Das undenkbare Universum: Meister Eckhart und die Erfindung des Jetzt - Thomas Hohn - E-Book

Das undenkbare Universum: Meister Eckhart und die Erfindung des Jetzt E-Book

Thomas Hohn

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Beschreibung

Ein Mönch, der auszog, die Welt zu verändern Europa im Spätmittelalter: Andersdenkende werden verfolgt, es gibt blutige Auseinandersetzungen. Ein junger Mann, der als "Meister Eckhart" in die Geschichte eingehen wird, wagt ein kühnes und ungeheuerliches Abenteuer: Er sucht die Erkenntnis, will mehr Wissen als erlaubt ist. Doch seine Widersacher wollen ihn stoppen, mit Intrigen, Verleumdung und der Macht der Inquisition … Noch Jahrhunderte später inspiriert Meister Eckhart Menschen auf der ganzen Welt. Thomas Hohn lässt in diesem packenden Mittelalter-Thriller den Philosophen und Mystiker lebendig werden und erzählt eine mitreißende und berührende Geschichte über Liebe, Verlust und Genialität.

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Thomas Hohn

Dasundenkbare

Universum

Meister Eckhartund die Erfindung des Jetzt

Historischer Roman

Hohn, Thomas: Das undenkbare Universum. Meister Eckhart und die Erfindung des Jetzt, Hamburg, acabus ­Verlag 2022

Originalausgabe

EPUB-ISBN: 978-3-86282-823-4

PDF-ISBN: 978-3-86282-822-7

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN: 978-3-86282-821-0

Lektorat: Michael Haitel

Korrektorat: Lilly Pia Seidel, acabus Verlag

Satz: Katharina Breu, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Umschlagmotiv: Sonne © LollaDesign/stock.adobe.com;

Sterne © designed by freepik.com; Hintergrund © pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2022

1. Auflage 2022, acabus Verlag Hamburg

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Inhalt

„Köln, Sommer 1326“

„Erfurt, Frühjahr 1272“

„Ende März, 1274“

„Herbst 1276“

„Frühjahr 1277“

„Frühjahr 1280“

„Trier, Frühjahr 1281“

„Frühjahr 1283“

„September 1293“

„Februar 1298“

„Pfingsten 1303“

„Sommer 1303“

„Anfang März 1304“

„Frühjahr 1305“

„Frühjahr 1306“

„Mai 1310“

„Juli 1311“

„Sommer 1313“

„Dezember 1325“

„Frühjahr 1326“

„26. September 1326“

„Januar 1327“

„Sommer 1327“

„Der Autor“

Köln, Sommer 1326

Hastig kratzte der Gänsekiel über das Pergament. Eile war geboten. Immer wieder warf er einen nervösen Blick zur Tür, während er seine Worte auf das Pergament bannte.

Sie würden gleich da sein. Es gab kein Entkommen. Nicht für ihn. Wütend ballte er seine Faust. Wie konnten sie es wagen?

Vielleicht gelang dieser Schrift die Flucht, vermochten diese Buchstaben Weisheit und Licht in die Dunkelheit zu tragen, wenn er es nicht mehr vermochte.

Unten im Haus polterte es. Erschrocken hielt er inne, lauschte.

Es blieb still.

Nichts.

Schnell schrieb er weiter, fügte Buchstaben zu Wörtern, Wörter zu Sätzen, wob seine Gedanken in sie hinein. Sie waren Melodien, die in seinem inneren Universum Form annahmen, wie eine leise Musik, die aus dem Nichts in ihn hineinfiel. Selbst jetzt, trotz all seiner Angst, spürte er das Wunder.

Schritte. Rasche, schwere Schritte.

Hatten sie es so eilig, ihn zu holen? Wenn er es nur rechtzeitig schaffen könnte. Verzweifelt schaute er auf das Geschriebene. Er war fast fertig. Mit zittriger Hand nahm er noch einmal das Tintenhörnchen aus der vorgesehenen Pultfassung und tauchte den Kiel in das rußige Nass.

Krachen. Die Tür zu seiner Zelle flog auf.

Erschrocken von der Wucht des Eindringens glitt ihm die Tinte aus den Händen. Das Schwarz ergoss sich über den Boden, glänzte wie eine sternenlose Nacht. Eckhart starrte zur Tür.

Aber es waren nicht die erwarteten Häscher, nicht die Boten des Todes und der Unwissenheit. Goswin, der Gute, stand im Rahmen. Atemlos. Der große, überaus korpulente Mann füllte den gesamten Türrahmen, sein Gesicht war puterrot.

»Ihr habt mich gerufen, Magister«, stieß er hervor. »Das wäre allerdings kaum nötig gewesen, die Stadt ist wegen Euch in Aufruhr. Ich bin so schnell gekommen, wie es mir möglich war.«

»Dank dir für dein eiliges Kommen. Einen kurzen Moment noch, bitte.«

Meister Eckhart setzte die Feder erneut an, diesen letzten Satz wollte er noch vollenden, dann musste es reichen.

»Sie sind schon unterwegs, Magister, ich habe sie gesehen, wie sie am Bischofspalast aufgebrochen sind. Sie werden jeden Augenblick hier sein.« Sorge stand in Goswins rundem Gesicht.

Meister Eckhart schnaubte. Der Bischofspalast. Der Palast war seines Namens nicht wert. Dort wohnte kein Erzbischof. Die Kölner hatten ihre Erzbischöfe in einem Streit vor etwa vierzig Jahren kurzerhand vor die Tür und damit vor die Stadttore gesetzt. Sie residierten seitdem im südlichen Umland von Köln.

Doch ein Erzbischof blieb ein Erzbischof, das galt auch in Köln und so hatte dieser immer noch weitreichende Befugnisse innerhalb dieser Mauern. Leider. Über klerikale Fragen saß man in dem »Saal« zusammen, wie die Kölner das Innere des verwaisten Bischofspalastes nannten. Auch in Fragen der Häresie. Nicht wenige ereilte an diesem Ort das Todesurteil. Seine Zelle im Studium generale der Stolkgasse war nur ein Katzensprung von dem »Saal« entfernt. Keine Frage, sie würden jeden Moment hier sein. Eckhart konzentrierte sich auf sein Schreiben.

Sei ledig aller Angst. Habe allezeit acht auf dich und deinen Sinn, soweit es nur möglich ist.

Herr Gott, du seiest gelobt ewiglich. Amen.

Wie weit war er in diesen Momenten von dem entfernt, was er selbst lehrte. Er seufzte, trocknete die frische Schrift mit etwas Sand und blies die Körner vom Pergament. Ein Sonnenstrahl fand seinen Weg in die Zelle, ließ den Sand kurz aufblitzen, ein Schauspiel, das sogleich wieder erlosch. Es blieben einzelne Sandkörner, die sich über den Boden ausbreiteten. Würde auch sein Wirken im Staub der Geschichte verschwinden?

Er gab sich einen Ruck. Jetzt war keine Zeit für Sentimentalitäten. Hastig raffte er die losen Pergamente zusammen.

»Hier, guter Goswin. Schaffe sie fort, schnell. Der werte Herr Tauler wird wissen, wie es zu verbergen ist.« Mehr zu sich selbst murmelte er: »Hoffe ich zumindest.«

Von unten waren aufgeregte Stimmen zu hören. Sie waren da. Daran gab es keinen Zweifel mehr.

»Schnell, Goswin. Hinten raus!«

Goswin konnte zwar weder lesen noch schreiben, aber er hatte schon oft bewiesen, dass er der Richtige für solche Aufgaben war. Mit einem Sprung war er bei der zweiten Tür und rannte mit einer Behändigkeit die Hintertreppe hinunter, die bei seinem Gewicht niemand vermutet hätte.

Eckhart atmete durch und stützte sich auf das hohe Schreibpult. Er konnte nur hoffen und beten, dass sie niemanden an der Hintertür postiert hatten und Goswin mit den Schriften entkommen konnte. Er schüttelte seinen Kopf. In was war er da bloß hineingeraten?

Sein alter Lehrmeister in Erfurt hatte einst gesagt: »Ein Gedanke langt aus, die ganze Welt zu verändern.« In diesem Fall wehrte sich die Welt allerdings gegen die Veränderung, und zwar mit Krallen und Klauen. Es klopfte an der offenen Tür.

Die heilige Inquisition war da.

Erfurt, Frühjahr 1272

Das Leben ist ein beständiges Geheimnis. Wir leben es so dahin, atmen, lachen, weinen, tanzen und lieben, und wie selten sind wir uns bewusst, dass wir ein Wunder erleben. Von Zeit zu Zeit streift uns ein Gedanke, so fein wie ein Schmetterlingshauch, und trägt uns das Geheimnis dieses Wunders offen ans Tageslicht. Wenn ein solcher Gedanke erst einmal einen Menschen berührt, dieser in seinem Bewusstsein erdacht und erfühlt wird, dann ist er in der Lage, die ganze Welt zu verändern. Keiner weiß, woher diese Gedanken kommen und wohin sie gehen. Sie begegnen uns von Zeit zu Zeit, sind aber scheuen Geistern gleich und lassen sich nur schwerlich finden. Sie sind wie Schätze, die sich verbergen, umso mehr wir uns aufmachen, nach ihnen zu suchen.

Einst war ein junger Mann auf der Suche nach genau solch einem Gedanken. Sein Name war Eckhart. Als er damals, gerade zwölf Jahre alt, vor dem Klostertor in Erfurt stand, die starke Hand seines Vaters auf den Schultern, ahnte er von alledem noch nichts.

Es hatte gerade zu regnen begonnen. Dicke Tropfen fielen aus der Wolkendecke und tanzten auf der Straße. Der Wind pfiff durch die Gassen und zerrte an ihren Überhängen aus Wolle. Eckharts Vater klopfte noch einmal gegen die große Eichentür, die in der Mauer eingelassen war. Auf dem nassen Holz war das Bild eines Hundes zu erkennen, der eine Fackel im Maul trug – das Zeichen der Dominikaner. Eckharts Beine schlotterten und er wäre am liebsten geflohen, flinker als ein gejagtes Wiesel. Zurück über den Platz mit den beiden mächtigen Kirchen Sankt Severi und Sankt Marien, weiter am Petersberg entlang zum Lauentor, hinaus auf die Via Regia, die Königsstraße.

Von dort waren sie gekommen.

Noch am Morgen hatte alles anders ausgesehen. Sein Heimatort lag einen strammen Tagesmarsch entfernt von der wachsenden Stadt, die Eckhart so verheißungsvoll erschienen war, ein wahrhaftiges Zentrum der Bildung und des Wissens. Sie hatten den ganzen Weg über die bedeutsame Handelstrasse zurückgelegt, Eckhart hatte die wogenden Färberwaidfelder bewundert, die sich in einem leuchtenden Gelb von dem stahlblauen Regenhimmel abhoben. Wie ein Wellenmeer verneigten sich die Sträucher unter dem aufkommenden Wind, ein Wind, der den Duft nach Regen bereits mit sich trug. Sein Vater hatte ihm noch erklärt, dass diese unscheinbare Pflanze, welche die Gelehrten Isatis tinctoria nannten, ein wundervolles Indigoblau zaubern konnte und den Wohlstand der Stadt Erfurt mitbegründete. Und dann hatte er die eindrucksvolle Stadtmauer mit den wehrhaften Türmen gesehen, die Hütten, Häuser und Kirchen, die sich bereits vor den Stadtmauern ausbreiteten. Dass sein Vater meinte, Erfurt floriere derart, dass sie bald eine neue Stadtmauer ziehen müssten, hatte er kaum noch gehört. Er war zu nervös gewesen. Zum ersten Mal waren ihm Zweifel gekommen. Wollte er tatsächlich weg von zu Hause? Für immer? Sie waren an der eingerüsteten Severikirche vorbei gekommen, die gerade renoviert und ausgebessert wurde. Spätestens hier war ihm ernsthaft übel geworden.

Nun stand er hier. Vor der Klosterpforte. Nein. Doch lieber nicht. Er wollte nicht mehr hinter diese Tür. Nicht in dieses Kloster. Nicht weg von dem vertrauten Feuer und Heim. Es hatte sich am Anfang so gut angehört. Richtig Lesen und Schreiben lernen, Bücher studieren und ferne Welten erforschen. Und Antworten finden. Wie oft war er mit seinem beharrlichen Nachfragen an den Punkt gekommen, dass seine Familie die Augen verdrehte, resigniert aufgab. Es gäbe Dinge, die müsse er einfach glauben. So hieß es.

Glauben. Als ob das eine Antwort wäre. Er wollte Gewissheit.

Gewissheit auf die Frage nach dem Warum. Es musste doch eine Antwort geben, die erklärte, warum wir lebten. Was war der Sinn hinter allem? Er mochte jung sein, zugegeben. Doch diese Frage brannte in ihm, seitdem er denken konnte, und wurde unbeantwortet immer mehr zu einer glühenden Eisenkugel in seinem Inneren. Er konnte sie nicht ignorieren oder ausspucken. Er wollte die Antwort wissen. Er musste. Unbedingt. Es war wichtiger als der nächste Atemzug.

Hier vor dem Klostertor des Dominikanerordens in der großen Stadt Erfurt war er sich allerdings mit einem Mal sicher. Diese Antworten konnte er auch zu Hause finden. Wenn er ins Kloster ginge, wann würde er dann seine Familie wiedersehen, wann die Wärme der mütterlichen Umarmung fühlen, wann die vertrauten Gerüche von Heu und Pferden atmen?

Doch es war zu spät.

Innen bewegte sich bereits etwas. Ein Sichtfenster in dem Tor öffnete sich mit einem jämmerlichen Quietschen. Eckhart sah nicht viel mehr als eine übergroße Nase und zwei mürrische Augen. Das war kein Mönch, das war ein Raubvogel.

»Was ist Euer Begehr?«, schnarrte es.

»Ich bin Ritter von Hochheim«, erwiderte sein Vater befehlsgewohnt. »Lasst uns ein, wir werden erwartet.«

Sein Vater war ein stattlicher Mann, Vogt und Ritter. Er hatte sich seinen Titel hart erarbeitet und ein Gut zu verwalten. Warten, das wusste Eckhart nur zu gut, war er nicht gewohnt und die Tagesreise war schon anstrengend genug gewesen.

Murrend bewegte sich der Mönch. Kurz darauf öffnete sich die Tür.

»Aus Hochheim, sagt Ihr? Kommt herein«, grunzte Falkennase, wie Eckhart den mürrischen Mönch im Stillen taufte. »Prior Ulrich erwartet Euch bereits.«

Der Mönch führte sie über den Innenhof auf einen klobigen Komplex zu, der den Konvent bildete. Zur Linken erhob sich die Predigerkirche, hoch und majestätisch ragte sie in den grauen Himmel, rechts war eine Mauer, hinter der einer der Seitenarme der Gera, der Breitstrom, floss.

Sie betraten das Gebäude durch einen Seiteneingang nahe der Kirche. Kurz darauf saßen sie bereits in der warmen Amtsstube des Priors.

Prior Ulrich stellte sich als ein ruhiger Mann heraus. Die Formalitäten waren schnell geklärt und der Prior widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem jungen Eckhart.

Es war nicht unüblich, dass Kinder an ein Kloster überstellt wurden, doch Eckhart wusste, dass bei ihm der Fall anders lag. Er hatte selbst darum gebeten, als Novize aufgenommen zu werden. Anwärter wurden aus gutem Grund frühestens mit fünfzehn Jahren angenommen und selbst das war früh. Nicht, dass sein Vater nicht versucht hätte, ihn bei einem befreundeten Rittergut in die Zucht zu geben. Eckhart schauderte immer noch bei den Erinnerungen daran. Die ritterliche Ausbildung hatte Eckhart nicht gelegen. Gar nicht.

Da er noch zwei ältere Brüder hatte, war er nicht in der familiären Pflicht. Doch er war erst zwölf, eine Lebensentscheidung von solcher Tragweite wie die, sein Leben hinter Klostermauern zu verbringen, das wog schwer.

Und hier stand er nun. Ihm war mulmig. Er spürte die Blicke des Priors auf sich ruhen, prüfend. Tiefgenau schauten die Augen in ihn hinein.

»Warum willst du zu uns kommen?« Der Stimme des Priors lag etwas Beruhigendes inne, ohne dass er hätte sagen können, worin sich dieses begründete. Der Prior wirkte wohlwollend, nicht so kratzbürstig wie die Falkennase. Doch war er auf eine faszinierende Weise wach, nichts schien seiner Aufmerksamkeit zu entgehen.

»Nun? Warum willst du zu uns kommen?«, wiederholte der Prior.

Was antwortete man auf so was? Seine Hände waren schweißnass.

»Ich … ich will wissen, wer Gott ist!«, stotterte Eckhart.

Sein Vater gab ihm einen Klaps.

»Er meint natürlich, er will Gott dienen«, korrigierte sein Vater.

Der Prior ignorierte die väterliche Aussage und Eckhart hatte das Gefühl, dass sich ein gewisses Amüsement auf dem Antlitz des Priors ausbreitete.

»Wer Gott ist …«, wiederholte der Prior leise. »Was für ein gewagtes Unterfangen.« Er machte eine kurze Pause, in der er seine Worte mit Bedacht zu wählen schien, bevor er fortfuhr. »Nun. Unser Verstand ist ein Geschenk des Göttlichen und wissen zu wollen, führt zu einem Abenteuer, das niemals endet. Du wirst eine Weile bei uns leben und arbeiten, als Laienbruder. Wenn du dann willst, wirst du als Novize, später mit der Priesterweihe als vollwertiges Mitglied unserer Gemeinschaft aufgenommen. Wir werden uns gegenseitig prüfen, einverstanden?«

Eckhart nickte.

Zu seinem Vater gewandt fügte der Prior hinzu: »Vielen Dank, Ritter von Hochheim. Wir wissen das Vertrauen zu schätzen. Wir werden ihren Jungen gut aufnehmen. Dank auch für die reiche Spende, sie wird der Samen für eine beachtliche Ernte sein, da bin ich mir gewiss.«

Wieder draußen auf dem Flur war der Abschied von seinem Vater kurz.

»Ich werde in einem Gasthof einkehren«, sagte er zu Eckhart. »Morgen steht noch ein Termin mit Baruch von Eisenach an.«

Er wusste, dass sein Vater oft Geschäfte mit der hiesigen jüdischen Gemeinde machte. Hier in Erfurt lebten die Juden Tür an Tür mit den christlichen Bürgern, eine prächtige Synagoge zierte die Stadt und es gab sogar eine Mikwe, ein rituelles Bad, mit lebendigem, also fließendem Wasser. Sein Vater hatte großen Respekt vor dem Wissen der Juden und bewunderte ihre kaufmännische Kraft.

»Falls du es dir doch noch überlegst, weißt du, wo du mich findest.«

Ein letztes Mal umarmte Eckhart ihn, roch den herben Duft und ließ sich von seiner Wärme umhüllen.

Dann war da nur noch Kälte, Leere und Fremde. Ohne sich umzudrehen, schritt sein Vater über den Hof und verschwand jenseits der Pforte. Falkennase stand mit einem Mal hinter ihm und packte ihn an der Schulter.

»Los, steh nicht so rum. Ich zeig dir, wo dein Schlafplatz sein wird und danach hilfst du beim Tischdecken.«

Auf dem Weg über den Hof klärte Falkennase ihn darüber auf, wie sein Tag verlaufen würde. Mit Sonnenaufgang aufstehen. Gebet. Arbeit. Gebet. Arbeit. Essen. Arbeit. Gebet. Arbeit, schlafen gehen, nachts noch einmal zur Matutin aus dem Bett und beten, und morgens, vor dem ersten Sonnenstrahl, wieder Gebet. Zumindest kam es Eckhart beim ersten Hören so vor. Falkennase sprach von großen und kleinen Stunden, den Horen, von Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet. Wer sollte sich das alles merken?

Er führte ihn durch einen anderen Eingang des Ostflügels in einen dunklen Flur, öffnete eine Tür nach rechts und schob ihn hi­nein. Eckhart stolperte hinein; was er dann sah, verschlug ihm die Sprache.

Bei allem was heilig war, damit hatte er nicht gerechnet.

Vor ihm lag ein großer Raum mit ordentlichen Strohlagern und gefalteten Wolldecken. Sein Blick glitt jedoch wie von selbst in die Höhe, eine Höhe, die nicht enden wollte. Eckharts Mund klappte auf. Weit über ihnen schwebte die Decke wie ein gebogener Himmel aus Holz, ein kunstvolles Tonnengewölbe überdachte den Raum, schenkte Weite und Leichtigkeit. Gerüste und Seile zeigten, dass an diesem majestätischen Dach noch gebaut wurde. Auch Falkennase schaute nach oben.

»Wegen dieses blöden Daches schlafen wir hier auf juckenden Sägespänen«, brummte er mürrisch und stieß Eckhart rüde in den Rücken. »Halt dein Maul nicht offen.«

Sein Mund klappte zu und Falkennase zeigte auf ein Strohlager in der hintersten Ecke des Dormitoriums. »Du schläfst dahinten, klar?«

Eckhart nickte, was sollte er auch sagen?

»Das Abendgebet hast du gerade verpasst, also gibt es gleich Essen.« Sprach es, drehte sich abrupt um und lief wieder aus dem Dormitorium hinaus.

»Los, los, willst du Wurzeln schlagen?«, rief Falkennase von draußen.

Er beeilte sich, ihm zu folgen.

»Während des Essens wird nicht gesprochen, keinen Mucks, haben wir uns verstanden? Ein Vorleser wird eine Stelle aus den Heiligen Schriften verlesen, du wirst schweigen und zuhören. Nach dem Essen machst du den Abwasch, kapiert?«

Das konnte ja heiter werden. Vielleicht war er doch nicht in einem Kloster, sondern an einem besonders bizarren Vorort der Hölle gelandet. Immerhin schien der Prior ein Lichtblick zu sein.

Eckhart folgte Falkennase durch einen langen Flur in den Speisesaal, das Refektorium. Als er eintrat, weiteten sich seine Augen erneut. Er hatte nicht ansatzweise geahnt, wie die Mönche hausten.

Er hatte einen Saal mit kalten Wänden erwartet, weiß getüncht und nass. Das Bild, das sich ihm jedoch bot, wäre Königen würdig gewesen. Das Refektorium hatte ein Kreuzrippengewölbe, das von vier Pfeilern ausstrahlte. Hochmodern, im neuen gotischen Stil gehalten gingen die bemalten Verstrebungen von den Pfeilern ab. An der einen Seite stand ein Lesepult, in der Mitte des Raumes standen Bänke vor einfachen Holztischen.

Doch Falkennase ließ ihm keine Zeit zum langen Staunen und schob ihn durch den Saal auf eine weitere Tür zu.

Die Klosterküche. Hier drinnen werkelte ein dickbäuchiger Mönch, ein Feuer in der Mitte des Raumes qualmte mächtig und eine Suppe kochte in einem großen Topf.

»Ah, der Neue? Komm herein, herein. Ich bin Bruder Helwig. Mensch, du bist ja noch ganz klamm, bist du in den Regen gekommen?« Der wohlgenährte Koch schob sich durch den Raum. »Ich übernehme ihn hier«, sagte Bruder Helwig zu Falkennase. Dieser nickte knapp und eilte dann offensichtlich dankbar von dannen. Erst jetzt fiel Eckhart auf, dass sich Falkennase gar nicht vorgestellt hatte.

»Hier, Junge«, sagte Bruder Helwig, »stell dich an das Feuer und wärme dich erst einmal. Hast du auch einen Namen?«

»Eckhart«, antwortete er zaghaft.

»Na, willkommen in unserer Familie, junger Mann.«

Während Eckhart sich am Feuer wärmen durfte, deckte Bruder Helwig routiniert in Windeseile den Tisch.

»Und? Ist dir bereits etwas wärmer?«

Eckhart nickte scheu.

»Keine Sorge, du bist hier an einem guten Ort. Hier beißt dich niemand. Komm, lass uns reingehen.«

Der Mönch führte ihn in den Speisesaal zurück, den er bereits durchquert hatte. Mönche strömten in den Saal, die meisten in weiße Gewänder gekleidet. Bruder Helwig zeigte ihm einen Platz an der Tafel und zwinkerte ihm ermutigend zu.

Ein Mönch nach dem nächsten setzte sich, die meisten konzentriert, alle schweigend.

Das Essen verlief, wie Falkennase es erklärt hatte. Für Eckhart war dies die erste Gelegenheit, die Gemeinschaft zu mustern. Es waren über dreißig Mönche und Novizen, die hier lebten. Während er hungrig seine Suppe löffelte, schaute er sich verstohlen um. Er sah in alte und junge, gemütliche und auch verbitterte Gesichter. Ein Mönch, gebeugt von Alter und Zeit, lugte mit seinen großen, blassblauen Augen kaum über die Tischkante, während seine wenigen, verbliebenen Haare wild und grau wie die geisterhafte Andeutung von Ruinen in die Höhe ragten. Seine Augen trugen ein naives und neugieriges Staunen in sich, doch offenbar war er in Unkenntnis, was er mit Löffel und Suppe anfangen sollte.

Bruder Helwigs gesundes, rotes Sonnengesicht war dazu ein erheblicher Kontrast. Mit einer solchen Lust gab er sich dem Essen hin, dass es einem bang um die Schale werden konnte, die er gleich mit zu verschlingen drohte.

Der Prior saß vor Kopf, Löwe und Berg zugleich, majestätisch und still, groß und doch ohne Aufheben um seine Person. Er war Ruhe und Kraft in einem, das Zentrum des Universums, so schien es Eckhart. Wie machte er das? Diese ungewöhnliche Ruhe, kam sie daher, dass er die Antworten auf die Fragen dieser Welt wusste? Sah so ein Heiliger aus?

Aber er war so kraftvoll, irdisch. Ganz und gar nicht verklärt. Er wirkte auch nicht wie ein Lehrmeister, es fehlte ihm die Strenge und Härte. Und doch war er die unbestrittene Autorität in diesen Mauern und vermutlich weit darüber hinaus.

In Eckharts Blickrichtung schob sich der Kopf eines jungen Novizen. Er wusste später nicht zu benennen, was ihm als Erstes aufgefallen war. Die arroganten Augen, die schmal zusammengepressten Lippen oder die blasierte Art, wie er sich bewegte. Der Junge war vielleicht zwei oder drei Jahre älter als er und trug so viel Verachtung zur Schau, dass Eckhart sich rasch duckte und wieder seinem Essen zuwandte.

Als nach dem Essen alle aufstanden, ihre Schüsseln Richtung Küche brachten, blieb genau dieser Junge bei ihm stehen. Abschätzig schaute er ihn an, musterte ihn von oben bis unten und neigte sich dann zu ihm. »Dein Gesicht gefällt mir nicht«, flüsterte er und ging weiter, als wäre nichts geschehen.

Eckhart blieb verstört zurück.

Das fing ja gut an.

Für diesen Abend war er von weiteren Aufgaben befreit, er solle sich lediglich vor der Komplet im Kapitelsaal einfinden, der Prior wolle ihn dort offiziell begrüßen. Er sollte von einem Bruder Rudger abgeholt werden.

Da er nicht so recht wusste, was er mit seiner Zeit anfangen sollte und er auch weder Falkennase noch dem seltsamen Jungen begegnen wollte, half Eckhart an dem Ort, der ihm am sichersten erschien: in der Küche. Beim Geschirrwaschen erfuhr Eckhart, dass Bruder Rudger niemand anderes als die Falkennase war. Bruder Helwig erzählte und erzählte, von dem Wortschwall, der ihn warm umströmte, blieb nichts weiter haften als das für ihn gerade so wichtige Gefühl von Sicherheit.

Bis Falkennase in der Tür stand und ihn wortlos aufforderte, mit ihm zu kommen. Bruder Helwig seufzte leicht.

»Bis gleich, Eckhart! Wir sehen uns ja …«, hörte er noch, als er eilig Falkennase hinterherlief und ihm folgte, durch neue Gänge in den Bauch des Konvents. Es wirkte innen viel größer und unübersichtlicher, als es von außen den Anschein gemacht hatte.

Das Kloster war relativ jung. Erst vor sechzig Jahren waren die Dominikaner hier nach Erfurt gekommen und der Konvent wuchs beständig. Eckhart konnte sehen, wie an vielen Stellen noch weiter ausgebaut und renoviert wurde.

Endlich waren sie da, im Kapitelsaal. Der war mindestens genauso beeindruckend wie der Speisesaal. Er konnte sich an der filigranen und kunstvollen Architektur gar nicht sattsehen. Links und rechts waren Bänke und an der Kopfseite ein Lesepult. Dort stand bereits der Prior, und als Eckhart eintrat, nickte er ihm zu. Falkennase wies ihm einen Platz in der hinteren Reihe zu, während der Saal sich füllte.

Als Eckharts Blick noch über die Bögen glitt, die kraftvollen, roten Farben aufsaugte und die kunstvollen Formen ihn verzauberten, begann die Sitzung. Eckhart lauschte. Der Prior widmete sich zunächst einigen formalen Verwaltungsdingen, die das Kloster betrafen, fragte nach, wie die Ausbauarbeiten am Tonnengewölbe vorangingen und ob weitere Unterstützung nötig sei. Die Sitzung verging wie im Fluge und doch zappelte Eckhart aufgeregt.

Wann wäre er dran? Wann würde sein Name fallen? Als der Prior ihn aufrief, pulsierte sein Blut bis in die Ohren, alle Blicke folgten ihm, als er aufstand. Seine Knie waren butterweich, als er nach vorne ging und sich neben den Prior stellte. Hoffentlich sah niemand, dass sie zitterten.

»Ich darf euch Eckhart aus Hochheim vorstellen. Er ist heute angekommen, ihr habt ihn ja bereits beim Abendessen gesehen. Er wird unsere kleine Gemeinschaft bereichern und, wenn Gott will, wird er ins Noviziat eintreten.« Der Prior hielt kurz inne.

»Das gilt es für uns alle zu prüfen. Denn unsere Gemeinschaft bedarf intelligenter junger Menschen. Zudem sind wir hier wie auf einer Insel aufeinander angewiesen. Jeder ist für den Einzelnen, der Einzelne für jeden da.«

Väterlich legte er seine Hand auf Eckharts Schultern, das Zittern in den Beinen ließ etwas nach.

»Hier in unserer Gemeinschaft gibt es kein Höher oder Niedriger, ein jeder, der die Profess, das Ordensgelübde, abgelegt hat, hat eine Stimme, die gehört wird. Auch ein Prior ist von der Gemeinschaft gewählt, hat ihr zu dienen und sie zu vertreten. Wir sind eins und doch sind wir alle natürlich sehr verschieden. Wenn wir so wollen, sind wir eine Familie.« Er ließ seinen Blick in die Runde schweifen. »Sicher nicht die einfachste.«

Ein humorvolles Lachen breitete sich aus.

»Aber wir halten zusammen. Wir freuen uns sehr über dein Kommen. Mögest du hier dein Wissen vermehren und das Göttliche in dem Alltäglichen finden und unsere Gemeinschaft mit deinem Herz bereichern. Herzlich willkommen, junger Eckhart.«

Ein wohlwollendes Gemurmel wogte wie eine warme Welle durch den Saal. Vielleicht bin ich doch nicht in einem Vorhof der Hölle, dachte Eckhart.

Der Prior stellte ihm jeden Einzelnen mit Namen vor, aber es waren einfach zu viele und zum Schluss hatte er sich keinen merken können. Nur der Namen des blasierten Jungen war ihm hängen geblieben: Andreas. Andreas hatte nur knapp genickt, als der Prior ihn aufrief, mit zusammengekniffenen Lippen und Augen. Die anderen wirkten gar nicht so unfreundlich und der dicke Bruder Helwig zwinkerte ihm sogar fröhlich zu.

Er fiel todmüde von Reise, Ankunft und neuen Eindrücken auf sein Strohbett. Sein letzter Blick suchte das Gewölbe, das in der Dunkelheit über ihm schweben musste, bevor er in das Reich der Träume glitt. Würde er hier finden, was er suchte?

Die nächsten Tage waren gefüllt mit Arbeiten. Sein Vater hatte gesagt, er würde hier Latein lernen und Bücher lesen können. Davon war nichts zu spüren. Falkennase, für Eckhart passte der Name viel besser als Bruder oder Rudger, trug ihm auf zu fegen, zu putzen und Steine für den Bau des geplanten Westflügels zu sortieren. Dann wieder zu fegen, zu putzen und nicht zu vergessen, Steine zu sortieren. Natürlich hatte er auch zu Hause auf dem Gut seiner Eltern mitgeholfen; ab sieben Jahren war man schließlich kein kleines Kind mehr. Aber dennoch hatte er Zeit zum Herumlaufen, zum Erkunden der Gegend und zum Spielen gehabt.

Das war nun offenbar vorbei.

Die Arbeiten wurden nur von den Gottesdiensten und Gebetsstunden unterbrochen. Das waren Gelegenheiten, den Prior verstohlen zu beobachten.

Was für eine mysteriöse Gestalt dieser Mönch war. Ruhte in sich wie ein Fels, war wach wie eine Katze auf der Jagd und doch gelassener als irgendein Mensch, dem er je zuvor begegnet war. Die Glatze des Priors leuchtete matt in dem von Kerzenlicht durchströmten Kirchenraum und in seinen Augen lag immer ein Hauch eines Lächelns, das von innerem Frieden flüsterte.

Eckhart barg diese Momente wie Sternstunden in den Tiefen seines Herzens. Sobald er diese kostbaren Augenblicke der Ruhe verließ, ging es wieder an die Arbeit. Andreas begegnete er, Gott sei Dank, nur selten, obwohl das Kloster nicht so groß war, dass ein zufälliges Aufeinandertreffen nicht möglich gewesen wäre. Aber auch Andreas und die anderen Novizen wurden eingespannt, waren die meiste Zeit in der Schule und wurden immer wieder zu den beliebten Botengängen ausgeschickt.

Eckhart war ganz dankbar dafür, dass Falkennase ihn zu Arbeiten einteilte, bei denen er für sich war. So musste er keine beißenden Kommentare befürchten und konnte seinen Gedanken nachhängen.

Eines Abends beauftragte ihn Bruder Rudger, wieder einmal das Necessarium, die Latrinen, zu säubern.

Warum immer er? Nur weil er der Neue war?

Falkennase war zu allen jüngeren Laienbrüdern und Novizen gleichermaßen schrecklich. Vor allem seine Pedanterie, seine übertriebene Sehnsucht nach vollkommener Tugend, machte ihn schwer erträglich. Hinter jeder Tat vermutete er einen gewissenlosen Schlendrian, eine ruchlose Sünde, die Boshaftigkeit einer völlig verwahrlosten Jugend. Dennoch, Bruder Rudger hatte ihn auf dem Kieker. Er verdonnerte ihn immer zu den grässlichsten Aufgaben, kontrollierte jede seiner Arbeiten und er hätte schwören können, dass Falkennase ihm sogar manchmal auflauerte, um zu sehen, ob Eckhart nicht irgendetwas tat, das seinen Kosmos der Ordnung und Tugend verletzte.

Die Latrinen waren ein widerlicher Ort, obwohl drei Kästen, auf denen die Mönche ihre Notdurft verrichten konnten, eine gewisse Bequemlichkeit versprachen. Offenbar hatten etliche Brüder Schwierigkeiten bei den größeren Geschäften. Das Necessarium glich einem matschigen Schlachtfeld. Für die Schmeißfliegen war es wohl die Erfüllung ihrer Träume, ein Festmahl an einer königlichen Tafel. Eckhart war froh, dass Gott in seiner Großzügigkeit entschieden hatte, dass er als Mensch das Licht der Welt erblicken durfte. Als winziges Geschöpf in den Klosterlatrinen herumzuwühlen, wirkte nicht sehr erstrebenswert. Obwohl es ein wahrhaftiges Wunder war, dass diese kleinen Viecher in der Lage waren zu fliegen, und wenn er genau hinblickte, konnte er sehen, wie sich regenbogenfarbiges Licht auf den Flügeln entfaltete.

All das half aber nicht über den Gestank hinweg. Er versuchte, nicht durch die Nase einzuatmen, um sich dem Odeur zu entziehen, was nur mehr oder minder gelang. Er hatte bereits den gröbsten Dreck beseitigt, das Schmutzwasser im Eimer war eine unansehnlich braune Brühe und Eckhart freute sich bereits, seine Arme in klares Wasser zu tauchen, als Andreas um die Ecke bog.

Er war nicht allein.

Die wenige freie Zeit hing er mit den anderen Novizen herum und hatte sich als etwas Ähnliches wie ein Anführer etabliert. Das war auch nicht schwer. Die einen beeindruckte er damit, dass er aus wohlhabendem Hause zu kommen vorgab, die anderen ließen sich von seinem sehenswerten rechten Haken einschüchtern. Diesen hatte er häufig genug unter Beweis gestellt.

Andreas baute sich hämisch grinsend vor ihm auf, Eckhart kniete, gerade noch den letzten Dreck vom Boden schrubbend.

»Na, Kleiner? Sieht lecker aus.« Andreas’ Gesicht war eine Fratze der Hochmütigkeit und Arroganz.

»Was … willst du?«, fragte Eckhart. Sein Herz schlug bis zum Hals.

»Oh, wir wollten nur mal sehen, ob du deine Arbeit auch ordentlich machst oder … nicht ausgerutscht bist.«

Höhnisches Gelächter folgte.

Andreas stolzierte um den Eimer mit dem Dreckwasser herum und hielt sich die Nase zu.

Geht doch einfach, geht. Was wollt ihr von mir?, dachte Eckhart. Er kauerte sich zusammen. Wenn er sich nur so klein wie die Fliegen hätte machen können.

»Puh, du stinkst ja übler als die Brühe. Vielleicht sollten wir dich darin mal waschen.«

Wieder folgte hämisches Gelächter seiner Mitläufer. Sie kamen näher. Ganz langsam zogen sie den Halbkreis um ihn enger.

Ohne weitere Vorwarnung holte Andreas mit seinem rechten Fuß aus und trat mit voller Wucht gegen den Eimer. Dieser flog wie ein klobiges Geschoss auf Eckhart zu. Eckhart sprang erschrocken auf, taumelte, versuchte auszuweichen. Vergeblich. Der Eimer traf ihn am Knie, ein feuriger Schmerz durchzuckte sein Bein. Nur mühsam konnte er das Gleichgewicht halten, während das Dreckwasser an seiner Arbeitskutte herunterrann und sich über den Holzboden ergoss.

Er rieb sich das Knie. Verdammt.

»Warum …?« Es war das Einzige, was Eckhart über die Lippen bekam.

Vor ihm standen die Jungen, hinter ihm waren nur die drei Latrinenkisten und ein schmaler Holzstieg jeweils dazwischen.

»Wir brauchen keinen Grund. Wieder auf die Knie oder wir stecken dich kopfüber in die Grube«, warf ihm ein speckiger Junge entgegen, der neben Andreas stand. Seine Wangen wirkten viel zu groß für das kleine Gesicht und irgendwie erinnerte er Eckhart an ein gut gemästetes rosa Schwein. Wolpert.

Wolpert hing sein Fähnchen nach dem Wind, das hatte Eckhart in diesen wenigen Wochen bereits begriffen. Je nachdem, welche Meinung gerade die herrschende war, konnte man sich sicher sein, dass Wolpert diese vertrat.

»Mit dir rede ich überhaupt nicht«, antwortete Eckhart mit aller Kühle, die ihm möglich war und ohne zu wissen, woher er den Mut dafür nahm. Er blickte an Wolpert vorbei zu Andreas. Tatsächlich wich Wolpert Schweinebacke irritiert zurück. Andreas wuchs um eine Handbreit.

Erstaunlich, dachte Eckhart, so funktioniert das also bei ihm.Gib ihm ein wenig Aufmerksamkeit und er fühlt sich wie der Größte. Allerdings half ihm diese Erkenntnis in diesem Moment nicht viel. Andreas hatte nicht vor, von ihm abzulassen. Seine Augen verengten sich, er trat nach vorne.

»Du und deinesgleichen, ihr seid alles Aufschneider, Betrüger und Diebe«, stieß ihm Andreas entgegen.

»Wie … was?«

»Dein Vater, Rat von Hochheim, hat sich durch Schleimerei beliebt gemacht. Ihr seid nichts als Bauern und eure Lügen haben euch erst in den Rang gebracht. Dein Vater und deine ganze Familie sitzen auf einem hohen Ross, auf einem Stuhl, der euch nicht zusteht.«

»Aber …«

War Andreas völlig übergeschnappt? Sein Vater hatte schon zu Gericht gesessen, da war Andreas noch nicht einmal geboren. Zu sagen wagte er es nicht. Er hatte bereits genug eingesteckt. Gut nur, dass der Schmerz im Knie nachließ.

»Ich sage, dein Herr Vater ist ein Lügner und Betrüger. Sonst wäre er niemals Vogt geworden.«

»Das … was redest du da?«

»Ich kenne euer Geheimnis. Überrascht? Ich weiß noch viel mehr. Hüte dich vor mir, du weißt nicht, wer ich bin.«

»Was denn für ein Geheimnis? Du bist … irre«, begehrte Eckhart auf. Im gleichen Moment hätte er sich für seine voreiligen Worte ohrfeigen können.

»Ich und irre? Na warte, du wirst sehen, was du davon hast. Wir erlauben dir einen ganz privaten Latrinensturz.«

Ein Latrinensturz? Die ganze Stadt und ihre Umgebung kannten den Erfurter Latrinensturz, auch wenn es schon fast hundert Jahre her war. König Heinrichs Mannen hatten sich in einem Festsaal des Bischofs befunden, als das morsche Holz des Bodens nachgegeben hatte. Sie waren ein Stockwerk tiefer gefallen und der Boden des unterhalb liegenden Raumes war unter der Wucht der fallenden Tische und Menschen ebenfalls zerborsten. Darunter jedoch hatte sich eine alte Latrinengrube befunden. Viele der werten Männer waren jämmerlich darin umgekommen.

»Los, packt ihn. Da kann er dann seine eigenen Worte schmecken.«

Die Jungs rückten näher auf. Eckharts Gedanken rasten.

In die Gülle wollte er in keinem Fall. König Heinrich hatte sich damals mit einem gewagten Sprung in eine Fensternische gerettet. Ein Fenster gab es hier nicht. Aber in dem Moment, als die Jungs zum Angriff ansetzten, drehte sich Eckhart um die eigene Achse und sprang mit einem Satz zur Seite. Seine Hände schürften über den Boden. Er kam auf allen vieren auf. Den Schmerz spürte er kaum, hechtete weiter.

Bloß weg hier.

Die Novizen setzten ihm nach. Andreas bekam seine Kutte zu fassen, aber Eckhart schlug einen Haken, wie er es bei Hasen gesehen hatte, die auf der Flucht vor dem Fuchs waren. Andreas konnte den Griff nicht halten und setzte hinterher. Eckhart lief den Ostflügel entlang und riss einfach die nächste Tür auf, stürmte in den Gang, ein Flur ging zur Rechten ab. Er lief blind weiter. Eine weitere Tür war am Ende des Ganges.

»Bitte, Herrgott, lass sie auf sein.« Er wetzte den Flur entlang und sprang auf das Holz zu, riss an dem Riegel und zerrte an dem Türring.

Sie gab nicht nach.

Mist.

Eckharts Herz blieb stehen. Andreas und die anderen stürmten bereits in den Flur.

Er rüttelte heftiger an der Tür. Zog mit aller Kraft daran. Sie bewegte sich.

Mit einem Stöhnen gab sie nach und ließ sich schwerfällig aufschieben. Er klemmte sich durch den entstandenen Spalt und schlüpfte in das dahinterliegende Dunkel. Hier war er noch nie gewesen. Nicht nachdenken. Weg hier, einfach nur weg.

Seine Verfolger hatten die Pforte auch erreicht. Gemeinsam würde es ihnen sicher gelingen, diese ganz zu öffnen. Eckhart lief.

»Wir kriegen dich, du entkommst uns nicht«, schrie Andreas hinter ihm her. Der Boden war hier aus Lehm und nicht aus Stein. Die Wände waren teilweise mit Spinnenweben überzogen und winzige Löcher in den Wänden, die wohl Fenster sein sollten, ließen nur träge sickerndes Licht in den Gang hinein. Er rannte wie um sein Leben. Vor sich sah er im trüben Licht eine Wand.

Eine Sackgasse?

Er war fast schon am Ende angekommen, als er sah, wie sich ein Gang am Ende des schmalen Flures nach rechts öffnete. Er witschte hinein. Stufen. Er hechtete diese hoch. Noch eine Tür. Er riss daran. Diese ließ sich unerwartet leicht öffnen und schlug durch die Wucht, mit der er an ihr gezogen hatte, gegen die Wand.

»Stopp, nicht da durch!«, hörte er hinter sich Andreas schreien.

War da mit einem Mal Angst in seiner Stimme? Die Tür hinter ihm schlug durch den Schwung wieder zu.

Der Raum war in Finsternis getaucht, aber Eckhart rannte weiter, stieß heftig gegen eine Bank und fiel der Länge nach hin. Seine Haut brannte, sein Puls raste durch seine Adern. Wie gelähmt blieb er liegen, unfähig sich zu bewegen. Waren ihm Andreas und seine Bande gefolgt? Er hörte keine Schritte mehr. Nur seinen gehetzten Atem und seinen Herzschlag, der ihm in den Ohren trommelte. Er tastete nach seinem Bein. Es würde wohl einen blauen Fleck geben. Zuerst der Eimer, jetzt die Bank.

Dunkelheit umgab ihn, er atmete muffige Luft, Staub von Jahrhunderten lag hier, bisher ungestört. Irgendwo huschte eine Maus ängstlich davon.

Wo war er eigentlich?

Er schaute sich vorsichtig um, immer noch am Boden liegend. Im trüben Dunkel konnte er Schränke erahnen, an der einen Wand ein Regal ausmachen, an dem eine Leiter stand. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Lichtverhältnisse. An der Seite standen ohne sichtbare Ordnung einige Stehpulte, niedrige Tische und Bänke. Er selbst lag direkt vor einem Eichentisch, auf dem eine kleine Kerze flackerte.

Was er nicht sah, war der Schatten hinter dem Tisch, der sich so überrascht wie auch leise aufrichtete und nach vorne beugte, wie eine Schlange, die interessiert eine unerwartete Beute betrachtete. Eckhart sah sich immer noch das seltsame Regal an, als mit einem Mal das Kerzenlicht auf dem Tisch erlosch.

Eckhart erstarrte. Er war nicht allein?

Eckhart drehte langsam seinen Kopf, seine Augen angstgeweitet. Etwas kroch näher über den Tisch, knochige Hände glitten an die Kante und zogen den Schatten lautlos nach vorne. Jetzt hörte er röchelnde Atemzüge.

Gab es hier in den alten Gemäuern einen Dämon?

Sein Blick fiel auf die knochenbleichen Finger, mit einem spitzen Schrei wich er zurück. Da, wo Gesicht und Körper sein sollten, war nur Schwärze zu sehen, lediglich die Arme leuchteten in einem unwirklichen Weiß. Ohne die unheimliche Gestalt aus den Augen zu lassen, rettete sich Eckhart auf allen vieren kriechend zu einem Tisch hinter ihm und zog sich langsam daran hoch.

Ein röchelndes Lachen ließ Eckhart einen Schauer über den Rücken laufen.

»Hast du Mut?«, zischte es ihm entgegen.

Er versuchte, noch weiter zurückzuweichen, aber der Tisch hinderte seine weitere Flucht.

»Gnmpf.« Seine Kehle war staubtrocken. Vom Regen in die Traufe gekommen. Großartig.

»Wie meinen?«

»Gnja?«, presste er unsicher hervor. Prinzipiell würde er zwar nicht leugnen wollen, dass es Dämonenwesen geben könnte und er hatte auch Berichte gehört, die solche Erscheinungen bestätigten. Aber bei genauer Betrachtung waren ihm diese immer recht zweifelhaft erschienen. Immerhin, solange das Was-auch-immer mit ihm sprach, geschah nichts Schlimmeres. Oder doch?

Zumindest war er der Latrinengrube entkommen, obwohl er sich gerade nicht so sicher war, was er vorziehen würde. Bei den Latrinen hätte er zumindest gewusst, wo er gelandet wäre. Seltsam, dass Andreas ihm nicht gefolgt war. Ob er wusste, welches Wesen hier hauste?

Die knochige Hand wies auf eines der Regale.

»Dann hole mir eine Kerze von da oben und den dicken Folianten daneben.« Eckharts Blick ging verständnislos in die Höhe. Wer wäre verrückt genug, Kerzen neben Büchern zu lagern? In dem obersten Regal? Und wieso bedurfte es dazu Mut?

Unsicher blickte er auf die unheimliche Gestalt. Ein neuerlicher Schauer lief ihm über den Rücken. Hatte er überhaupt noch eine Wahl?

Er hätte vielleicht türmen können, aber vermutlich standen draußen Andreas und seine Gesellen. Auf der anderen Seite keimten jenseits seines Schreckens Fragen auf: Wer war dieses Wesen? Warum saß es in diesem Halbdunkel? Was waren das für Bücher hier?

Noch etwas anderes erwachte in ihm und war dabei, die Oberhand zu gewinnen, sowohl über seine Vernunft als auch über seine Angst. Neugier.

Er nahm die Leiter und stellte sie an das Regal. Während er nach oben kletterte, schaute er sich immer wieder beunruhigt um. Aber das Wesen blieb einfach nur sitzen und folgte interessiert seinen Bewegungen.

Als Eckhart oben angekommen war, bemerkte er erst, wie hoch er sich hier über dem Boden bewegte und wie wackelig die Leiter war.

Nicht nach unten schauen, einfach nicht nach unten schauen.

Etwa einen Kopf über ihm fand er ordentlich gestapelt die hellen Kerzen, die sich schemenhaft von der Dunkelheit abhoben. Er griff nach einer und tastete dann weiter. Ein Foliant? Hier oben lagen Staub und Dreck, Krümel, die sich wie Mäusedung anfühlten.

Kein Foliant.

»Hier ist kein Foliant.«

»Doch, doch«, erklang es jetzt müde von unten. »Dort liegt er schon seit Jahren.«

Er hangelte sich immer weiter und weiter.

Nichts.

Die Leiter wackelte bedenklich. Wenn er sich noch ein Stück streckte, würde er sich nicht mehr halten können. Vielleicht sollte er nach unten klettern und die Leiter einfach etwas zur Seite rücken? Noch ein letzter Versuch. Er machte sich so lang er konnte, die Sprossen unter ihm wackelten bedenklich, die Leiter kippte leicht nach rechts. Eckhart klammerte sich ans Regalbrett.

»Zurück, zurück«, flüsterte er zu sich selbst. Das Holz knackte leicht, eine verzweifelte Bewegung mit der Hüfte. Die Leiter stand wieder aufrecht. Er atmete tief aus. Vielleicht lag der Foliant woanders? Er griff noch einmal tiefer ins Fach und arbeitete sich Stück für Stück zurück zu den Kerzen. Er wollte gerade schon aufgeben, als seine Finger ein glattes Leder berührten. Er packte beherzt in die Tiefe.

Tatsächlich.

Da war etwas. Behutsam zog er es nach vorne, bis er es mit einer Hand fassen konnte. Ein Foliant. Dick in Leder eingebunden.

Vorsichtig kletterte er wieder nach unten, in der einen Hand die Kerze und den Folianten halb unter den Arm geklemmt. Wieder auf sicherem Boden angekommen, drehte er sich zu dem Wesen in der Dunkelheit um.

»Bring es her«, rasselte die Stimme und die knochigen Finger winkten ihn zu sich. Vorsichtig ging er näher an den Tisch heran. Langsam. Schritt für Schritt. Behutsam legte er das Buch und die Kerze auf dem Tisch ab.

»Du musst mich nicht fürchten, mein Junge. Das Einzige, vor dem du Furcht haben solltest, sind deine Gedanken.«

Mit einer stoischen Ruhe nahm er die Kerze, setzte sie in den Kerzenhalter und zog eine Schale mit einem Feuerstein, einem Schlageisen, Zunder und etwas Werg zu sich heran. Aber seine Hände waren zu zittrig und die Funken schlugen nicht richtig an.

»Darf … darf ich?«, fragte Eckhart vorsichtig.

Sein Gegenüber hielt inne.

»Ach, hast du doch eine Stimme.« Er reichte ihm die Schale.

Mit einer geschickten Bewegung schlugen die Funken und der Zunder begann zu glimmen. Eckhart nahm das Werg und blies es vorsichtig an, bis eine kleine Flamme züngelte und er das Feuer an den Docht der Kerze ansetzte.

Warmes Licht breitete sich aus und erhellte ein blasses Gesicht unter der schwarzen Kapuze im Gegenüber. Die Lippen und Wangen waren eingefallen, wie das bei alten Leuten war, die keine Zähne mehr hatten. Unter den blassen Augen lagen schwere Tränensäcke. Wie ein Dämon sah er nicht aus. Unheimlich blieb er dennoch.

Eckhart drückte das brennende Werg in der Schale aus und legte alles zurück.

»Hm«, brummte der Alte. »Besuch bekomme ich ja nicht sehr oft.«

Eckhart wusste nicht so recht, was er sagen sollte, und wechselte verlegen von einem Bein auf das andere.

»Dank dir für das Licht«, sagte der Alte und schlug das dicke Buch auf.

Eckhart wollte gerade schon durchatmen, als der Alte ihn mit funkelnden Augen fixierte. Es war, als ob zwei blassblaue Sonnen sich in seine Seele brennen würden.

»Wenn du echten Mut hast, stellst du dich den größten Denkern aller Zeiten. Hast du Mut?«

Immer noch wusste Eckhart nicht, was er mit diesem Mann machen sollte. So nickte er nur.

»Gut. Das ist sehr gut«, sagte der Alte leise und starrte immer noch Eckhart in seine Seelentiefen. Ihm wurde wieder mulmiger zumute.

»Weißt du, wer das geschrieben hat?«

Er riskierte einen Blick auf das reich verzierte Werk und runzelte die Stirn. Eine solche Schrift hatte er noch nie gesehen. In seinem elterlichen Hause hatte er das lateinische Alphabet gelernt, auch griechische Buchstaben hatte er schon einmal gesehen. Aber diese Schrift war zierlicher und bestand aus wundervollen Schnörkeln und Strichen. Er schüttelte den Kopf.

»Das ist von Ibn Ruschd. Sein voller Name ist mir entfallen, aber wir Lateiner nennen ihn Averroës. Ein arabischer Philosoph, der vor über hundert Jahren lebte und ein ausgezeichneter Kenner des Aristoteles war.«

»Das ist Arabisch? Ihr könnt Arabisch lesen?«

Der Alte wiegte leicht den Kopf.

»Bevor ich in dieses Kloster nach Erfurt kam, habe ich viele Jahre im Heiligen Land verbracht.«

»Was? Ihr wart in Jerusalem?«, fragte Eckhart aufgeregt nach. »Habt Ihr die Tempelritter im Heiligen Land gesehen?«

Sein Vater hatte gelegentlich Kontakt mit der Komturei im fernen Magdeburg, mehr Verbindung bestand aber mit der Niederlassung im nahen Topfstedt. Soweit Eckhart verstanden hatte, ging es dabei um Geldvermögen und weniger um Abenteuer in der Ferne. Dennoch wehte mit den seltenen Besuchen der Templer immer auch ein Hauch von Reiselust und Fernweh in seine beschauliche Heimat.

Der Alte nickte. »Jerusalem, eine wahrhaft heilige Stadt. Der Boden, auf dem unser Herr wandelte. Ein Mensch wie du und ich. Auch Templer, Kreuzfahrer, Abenteurer waren da, ich habe viele gesehen. Auch viel Leid, viel Tod, mein Junge.« Er schwieg einen Moment, hing seinen Gedanken nach. »Dabei könnten wir so viel voneinander lernen. Der Staufer Friedrich hat das verstanden. Zumindest teilweise. Diese dummen Kriege.« Er schüttelte den Kopf. »Ich lernte viel von denen, die wir Heiden nennen. Averroës lebte in Córdoba. Weißt du, wo das liegt?«

Eckhart schüttelte den Kopf.

Der Alte seufzte. »Da muss man ja von ganz vorne anfangen.« Er musterte Eckhart immer noch, aber sein Blick war weicher geworden, obwohl sein Schädel weiterhin wie ein Totenkopf aussah, der mit einer bleichen Haut überspannt und mit bläulichen Lippen verziert war. Dennoch, Eckharts Neugierde hatte längst den Sieg davongetragen.

»Was … was wusste dieser Ibn Ruschd?«

»Was er wusste? Junge, er wusste, wie man denken muss, um die Geheimnisse des Lebens zu entschlüsseln.«

Eckhart starrte den Alten an. »Wie meint Ihr das?«

»So wie ich es sage. Die meisten, die sich heute Gelehrte schimpfen, geben irgendeinen Sermon von sich, klopfen das fest, was andere gesagt haben, ohne selber über Klarheit zu verfügen. Denken … selber denken, das können sie nicht. Ohne die arabischen und jüdischen Gelehrten wüssten wir hier nichts. Gar nichts. Wir sind wie eine aufgeregte Horde Pfaffen, die in einem dunklen Labyrinth eingesperrt sind und darüber diskutieren, wie man denn nun Licht machen könne.«

Eckhart wurde mutiger. »Ihr wisst, wie man das Geheimnis des Lebens findet? Wisst Ihr, wer oder was Gott ist?«

Der Alte verschluckte sich, hustete. Als er wieder Luft bekam, erwiderte er: »Das Leben? Gott?«

Er brummelte etwas Unverständliches, schwieg einen kurzen Moment und setzte erneut an. »Wahrlich, die Weisheiten des Lebens sind von den arabischen Denkern enträtselt worden. Ibn Ruschd hat wie kaum einer zuvor und danach verstanden, was diese Welt bewegt und wenn du so willst, wer … Gott ist. Erkenntnis ist das Schlüsselwort, merke es dir gut. Erkenntnis ist nicht nur ein Gedanke, der einem anderen folgt und eine Lösung bereithält. Es ist eine Brücke zu Gott. Wenn du wirklich wissen willst, worum es in diesem Leben eigentlich geht, dann vergiss die lateinischen Gelehrten.«

»Wo lebte Ibn Ruschd, ist Córdoba weit von hier? Hat er das geschrieben?«

Eckhart zeigte auf das Werk, rückte ein gutes Stück näher, um die seltsamen Schriftzeichen und die kunstvollen Malereien besser sehen zu können. Der Alte wich mit einem Mal zurück, als ob er Anzeichen der Pest an ihm erkannt hätte.

»Bei der heiligen Maria«, stieß der Alte aus, »mein Riechkolben ist ja nicht mehr der beste, aber du stinkst ja schlimmer als Tod und Teufel.«

Eckhart lief knallrot an. Er hatte ganz vergessen, dass er direkt von den Latrinen kam.

»Verzeiht, ich … ich kam gerade vom Reinigen der … ich …«, stotterte Eckhart.

Der Alte winkte ab.

»Komm morgen wieder.«

»Ich … ich weiß nicht, ob … ob Falkenna… Bruder Rudger das erlauben wird«, stotterte Eckhart weiter.

»Willst du mehr über Gott und die Welt wissen?«

Eckhart nickte heftig.

»Dann wird der Herr einen Weg finden, dass du morgen zu mir kommen kannst. Ich werde dir zeigen, wo Córdoba liegt. Und nun geh.«

Er wies auf eine Tür im rückwärtigen Bereich des Raumes. Eckhart verneigte sich unwillkürlich und rannte dann zur Tür. Als er sich noch einmal umdrehte, war der Alte bereits in seinen Schriften vertieft.

Eckhart musste schleunigst die Latrinen sauber machen, bevor die Komplet begann. Schnell öffnete er die Tür und rannte los.

Zu spät bemerkte er es.

Eckhart war mitten in das Amtszimmer des Priors gestürmt.

Doch das Zimmer, es war nicht leer. Direkt vor ihm standen Prior Ulrich, Bruder Rudger und ein Fremder im Dominikanerhabit. Die drei starrten Eckhart an, als ob er der Leibhaftige sei.

Bruder Rudgers Blick schweifte mit einer gewissen Fassungslosigkeit zur Tür, aus der Eckhart gerade gekommen war, und wieder zu ihm zurück. Eckhart hatte das Gefühl, er hätte genauso gut geradewegs aus der Wand kommen können.

»Nun«, fragte Prior Ulrich gedehnt, »wie dürfen wir dir dienen?«

Eckharts Gedanken rasten, die Blicke der drei Herren ruhten auf ihm und Prior Ulrichs Augenbrauen wanderten gefährlich nach oben.

Nicht gut. Gar nicht gut.

Eckhart hatte das Gefühl, eine Schlinge würde sich um seinen Hals legen und sich mit jedem verstreichenden Atemzug mehr und mehr zuziehen.

»Ich … ein älterer Bruder bat mich um das Anzünden einer Kerze … damit er besser lesen könne …«

Bruder Rudgers Gesicht wurde zu Eis und seine Stimme gefror den letzten Rest Mutes, den Eckhart noch in sich spürte.

»Wie bitte?«

Vor seinem geistigen Auge sah Eckhart bereits, wie der Orden ihn mit Schimpf und Schande vor die Klostermauern setzte. Das war es dann also mit der Erforschung der Welt, den Begegnungen mit den größten Denkern der Zeit. Betreten schaute Eckhart auf seine Füße, sein Gestank füllte mittlerweile die kleine Amtszelle völlig aus.

»Er wollte mir Córdoba zeigen«, murmelte er.

»Da drinnen?« Bruder Rudger zeigte ungläubig auf die Tür.

Die anderen beiden lachten leise.

»Nun, hinter dieser Tür wird sich wohl kaum das Königreich Kastilien verbergen«, bemerkte der Fremde. Eckhart hob vorsichtig seine Augen. Vor ihm stand ein groß gewachsener, hagerer Mann, der den Zenit seines Lebens bereits weit überschritten hatte. Dennoch war seine Haltung aufrecht und strahlte eine natürliche Autorität aus.

»Nein, nein, wir sprachen über Ibn Ruschd und …«

»Über wen?« Rudgers Stimme überschlug sich.

Hatte Eckhart etwas Falsches gesagt? Er dachte fieberhaft nach. Ibn Ruschd war natürlich ein Heide, aber er hatte doch offenbar Aristoteles ausgelegt und hatte nicht gerade der große Ordensbruder Thomas von Aquin darüber Vielgerühmtes geschrieben?

Verdammt, warum wusste er so wenig davon. Ein falscher Name, ein falsches Wort konnte ihn Kopf und Kragen kosten. Immerhin hatte die gesamte christliche Welt gegen die Araber Krieg geführt. Eckharts Hände waren schweißnass. Hinter der Tür war ein Buch, eines mit arabischen Schriftzeichen. Der Mönch, der es in seinen Händen hielt …, er wusste noch nicht einmal seinen Namen.

Nichts sagen, nicht darüber, schoss ihm durch den Kopf. Das war sicher besser. Viel besser. Nicht noch Öl ins Feuer gießen.

Der hagere Fremde beugte sich leicht nach vorne, als ob er dadurch den Jungen besser in Augenschein nehmen könne.

»Du … du interessierst dich für den Araber?«

Es war nicht auszumachen, ob seine Frage rein neugieriger Natur war oder er es für häretisch hielt, den Namen des Gelehrten aus Córdoba auch nur in den Mund zunehmen. Die Dominikaner stellten brillante Inquisitoren. Kein Wunder. Jede Antwort konnte jetzt weitaus größere Konsequenzen haben, als nur eine Schelte oder den Verweis aus dem Konvent.

Die drei Männer schauten ihn fragend an.

»Ich … suche nur …« Welches Wort war jetzt nicht verfänglich? Wahrheit? Wissen? »… Erkenntnis.«

»Zu welchem Zweck?«, bohrte der hagere Fremde weiter.

Eckhart wand sich wie ein Aal in den Händen eines Fischers. Was hatte das alles damit zu tun, dass er hier uneingeladen hereingeplatzt war? Er rang um die richtige Antwort, seine Stimme versagte, war fast nur noch ein Krächzen: »Um … Gott zu finden.«

Bruder Rudger hustete, als ob er sich an einer Gräte verschluckt hätte.

Wäre Eckhart doch nur bei den Latrinen geblieben. Natürlich, er war ins Kloster gegangen, weil er mehr über die Welt wissen wollte, er wollte wissen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Er war hungrig nach Antworten. Stattdessen hing er jetzt in einem Verhör.

Verzweifelt schaute er sich um, die rettende Tür zum Hof war so weit weg wie die Sterne am Himmel.

»Du willst über die Erkenntnis Gott finden, habe ich dich da richtig verstanden? Du willst ihm nicht nur nahe kommen, sondern ihn finden, gegenüber stehen, vielleicht sogar mit ihm eins werden? Über die Erkenntnis?«

Eckhart runzelte die Stirn. Das hatte er doch gar nicht gesagt, der fremde Dominikaner verdrehte ihm die Worte im Mund.

»Nein … ja«, stotterte Eckhart.

Was war das gerade gewesen? Was hatte der Dominikaner gesagt?

Er hielt inne.

In seinem Inneren sprang etwas an, wie das Werk einer Mühle, Räder griffen ineinander, begannen sich in Bewegung zu setzen. Er vergaß den Raum um sich, die fragenden Augen, selbst seine Angst. In ihm arbeitete es, er fiel in eine andere Welt, blendete aus, wo er war, was um ihn geschah. Er kannte das, sein Vater hatte es jedes Mal gehasst, wenn er so in die Gedankenwelt verschwand und mit irgendwelchen wilden Ideen wieder auftauchte.

Wenn er den Gedanken des fremden Mönches weiterspann, dann könnte es vielleicht sogar eine gewisse Logik haben. Lose Bilder formten sich zu Ideen, Gedanken stiegen in ihm auf wie Luftblasen vom Boden eines Sees, drohten ihm über seine Zunge zu rollen. Doch bevor Eckhart über die Konsequenzen nachdenken konnte, entflohen ihm die Worte.

»Ist unsere Fähigkeit zu erkennen nicht von Gott geschenkt? Könnte es nicht somit sein, dass Erkenntnis göttlich ist und ich darüber in das Göttliche …«

»Ich glaube«, unterbrach Prior Ulrich sanft, »das langt uns.«

Der Fremde tat immer noch so gleichgültig, als ob sie sich über die Holzfarbe der Klosterpforte unterhalten würden, nur sein Blick glich eher dem eines Löwen auf der Jagd, als er sich an Eckhart wandte. »Das ist in der Tat eine sehr interessante Brücke, die du da begehen möchtest. Wie heißt du, Junge?«

»Eckhart, ich heiße Eckhart.«

»Hmmm. Ihr habt da ja einen spannenden Nachwuchs, Prior.« Es war nicht auszumachen, ob das ein Kompliment oder sein Todesurteil war. Bruder Rudger sah inzwischen aus, als ob er an der nicht vorhandenen Gräte stehend erstickt wäre. Der Prior nickte nur leicht.

»Ich glaube, Eckhart, du kannst jetzt gehen.«

Eckhart war schon fast durch die Tür.

»Eckhart?« Der Prior. Eckhart verharrte. Noch nicht entkommen. »Noch eines, bitte nutze vor der Komplet die Vorzüge des Flusses hinter unserem Haus.«

Als er draußen stand, holte er tief Luft. So ein Mist! Was hatte er denn da drin nur von sich gegeben? Warum war er einfach blind durch eine Tür gelaufen, ohne zu wissen, was sich dahinter verbarg? Es war zum Verzweifeln. Und das alles nur, weil Andreas ihm nachgestellt hatte. Ohne ihn wäre er nicht geflohen, wäre er nicht dem Prior in die Arme gelaufen. Jetzt hing er wirklich in der Klemme.

Eckhart stand immer noch an der Tür und schaute über den leeren Innenhof. Es hatte natürlich auch sein Gutes gehabt, so überlegte er, sonst wäre er wohl kaum dem geheimnisvollen Mönch begegnet. Ob er noch einmal Gelegenheit bekommen würde, ihn wiederzusehen?

Das war jetzt gleich, er musste erst einmal seine Arbeiten beenden. Er eilte zu den Latrinen, Andreas und seine Konsorten waren spurlos verschwunden und er machte sich zügig daran, alles zu putzen.

Während er das Holz schrubbte, verfluchte er sich immer wieder, dass er gegenüber dem Prior nicht einfach den Mund gehalten hatte. Ausgerechnet einen arabischen Philosophen zu nennen, war er von Sinnen gewesen?

Die Zeit war schon vorgerückt, als er endlich fertig war. Er blickte an sich herunter. Seine Arbeitskutte starrte vor Dreck, so konnte er nicht zur Komplet. Jetzt konnte nur noch einer helfen. Er lief los.

Er rannte Helwig fast um, der gerade aus der Küche kam.

»Ich brauche deine Hilfe!«, stieß Eckhart atemlos hervor.

»Puh, Junge, du stinkst ja schlimmer als eine Jauchegrube.«

»Ja, ich war bei den Latrinen und Andreas und … ach, das ist jetzt auch egal, aber ich kann so nicht zur Komplet. Hast du noch ein Gewand für mich?«

Helwig schaute an ihm herunter. »Hmm, natürlich. Komm he­rein in die gute Stube und warte mal kurz.«

Er ließ ihn kurz allein, aber es dauerte keine Minute und er war mit einer Ersatzkutte zurück. »Hier ist das gute Stück. Am besten du springst zuerst in den Fluss, bevor du sie anziehst. Ist ja echt übel so.«

Eckhart seufzte. »Ja, das meinte der Prior auch schon.«

»Der Prior?«

Er schüttete Bruder Helwig sein Herz aus und dieser sog am Ende pfeifend die Luft ein. »Da bist du ja vom Regen in die Traufe gefallen.«

Nach einem kurzen Schweigen fragte Eckhart: »Weißt du, wer der Mönch in der Kammer mit den Schriften ist? Ich habe ihn noch nie gesehen, bei keinem Gebet, bei keiner Messe.«

»Das wird wohl der alte Horatio sein. Er hat seine Zelle vorne, direkt neben dem Raum, der dir wie eine Bibliothek vorkam. Eigentlich ist es nur ein Abstellraum, einige Folianten und Schriftrollen liegen dort. Der Teil gehört zu dem alten Gebäude, das stand hier schon, bevor der Orden das Haus kaufte und zu einem Kloster ausbaute. Es ist geplant, dass dieser Raum irgendwann einmal eine Art Skriptorium wird, als Erweiterung zu der Amtsstube des Priors sozusagen. Horatio und Ulrich kennen sich wohl aus alten Zeiten, frag mich nicht. Dass er nicht an der Liturgie teilnimmt, ehrlich, ist schon seltsam. Ich dachte, Bruder Horatio wäre krank und würde quasi nur noch im Bett liegen.«

Eckhart trat von einem Fuß auf den anderen. »Meinst du, es passiert jetzt etwas, weil ich da so bei dem Prior reingeplatzt bin und gesagt habe, dass ich mich für einen arabischen Philosophen interessiere?«

»Also, mach mal halblang. Du hast nicht gesagt, dass du dich für ihn interessierst, sehr schlau, einfach etwas anderes zu antworten, als du gefragt worden bist … was sagtest du, sei dein Vater? Vogt? Weiß, wie man mit Worten umgeht, was? Na, muss man wohl, wenn man Streitereien schlichten will. Ha, auch egal, gut gemacht. Abgesehen davon lesen selbst die gelehrtesten Meister in Paris den Araber, kann nicht so verkehrt sein. Mit der Philosophie kenne ich mich nicht so aus, dem ganzen Erkenntniskram und so. Für mich ist Gott das Salz im Essen, der Duft eines gelungenen Mahls, und wenn du noch weiter in meiner Küche stehst, wird dein Duft hier noch alles verpesten und nichts Göttliches übrig lassen. Also, mach, dass du rauskommst, verspätest dich sonst noch bei der Komplet.«

Als Eckhart um die Ecke witschte, fasste sich Helwig mit beiden Händen an den Kopf. »Wenn der so weitermacht, so schlau daher denkt, dann wird aus dem noch etwas ganz Großes.« Er drehte sich in seiner Küche um und murmelte: »Oder sie kerkern ihn ein und lassen ihn verrotten.«

Die Stimme des Priors erfüllte den Raum, als er die Komplet begann: »Deus, in adiutorium meum intende.« Oh Gott, komme mir zur Hilfe.

Oh ja, Eckhart betete inständig die Antwort: »Domine, ad adiuvandum me festina.« Herr, eile mir zur Hilfe.

Ohne göttliche Hilfe kam er da nicht mehr heraus. Innerlich zählte er alle seine Verfehlungen auf: Er hatte seinen Arbeitsplatz verlassen, er war in die privaten Gemächer von Bruder Horatio eingedrungen, er hatte eine Unterredung des Priors unterbrochen, er hatte Interesse an den Gedanken eines Heiden erkennen lassen. Eckhart seufzte. Dabei hätte er ja nur zu gerne gewusst, was denn dieser Averroës nun überhaupt gesagt hatte.

Er merkte gar nicht, wie die Komplet sich dem Ende zuneigte und erst als der Prior mit dem Nachtsegen eine gute Nacht unter Gottes Schutz wünschte, tauchte Eckhart aus seinen Gedanken auf. Wie sollte das eine gute Nacht werden?

»Eckhart?«

Er zuckte zusammen. Alle anderen gingen bereits in Richtung des Dormitoriums, dem Schlafsaal. Der Blick Prior Ulrichs ruhte auf ihm, unergründlich.

Wenn nur der Boden sich öffnen, dachte Eckhart, und mich einfach verschlucken könnte.