Das vergessene Lächeln der Amaterasu - Elisabeth Reichart - E-Book

Das vergessene Lächeln der Amaterasu E-Book

Elisabeth Reichart

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Beschreibung

Alwina, eine Wiener Malerin, folgt ihrem Geliebten Ichirō in dessen Heimat Japan. Für sie ist es das Sehnsuchtsland, von dem sie seit ihrer Kindheit träumt. Doch in der fernen Stadt, der fremden Familie und der patriarchalen Gesellschaft angekommen, muss Alwina feststellen, dass ihre Träume wenig mit der Realität zu tun haben. Sie scheitert an den fremden Traditionen und Riten ebenso wie an der Sprache: "Während sich Ichirō geborgen fühlte in den Lauten des Mutterleibs, hatte sie ihre Mutter verloren in der Lautfremdheit. Ihre Mutter hatte ihr eine Kunstsprache beigebracht, die niemand sprach. Es war sinnlos, Rücksicht zu erwarten für eine Lautlose, das hatte sie verstanden." Bald erkennt sie Ichirō nicht mehr als jenen Mann, den sie in Wien geliebt hat. Sie wird zur Außenseiterin, die den Gesprächen nicht folgen kann, die im falschen Moment lacht und die Familienmitglieder unwissend beleidigt. Als ihr auch noch die eigenen Farben in dem ungewohnten Licht fremd werden, will sie zurück nach Wien, doch all ihr Geld steckt in einem zerfallenden Haus. Ausgerechnet für Alwina, die nur Augen für die Schönheit Japans hatte, wird das hässliche Japan nun zum einzigen Ausweg, um das Land irgendwann verlassen zu können. Sprachkritisch, spannend und kenntnisreich führt Elisabeth Reichart uns in diesem Roman in eine fremde Welt.

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Elisabeth Reichart

Das vergessene Lächeln der Amaterasu

Elisabeth Reichart

Das vergessene Lächelnder Amaterasu

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1218-4eISBN 978-3-7013-6218-9

© 2014 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

© 1. Auflage 1998, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Wilde Orangen

Teil 2: Die Frau, der Mann

Teil 3: Am Anfang war Amaterasu. Oder ein Epilog

Glossar

Liebst du um Schönheit,o nicht mich liebe!

Friedrich Rückert

Teil 1Wilde Orangen

 

Sie würden nachts in Sasebo ankommen, einer Toten zu Ehren in dieser und keiner anderen Nacht. Scheinwerfer zerrissen die Dunkelheit, blendeten Alwina durch das Zugfenster. Trotzdem mußte sie hinaussehen in die verschwindende Landschaft – hin und wieder erkannte sie ein Haus, einen Tempel. Einmal beleuchtete ein Feuer seine Umgebung, warf seine Funken bis zu den Göttern. Sterne versanken in dicken Strohdächern, erhellten Totenbücher, in denen die Gedenktage verzeichnet sind. Fünfzig Jahre Totengedenken, die Toten ins Leben herübergeholt, in die Sicherheit, nicht vergessen zu werden, zumindest fünfzig Jahre nicht vergessen werden zu können!

Die meisten Reisenden schliefen. Köpfe sanken auf fremde Schultern, an kalte Fensterscheiben, bewegten sich ruckartig aus der unbequemen Lage in eine kaum angenehmere. Alwina träumte, wie Japan auf sie zukam, im Morgengrauen, solange das Meer ruhig war und der Dunst nur manchmal den Blick auf die Inseln freigab, bevor die Sonne sie in ihre Lichtarme schloß.

Noch war Wien für Alwina näher. Nicht die leergeräumte Wohnung oder die Abschiedsbesuche, bei denen ihr die Vorfreude unter den mißtrauischen Blicken und stereotypen Warnungen vor diesem Männerland fast abhanden gekommen wäre, aber das Wien mit Ichirō (schlafender Ichirō, sein Kopf lag schwer auf ihrem Arm), ein fließendes, weiches Wien, gepflastert mit den Glücksmomenten der unverhofften Begegnungen/nie zuvor war sie in dieser Stadt einem Menschen so oft zufällig begegnet wie Ichirō. Selbst wenn sie auf dem Land arbeitete, hatte sie ihr Auftraggeber alle paar Tage in die Stadt zurückgeholt, oder ihr waren die Farben ausgegangen, unweigerlich gingen ihr in den ländlichen Kirchen die Farben aus, und da stand Ichirō und studierte die Auslage einer Musikalienhandlung oder dolmetschte im selben Café am Nebentisch, und sie hatten ein Spiel daraus gemacht, sich heimlich zu erkennen, genossen die werbenden Blicke, die zufälligen Berührungen, holten unter den unwissenden Augen der anderen nach, was sie versäumt hatten: Kaum hatten sie sich kennengelernt, konnten sie sich nicht nah genug sein, die halbe Erdkugel trennte sie, doch zwischen ihren Körpern blieb nicht einmal Platz für einen Lufthauch.

Ichirō erwachte von den fremden Schlafgeräuschen, wußte nicht sofort, wohin er unterwegs war, an diesen vertrauten Körper gelehnt. Er mußte sich erst wieder daran gewöhnen, lauter japanische Gesichter um sich zu haben, vor manchem ein Mundschutz, diese selbstverständliche Geste, andere zu schützen, die Alwina belächelt hatte auf dem Weg vom Flughafen zum Zug, und zum ersten Mal hatte sie unverschämt gewirkt mit ihrem sprechenden Gesicht, ihren ausholenden Gesten inmitten der zurückgenommenen Gesichter, der stets nah am Körper bleibenden Arme. Ichirō bemerkte Alwinas Hand, die ihn berühren wollte. Er stand auf, ging zum Fenster, tauchte ein in die Dunkelheit.

Wie leicht es gewesen war, sie zum Mitkommen zu überreden. Ein Unbekannter hatte ihn angerufen, kurz vor Mitternacht, also frühmorgens in Japan, woher auch diese Fax-Briefe von morgen im Gestern ankamen, der Zeit ihre ordnende Kraft raubend. Wie unhöflich von diesem Japaner, die Zeitverschiebung nicht zu beachten! Hätte er nicht warten können, bis auch in Wien morgen gewesen wäre?

Während er das vertraute Japanisch der Südinsel gehört hatte, war Ichirō eingefallen, daß seine Mutter diesen Namen hin und wieder in ihren Briefen erwähnt hatte. Nagoya sei einer der reichsten Japaner, wie gut es doch für Sasebo sei, daß er sich hier niedergelassen habe, hatte sie geschrieben und das Wohltätigkeitsprogramm dieses Mannes bewundert, er zahle für arme Kinder das Schulgeld, finanziere den Neubau des städtischen Krankenhauses. Gesehen habe ihn noch niemand, hatte sie geschrieben, angeblich leide er an einer Kleiderallergie und könne deshalb sein Haus nicht verlassen.

Nagoya hatte ihn aufgefordert, möglichst bald, am besten schon morgen, mit Alwina nach Sasebo zu kommen.

»Woher kennen Sie uns?« hatte Ichirō gefragt und umsonst auf eine Antwort gewartet. Ichirō hatte keinen Grund gesehen, diesem Spinner weiter zuzuhören. Verschlafen legte er den Hörer auf, zog das Telefonkabel aus dem Stecker. Zurück blieb eine dumpfe Erinnerung an eine nächtliche Störung, die am nächsten Morgen vom Wasser mit den Resten des Schlafes von seinem Körper gespült wurde.

Dann waren die Konzertangebote aus Japan gekommen. Eines nach dem anderen, während Ichirō in Wien fast nur bei Hochzeiten und Kirchenkonzerten sang. Er hatte nicht nach Japan zurückgewollt, hätte es lieber in Wien geschafft, aber ein eigener Liederabend war seit dem Tod seines Lehrers wieder aussichtslos geworden. Hätte Alwina bleiben wollen, wären die Angebote kein Grund für die Rückkehr gewesen. Erst in ihrer Freude verschwanden seine Bedenken.

»Du wirst singen, nur noch singen«, hatte sie geschwärmt und war von ihren eigenen Träumen begeistert gewesen. Habe er ihr nicht in der ersten Nacht erzählt, wie anders er sich ein Leben vorstelle, das ganz der Musik gehöre? Ja, gab Alwina zu, er habe nie wieder davon geredet, aber trotzdem sei dieser Wunsch gültig.

»Und du«, hatte er sie sanft gefragt, um sie von ihrer Leichtsinnigkeit abzulenken, mit der sie ihn an längst entglittene Hoffnungen erinnerte, »und du«, hatte er sie ein zweites Mal fragen müssen, bis sie sich endlich losreißen konnte von ihren Phantastereien, in denen er als Sänger anerkannt und gefeiert wurde, wie nur sie ihn anerkennen und feiern konnte.

»Ja ich?« Wie sie die zwei Worte dehnte, wie sehr sie diese Frage langweilte, er würde nie eine Antwort erhalten, wenn er jetzt nicht darauf bestand.

»Und was wirst du in Japan machen?« hatte er sie noch einmal gefragt, und sein Deutsch hatte hart und fremd geklungen.

»Ich werde Englisch unterrichten, oder vielleicht will ein Verrückter Deutsch lernen, wer weiß? Und malen kann ich überall.«

Sie berührte seine Hände, genoß ihre weiche Haut, seine und ihre Hände glitten ineinander, waren für einen Moment ununterscheidbar geworden.

»Und wovon sollen wir leben?«

Er hatte ihre Hände nicht losgelassen, genoß ihre weiche Haut, die Bewegungen ihrer Finger, die seine so sanft berührten.

»Wir haben genug: deine Ersparnisse, meine Erbschaft, die Konzerteinnahmen – ich will nicht jetzt schon darüber nachdenken, was danach sein wird!«

»Und die Restaurierungen?« hatte er weitergefragt und die Antwort in ihrem Gesicht gelesen, bevor die Worte sie wiederholten. Als Restauratorin sei sie ersetzbar, aber niemals als seine Geliebte. Er hatte gespürt, wie sich seine Kiefer zusammenpreßten, die Nasenflügel bebten, hatte sie schnell umarmt, war in ihre Liebe geflüchtet, in der sie geborgen und ein Wechsel der Kontinente nur ein Spiel war.

Während sich der Widerschein der Stadt am Horizont abzeichnete, der Zug langsamer wurde und die ersten Fahrgäste aufwachten, fragte er sich, ob es nicht ganz anders war. Bevor sie Sasebo erreichten, wollte er diese Frage klären, zumindest für sich. Hatte ihn Alwina nicht immer wieder gefragt, wann sie endlich nach Japan fahren würden? Und hatte er nicht Angst davor gehabt, mit einer Fremden nach Hause zu kommen? (Vertraute Angst, auch jetzt saß sie wieder direkt hinter den Augen, mußte er auf den Boden starren, um seine Lider beherrschen zu können.) Vielleicht hatte Nagoya öfter angerufen, und Alwina war am Telefon gewesen? Vielleicht hatte Alwina ihm gestanden (nein, Alwina machte keine Geständnisse), – – – ihm zufällig erzählt (ja, so war es, sie erzählte und erzählte, kümmerte sich nicht um das Interesse der anderen, konnte sich in einen Erzählrausch versetzen, der schließlich doch alle Zuhörenden mitriß…) – – – hatte Nagoya zufällig erzählt, daß sie unbedingt nach Japan wollte, hatte, bereits weniger zufällig, hinzugefügt, daß ihr Freund Sänger sei, und absichtlich betont, wie schwer es japanische Sänger in Wien hätten. Hätte so Nagoya veranlaßt, für ihn Konzerte zu organisieren, diesem Angebot würde Ichirōniemals widerstehen können, wie er Alwina nicht widerstehen konnte, seitdem sie ihm mit großen Augen zugehört hatte, er ihr zusehen konnte, wie sie sich in seine Stimme verliebte (Liebst du um Schönheit,/o nicht mich liebe!/Liebe die Sonne,/sie trägt ein gold’nes Haar!), die keine Frau vor ihr interessiert hatte, die nur sie nicht oft genug hören konnte, an der nur sie nie zweifelte, so daß ihm die eigenen Zweifel abhanden gekommen waren in ihrer Sicherheit. Er hätte Alwina nach Nagoya fragen sollen, früher, viel früher, bevor er sich auf diese Reise eingelassen hatte. Jetzt war es zu spät, war es Zeit, die Frage zu vergessen, Wien zu vergessen, du willst wohl zum König des Vergessens gekrönt werden, hörte er Alwina spötteln, immer öfter drängte sich ihre Stimme vor, er mochte sie nicht, diese fremden Gedanken im eigenen Kopf.

Bald mußten sie aussteigen. Alwina zählte zum wiederholten Mal ihre Gepäckstücke. Sie hatte nicht genug Farben mitnehmen können, ihre Farben, an die sie gewöhnt war, die sie besser kannte als die Farben ihrer Augen.

Hinter der Sperre wartete Ichirōs Mutter. Während sich Alwinas Mund zu einem Grinsen verzog, blieben die Frau, deren Gesicht von Falten zerfurcht und deren Haar ergraut war, und ihr Sohn ernst. Alwina begrüßte die Frau auf japanisch, verbeugte sich wie Ichirō und seine Mutter.

Mit dieser Begrüßung war sie angekommen in der Fremde.

Im Taxi redeten Sohn und Mutter mitsammen. Alwina ließ sich ablenken von den bunten Laternen, den aufleuchtenden Reklameschildern mit den für sie viel zu schnell verschwindenden Schriftzeichen, die grell durch die Dunkelheit drangen und die Häuser hinter ihnen zum Verschwinden brachten. Dann versuchte sie doch, auf das Gespräch der beiden zu achten. Ichirōs Mutter verstand sie überhaupt nicht, und sein Japanisch hatte sich so verändert, daß einzig die Stimme vertraut blieb. In Wien hatte sich Ichirō geweigert, mit Alwina Japanisch zu reden. Er dolmetsche den ganzen Tag, hatte er gemeint, wenigstens mit ihr wolle er von diesem Hin und Her seine Ruhe habe. Alwina hatte sofort nachgegeben, zu unsicher in dieser geliebten/fremden Sprache, die sie nie gesprochen hatte. Als sie Ichirō zum ersten Mal in einem Café am Nebentisch mit japanischen Gästen in seiner Muttersprache reden gehört hatte, war ihr aufgefallen, wie anders das Japanisch ihrer Mutter geklungen hatte… Jetzt leuchteten manche seiner Worte mit den Reklamezeichen um die Wette: Nein, wollte Alwina sagen, nein, wir haben Tokio nicht besichtigt … nein, es hat auch nicht geregnet … der Flug soll angenehm gewesen sein? … kann so ein langer Flug angenehm sein? … oder erzählte Ichirō von der Zugfahrt? … – Welch ein sinnloses Herumrätseln, dachte sie, ich verstehe einfach nicht, was Ichirō seiner Mutter nach all den Jahren erzählt, in denen sich die beiden nicht gesehen haben.

Die Fahrt ging bergauf und bergab, die Stadt lag am Meer, über Buchten und Hügel verstreut. Einmal führte die Straße an der Küste entlang, aber Alwina konnte das Meer nicht sehen, was sie sah, waren unzählige Rücken von Menschen. Niemand drehte sich nach dem Auto um (was geschah vor ihren Augen?), das Taxi fuhr wieder bergauf, hielt vor dem Haus, das Alwina von Photos kannte und doch nicht wiedererkannte unter der schwachen Beleuchtung der Straßenlaterne.

In Ichirōs jetzigem Elternhaus, in dem er nur als Besucher gewohnt hatte, obwohl es eigens für ihn gebaut worden war, nachdem er sein Gesangsstudium in Tokio beendet hatte – irgendwo würden sie später sein Namensschild finden, das seine Eltern erst nach Jahren abmontiert hatten, als die vergebliche Hoffnung, Ichirō würde zurückkommen, nicht mehr schmerzte –, warteten die anderen auf sie: Ichirōs Bruder Taro und seine Frau Natsuko, deren drei Buben und sein Vater, den sie Otōsan nennen sollte, was Alwina genausowenig behagte, wie Ichirōs Mutter mit Okāsan anzureden. Vater und Mutter, die fremdesten Worte unter den fremden Worten, und doch war es einzig ihre Fremdheit, die sie erträglich machte, Klangworte, erinnerungsfrei.

Vielleicht warteten sie wirklich. Alwina nahm nur huschende Gestalten wahr, die auftauchten, verschwanden und woanders wieder auftauchten. Sie zog sich in dem äußeren Vorraum die Stiefel aus und stellte sie zu den anderen Schuhen in die Reihe. Hier herrscht Ordnung, dachte Alwina spöttisch, während sie Ichirōs Mutter beobachtete, der diese Ordnung nicht genügte, die Alwinas und Ichirōs Schuhe umdrehte, sie mit der Spitze zur Eingangstür stellte. Eine Gewohnheit aus Fluchttagen oder nur ein Ritual? Jedenfalls eine Ordnung, auf der von nun an auch Ichirō bestehen würde. Beschämt hatte er gleichfalls den Handbewegungen seiner Mutter zugesehen, hatte jede ihrer Bewegungen als hohnvolles Zeichen empfunden – ohne je die europäischen Gewohnheiten angenommen zu haben, dachte er, hatte er doch die eigenen vergessen, unerhörtes Vergessen, das nun aus den falsch hingestellten Schuhen auf ihn zukam, ihn wachsam und vorsichtig weitergehen ließ. Von diesem Augenblick an empfand er Alwina als Beschwernis. Schon verurteilte er ihre Leichtfertigkeit, mit der sie ihm vorauseilte, da niemand auf sie zugekommen war, kein Wort der Begrüßung von den inneren Räumen bis zum Eingang gedrungen war.

Der Tisch, an dem sie sich niederließen, nachdem sie sich doch noch vor allen verbeugen durften, befand sich in einem angenehm kahl wirkenden Tatamizimmer, das nach Süden hin einen schmalen Glasvorbau hatte. Im Osten stand der buddhistische Hausaltar, in prunkenden Goldtönen, umgeben von einem glänzenden schwarzen Lackrahmen, mit Blumen geschmückt, davor ein Schälchen Reis, eine winzige Tasse Tee und eine sandgefüllte Schale, in der die Räucherstäbchen steckten. Der Shintōaltar hingegen war aus hellem Holz und stand klein und unauffällig im Eck.

Natsuko servierte, räumte ab, wusch das Geschirr. Die Mutter ging für ein paar Stunden zur Hebamme, der Schwester von Ichirōs Vater, die längst keine Hebamme mehr war, aber für Ichirō und damit für Alwina immer die Hebamme blieb, deren jüngere Tochter morgen vor siebzehn Jahren gestorben war und für die an diesem Todestag ein Fest gefeiert werden würde, für das die Vorbereitungen längst begonnen hatten.

Ankommen, nachts, der toten Ayako zu Ehren in dieser und keiner anderen Nacht.

Alwina genoß es, bedient zu werden. Es war wie einst bei ihrer Mutter, die sie keinen Handgriff hatte machen lassen. Sie trank mit den Männern zuerst Bier, dann Sake und dachte sich nichts dabei, daß Natsuko den ganzen Abend nur die Teeschale vor sich stehen hatte. Ihren Kopf hielt Natsuko gesenkt, noch war ihr Gesicht das einer Unbekannten. Jahre später, als Natsukos Gesicht bereits wieder schemenhaft geworden war, fragte sich Alwina, wann sie die fast gleichaltrige Frau zum ersten Mal bewußt wahrgenommen hatte. Erst zu Weihnachten, als Natsuko aus einer alten Schachtel einen winzigen Plastikbaum für die Kinder auspackte und sie mit ihr das Essen besprach? Natsuko hatte sich geweigert, Sukiyaki zu kochen, bis Alwina betonte, sie würde alles bezahlen. Oder noch später? (Auf ihre anfänglichen Wahrnehmungen in der Fremde konnte sie sich nicht verlassen, sie waren beherrscht von einer fast krankhaften Erregung, mit der sie alles aufzunehmen versuchte, weil sie wußte, daß es diesen ersten Blick nie wieder geben würde.) Später, das war in jener Nacht, als Natsuko, nur mit einem Pyjama bekleidet, von den Schwiegereltern wegrannte, aber vor allem von ihrem Mann, verweint und redebedürftig zur Priesterin lief, die längst schlief, stundenlang sinnlos herumirrte, bis sie eine Telefonzelle fand, in der ein paar Münzen lagen. Zu Hause erreichte sie Ichirō, dessen Stimme fast brutal klang, als er ihr befahl, auf ihn zu warten, er würde sie sofort abholen. Ihr pausbäckiges Gesicht war verquollen, hatte auf dem einsamen Weg seine Kindlichkeit verloren. Unerträgliches Leben, eine Nacht lang. Am nächsten Morgen war es Alwina, die sich fragte, ob sie das andere Gesicht Natsukos nur geträumt hatte.

Ichirōs Vater zählte Alwina wieder und wieder auf deutsch vor und blieb regelmäßig zwischen vier und sechs stecken, worauf er beteuerte, ihre Sprache sei eine schwierige Sprache. Er redete in einem verstümmelten Japanisch, wiederholte immerzu nur das Wort schwierig, wollte es von Alwina hören, die sich bemühte, höflich zu bleiben, und sich bald nur noch langweilte. Er ist genauso penetrant wie mein Bruder (ein Bruder in den USA, eine Schwester in Japan – nur in Wien lebt niemand mehr von unserer Familie) und mindestens so kindisch, dachte Alwina. Ichirōs Vater schwieg nur, solange er trank, den guten Sake, den er trinken konnte, ohne gleich betrunken zu werden.

Ichirō redete mit seinem Bruder, und wieder konnte sie sein Japanisch nicht verstehen. Von Grundstücksproblemen war die Rede, aber wo dieses Grundstück lag und wer damit Probleme hatte, begriff sie nicht. In Wien hatte sich Ichirō darauf gefreut, daß sie als Ausländerin alle Fragen stellen durfte, die ihm verboten waren in diesem fragenlosen Land. Nun saß er neben ihr und war zu müde, um zu übersetzen, behauptete, selbst nicht zu verstehen, wovon die Rede sei. Er war zu lange fort.

Sein Vater wollte wissen, ob Alwina Englisch könne, bevor er ihr in seinem etwas veralteten Amerikanisch erzählte, daß er jahrelang als Nachtwächter auf der Militärbasis der Sieger gearbeitet hatte. Die Amerikaner hätten nur ehemalige Kriegsteilnehmer angestellt, das sei ihre Form der Rache gewesen, die Besiegten nachts im Kreis gehen zu lassen, von ihnen zu verlangen, die Siegersprache zu lernen.

Als Ichirōs Mutter zurückkam, schickte sie alle ins Bett. Kichernd wusch Natsuko die letzten Gläser ab, wünschte Alwina eine gute erste Nacht in der Fremde. Die Sprache auf die einfachsten Formeln reduziert – nichts sonst verstand Alwina. Vorsichtig fragte Ichirōs Mutter ihren Sohn, ob Alwina mit den japanischen Badegewohnheiten vertraut sei? Ichirō antwortete von oben herab, daß sie es spätestens ab heute sein würde. Dann sei es ja gut, sie könnten jetzt ins Bad gehen, meinte seine Mutter. Sie sah ihren Sohn nicht an, während sie mit ihm redete.

Ichirō und Alwina verschwanden in dem geräumigen Badezimmer. Er zog sie zu sich unter die Dusche, ein Tanz auf nassem Boden, aber sie fingen sich ja gegenseitig auf, sobald einer ausglitt. Alwina fror, es war ein zu früher Winter, das Wasser aus der Dusche war nur lauwarm, doch das Badewasser dampfte. Noch hatte der Alltag Alwina nicht erreicht. Noch konnte sie sich einbilden, das Badewasser sei nur für sie und Ichirō da. Kaum glitten sie in das heiße Wasser, rötete sich die Haut, und sie spürten ihre Müdigkeit.

Ichirōs Mutter hatte ihnen inzwischen mit Natsukos Hilfe das Bett in dem Festzimmer gemacht. Alwina schlief zum ersten Mal auf einem Futon, hörte zum ersten Mal die Schlafgeräusche von Ichirōs Eltern, die von den Schiebetüren kaum gemildert wurden, und verstand nicht, warum Ichirō nicht wie in Wien Haut an Haut, in einer weichen Umarmung liegen wollte.

Die Geräusche im Haus veränderten sich. Nebenan hörte Alwina Geflüster, dann Schritte, vom ersten Stock schlichen sich Natsuko und Ichirōs Bruder herunter, auch die Kinder hörte sie, Türen wurden zur Seite geschoben und offengelassen. Der Wind suchte sich seinen Weg. Alwina wollte aufstehen und ihnen nachgehen, aber da fing die Müdigkeit sie endgültig ein und ließ sie von diesem Vorsatz nur noch träumen. Am Morgen glaubte sie, das Weggehen der anderen hätte zu ihrem Traum gehört, gleich ihrem Herumirren in den kaum beleuchteten Straßen, in denen sie sich nicht zurechtgefunden hatte. Wie sollte sie auch! Sie wußte doch nicht einmal, wo der Lichtschalter für das Badezimmer war oder wie man die Schiebetüren im Haus bewegte, ohne daß sie quietschten.

Sie erwachten mit dem Sonnenaufgang. Ichirō schob die inneren Türen zur Seite, setzte sich hinter Alwina, damit sie sich an ihn lehnen konnte, während sich vor ihnen eine helle, diffuse Masse hinter der gegenüberliegenden Halbinsel zu einem Kreis sammelte, der langsam höher und höher kam, in den sie kaum noch schauen konnten, als er ganz zu sehen war, der einen glitzernden Lichtstreifen ins Meer warf, ein Silberband, das sich dem Ufer näherte, es erreichte, bevor sich die silbernen Farbtöne in ihrem eigenen Licht auflösten.

Wie geborgen sie sich fühlte, so an ihn gelehnt, von ihm umschlungen. Bald atmeten sie in einem Rhythmus, überließen sie sich der hereindrängenden Wärme, achteten nicht auf die lauter werdenden Küchengeräusche. Alwina weinte. Ichirō merkte es nur an den Tränen, die auf seinen Arm fielen. Er glaubte, Alwina weine vor Glück. Die Sonne spiegelte sich in den Hausdächern zu ihren Füßen, im Meer. Es war, als würde Amaterasu, die Sonnengöttin, sie persönlich willkommen heißen. Er wußte, wie sehr Alwina das Meer liebte, und er hatte sie ans Meer gebracht, das spiegelglatt vor ihnen lag, sich nur am Ufer kräuselte. Das Selbstverständliche wurde durch ihren fremden Blick auch für ihn neu. Zum ersten Mal in seinem Leben fand er dieses Haus, diesen Garten, diesen Stadtteil schön. Während er seine Heimat bewunderte, reiste Alwina zwischen Sasebo und Wien hin und her, wünschte sich, daß ihre Eltern hier wären, nicht verschwunden, wie die Mutter, nicht tot, wie der Vater.

Ihr Vater wäre längst mit seinem Skizzenblock unterwegs, und für einen Augenblick war er wieder lebendig, zog er sich hastig an, schwärmte von dem einmaligen Licht und bat mit einem bubenhaften Lächeln um Entschuldigung, weil er nicht mit ihnen frühstücken könne, aber dieses Licht, dieses Licht!, sie würden ihn doch verstehen! Alwina lachte, und seine Frau drängte ihn hinaus, und in solchen Momenten war es gewesen, daß ihre Mutter sagte: Wenn wir doch endlich nach Japan fahren könnten! Alwina hatte gesehen, wie Sehnsucht weh tun konnte. Sah es in dem Gesicht der Mutter, in dem die Augen groß und weit wurden, während sich alles andere zusammenzog, als würde es von dieser Sehnsucht zum Verschwinden gebracht. Dann holte die Mutter einen ihrer japanischen Romane und las Alwina vor. Alwina hatte ihrer Mutter gerne zugehört, hatte durch dieses Vorlesen spielerisch Japanisch gelernt. Aber vielleicht kein gebräuchliches Japanisch, sondern nur eine Geheimsprache ihrer Mutter – Zeichen übertragen in Laute, unverständlich für jeden, der nicht die gleichen Bücher gelesen hatte wie sie? Wie sie und ich, dachte Alwina, obwohl, in Wien hatte sie Ichirō doch verstanden, wenn er mit anderen redete. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Hatte sie gehört, was sie hören wollte, oder das, was er sagte?

Mit zwölf wollte Alwina selbst die Zeichenschrift lernen, heimlich. Ihre Mutter war gnadenlos, sobald es um ihre geliebten chinesischen Zeichen ging. Es sind Kunstwerke, Stümper haben da nichts verloren, hatte sie eine Freundin zurechtgewiesen, die mit ihrem Pinsel gespielt hatte. Von nun an saß Alwina öfter neben ihrer Mutter, wenn sie ihre Zeichen übte. Beobachtete genau die Pinselführung. Alle Unterlagen standen ihr zur Verfügung: Lehrbücher aus verschiedenen Jahrhunderten, Kunstbände, und ehrgeizig wie ihre Mutter übte sie verbissen, bis sie nach drei Jahren das Gefühl hatte, in ihren Augen bestehen zu können. Sie schrieb ihr einen Geburtstagsbrief, doch der Brief wurde nie geöffnet, und kein Zeichen wurde mehr geschrieben.

An diesem Tag war Alwina nach der Schule zu ihrem Vater in die Kirche gefahren, hatte ihm geholfen, das Altarbild zu restaurieren. Als sie nach Hause kamen, mit den Blumen und der Torte, war ihre Mutter verschwunden. Sie ist weg, hatte ihr Vater gesagt, ohne erst nachzusehen, ob sie etwas mitgenommen hatte. Alwina wollte es nicht glauben, war ins Schlafzimmer gelaufen, brauchte die herumliegenden Dinge, den fehlenden Koffer als Beweis. Wie hastig sie aufgebrochen ist, als wäre sie vor etwas davongelaufen, dachte sie jetzt, sogar ihre Übersetzung von Kenzaburōs Roman über die ungleichen Brüder, an der sie seit Jahren arbeitete, hatte sie liegengelassen, für immer liegengelassen, die Übersetzung erschien erst Jahre später von jemand anderem. Alwina hoffte, ihre Mutter wäre hierher geflohen, wo es so leicht wäre, sie unter all den japanischen Gesichtern zu entdecken. Ein Blick würde genügen, ein einziger Blick. Egal, wie sie ihre Haare trug, wie sich ihre Figur verändert hatte, hier gab es für eine Weiße kein Untertauchen, hier fiel sie auf, wie sehr sie dem Gedächtnis bereits entfallen sein mochte.

Ichirōs Mutter erinnerte ihren Sohn daran, daß bei dem Totenfest ein Geldgeschenk von ihm erwartet wurde. Als Erstgeborener müsse er den doppelten Betrag seiner Brüder geben. Kaum hatte sie die Küche verlassen, gestand er Alwina, daß er es vergessen hätte. Selbst bei den geringsten Kleinigkeiten, diesen notwendigen Tributen an das Zusammenleben, versage er. Von Alwina würde niemand erwarten, daß sie alles wisse. Aber durch seinen Fehler hätte die Familie das Gesicht verloren.

Wo sind all die verlorenen Gesichter?

Ichirō fand ihr Wortspiel lächerlich. Alwina hätte ihm gerne seine Sorgenfalten weggeküßt, doch er drehte ihr den Rücken zu. Dieser Rücken behauptete plötzlich ein Alleinsein für sie beide. Sie wandte sich von Ichirō ab und den Dingen zu, die aus dem Gepäck herausquollen, in die Hand genommen und einen Platz zugewiesen bekommen wollten.

Alwina und Ichirō verspäteten sich. Er war immer wieder stehengeblieben unterwegs, um ihr die Hügellandschaft zu beschreiben, wie er sie als Kind gekannt hatte. Kein Haus von all diesen Häusern sei hier gestanden, diese zahllosen Drähte und Leitungen hätten nicht den Blick zum Himmel durchkreuzt, zum Meer hinunter seien Reisfelder in Terrassen angelegt gewesen, und diese Straße, die sie nun gingen, sei ein Feldweg gewesen. Die Kinder, die in dieser Bucht wohnten, hätte der Lehrer bei starkem Regen nach Hause geschickt, denn der Bach, der den Hang durchschnitt – und von dem jetzt nichts mehr zu sehen war, da er unter einem Betonstreifen begraben war –, habe die Reisfelder überschwemmt und den Kindern den Heimweg abgeschnitten.

Sie waren von der Hauptstraße in einen Fußweg eingebogen, Katzen kreuzten ihren Weg, eine alte Frau saß auf einer Kiste, hielt einen kleinen Affen an der Leine, der im Haar der Frau nach Läusen suchte und den sie schnell an sich preßte, als sie Alwinas neugierige Blicke bemerkte. Alwina wäre gerne mit Ichirō bei der Frau mit dem Äffchen stehengeblieben oder immer so weitergegangen mit ihm, zu dem kleinen Friedhof vielleicht, auf dem Ayako begraben war und um den der Weg einen Bogen machte, oder irgendwohin, wo sie mit ihm allein sein konnte und geborgen in den Worten, die sie alle verstand und die er verstand.

Im ersten Vorraum war kaum noch Platz für ihre Schuhe. Sie mußten turnen, um in den zweiten zu kommen. Ichirō reichte Alwina die Hand. Diese flüchtige Berührung in seinem Land, in dem es galt, Abstand zu halten.

Ichirō hatte sie mit Worten auf diese Veränderung vorzubereiten versucht, aber seine Worte hatten Alwina nur gestreift. Sie hatte sich geweigert, sie aufzunehmen und wie eine Schuppenschicht über die Haut zu ziehen. Auf dieses Jauchzen, sobald sie Ichirōs Körper spürte, wollte sie nicht verzichten. Unverständlich blieb ihr, wie es, nur weil sie die Länder gewechselt hatten, für ihn sofort anders sein konnte. Er war angekommen im Vertrauten, und es lag nun an ihr, sich seinem Verhalten anzupassen, wie er sich in Wien ihrem angepaßt hatte. So seltsam ihr sein monatelanges Zögern, sie bei ihren Begrüßungen in Wiens Straßen zu umarmen, auch vorgekommen war, in Wien war sie zu Hause, konnte sie die Arme um ihn legen und sich an ihn schmiegen, auch als seine Arme noch nicht gewußt hatten, wo ihr Platz war. Alwina hatte darauf vertraut, daß sie ihn finden, ihren Körper als den Ort erkennen würden, an dem sie willkommen geheißen wurden. Hier lebten sie unter Menschen, die andere Gewohnheiten entwickelt hatten, und Ichirō bestand plötzlich darauf, ein traditioneller Japaner zu sein. Alwina mußte schnell lernen, schneller, als Schuppen benötigen, um aus glatter, weicher Haut eine unverletzbare Oberfläche zu machen, oder sie würde zwischen ihm und seinen Anpassungswünschen an dieses Land stehen, wovor ihm graute, wie sie an seinem immer ausdrucksloser werdenden Blick feststellte, aber wann hatte er sich dafür entschieden, alles Europäische abzustreifen, und wieso konnte er Haltungen wie Kleider wechseln, seine Haut war glatt und weich wie immer.

In dem Tatamizimmer saßen die Männer und die älteren Frauen um den buddhistischen Priester (der in seinen schwarzen Kleidern fast vertraut gewirkt hätte, wären da nicht sein kahlgeschorener Kopf und die fremden Gebete gewesen), während die jüngeren Frauen eben erst aus der Küche kamen. Alwina würde Zeit haben, sich die Gesichter einzuprägen, zu viele neue Gesichter auf einmal, aber da übersetzte ihr Ichirō die an sie gerichteten Worte des Priesters – Worte, die sie nicht einmal gehört hatte, konnten sie von nun an betreffen –, es sei wichtig, daß alle in dem Raum beteten, um den Geist der Toten friedlich zu stimmen. Fünfzig Jahre ein Geist sein, erst dann die Erlösung, die Gottwerdung, sosehr sich Alwina bemühte, sie sah nur Tote, gedachte ihrer, und sei es mit dem Murmeln von Silben, die sie selbst nicht verstand. Wie hätte sie wissen sollen, daß sie neue Gebete lernen mußte, diese blumige, rhythmisierte Sprache, vielleicht sollte sie lieber hinausgehen, störte ihre Unwissenheit das Gebet, machte aus dem gemeinsamen ein vereinzeltes? Aber Ichirō schüttelte den Kopf, sie gehöre zu ihm, neben ihm sei ihr Platz. Dieses spöttische Lächeln als Antwort, vor dem er sich zurückzog. Es war ein Fehler, mit ihr nach Hause zu kommen. Er hatte sich immer als Japaner gefühlt, aber er hatte Alwina ihren Glauben gelassen, daß er die Europäer, ihr Denken verstand, staunend über dieses Mißverständnis, bis ihm dieses verzerrte Spiegelbild eine ihn befremdende Sicherheit gab, die ihm eben erst bewußt wurde als Groteske. Hier, wo ihn nichts mehr von den anderen unterschied, er als Gleicher erkennbar war, angenommen, hatten sich binnen weniger Stunden ihre Rollen vertauscht. Jetzt war es Alwina, die auffiel. Inmitten seiner Familie wünschte er sich, er wäre allein zurückgekommen, ohne dieses sichtbare Signal seiner langen Abwesenheit neben sich.

Alwina fand in den Rhythmus des Sprechgesangs, verlor die Zeichen aus den Augen, aber einer war ja da, der ihr helfen wollte, dessen Hand das Heftchen losließ, den Zeigefinger ausstreckte und damit die Reihen hinunterfuhr. Dieser schöne Finger, diese schöne feingliedrige Hand, deren Berührungen sie fühlen konnte, jetzt hätte es sein können, daß sie durch ihr Haar fuhr, ihr Gesicht ertastete, ihren Busen streichelte – hineinbeißen wollte sie in diese Hand, damit diese künstliche Trennung keine Gültigkeit mehr hatte, oder wenigstens ihre Wange in sie legen, was Ayako, die Tote, nicht einmal als Geist verstehen könnte oder es endlich doch verstehen würde.

Alwina sah Ichirō neben dem Bett der Sterbenden sitzen, sah die Nadel in seinem Arm und die Nadel in Ayakos Arm, hilfloses Blut, das den Tod nicht bannen konnte. Die anderen Berührungen erst später, die hinabgesunkenen Hände auf die Bettdecke legen, der Toten die Augen schließen. Dieses eine Mal hatte Ichirō seine Cousine in den Armen gehalten. Sie war so leicht, kaum zu spüren auf dem Weg von dem Krankenbett zu ihrem Sarg. Dann war die Zeit der Berührung vorbei, nur noch die Flammen hatten sich diesem Körper genähert.

Der Duft der Räucherstäbchen verbreitete sich im Raum, das Geräusch der gegeneinandergeriebenen Kugeln der buddhistischen Betschnüre vermischte sich mit dem Schlagen der Trommel, gleichmäßig bewegte der Priester seine Arme, gab den Takt vor, dem sich die Stimmen anschlossen.

Das Gebet war zu Ende, die Heftchen wurden eingesammelt, alle standen auf, auch Alwina, aber sie nur kurz. Sie dankte ihrer Vorahnung, die sie rechtzeitig nach Ichirōs Arm greifen ließ, bevor sich ihr Körper dem Fallgesetz überließ. Die es bemerkten, lachten freundlich über sie, nickten verständnisvoll oder redeten auf sie ein, während sich die Hebamme beim Priester bedankte, ihn bezahlte und beschenkte, die jüngeren Frauen wieder in der Küche verschwanden und ihr Ichirō seinen Arm entzog.

Zu den fremden Gesichtern die fremden Namen. Zu manchen der Anwesenden fielen ihr Ichirōs Erzählungen in Wien ein. Der alte Mann mit dem vorgeschobenen Unterkiefer mußte sein Onkel aus dem Haupthaus sein, der seine Aufgaben als Familienoberhaupt nicht wahrnehmen wollte, nicht einmal heute, er verweigerte den Ehrenplatz, und Ichirō mußte ihn übernehmen, so weit weg von ihr. Alwina wollte sich neben ihn an die Längsseite des Tisches setzen, aber da war ein Aufschrei durch den Raum gegangen, und die Hebamme, die eben noch hinter einem Wandschirm ihren Kimono gegen ein Kleid getauscht hatte, war halb angezogen hervorgeeilt, hatte sie am Oberarm gepackt und zum Tischende hinuntergestoßen. Ichirō und Alwina hatten sich erstaunt angesehen, jeder ein Spiegel des anderen, so verblüfft waren sie sich wieder neu, wie Kinder kamen sie sich vor, in diesem Augenblick zum ersten Mal, aber ihr hilfloses Grinsen und ihre Folgsamkeit verrieten ihnen, daß sie sich innerlich bereits auf Wiederholungen einstellten.

Alwina ging zum Hausaltar und sah sich das Bild der Toten an. Das Photo zeigte eine junge Frau, von ihrer Krankheit, die seit ihrem zweiten Lebensjahr zu ihr gehört hatte, keine Spuren.

Sie kannte ein anderes Photo, das aus einem Buch herausgeglitten und auf den Boden gefallen war – in einer anderen Stadt, die langsam unwirklich wurde –, auf dem der nahe Tod sichtbar war. Ayako hatte Ichirō gedrängt, sie ein letztes Mal für ihren geschiedenen Mann zu photographieren. Die Hebamme hatte damals empört das Krankenzimmer verlassen, sie lebte bereits mit der Erinnerung an die Tote, als diese noch atmete und im Schmerz zu Hause war.

Einer fehlte bei diesem Fest zu Ayakos siebzehntem Todestag. Alwina wußte noch nichts davon.

Als Ayako verbrannt war, waren ihre Knochen nicht weiß, sondern schwarz gewesen, hatte ihr Ichirō erzählt. Geborgen an seiner Schulter, hatte Alwina den ausweglosen Tod Ayakos ertragen, und die ihr ungewohnte Zeremonie hatte Abstand geschaffen zwischen einer jungen Frau, älter als sie, und ihr. Von jedem Körperteil wurde ein Knochen in die Urne gegeben. Mit den Stäbchen sammelte die Familie die Knöchelchen ein, darum dürfe Alwina nie mit Eßstäbchen gleichzeitig mit einem anderen Esser in eine Schüssel greifen. Ayakos Urne war für einige Tage zu Hause aufgestellt, bevor sie ins Grab gelegt wurde.

Die Verbrennung hatte eineinhalb Stunden gedauert. Einer hatte auf den Knopf drücken müssen, der die Verbrennung Ayakos in Gang setzte. Das Warten auf die Knochen der Toten, die verbrennende Tote, die andere Verbrennung hatte lange zuvor begonnen: Die Hebamme war mit Ayako zu ihrer Freundin gefahren, um ihr bei der Geburt ihres ersten Kindes zu helfen. Yuko, Ayakos ältere Schwester, mußte allein zu Hause bleiben.

Yuko mußte oft allein zu Hause bleiben. Hat Yuko geweint, oder war sie gern allein? Und später – war sie ihrem Schicksal dankbar, oder verfluchte sie es, oder war sie ihm ergeben? Dachte Yuko oft an jenen Sommer, in dem die Verbrennung ihrer Schwester begann, während sie als die Ältere daheim gelassen wurde und weit genug entfernt war von einer Stadt, die Nagasaki heißt, an einem Tag mit dem Datum 9. 8. 1945.

Das Kind der Freundin kam am nächsten Tag tot zur Welt.

Ayako hatte im Freien gespielt.

Ihre Augen sind zuerst verbrannt.

Auch Ayakos Kind, das sie zwanzig Jahre später gebar, kam tot zur Welt. Aber davon wußte Alwina ebensowenig wie von dem fehlenden Gast, während sie vor dem Hausaltar stand und das Bild der Toten betrachtete.

Auf dem Heimweg würde ihr Ichirō davon erzählen. Manche Erinnerungen sind an ihre Umgebung gebunden, vielleicht verlieren wir uns, wenn wir die Länder wechseln, dachte Alwina Jahre später, an einem Oktobertag in Wien, an dem es um fünf Uhr dunkel wurde. Diese frühe Dunkelheit, die oft den Tag nicht zu sich kommen ließ, erschreckte sie, seitdem sie das Licht des Südens gewöhnt war. Um die Helligkeit einzufangen, stand sie im Morgengrauen auf und fuhr mit dem Taxi ins Café Drechsler frühstücken. Dann ging sie über den Naschmarkt zur U-Bahn. In den Geschäften hatte sie noch keine Kaki gesehen, hier gab es sie bereits zu kaufen. Wann hatten sie den Kakibaum abgeerntet? Jede Frucht hatten sie einzeln von dem Baum genommen/wie farblos ihr der Garten danach vorgekommen war, ohne die leuchtenden Kaki. Irgendwann werde ich wieder Kaki essen, dachte Alwina und wandte ihren Blick von den Früchten ab. Und irgendwann werde ich wieder Orchideen sehen wollen, diese wenigen Orchideen, die es in Wien zu kaufen gab, selbst von ihnen wandte sie den Blick ab. Orchideen im Garten, Orchideen in den Zimmern – immer wieder hatte ihr die Priesterin welche geschenkt, hatte sie eine aussuchen lassen, ihr verboten, sich um den Preis zu kümmern, gefallen müsse sie ihr, das allein sei wichtig. Mit zurückgeneigtem Kopf, das Gesicht dem feinen Nieselregen ausgesetzt, ging sie weiter, wollte weggehen von dem fernen Land, seinen Gerüchen und Farben, wieder einen Schritt weiter weggehen, dachte sie, mitten auf dem Naschmarkt in Wien, wo sie einst alles für ein japanisches Essen gekauft hatte, wohin sie immer wieder ging, wie unter Zwang, ohne etwas zu kaufen, nicht einmal die notwendigen Dinge für sich kaufte sie, blieb nur stehen und starrte die Kaki an, neben dem Kakibaum stand der Orangenbaum, auch die Orangen mußten oft geerntet werden, wenn sie noch nicht reif waren, bevor der erste Schnee fiel, der Schnee trocknet sie aus, sagte Ichirōs Mutter, oder hatte es sein Vater gesagt? (Die Bäume und der alte Mann – nur um die Bäume hatte er sich gekümmert, hatte sie zurechtgeschnitten und ihnen seine Form gegeben.) Das leuchtende Orange verschwand aus dem Garten, lag in Schalen auf dem Tisch, so saure Orangen hatte Alwina noch nie gegessen, aber nachdem sie sich an sie gewöhnt hatte, schmeckten alle anderen zu süß.

Ihre Fingernägel ritzten die Schale nur, konnten sie nicht von der Haut trennen. Dazu mußte sie ein Messer nehmen, all diese verschiedenen, schweren Messer, deren Schärfe sie beeindruckte, nur eines war für die Orangen bestimmt, wenn sie allein in der Küche war, wußte sie nicht, welches sie auszuwählen hatte. Die Angst vor diesen Messern, deren Schneide immer breiter war als ihr Griff, war sie nie losgeworden. Auch die Haut der Orangen war ungenießbar, stark und kaum zerreißbar umschloß sie das Fruchtfleisch, bestand darauf, ebenfalls mit dem Messer entfernt zu werden. Grobes Fruchtfleisch, sauer und von wunderlicher Köstlichkeit, die eine unstillbare Gier in Alwina weckte, sie konnte nicht genug von diesen wilden Orangen essen, in den Wintern, in denen sie in Sasebo war, blieb keine einzige übrig.

Aber vielleicht waren es weder die Kaki noch die wilden Orangen, weswegen sie immer wieder frühmorgens auf den Naschmarkt fuhr. Vielleicht war es nur wegen des Schwertverkäufers, den sie einmal dort gesehen hatte und dann noch einmal, als das Bedürfnis, an ihm vorbeizuhasten, überwindbar war. Ein makelloses Schwert steckte in einem Flechtkorb. Sie hatte es sich zeigen lassen, hatte das Schwert noch einmal in der Hand gehalten und wieder seine Schärfe bewundert/das Schwert und ich, zuletzt nur noch das Schwert und ich… Sie spürte wieder die Dankbarkeit des Schwertes, gegen die es keinen Schutz gab – eine fordernde Dankbarkeit, die danach verlangte, abermals töten zu dürfen. Es war, als wollte das Schwert Alwina an der Hand nehmen, um sich auf die Suche nach Köpfen zu begeben, die von ihrem Körper getrennt werden wollten. Dafür wurde es angefertigt. Dem Tod gilt seine Makellosigkeit.

Alwina hatte nicht gesehen, wie der Verkäufer vor ihr zurückwich, war versunken in die eigene Vergangenheit, bis er ihr das Schwert aus der Hand nahm, es in seine Scheide zurücksteckte und weg war, nichts mehr da war von all den Klingen, nur noch ein nackter Stand.

»Wo willst du einmal schlafen?«

»Dort oben unter den Palmen. Der Blick auf das Meer wird für alle Besucher angenehm sein.«

»Trotzdem bist du allein.«

Die Frau, die ihr Ichirō als seine Tante und Priesterin vorgestellt hatte, winkte ihr, sich neben sie zu setzen. So war Alwinas Platz zwischen ihr und der Hebamme, den beiden Schwestern von Ichirōs Vater.

Ichirō verstand seine Mutter nicht. Sie half der Hebamme, half der Priesterin, das Alter hatte sie verbittert und schwach gemacht. Wäre er an ihrer Stelle, er würde die beiden verachten, nichts sonst. Alles hatte sich verändert. Als er nach Tokio gegangen war, hatte seine Mutter mit ihren Schwägerinnen noch keinen Kontakt. Er ja, zu ihm waren die Tanten immer nett gewesen. Aber seine Mutter hatten sie schlimmer behandelt als die Fische. Mit Worten und Händen hatten sie die junge Frau aus dem Haus gejagt. Und daß sein Bruder trank, seine Frau schlug, die Kinder nicht ertrug, daran war in den Augen der Tanten allein seine Mutter schuld. Wäre eine der Frauen damals gestorben, diese milde Altersgeselligkeit hätte nie die Zeit ihrer Jugend aufheben können, doch so versank sie zwischen den Hilfsdiensten und Sutrarezitationen, zwischen all den Speisen.

Die Priesterin redete auf Alwina ein, viel zu schnell und in diesem ihr unverständlichen Dialekt.

Sprachfremde, Laute, nie zuvor gehört, nie gesprochene Fremdsprache, erlernbare Fremde, die Sprachmutter, die keine sein wollte, verloren mit der zweiten Muttersprache, verschwundene Mutter, ihre Sprache nicht übertragbar in die Fremde, Mutter, welcher Sprache hast du dich anvertraut, dein Zimmer, die Pinsel, das Reispapier, die Bücher … zuerst verstand ich die Worte, bevor ich ein Zeichen lesen konnte, ein einziges, die Rache der Wörter, ein falscher Laut, schon schwirren sie an mir vorbei, verbröseln sich, unentwirrbare Rätsel beschäftigen mein Hirn, dachte Alwina und klammerte sich verzweifelt an die wenigen Worte, die sie verstehen konnte und die doch nichts verrieten in ihrem vereinzelten Sein.

Sie bat die Priesterin, langsamer und etwas deutlicher mit ihr zu reden, was die Priesterin für einen Scherz hielt, über den sie so lachen mußte, daß sie Alwina nur noch mit Gesten erklären konnte, sie möge ihre Beine ruhig unter dem Tisch ausstrecken, zufrieden nickte, als Alwina ihren Vorschlag befolgte. Unstillbares Lachen, auch die anderen hielten Alwinas Bitte für einen Witz, bis die Hebamme energisch darum bat, doch endlich mit dem Essen anzufangen. Ichirō bestätigte später Alwinas Vermutung, daß über die Tote nicht geredet wurde, nur über die Qualität der Sushi, die köstlichen Sashimi. Alwina kannte kaum einen der zahlreichen Fische, die fein geschnitten auf dunkelgrünen Shisoblättern lagen. Sie richtete sich ein in der Exotik, kostete einen nach dem anderen, folgte den Empfehlungen der Priesterin, die inzwischen wieder auf sie einredete, ohne Alwinas vergebliche Überanstrengung zu bemerken, das Gehörte in Zusammenhang zu bringen mit dem Erlernten. Nur die Muscheln, die wie Schnecken aussahen und die man aus ihren Gehäusen herausziehen mußte, lehnte Alwina dankend ab, betrachtete lieber die winzigen, wimpernähnlichen Pilze, die neben den Algen in der klaren Suppe schwammen. Die Priesterin war mit ihren Muscheln fertig, und Alwina konnte wieder in ihr Gesicht sehen, altersloses Gesicht trotz der gefalteten Haut, ein breites Gesicht mit einem weichen, großen Mund, dessen Zähne in verschiedenen Metallfarben glänzten.

Wie viele Frauen sie auch in Sasebo kennenlernen sollte, die Priesterin würde die einzige bleiben, die wie sie nicht nur bei Familienfesten rauchte und trank, ohne jedoch betrunken zu werden wie Alwina. Kaum hatte sie ihr Sakeschälchen ausgetrunken, schenkte ihr die Priesterin nach. Ichirō gab ihr Zeichen, daß auch sie ihren Nachbarinnen einschenken müsse, was Alwina nun tat, mit dem Erfolg, daß sie noch mehr trank, denn jetzt füllte auch die Hebamme, die Alwinas Anwesenheit seit dem peinlichen Zwischenfall ignoriert hatte, ihr Sakeschälchen.

Erst bei den späteren Festen, als Alwina bereit war, sich zu den Frauen in die Küche zu begeben und mitzuhelfen, wurde sie in ihr Geheimnis eingeweiht. In den Teeschalen war Sake, sie rauchten und tranken in der Küche, dort, unter sich, gefiel es ihnen besser als an den Festtischen, wo die Männer das Wort hatten, ihre langweiligen Worte, sagte eine, und die anderen kicherten, setzten ihre ernsten Mienen nur auf, wenn sie servierten, abräumten, Befehle befolgten. Daß Alwina lieber bei ihnen gesessen wäre, hätten sie nie verstanden. Sie bestätigten sich das Nie, jede mußte es sagen, und Alwina konnte nicht einmal gekränkt sein angesichts dieser kichernden Frauen, die viel besser für sich sorgten, als sie geahnt hatte während ihrer wenig schmeichelhaften Beobachtungen, die nur den öffentlichen Raum umfaßten, nicht die andere Wirklichkeit hinter den Schiebetüren.

Nach dem Essen veränderten manche Männer nur ihre Haltung und legten sich an Ort und Stelle zum Schlafen hin. Alwina machte es ihnen nach, während die alten Frauen zum Priester gingen, um ihm nochmals Geschenke zu bringen, und die jungen Frauen wieder in die Küche. Im Traum beschimpfte Alwina die Männer, die keinen Finger rührten, kein einziger von ihnen war auch nur einmal während des Essens aufgestanden, um wenigstens zu helfen, und der Ärger setzte sich fest und überdauerte den Schlaf, und Alwina würde noch viele Gelegenheiten bekommen, ihn zu nähren, und würde länger, als ihr nachher lieb sein würde, brauchen, bis sie merkte, daß sie sich nicht anders verhielt, um keine Spur anders.

Vielleicht hätte ihr der Traum einen Hinweis darauf gegeben, aber als ihr Ärger gerade seinen Höhepunkt erreichte, weckte Ichirō sie sanft. Die Frauen seien vom Priester zurückgekommen, es gebe jetzt Tee und Süßigkeiten. Sie ließ seine Hand nicht los, warum konnte er nicht bei ihr bleiben, sie hatte ihn noch nie mit anderen Menschen teilen müssen, wozu wach werden, nur um wieder zu essen und zu trinken und nichts zu verstehen und nichts sagen zu können, ohne Gelächter hervorzurufen?

Es war das Schweigen hinter ihr, das den bisherigen Lärm der Kinder abgelöst hatte, das Alwina hinsehen ließ: Alle bildeten einen Kreis um ein Kind, das sich unter einem großen Tuch verborgen hatte. Das Kind unter dem Tuch richtete sich wortlos zu seiner ganzen Größe auf, die anderen daraufhin ebenfalls, so blieben sie stumm stehen, bis eines von ihnen in die Mitte ging, mit einer energischen Handbewegung das Tuch von dem Kind riß, sich darunter verbarg, hinhockte … und alles wieder und wieder, wortloses Spiel von Anfang an, ohne daß Alwina herausfand, was der Anfang sein könnte.

»Was hast du gesehen?«

»Dich, weiß und mit Schweißperlen auf der Stirn.«

»Und die Kinder?«

»Ich brachte dir Tee.«

Ichirō war erschrocken, als er Alwinas verändertes Gesicht bemerkte, drängte sie, mit ihm nach draußen zu gehen. Sie erzählte ihm von den Geräuschen, die sie vorm Einschlafen gehört hatte und die sie nun wieder für Realität hielt, von den erstarrten Menschen am Meer, die sich nicht nach dem Taxi umgedreht hatten. Dabei hatte sie unverwandt in das Abendrot gestarrt, und Ichirō gab zu, daß es ungewöhnlich war, wie es nicht nur das Meer erfaßte, sondern gleich einem sich ausbreitenden Feuer näher und näher kam. »Amaterasu zieht in die falsche Richtung«, sagte er, aber warum ihr alles ein Zeichen sei? Da drehte sie den Spieß um und fragte: »Ein Zeichen wofür?«

Die Hauptstraße hatte sich verändert, bunte Lampions leuchteten vor Verkaufsständen, und der schwere Geruch von Gebratenem umgab sie. Mit Alwina und Ichirō ging der fehlende Gast. »Das ist seine Schwäche«, meinte Ichirō, »daß er heute nicht gekommen ist.« Aber einmal war er gekommen. Ayako hatte nicht nur Schmerzen erlebt, sie war auch glücklich gewesen. Es mußte eine Zeit für sie gegeben haben, in der sie die Verstrahlung trotz der erblindenden Augen vergessen konnte, bis die Krankheit dann doch siegte: Das Kind von ihr und dem fehlenden Gast, der damals noch ihr Ehemann war, kam tot zur Welt, in keinem Tempelbuch steht sein Name, an keinem Tag wird seiner gedacht.

Es war die Nacht vor Ayakos Feuerbestattung. Wie heute waren die Verwandten zusammengesessen, Ayako lag aufgebahrt neben ihnen, diese Nacht gehörte ihr, in dieser Nacht redeten sie über sie, redeten nicht von ihrem geschiedenen Mann, bis er beharrlich um Einlaß bat.

Die Hebamme hatte unbedingt die Scheidung gewollt und sie mit der Energie der Gesunden gegen die Kranke durchgesetzt, damit Ayako in ihrer Nähe begraben werden konnte. Sie wollte den Mann, auf den Ayako so sehr gewartet hatte, nicht zur Toten lassen. Yuko hatte in jener Nacht für ihre tote Schwester geredet, deren Warten nach Erlösung schrie. Sie hatte dem Mann die Tür geöffnet, der zu spät gekommen war für die Lebende.

Du ahnungsloser Tor, warum erzählst du einer Närrin diese Geschichte, dachte Alwina. Siehst du nicht, was sie damit macht, wie sie gierig nach ihr greift, sie so lange verdreht und ausquetscht, bis sie mißbrauchbar ist für die Geburt einer Feindin, und diese Geburt, davon war sie überzeugt, würde keine Totgeburt sein.

»Vielleicht weiß Ayakos Mann nichts von dem Fest?«

Ichirō ließ ihren Einwand nicht gelten. Die Gedenktage seien vom Tod festgelegt.

Aber die Hebamme habe ihn doch sicher nicht eingeladen.

»Er war mit Ayako verheiratet, nicht mit ihr.«

Zu Hause wollte Ichirō endlich singen, doch seine Eltern hatten vergessen, das Klavier stimmen zu lassen. Schauerlich falsche Töne beleidigten seine Ohren, verärgert warf er den Deckel zu. Er hatte seiner Mutter bereits vor Wochen geschrieben, daß sie sich darum kümmern müsse. Ihre Nachlässigkeit war ihm unbegreiflich.

In der Dunkelheit liegen, Schlaf vortäuschen und stumm auf das Weggehen der anderen warten – sollten so ihre Nächte hier beginnen? Auch in den kostbaren Nächten waren sie nicht länger allein. Alwina wünschte sich, sie hätte kein Wort gesagt oder Ichirō hätte ihre Worte verlacht, wie er jetzt lachte, zu spät lachte er, humorlose Alwina, begleite ihn doch unter die Decke, zu den Bildern, von denen er dir erzählen will, sieh ihn dir an, den Gespensterzug, den er sieht, seine Eltern in langen Nachtgewändern, dahinter der Bruder und die Schwägerin und die Buben nach der Orgelpfeife, und fest stand, daß sie schwimmen gingen, aber warum sie das taten, darüber konnten sie sich einfach nicht einigen, Alwina war überzeugt, ein wunderschönes Schiff warte auf sie, aber für Ichirō, der von Kindheit an mit großen und kleinen Schiffen vertraut war, ergab das keinen Sinn. Er glaubte, sie würden dem Wahn anhängen, Nachtbäder im winterkalten Meer würden ein ewiges Leben garantieren, möchtest du denn ewig leben, welch ein irrsinniger Gedanke, nur der Tod hält uns wach.

Endlich konnte sie ihn fragen, warum die Priesterin gelacht hatte über ihre Bitte, nicht im Dialekt zu reden.

»Es sind einfache Menschen, sie können nur ihren Dialekt. Hätte sie nicht gelacht, hättest du sie beleidigt.«

»Ich dachte, du stammst von einer Samuraifamilie ab.«

»Mütterlicherseits, meine Liebe. Heute warst du unter Fischern und Bauern. Ich mag, wie sie reden. Es ist mir vertraut.«

»Und warum redet deine Mutter nicht mit mir?«

»Sie hat Angst vor dir.«

»Das ist ja lächerlich. Vor mir hat noch nie jemand Angst gehabt. Und dabei soll es auch bleiben.«

»Meine Mutter hat noch nie mit einer Fremden gelebt.«

»Aber Natsuko war ihr auch fremd, als sie hier einzog.«

»Natsuko ist Japanerin.«

Alwina konnte sein Gesicht nicht sehen, seine Stimme klang zärtlich. Trotzdem, ihr Magen hatte sich bei seinen Worten zusammengekrampft, und sie glaubte, unter dem zärtlichen Tonfall einen zweiten gehört zu haben, mit dem er sie verhöhnte. Dieser Hohn war in ihren Körper gedrungen, blieb als empfindlicher Schmerzpunkt zurück.

Von nebenan hörten sie Geflüster, vorsichtige Schritte durch die Küche und die Stiegen hinunter, jemand zog die Haustür behutsam zur Seite. Sie standen hastig auf, und das einzige, was Ichirō sagte, war: »Das geht nicht. Ich bin der Erstgeborene. Sie hätten es mir sagen müssen.«

Er hatte nicht mit Alwina geredet, sondern mit jenen, die eben das Haus verlassen hatten. In diesem Augenblick waren sie beide Fremde. Alwina erschrak. Von dieser Gleichheit hatte sie nicht geträumt.

Wie oft hatte Ichirō in Wien erwähnt, daß er der Erstgeborene sei, doch die Bedeutung dieses Wortes würde sie erst hier begreifen. Ichirō hatte soeben beschlossen, sich dieses Recht zurückzuerobern. Er hoffte, Alwina würde nicht einmal ahnen, was ihm gerade angetan worden war. Es war wie eine Kastration im Kopf. Sie hatten das alte Gesetz mit ihren schleichenden Schritten wie Müll behandelt, sein Vater, der seit gestern nur betrunken war, seine Mutter, deren Gesicht vor Verbitterung fast zerriß, Taro, sein lächerlicher Bruder, der unfähig war, seine Familie allein zu ernähren, und die ihm zustehenden Räume bewohnte, obwohl Ichirō zugab, es immer zugegeben hatte, daß es der Mittlere am schwersten hatte, aber nicht so schwer, daß er sein Leben lang unfähig bleiben mußte, selbständig zu werden, nein, so schwer wiederum nicht. Sie alle hatten so getan, als wäre er weiterhin unerreichbar weit weg. Endlich waren alle nostalgischen Gefühle verschwunden, konnte er sie in ihrer Bequemlichkeit sehen. Sie wußten seit Wochen, daß er mit Alwina kommen würde, und in all diesen Wochen hatten sie sich nicht umgestellt, wie langsam sie waren, wie unbegreiflich langsam.

Seine Verwandten mußten Ichirō von dem Fest, mit dem er willkommen geheißen wurde, oft erzählt haben, es war, als würde er selbst sich daran erinnern, wie das Haupthaus, dieser immer bleibende Bezugspunkt, drei Wochen nach seiner Geburt mit riesigen Stoffkarpfen, Blumen und Fahnen geschmückt wurde, wie sie ihn hochleben ließen mit Sake und gutem Essen, ja, es war, als wäre er mit den Fischern nachts hinausgefahren, um die besten Fische zu fangen, als hätte er mitgetrunken und mitgegessen und die Dekorationen bestaunt, und als wäre Amaterasu seine Taufpatin gewesen. Nur für Alwina war das Selbstverständliche, daß seine Familie drei Wochen mit dem Willkommensfest gewartet hatte, sogar seine Geburtsurkunde erst um diese Zeit ausgestellt wurde, befremdlich. Sie wußte nichts von den Erinnerungen an die Neugeborenen, die am Hunger starben, an den milchlosen Brüsten im und nach dem Krieg, der Armut, die anhielt.