Locke –, so sollten wir doch die historischen, nicht begrabenen Verbrechen betrachten, unsere kollektiven, wenn auch weitgehend unbewussten Gespenster des Siedlerkolonialismus und der Sklaverei in Amerika und insbesondere in den Vereinigten Staaten, die auf Basis des ausdrücklichen Ideals der menschlichen Gleichheit gegründet wurden. Ich wähle ›Kolonialismus‹ und ›Sklaverei‹, weil unsere Gewohnheit, diese Verbrechen – ›Genozide‹, bevor der Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg gebräuchlich wurde – vor uns selbst zu verbergen, auch dafür sorgt, dass wir uns die Auswirkungen des Klimawandels auf Menschen, die außerhalb unseres täglichen Blickfelds leben, nicht bewusst machen.

Die Geschichte Nordamerikas, von der aus ich schreibe, beginnt mit zwei Nationen, England und Frankreich, die um die Herrschaft über ein angeblich menschenleeres Land konkurrierten, gemäß der Doktrin von Terra Nullius, die zuerst von den Spaniern und Portugiesen aufgestellt wurde. Dann kamen die jungen Vereinigten Staaten mit ihrer »Manifest Destiny« und ein sich ausbreitendes Kanada, das die indigenen Völker auslöschte. Es scheint, dass Kanada in letzter Zeit versucht hat, seine »First Nations« viel stärker anzuerkennen als wir in den Vereinigten Staaten, wo wir sie »native Americans« nennen, ohne zu wissen, dass die meisten von ihnen es vorziehen, bei ihren Stammesnamen oder einfach »Indians« genannt zu werden.5 Der Siedlerkolonialismus verwaltet nicht einfach Kolonien, wie es Großbritannien in Indien tat, so arrogant dieser Prozess auch sein mag, sondern er ersetzt die dort lebenden Völker, wie in Australien und Neuseeland, Kanada und dem, was zu den Vereinigten Staaten wurde, als wären die dort lebenden Wesen keine Mitmenschen, deren Leben überhaupt von Bedeutung ist. Judith Butler (Butler, 2005) würde sagen, dass diese Leben als »ungrievable« (nicht-betrauerbar, Anm. K. H.) behandelt wurden. Da wir uns selbst als »Nation der Einwanderer« bezeichnen, nehmen wir ihren Verlust nicht einmal wahr.

Sklaverei (i. O. chattel slavery) bezeichnet das System, insbesondere den afrikanischen Sklavenhandel vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, bei dem der Anspruch erhoben wird, Menschen zu besitzen, zu kaufen und zu verkaufen, zu erben und zur Arbeit zu zwingen – in der Regel mit extremer Gewalt. Andere Formen der Sklaverei, einschließlich derer, die von den Nazis und in den sowjetischen Gulags praktiziert wurden, sowie Formen der Kinderarbeit und der sexuellen Sklaverei – so unsagbar verwerflich sie auch sind und unsagbares menschliches Leid verursachen – stehen hier nicht direkt zur Debatte. Mein Argument ist, dass die Sklaverei, die »besondere Institution«, die die Verfassung der Vereinigten Staaten prägte, dem sklavenhaltenden Süden übermäßige Macht verlieh und uns bis heute verfolgt (Davis, 2006; Blackmon, 2009), unser moralisches Bewusstsein bis zur Unbewusstheit abgestumpft hat. Was wir nicht wissen, wirklich tief und umfassend und persönlich nicht wissen, lehrte uns Freud, werden wir zwangsläufig wiederholen. Zusammen mit der kolonialen Vergangenheit, die wir alle teilen, macht uns diese Geschichte der Sklaverei und ihrer anhaltenden Auswirkungen, über die wir nur selten sprechen, blind für das Elend, das unser kohlenstoff- und methanverschlingender Lebensstil im globalen Süden verursacht. Wir wiederholen.

Für viele von uns wurde diese Geschichte in dem kürzlich erschienenen Film Twelve Years a Slave kurzzeitig real und machte uns bewusst, dass massive Menschenrechtsverletzungen nicht nur anderswo, beispielsweise in Deutschland, Österreich, Chile und Südafrika, stattgefunden haben. Wir in den Vereinigten Staaten leben jeden Tag mit der Geschichte und dem Fortbestehen der Prekarität (Butler 2005), die durch den bewussten und unbewussten Rassismus hervorgerufen wird, mit dem uns Ta-Nehisi Coates jetzt konfrontiert. In einem Brief an seinen Sohn erinnert er uns daran:

»(…) die Versklavung ist kein Gleichnis. Sie ist Verdammnis. Es ist die nicht enden wollende Nacht. Und die Länge dieser Nacht ist der größte Teil unserer Geschichte. Vergiss nie, dass wir in diesem Land länger versklavt waren, als wir frei waren. Vergiss nie, dass 250 Jahre lang Schwarze in Ketten geboren wurden – ganze Generationen, gefolgt von weiteren Generationen, die nichts als Ketten kannten.« (2015, S. 70, Übers. K. H.)

Eigentlich sollten wir darüber nachdenken, ob Europa und Nordamerika, insbesondere wir in den Vereinigten Staaten, an einem Überlegenheitskomplex leiden. Symptome eines solchen »Komplexes« könnten sein:

1)die Annahme, dass wir das Land besitzen, das indigenen Völkern gestohlen wurde, die es gemeinschaftlich bewohnten, nur weil wir es von Leuten gekauft haben, die es vor uns »besaßen«;

2)die Annahme, dass die Art und Weise, wie wir, die wir uns für weiß halten, Dinge tun, die richtige Art und Weise ist;

3)die Annahme, dass andere weltweit Englisch lernen sollten, während wir nicht verpflichtet sind, Spanisch oder andere weit verbreitete Sprachen zu lernen;

4)eine allgemein mangelnde Sensibilität gegenüber unserer eigenen Arroganz und unserem Überlegenheitsgefühl, das leicht in Gewalt gegen diejenigen ausartet, die wir für minderwertig halten;

5)eine Unfähigkeit, uns in die Lage derjenigen hineinzuversetzen, denen wir uns überlegen fühlen, was zu einem Abstumpfen von Empathie und Mitgefühl führt;

6)ein Gefühl, dass die Erde uns, den so genannten Weißen, gehört und dass andere, »sie«, existieren, um unseren wirtschaftlichen Interessen zu dienen: Sie bauen die Mineralien ab, die wir wollen oder brauchen, sie stellen uns billige Kleidung her, sie arbeiten zu Löhnen, die unter der Armutsgrenze liegen, und so weiter.

Dieser Komplex mit seinen eingebetteten Annahmen, die größtenteils unbewusst und unsichtbar sind, bildet ein Netz des Lebens, das bei denen, die ihn tragen, Komfort erzeugt, und bei denen, die wir beherrschen, Tod und Wut hervorruft. Wir wissen nicht, dass wir in unserer basalen Menschlichkeit darunter leiden.

Psychoanalyse und Unaufrichtigkeit (i. O. Double-Mindedness)

Mit Unaufrichtigkeit meine ich jedoch etwas viel Problematischeres als bloßes Leugnen. Unaufrichtig leben wir in zwei Realitäten gleichzeitig. Wir wissen um die Klimakrise und vielleicht sogar, dass sie sich schnell zuspitzt. Aber in einer mentalen Geste, die dem Hochwerfen der Hände gleicht, sagen wir: Das ist eine Nummer zu groß für mich oder für jeden Einzelnen. Nur systemische Veränderungen sind wichtig. Also arbeiten wir weiter mit unseren Patienten und unserer psychoanalytischen Politik, so humanistisch wie wir nur können, während unser gemeinsames Zuhause zu einer brennenden Welt wird (Cushman, 2007). Im Grunde genommen haben wir, wie Freud in den 1930er Jahren und wie die Millionen »einfacher Deutscher« in der von Thomas Kohut und anderen untersuchten Zeit (T. A. Kohut, 2017), den Feueralarm ausgeschaltet. Um dies zu erreichen, haben wir uns, wie wir sehen werden, beigebracht, die am schlimmsten Betroffenen nicht als Menschen wie uns selbst zu sehen, als andere, deren Leiden zählt.

Wir könnten Kapitel, Artikel und Bücher mit der Frage füllen, wie dies geschieht. Es steht uns inzwischen umfangreiche Literatur über verschiedene Arten der Dissoziation (Bromberg, 2006; Chefetz, 2000; Herman, 2009, 2011; Howell und Itzkowitz, 2016) und Freud’scher Verdrängung (Brenner, 1962; Jacobson, 1957; Loewald, 1955; Volkan, 1994) zur Verfügung. Unmittelbar sinnvoller wäre es zu fragen, wie wir, die wir täglich in unseren professionellen Köpfen mit diesen Konzepten leben, uns angesichts einer Krise schneller erheben können, um unser gemeinsames Haus zu schützen. Werden uns unsere Theorien ausreichend helfen – bis jetzt haben sie das sicher nicht getan – oder brauchen wir etwas anderes, um uns aus unserem analytischen Schlummer aufzurütteln? Die Philosophin Judith Butler (2003) schreibt an die Psychoanalytiker adressiert, die sich oft nicht den MINT-Disziplinen (Wissenschaft, Technik, Ingenieurwesen, Mathematik), sondern den Erzählern von Geschichten zurechnen:

»Was bedeutet es aber, wenn die narrative Rekonstruktion eines Lebens nicht das Ziel der Psychoanalyse sein kann und der Grund dafür mit der Art und Weise zu tun hat, in der das Leben des Subjekts verfasst ist? Wenn ein Leben durch eine grundlegende Unterbrechung konstituiert wird, wenn es sogar schon vor jeder Möglichkeit der Kontinuität unterbrochen ist, dann muss auch die narrative Rekonstruktion einer Unterbrechung unterbrochen sein, wenn sie dem Leben nahekommen soll, das sie übermitteln will.« (S. 66)6

Ich vermute, dass wir diese vorherige Unterbrechung des Anderen nicht sehen und nicht spüren können, vor allem weil wir so sehr in die Kulturen eingebettet sind, die das Klimaproblem geschaffen haben. Wie viele bemerkt haben, wuchs Freud intellektuell in der europäischen Kultur der Aufklärung und Romantik auf, die die individuelle Autonomie als höchstes Gut verankerte, und er war dieser Kultur zutiefst verbunden. Wir Psychoanalytiker und die meisten Psychotherapeuten haben seine tiefen Annahmen geerbt, zusammen mit einer gewissen Blindheit gegenüber Bedrohungen für das »Gemeinwohl«. Außerdem hängen wir an diesen alten Kulturen, zum Teil wegen des traumatischen Hintergrunds der zeitgenössischen Psychoanalyse (T. Kohut, 2017; Kuriloff, 2014), der ein verzweifeltes Bedürfnis nach Heimat hervorruft, und so haben wir vielleicht die anderen mittellosen Obdachlosen der Welt, insbesondere der südlichen Hemisphäre, vergessen. Wir brauchen eine Kontext-bezogene Analyse unserer Unaufrichtigkeit und eine radikale Ethik, die uns aus dieser Unaufrichtigkeit herausreißt.

Die Klimascham, eine Form dieser Unaufrichtigkeit, nimmt meiner Meinung nach zwei Hauptformen an, die eng miteinander verknüpft sind:

1) die Angst vor der sichtbaren Verwundbarkeit, die uns gleichgültig gegenüber der Art und dem Ausmaß der Krise macht, und

2) der anhaltende Neid auf diejenigen, die mehr haben, so dass diejenigen, denen wesentliche Bedürfnisse vorenthalten werden, unsichtbar werden. Wir streben nach mehr Platz, größeren Häusern und Autos, mehr Dingen, perfekten Körpern, die nicht zunehmen oder alt erscheinen.

Diese beiden Aspekte der Scham, die miteinander verwoben sind, nähren die Beschäftigung mit uns selbst und lenken uns völlig von den Beschreibungen und Warnungen der besten Klimawissenschaft ab. Der erste Aspekt, die Angst vor Verwundbarkeit, sorgt dafür, dass wir uns selbst schützen und abkapseln, und gefährdet uns Menschen, andere Arten und unser planetarisches Zuhause. Ohne die grundlegende Erfahrung, gehalten und geschätzt zu werden, fehlt uns das emotionale Gefühl der Zugehörigkeit zu anderen Menschen oder überhaupt. So behandeln wir unsere Welt – und damit auch uns selbst – wie Wegwerfartikel. Der zweite, der Neid, versucht, ein Ersatz-Wohlbefinden herzustellen und das verkommene Gefühl der Scham mit Ruhm, Geld und Glamour zu überdecken. Das Gefühl, dass andere mehr haben, vernebelt unseren ethischen Blick, macht uns blind für unsere Verstrickung in Ungerechtigkeit und taub für die Schreie derer, denen wir jeden Tag Schaden zufügen. Noch viel weniger können wir, die wir neidisch auf diejenigen sind, die mehr haben, wahrnehmen, dass wir in der »ersten Welt« als Nutznießer massiver Ungerechtigkeiten leben, die von unseren kolonialistischen Vorfahren an den indigenen »ersten Völkern« in Amerika, Australien, Neuseeland und anderswo begangen wurden, sowie von Wohlstand, der ursprünglich durch Systeme menschlicher Unfreiheit, auch Sklaverei genannt, geschaffen wurde. Damit diese Unbewusstheit verschwindet oder wir moralisch aufwachen, bräuchten wir diese unverzichtbare und schmerzhafte moralische Form der Scham, das Bewusstsein unserer Verwicklung in Systeme des Bösen, um die Scham und den Neid zu ersetzen, die uns im zwanghaften Konsum gefangen halten.

So wie die psychoanalytische Behandlung der Scham den misshandelten Menschen das Gefühl gibt, in die menschliche Gemeinschaft eingebunden zu sein, kann eine psychoanalytische Sensibilität, die für die zersetzenden und isolierenden Auswirkungen der Scham empfänglich ist, uns alle miteinander verbinden. Wir können anfangen zu verstehen, dass unser Wohlergehen vom Wohlergehen der Anderen abhängt (Solidarität, Ubuntu), und die alte Vorstellung vom Gemeinwohl wiederherstellen.

Radikale Ethik und Politik

In Umkehrung aller üblichen ethischen Darstellungen stellt Ethik als Perspektivwechsel die moralische Argumentation auf den Kopf, indem sie vom leidenden Anderen ausgeht, der in mein selbstzufriedenes Leben eindringt (M. Smith, 2011), und nicht von dem vermeintlich moralisch Handelnden. Vom Ego durch eine vorgängige Verantwortung entleert, wird mir vom Hunger des Anderen befohlen. William Edelglass (Edelglass, 2012) liefert ein schlüssiges Argument für das, was ich eine radikale Ethik des Klimawandels nenne:

»Da die Levinas’sche Ethik im leidenden Anderen beginnt und immer wieder zu ihm zurückkehrt, bricht das Leiden derjenigen, deren Leben durch den Klimawandel negativ beeinflusst wird, mit Argumenten, die die individuellen Treibhausgasemissionen rechtfertigen oder deren Vernachlässigung rechtfertigen. Levinas erkennt an, dass wir, wenn wir uns selbst ernähren, Nahrung aufnehmen, die andere ernähren kann.« (ebd., S. 210, Übers. K. H.)

Mit anderen Worten, meine unabweisbare Verantwortung7 für den verletzlichen und leidenden Anderen verschwindet nicht, nur weil ich irgendwo hinfahren oder fliegen muss. Sie wird auch nicht geringer, weil dieser verletzliche Andere auf der südlichen Halbkugel ein karges Dasein fristet und für mich weniger sichtbar ist. Der Philosoph Robert Bernasconi (2010) schreibt:

»Ein hungerndes Kind in einem fernen Land ist nicht mehr unerreichbar für uns. Wenn Globalisierung bedeutet, in einer Welt zu leben, in der die Begriffe fern und nah, Fremder und Nachbar für uns nicht mehr die gleiche Bedeutung haben wie früher, weil jeder jetzt als Teil desselben Kreises anerkannt wird, dann muss der Hunger der am meisten ausgegrenzten Mitglieder der globalen Gesellschaft zu ihrem grundlegenden Bezugspunkt werden.« (ebd., S. 77)

Das prekäre Leben des Anderen (Butler, 2005) stellt mich in Frage, klagt mich an, verfolgt mich. Eine enge Folge dieser endlosen Verantwortung verbindet sie mit dem Politischen.

»Es gibt keinen Platz«, schreibt Bernasconi, »für einen ethischen Diskurs, der nicht auch untrennbar mit der Anerkennung des politischen Kontextes verbunden ist, den zu unterbrechen seine Aufgabe ist.« (Bernasconi, 2006 , S. 256) Er erklärt, dass Erfahrungen der Verfolgung uns mit anderen Versklavten, Verarmten, Obdachlosen in Solidarität verbinden. Wenn man die Tausenden von Familien sieht, die 2015 in Europa Schutz suchten, können diejenigen, die sich an ihr eigenes Leid erinnern, vielleicht besser reagieren. Stattdessen wetteifern wir, ohne die Ursachen des Elends zu kennen, das Kinder und Erwachsene hier in den USA an unsere südliche Grenze bringt, darum, wer die größte und stabilste Mauer gegen sie bauen kann. Die Meisten von uns, wenn sie nicht von Tornados, Wirbelstürmen und Waldbränden betroffen sind, haben keine Erinnerung an diese Art von Leid. Wenn die Leidtragenden uns ähnlich sehen – vielleicht weiß und sogar wohlhabend sind –, beeilen wir uns, ihnen beim Wiederaufbau zu helfen. Aber viele der von Wirbelstürmen wie Katrina heimgesuchten Menschen sind bereits arm und/oder dunkelhäutig, also behandeln wir sie genauso wie Flüchtlinge. Wie kommen wir dazu, sie als unsere Brüder und Schwestern zu sehen? Kann die Erinnerung an unser eigenes Leid oder an Mut und Großzügigkeit in der Vergangenheit uns im richtigen Moment in Bewegung versetzen? Mit den Worten von Merold Westphal: »Das Gewissen muss uns nicht zu Feiglingen machen; es kann uns zu Brüdern und Schwestern machen.« (Westphal, 2008, S. 133, Übers. K. H.)

Diese radikale Ethik der Antwort auf den Anderen bedeutet, dass wir massives politisches Unrecht unterbrechen,8 wenn wir in der Lage sind, es zu sehen. Sie bedeutet, dass das Leiden der Anderen mich verfolgt, mich als Geisel nimmt, einen Ersatz für den Anderen verlangt. Es erfordert Gastfreundschaft gegenüber Menschen, die durch Krieg, Armut und Terror vertrieben wurden. Auch wenn wir ihre Sprache nicht sprechen, können wir ihre verzweifelten Gesichter sehen. Wir müssen uns erinnern. In unserer eigenen Geschichte können wir uns an die stillen Aktivisten erinnern, die an den separierten Mittagstischen saßen, die vorne in den abgetrennten Bussen saßen und gegen die Ungerechtigkeit aufbegehrten. Heute setzen sich indigene Völker in Kanada, den USA und anderswo hin, um die Straßen für Teersandbohrer zu sperren. Aber wir brauchen mehr als »nur die Verfolgten« (Bernasconi, 1995; Levinas, 1998, Orig. 1974), um solidarisch gegen Ungerechtigkeit aufzutreten. Wie finden wir unsere ethischen Wurzeln? Selbst wenn das Foto des ertrunkenen dreijährigen Flüchtlings am Mittelmeerstrand uns für einen Moment innehalten lässt, wie halten wir unsere ethische Vorstellungskraft wach, entschlossen, dass eine Welt, in der manche Leben als entbehrlich angesehen werden, nicht weitergehen kann? Wir brauchen eine Ethik, die aus diesen Extremsituationen erwächst, denn wir stehen jetzt vor einer solchen. Lasst uns diese Worte hören:

»Die Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit nur in einer Gesellschaft, in der zwischen Nahen und Fernen nicht unterschieden wird, in der es aber auch unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen; in der die Gleichheit aller getragen ist von meiner Ungleichheit, durch den Mehrwert meiner Pflichten über meine Rechte. Die Selbstvergessenheit bewegt die Gerechtigkeit.« (Levinas, 1998, S. 347, Orig. 1974).

Darüber hinaus argumentiert der Philosoph J. Aaron Simmons (Simmons, 2012) überzeugend, dass wir uns in einer Situation befinden, die er als »metaethischen Notfall« (ebd., S. 229) bezeichnet, eine Situation, die derjenigen ähnelt, mit der sich Großbritannien 1939 konfrontiert sah, als es über die Frage nachdachte, ob die gewöhnlichen Kriegsgesetze angesichts einer unmittelbaren Bedrohung des gesamten zivilisierten Lebens noch gelten. Die Tatsache, dass wir mit der drohenden Zerstörung einer lebenswerten Welt konfrontiert sind, bedeutet, so Simmons, dass wir keine Zeit für eine nicht-anthropozentrische Ethik haben, die sich gleichermaßen um alle Arten kümmert. Seiner Meinung nach müssen wir den am stärksten gefährdeten Menschen, die unter den Auswirkungen des Klimawandels leiden, sofort Priorität einräumen, wenn wir eine Chance haben wollen, die Art, das Ausmaß und die Schnelligkeit der notwendigen Veränderungen zu befördern. Gewöhnliche Ethik, wie die oben skizzierten Pflicht- und Nutzentheorien, vielleicht sogar einschließlich der Tiefenökologie, gehört zum Alltag. »Im Kontext einer metaethischen Notlage«, schreibt Simmons, »ist keine Zeit, Theorien zu vertreten, die keine ausreichende Chance haben, eine vernünftige öffentliche Reaktion auf die Krise zu motivieren« (ebd., S. 232). Wir müssen unsere derzeitige Situation als eine extreme humanitäre Notlage behandeln, nicht als etwas, das an konkurrierenden Idealen und Philosophien gemessen werden kann. Um es mit den Worten von Simmons zu sagen: Notfälle erfordern eine Art ethische Triage, die er »eine Hierarchie der ethischpolitischen Bedeutung« nennt (ebd., S. 230). William Edelglass (2012) schreibt im gleichen Sinne, dass »Levinas eine Möglichkeit bietet, zu verstehen, wie die moralische Verantwortung des einzelnen Subjekts die Bedingung für die Möglichkeit einer kollektiven Verantwortung ist« (S. 211). Die Reaktion auf das Gesicht der leidenden Schwester und des leidenden Bruders schafft politische Veränderungen durch prophetisches Handeln (Anderson, 2006; Orange, 2016).

Wir bemerken eine fehlende Scham in Kains frecher Antwort: Ich weiß es nicht: Bin ich der Hüter meines Bruders? Ohne Kains mörderische Gewalt zu erwähnen, kommt die Frage: »Wo ist dein Bruder Abel?«, als gnädige Aufforderung zur Reue und Wiedergutmachung zu ihm. Kain lehnt die ihr zugrundeliegende Prämisse der Verantwortung schamlos ab und gibt nicht nur das »Wir wussten nichts von den Vernichtungslagern« vor, sondern auch das »Schickt sie dorthin zurück, wo sie hergekommen sind – das ist unser Land«. Wenn sie nicht klug genug sind, um sich an Öl, Fracking und Kohle zu bereichern, haben sie Pech gehabt. Angesichts solcher Haltungen, die in Europa und Nordamerika weit verbreitet sind, kann nur eine robuste Solidarität, die unsere Antwort auf Kain in die Tat umsetzt, die Probleme der Klimagerechtigkeit lösen. Wir können mit Romantikern, die die Erde und ihre vielen Arten lieben, gemeinsame Sache machen – ich selbst tue das, gebürtig aus Oregon –, aber im Grunde müssen wir uns als Bewahrer des Anderen verstehen.

Wir können uns hier auch an die afrikanische Ethik des Ubuntu erinnern, die von Erzbischof Desmond Tutu gut erklärt wurde:

»Ein Mensch mit Ubuntu ist offen und verfügbar für andere, bejaht andere, fühlt sich nicht bedroht, dadurch, dass andere fähig und gut sind (…) und weiß, dass er oder sie zu einem größeren Ganzen gehört, und dass er oder sie sich herabgesetzt fühlt, wenn andere gedemütigt oder herabgesetzt werden, wenn andere gequält oder unterdrückt werden.« (Tutu, 1999, S. 31)

Schlussfolgerungen

Erstens: Was können wir nicht feststellen? Es ist klar, dass die radikale Ethik, die wir diskutiert haben, weder Psychotherapeuten noch internationalen Politikern helfen kann, den besten Weg zur Klimagerechtigkeit zu finden: »Gleiche Pro-Kopf-Ansprüche, Recht auf Subsistenzemissionen, Vorrang für die am wenigsten Wohlhabenden oder Ausgleich der Grenzkosten.« (Edelglass, 2012, S. 227; Gardiner, 2011) Auch sagt uns die radikale Ethik nicht, wie wir die scheinbar unbeweglichen Kräfte der Macht und des Geldes, die sich gegen Klimagerechtigkeit stellen, bewegen können. Dieselben Machtsysteme verbieten es uns, den Klimawandel und seine Auswirkungen mit sozialer Gerechtigkeit in Verbindung zu bringen. Um unseren Weg zu finden, müssen wir uns an der Weisheit derer orientieren, die die Apartheid überwunden, die Bürgerrechtsbewegung organisiert und schließlich den Vietnamkrieg beendet haben, sowie an unseren Partnern in den indigenen Gemeinschaften, die von der Klimazerstörung so stark betroffen sind. Die radikale Ethik gibt keine Regeln, Strategien, politischen Philosophien und Strukturen vor. Stattdessen konfrontiert sie jeden von uns mit unserer Verantwortung, ohne Anfang und ohne Ende, unausweichlich, für unsere Welt und füreinander.

Radikale Ethik bedeutet, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher, selbstzufrieden, dass wir unser Bestes tun, und nicht unsere persönliche Verantwortung auf das »System« abwälzen (Edelglass, 2012). Die verängstigten Gesichter der mittellosen Flüchtlinge, derer, deren Heimat in eine Wüste verwandelt wird oder die von Gewalt bedroht im Meer versinken, verbieten mir einen ruhigen Schlaf und fordern mich auf zu reagieren. Jeden Tag muss ich zulassen, dass sie mich verfolgen, dass sie mich aus meinem bequemen Leben herausreißen, um mich nicht gleichgültig werden zu lassen. Für jeden von uns wird die Antwort eine andere Form annehmen, je nachdem, wie und wo wir das sinnlose Leid sehen und die Schreie hören, und je nachdem, was unsere eigene Gesundheit zulässt.

Und doch beginnt eine radikale Ethik nie und endet nie. Das Gesicht des leidenden Anderen verlangt von mir eine Antwort, bevor überhaupt eine Vereinbarung getroffen wurde (ja, ich bin der Hüter meines Anderen), und diese Verantwortung geht weiter. »Ich mehr als alle anderen«, wie Dostojewski und Levinas immer wieder schreiben. In der extremen Situation, in der wir uns wieder einmal befinden, kann uns vielleicht nur die Ethik der hyperbolischen Verantwortung aus unserer Selbstgefälligkeit herausrütteln. Wenn nicht, um unsere eigene Haut zu retten, immerhin angenehm genug, bin ich nicht der Hüter meiner Schwester und meines Bruders?

Und was, wenn wir bereits zu lange gezögert haben? Wenn ich Greta Thunberg zuschaue – ich empfehle ihren TED-Vortrag auf youtube –, möchte ich glauben, dass wir alle aufwachen und reagieren können. Aber wenn man sich Paradise, Kalifornien, Mosambik und den Missouri River ansieht, wer weiß? Ist es an der Zeit, zu trauern, die Verantwortung für die ethisch unbewusste Lebensweise unserer Generation zu übernehmen – immerhin ist die Hälfte der Treibhausgase in unserer Atmosphäre und in den Ozeanen in den letzten 25 Jahren entstanden? Ziehen wir uns in höhere Gefilde zurück und überlassen die Armen dem Ertrinken und Verhungern? Wie sühnen wir, um es mit den Worten von Hans Loewald zu sagen, nicht nur für den Elternmord, sondern auch für den Kindsmord und den Brudermord? Wie können wir in der uns verbleibenden Zeit so menschlich wie möglich leben?

Vielen Dank, dass Sie sich solche dunklen Fragen anhören.

Dieser Vortrag wurde am 18. Januar 2019 in Santa Barbara (CA) gehalten.

Übersetzung aus dem Amerikanischen:

Markus Fellner & Kathrin Hörter

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