Frühstück bei Fortuna - Elisabeth Reichart - E-Book

Frühstück bei Fortuna E-Book

Elisabeth Reichart

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Beschreibung

Zuerst spalteten wir Atome, jetzt spalten wir Atome und Zellen – die anerkannte Stammzellenforscherin will bei diesem Spaltungswahn nicht länger mitmachen. Sie versucht lieber, missglückte Zellveränderungen ihrer Kollegen rückgängig zu machen um den Preis des Verschwindens aus der wissenschaftlichen Community. Am Anfang hat Erik das Wort, verunsichert in seiner Liebe zu ihr. Er spürt, dass sie die Zellen mindestens so liebt wie ihn und vielleicht sogar Leo, über den sie nie spricht. Wie mit einem Toten konkurrieren, wie mit Zellen? Sie liebt auch den Wienerwald. Die Lichtspiele, die Vielfalt der Farben, die Zartheit der wilden Blumen. Doch mitten im Märchenwald: Pilze. Schwarze Riesenpilze, am Wegrand aufgereiht wie Wachsoldaten. Die wissenschaftliche Neugier hat ihren Preis. Der ausgelöste Strahlen - alarm im Institut lässt Fassaden bröckeln, Beziehungsgerüste zusammenbrechen und ermöglicht neue Sehnsüchte. Liebe in ihrer Vielschichtigkeit, Hass und Angst, eine Natur, die nicht vergisst, Wissenschaft an der Grenze zur Legalität inmitten unserer Gegenwart: alles erfahrbar durch Figuren, die auf ihren Eigenartig keiten bestehen. Faszinierend und irritierend ermöglichen sie eine andere Neugier auf uns selbst.

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Elisabeth ReichartFrühstück bei Fortuna

Elisabeth Reichart

Frühstück bei Fortuna

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1247-4

© 2016 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIENAlle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.atDruck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o.,69123-Pohořelice, TschechienCoverbild: M. F.

Inhalt

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

Epilog

Prolog

Ich liebe sie, aber sie darf nie erfahren, wie sehr; würde sie das Ausmaß meiner Liebe ahnen, wäre sie weg; sie würde das Land verlassen, die Erde, ich weiß nicht, wohin sie gehen würde, aber sie würde weggehen, unerreichbar weit weg. Sie erträgt meine Liebe nicht, keine Liebe; es ist hoffnungslos, und trotzdem hoffe ich auf meine Art …

Liebste, ich grenz an dich, wie an nichts sonst …

Ich kenne sie besser als sie sich selbst, ich studiere sie, beobachte sie, meine einzige Möglichkeit, ihr nah zu sein, wirklich nah …

Ich kenne sie besser als mich selbst. Während mir meine eigenen Reaktionen immer fremder werden, weiß ich, wie sie reagieren wird, obwohl ich mich in letzter Zeit manchmal täusche, was vollkommen verrückt ist, ich kann sie unmöglich weniger gut kennen als früher!

Sie glaubt, sie steht auf einem Abstellgleis, in Wahrheit ist sie das Zentrum, sie sucht sich die Fälle aus, die sie bearbeitet; sie behauptet, sie entscheide nach … was behauptet sie … sie behauptet gar nichts, sie redet nicht über ihre Arbeit; gut, sie ist geheim, aber mir könnte sie alles erzählen. Oder glaubt sie, ich würde darüber berichten?

Ein vermutetes Leben, eine vermutete Liebe; würde ich sie so sehr lieben, wenn sie mich bedingungslos lieben würde? Ich weiß es nicht. Was weiß ich von ihr nach den vielen Jahren, diesen ungezählten Jahren, sie verweigert jede Jahreserinnerung …

Ich vermute, ich spekuliere, es steht mir so wenig zur Verfügung …

Anfangs sprach sie manchmal von ihrer Vergangenheit, anfangs, als ich nicht richtig zuhören konnte, gefangen von dieser Liebe auf den ersten Blick, die ich bis zu der Begegnung mit ihr für ein Gerücht hielt. Eine Erfindung von Internetfanatikern, die sich mit ihren Geschichten wichtig machen müssen …

Wie weit darf ich in ihren Computer eindringen, ihr Handy, jedes mögliche Geheimnis vermute ich dort – wenn ihr Computer so unschuldig ist wie ihr Handy, kann ich ihn vergessen. Ich habe es oberflächlich überprüft; offensichtlich betrügt sie mich nicht, das wäre zu leicht, ein anderer, eine andere, dagegen könnte ich kämpfen, aber gegen ihre Liebe zu diesen Zellen habe ich keine Chance …

Einmal ertappte sie mich; sie sah mich an und sagte: deine Zellen sind erstarrt; oh Gott, habe ich mich schlecht gefühlt; ich dachte, sie hätte mich durchschaut in meiner wahnsinnigen Eifersucht auf ihre Liebe zu den Zellen; dann sagte sie: sie erstarren immer noch, sie erstarren noch mehr, du stirbst, wach auf! Sie dachte, ich schlafe, sie dachte, ich hätte einen Alptraum.

Mein Alptraum sind die Zellen, in die sie verliebt ist; nein, nicht verliebt, sie liebt sie; wie kann sie Zellen lieben? Jede einzelne Zelle eines Körpers, jede Zellstruktur in diesen Petrischalen, die sie durchs Mikroskop beobachten muss, unsichtbare Zellen, eine Liebe durch das Mikroskop, Mikroskopliebe – ich verstehe das nicht: Da bin ich, ein erfolgreicher Mann, ein gut aussehender Mann, ein Mann, begehrt von den Frauen! Wie lästig, diese einladenden Blicke, die anzüglichen Fragen, und statt mich zu lieben, liebt sie Zellen, noch dazu kaputte Zellen! Ich gehe nicht aus, gehe nur von der Wohnung ins Büro und nach Hause, suche dunkle Männerkneipen, wenn ich ausnahmsweise nicht allein sein will, lasse mir das Essen ins Büro oder die Wohnung bringen, um diese Blicke nicht ertragen zu müssen und dieses aufgedonnerte Styling! In der Redaktion verwechsle ich die Sekretärinnen, alle gleich gestylt, nichts Eigenes erkennbar; der Blick auf eine genügt, um alle zu sehen oder keine; und nach wenigen Tagen sehen die Praktikantinnen aus wie die Sekretärinnen, kein Fingernagel ist mehr abgebrochen, alles künstlich, bis hin zum Busen; keine Fingernageltreffen mehr in den Waschräumen; dieser verdammte Drang nach Perfektion bis hinein in die künstlichen Fingernägel, künstlich verlängerten Haare oder zum Bürstenschnitt reduzierten; der Wahnsinn der Selbstoptimierung; ich weiß, was vor sich geht, ich war wie meine Mitarbeiter, nur besser – bis ich sie kennen lernte, ihre Art zu denken.

Weiterbildung, Fortbildung – ist noch niemandem aufgefallen, dass diese Worte die Wahrheit sagen: Ich bilde mich weg von mir und am besten gleich fort, fort vom fehlerhaften Menschen, hinein in die Perfektion! Nur um ununterscheidbar zu sein. Nichtssagende, geschminkte, gestylte Menschen; seit einiger Zeit gleichen sich die Männer den Frauen an, nicht nur in der Wissensoptimierung, auch im Outfit, dem Körperkult; die Duschgels bestimmen die Raumluft; die Männer sind dezenter geschminkt, aber sie sind es! Sie verwechseln die Redaktion mit einer Bühne, der Alptraum wird nicht kleiner, nur umfassender …

Auch die Stimmen klingen gleich, alle gehen gleich und ein Lächeln gleicht dem anderen, die Männer bewegen sich weiblicher, die Frauen männlicher, kein Unterschied mehr erkennbar.

Zum Glück habe ich ein Büro für mich allein …

Sie? Sie hat damit nichts zu tun – sie hat keine Zeit fürs Styling, das Nagelstudio, den Friseur.

Mein Gott, dieser Körper, dieser Verstand, dieses Herz – würde es doch einzig für mich schlagen, ich wäre der glücklichste Mann, ja? Sicher? – Ich vermute es …

Aber nein, ihr Herz schlägt für Zellen, manipuliert von Ärzten, Forschern; sie will sie ins Leben zurückholen. Überall herrscht Krieg, nur wo Krieg herrscht, braucht es Rettung, der Krieg gegen Zellen braucht eine Zellretterin, das sehe ich ein, aber warum muss ausgerechnet sie sich zur Zellretterin berufen fühlen? Als ich mich in sie verliebte, war sie noch begeisterte Stammzellenforscherin! Bis sich jedes neue Experiment als sinnlos erwies; sie immer verzweifelter wurde; ich sie trösten konnte, es war wunderbar, sie in meinen Armen zu halten und zu trösten; kein Trost mehr, kein Tröstender, diese Rolle hat sie mir genommen; sie hat ihren Berufswechsel nicht mit mir besprochen, nie bespricht sie etwas mit mir, entscheidet lieber allein …

Jetzt liebe ich eine Zellretterin – auch ein Schicksal …

Sie liebt nicht nur Zellen; sie liebt auch den Wald, ich hasse den Wald; den realen Wald; ich verachte jede Natur, ich bin ein Stadtmensch, ein hundertprozentiger Stadtmensch; ich will nicht in den Wald, nie wieder! Einmal ist es ihr gelungen, einmal ließ ich mich in den Wald zerren, emotional zerrte sie so lange an mir, bis ich meine Taktik änderte und mit ihr in ihren geliebten Wald ging, überzeugt, einmal würde reichen, um ihren Blick auf das Ungeheuerliche des Waldes zu lenken. Ich war zu unausstehlich, sie brach den Ausflug ab. Es hat nichts genützt, sie liebt den Wald wie vor dieser Exkursion und ich liebe die Stadt; wenigstens lebt sie in der Stadt, auf dem Land würde ich ihr nie begegnen; vielleicht doch? Für sie würde ich sogar auf dem Land leben übers Wochenende, würde die Wohnung nicht verlassen, die Fenster schließen, die Vogelgeräusche und was es auf dem Land noch gibt, aussperren …

Schlangen, Vogelspinnen, Löwen, Tiger, Bären, Wölfe? Es reichen Ratten, Hasen, Marder, Mäuse, Frösche, Rehe, Gämsen, Füchse, Schlangen, Wildschweine, wilde Schafe, eklige Zecken und Stechmücken, vollgepumpt mit lebensbedrohenden Giften und Viren …

Zugegeben, Ratten, Mäuse, Marder gibt es auch in der Stadt, aber hier muss ich sie nicht sehen, sie sind so dezent und verschwinden, sobald ich mich nähere, ziehen sich zurück in den Untergrund …

Wären nur die Zellen, wäre nur der Wald – alles wäre möglich: Landleben, leben mit ihr, egal wo, aber das gibt es nicht mit ihr, gibt es nirgendwo mit ihr; sie lebt unter einem Kokon, der sie schützt vor mir und allen; der sie als Original erhält gegen diese Trends der Welt. Dieser Kokon heißt Leo; und wenn ich je hasste, je verfluchte, dann Leo; Leo ist der wahre Alptraum für mich, jeder andere Alptraum zählt nicht gegen den Leo-Alptraum. Dieser undurchdringliche Kokon besteht aus Leo, Leo und wieder Leo und noch einmal Leo und als Draufgabe wieder Leo; Leo, die Endlosschleife …

Ich habe Leo recherchiert, das ist mein Beruf – es war nicht viel zu finden, damals gab es nur Zeitungsarchive, kaum Internet. Leo, der Kleinkriminelle, der sie benutzte, ausbeutete, wie es für Kleinkriminelle üblich ist, vermute ich. Außer Leo kenne ich keine Kleinkriminellen, nur die großen Verbrecher füllen meine Dateien; ich vermute, er ließ sie für sich arbeiten, war ihr Ausbeuter; alles lief auf sie: die Firma, Höhlenartikel, was sonst, die Wohnung, das Auto – lauter Hinweise, dass Leo bereits früher in Deutschland lebte und sich erwischen ließ bei seiner Kleinkriminalität; kein schlechtes Wort von ihr über Leo, sie sah seine Kleinheit nicht!

Wie kann ich Leo in den Hades schicken?

Wie einen Toten auslöschen?

Ich weiß nicht, wie viel sie über Leo weiß; nach der ersten Zeit hat sie nie wieder von ihm erzählt und ich hüte mich, ihn in unsere Gemeinsamkeit mit lächerlichen Fragen einzuladen. Dieser Fehler ist mir nur einmal passiert, als wir Fotos sortierten, tauchte Leo auf, sie muss das Foto unter unsere Fotos geschmuggelt haben, unbewusst, wie alles bei ihr unbewusst ist, vermute ich, was die Zeit mit Leo betrifft, und ich bin darauf reingefallen, habe nach Leo gefragt und ihr Lächeln gesehen beim Blick auf das Foto, ein Lächeln, das sie mir nie gönnte, nicht einmal, während ich ihr Gedichte vorlese. Du hast die ideale Stimme für Gedichte, sie klingen wie Musik, behauptete sie immer wieder, und ich nahm ein paar Stunden bei einem Schauspiellehrer, um ihr unsere Lieblingsgedichte professioneller vorlesen zu können … Für sie sind sie jedes Mal neu, ich beneide sie darum.

Leo war kein schöner Mann. Sie blieb dabei: Er war ein schöner Mann. Hätte ich ihr nicht widersprochen! Aber es war zu offensichtlich: die nach innen stehenden Zähne, die kaum sichtbaren Lippen, der lächerliche Bart, der dieses unmännliche, schmale Gesicht aufwerten sollte, dabei hasst sie Bärte, findet jeden Bärtigen lächerlich, die kleinen, tief liegenden Augen, nichts war schön, keine Einzelheit und nicht das Gesamtbild! Wie konnte sie so blind sein? Wenn sie ihn für schön hielt, war ich dann hässlich? Nein, niemals, du bist der schönste Mann, den ich kenne, behauptete sie frech, vermutlich hatte sie längst vergessen, dass sie auch Leo für einen schönen Mann hielt! Groß war er, schlaksig war er, jung war er, unverschämt jung, obwohl, heute wäre er älter als ich; auch ich war damals jung, aber nicht an ihrer Seite, sondern Leo! Mein Gott, sie war erst zwanzig, als sie ihm in die Hände geriet, ZWANZIG! Keine Lebenserfahrung, weg von den Eltern, hinein in die Freiheit, studieren, in einer anderen Stadt, Wien, München, es trieb sie umher, sie suchte noch nach ihrem Leben, da erschien er und versprach: LEBEN! Ach, dieser Lebenskünstler, zehn Jahre älter als sie oder zwölf, nein, noch mehr, egal, es kommt auf sie an, auf sie allein! Sie war noch ein Küken, obwohl sie das bestreiten würde, aber mit zwanzig glauben viele, bereits mitten im Leben zu sein, dabei tasten sie sich erst von den Rändern hinein, oder lümmeln an ihnen herum, vergeuden die kostbare Zeit mit einem, der Leo heißt! Ihre erste große Liebe, vermute ich. Keine Rede von einem davor. Auf dem Foto waren sie und er – sie frierend, er lachend; sie friert immer noch, nur in ihrem Schutzanzug im Labor friert sie nicht, in diesem eiskalten Labor, aus dem die Kälte unter den Schutzanzug dringt, ohne dass sie es merkt. Das sagt alles. Nein, das sagt nichts, außer, dass sie die Kälte während ihrer Arbeit nicht bemerkt, erst danach, immer danach und immerzu, wenn sie nicht in ihrem Labor ist, in dem jeder erfriert. Sie liebt ihre Arbeit, dieses Nichtfrieren oder das Nichtspüren, wie sehr sie friert, ist der beste Beweis. Ich beneide sie.

Ich hasse meine Arbeit mehr und mehr. Das ist der größte Unterschied zwischen uns, vermute ich – Arbeitsliebe, Arbeitshass; hoffentlich wächst ihre Liebe nicht so beständig wie mein Hass – an welchen Enden der Parabel würden sie sich begegnen? Könnten sie einander auslöschen? Meine Arbeit lieben, unvorstellbar. Ich arbeite, um Geld zu verdienen, möglichst viel Geld, um Einfluss zu haben und mächtig zu sein, Macht ist ein unglaublich gutes Gefühl; vielleicht hätte ich gerne Macht über sie? Neben ihr, mit ihr bin ich machtlos, nicht absolut machtlos, aber ziemlich machtlos; manchmal kippt meine Liebe in Hass, wenn sich meine Machtlosigkeit ihrem kritischen Unerträglichkeitspunkt nähert. Dann muss ich mir etwas einfallen lassen, ich weiß nicht, was ich tun würde nach dem Überschreiten des kritischen Punkts, ich vermute, nichts Angenehmes, nicht für sie, nicht für mich, eher zerstörerisch für uns, eher das Ende für uns; dieses Ende gilt es zu vermeiden, das hat absolute Priorität.

Ich weiß nicht, was ich ohne sie täte, ohne meinen einzigen Bezugspunkt außerhalb von mir, nein, das ist Unsinn, sie ist nicht außerhalb, sie ist in mir, in meinem Kopf und Körper, in mir ist sie! Von jeglichem Außen trenne ich mich spielerisch: Wohnung, Stadt, Arbeitsplatz, Kollegen, kein Problem, das Problem ist vielmehr sie, weil ich sie so sehr in mich hineingelassen habe, bis in meine Gehirnwindungen ist sie vorgedrungen – ich habe sie dazu eingeladen, aufgefordert, hineingezogen/gedrängt, wollte sie so nah, um sie endlich begreifen zu können, als hätte ich nie gewusst, wie wichtig Abstand ist/haltet Abstand, schrie eine laut und deutlich, der halbwegs objektive Blick nur so möglich, aber ich wollte keinen möglichst objektiven Blick auf sie werfen, auch keinen subjektiven, überhaupt keinen, schon wieder so ein Unsinn! Diese größer werdende Entfernung macht mich verrückt!

Du lachst und weinst und gehst an dir zugrund …

Mit meiner V.I.P. Card kann ich jederzeit zu ihr fliegen, ich kann im letzten Moment am Flughafen erscheinen, das nenne ich Karriere! Warum reizt sie Geld nicht? Weil ich keine Zeit habe, es auszugeben, sagte sie einmal. Würde sie in der Stadt spazieren gehen, könnte sie Geld ausgeben. Im Wald gibt es nicht einmal Bettler, stellte ich bei meinem einzigen Waldspaziergang mit ihr fest. Firmenauto, Firmenparkplatz, das nenne ich Erfolg, genauso meinen Dauerparkplatz am Flughafen! Champagnerempfänge, das nenne ich Beruf! Und es macht Spaß, aber lieben? Meinen Beruf lieben?

Natürlich bin ich gut in meinem Beruf, ich funktioniere, versage nie! Ich bin das Kind von Karrieristen, die immer funktionierten, die mich funktionieren lehrten, nichts anderes ist mir vorstellbar, außer mit ihr, durch sie. Ich war noch nie in meinem Erwachsenenleben krank, ich betreibe keine halsbrecherischen Sportarten – ein Skiunfall, gebrochene Glieder, ein Absturz mit dem Paragleiter, Rollstuhl, undenkbar, länger als eine Woche würde ich die Redaktion nie verlassen. Früher spielte ich Golf, aber seitdem ich weiß, dass hochgiftiges Glyphosat auf den Rasen kommt, damit kein Unkraut den Blick irritiert, verzichte ich darauf. Am liebsten würde ich die EU verklagen! Immer wieder wird die Entscheidung hinausgeschoben. Wenn ich den Namen Monsanto höre, könnte ich gegen die Wand rennen, wie die Bauern gegen eine Wand aus Ignoranz, Dummheit und Macht anrannten, die von Monsanto verklagt wurden, weil auf ihren Feldern zwischen dem guten Getreide einige genmanipulierte Monsanto-Pflanzen wuchsen. Welcher Wahnsinnige macht sich auf die Suche nach einzelnen Getreidehalmen, Maispflanzen? Und wie aggressiv muss ein Konzern sein, dass er noch nie etwas vom Wind gehört hat, der Saatgut verbreitet, oder von Vögeln, die es auf ihrem Bauch mitnehmen wie den Fischlaich. Warum verklagen sie nicht den Wind, die Vögel? Und mit diesem Konzern legt sich die EU ins Bett und die Bayer AG will ihn übernehmen. Demnächst werden die Bauern hier mit Patentklagen der Bayer AG traktiert. Das steigert den Umsatz von Bayer-Aspirin. Wir Deutschen haben vergessen, dass dieser Leverkusener Konzern ebenfalls Roundups erzeugt, sie passen besser zu Monsanto als gedacht.

Kontaktpflege am Golfplatz? Lachhaft! Würde ich mich nicht perfekt abschotten, die Mächtigen aus Wirtschaft und Politik würden meine kostbare Zeit auffressen, von den gierigen Lobbyisten ganz zu schweigen. Wie viel Selbstverrat steckt in einem Lobbyisten? Oder glauben sie wirklich an Gift?

Sie funktioniert nicht nach Marktgesetzen. Sie hat tolle Jobs hingeschmissen, Städte und Länder verlassen, ich vermute, sie unterliegt ihrem eigenen Wohlfühlgesetz. Als hätte Wohlfühlen irgendetwas mit unserer globalisierten Welt zu tun, dem herrschenden Neoliberalismus, der für Armut, Krieg und Flüchtlinge sorgt, die so lange übersehen wurden, bis sie endlich bei uns ankamen. Aber das war ihre Antwort: Ich habe mich dort nicht mehr wohl gefühlt! Gut, sie kann sich ihre Aufträge aussuchen, aber Macht? Sie hat nicht einmal eine Ahnung von Macht, von dem Triumphgefühl, das es hervorbringt! Hätte sie eine Ahnung von Macht, säße sie im Labor des deutschen Geheimdienstes oder in einem Max-Planck-Institut. Aber Macht interessiert sie nicht, sie liebt lieber. Diese Arbeitsliebe ist mir immer noch so unvorstellbar, dass ich mir den Satz mehrfach vorsagen muss, um ihn wenigstens ahnungsweise zu erfassen. Ohne sie würde ich mir diese Mühe des Begreifens von Unbegreiflichem nicht antun, aber sie ist da, ist in meinem Kopf mit diesem lächerlichen Satz: Ich liebe meine Arbeit!

Liebst du um Liebe, oh ja mich liebe – ihre Zellliebe hat sich längst unter den Zellen herumgesprochen. Alle wollen zu ihr! Sie könnte Tag und Nacht arbeiten, wahrscheinlich tut sie das sogar, wenn ich nicht bei ihr bin. Öfter als jedes dritte Wochenende kann sie sich nicht frei nehmen, meine Rettungsspezialistin. Zwei Wochenenden für Zellen, eines für mich – und da soll ich nicht eifersüchtig sein?

Einmal wollte sie mir Zellen zeigen, ich habe nicht so reagiert, wie sie es sich erhoffte, habe jämmerlich versagt. Ich wollte nicht in ihr Labor, wollte durch kein Mikroskop, das sich in meine Augen drückt, schauen, ich bin kein Mikroskopdurchblicker, was hat sie erwartet? Dass ich wie sie zu schwärmen beginne von Winzigkeit, Zartheit? Sie nannte die Zellen lebendige Diamanten, so glitzern sie für sie, während mich bereits der Gedanke an sie langweilt … ich glaube, seitdem liebt sie mich weniger – wer so in Zellen verliebt ist und dann einem Menschen begegnet, der sie nicht einmal sehen will, wie soll das funktionieren? Warum kann sie mir mein einmaliges Versagen nicht vergeben? Warum musste ich ausgerechnet bei ihr versagen, wo ich sonst nie versage, ich, der absolute Funktionierer? Ich bin perfekt, außer bei ihr, warum habe ich nicht einfach ja gesagt, Vorfreude geheuchelt?

Ich konnte es nicht, war unfähig, erstarrt, ich weiß noch, was mir durch den Kopf ging: Diese Winzlinge, diese verdammten Winzlinge, die mich keine Sekunde interessieren, liebt sie mehr als mich! Dann war nur noch Schweigen, fassungsloses Schweigen, das sich zu einer unheimlichen Stille auswuchs. Zum ersten Mal erlebte ich diese bedrohliche Stille in meinem Kopf. Kein Gedanke, kein die Situation rettender Gedanke tauchte auf, nichts. Mein Verstand konnte es nicht fassen – Winzlinge!, bis heute erfasse ich es nicht …

Seitdem ruft sie mich kaum noch an. Ich rufe sie an, schicke SMS, will skypen, ich ertrage das nicht, ich ertrage ihre zunehmende Distanz nicht, diese unerträgliche Distanz …

Leo! Zu Leo hatte sie nie diese Distanz, ich habe ihr Tagebuch gelesen, sie hat nichts geschrieben vor ihm, wenig mit ihm, nach ihm nichts, dieses Schweigen ist genauso unerträglich wie die banalen Sätze aus der Zeit mit ihm, diese Sätze ertranken in mir …

Was tun gegen einen Toten?

Diese einfachen Sätze einer Zwanzigjährigen: Leo kennen gelernt, Leo wiedergesehen, Leo bei den Höhlenforschern, Leo bei mir vorbeigekommen, Leo bei der Demonstration getroffen, Leo im Vereinslokal gesehen, Leo bei der Demonstration – immer wieder Leo und sie bei einer Demonstration! Mein Gott, wie viele Demonstrationen gab es damals in diesem verbürgerlichten Salzburg? Und warum hatte Leo nachmittags Zeit zu demonstrieren? Arbeitsscheu, Kleinkrimineller, sage ich, Lebenskünstler sagt sie. Wogegen demonstrierte sie ständig mit zwanzig? Leo hat sich in mich verliebt. Leo ist zwölf Jahre älter als ich. Was soll ich mit einem alten Mann? Ich liebe ihn nicht. Leo bei der Demonstration getroffen. Leo geht neben mir, setzt mich auf seine Schultern. Er ist stark. Das tut gut. Leo hat mich zum Essen eingeladen. Leo findet mich zu dünn, überredet mich, mehr zu essen. Ich fand es zu teuer, doch er bestand darauf. Endlich habe ich etwas Gutes gegessen …

Mein Gott, wovon ernährte sie sich damals? Haben ihre Eltern sie nicht unterstützt? Unvorstellbar, kein Wunder, dass sie sich in ihn verliebte, bei seiner Beharrlichkeit und ihrem Hunger. Ich erinnere mich, sie war Schülerin, zwanzig wurde sie erst, als er starb! Ihre Eltern waren Erpresser wie alle Eltern, weil sie nicht bei ihnen wohnen wollte, lieber in einer Wohngemeinschaft, gaben sie ihr nur das Minimum, genug, um nicht zu verhungern, zu wenig, um satt zu werden. Sie wollten sie nach Hause, zum guten Essen locken, aber sie ist nicht erpressbar, durch niemanden, schon damals nicht, meine Bewunderung für sie wächst schon wieder, trotz dieses lächerlichen Leos! Ich werde sie groß ausführen das nächste Mal, ganz groß, in das beste japanische Lokal in Wien, sie liebt japanisches Essen, wäre sie in Japan geblieben, ich wäre ihr nie begegnet, ein grauenhafter Gedanke! Mit Leo hat sie zum ersten Mal chinesisch gegessen, ihre Eltern lehnten jede ausländische Küche ab, außer der französischen, erinnere ich mich. Arme Liebste, wäre ich bei dir gewesen, ich hätte dich jeden Tag zum Essen eingeladen, nicht nur hin und wieder wie Leo, geiziger Leo, nur nicht geizig, bis er dich dort hatte, wo er dich wollte. Im Bett. In seinen Armen. Nicht daran denken …

Es war ein Fehler, immer nur in das griechische Lokal ums Eck mit ihr zu gehen, sie kein einziges Mal in ein japanisches Spitzenlokal einzuladen. Das Essen dort ist gut, aber nichts Besonderes und die Speisekarte winzig. Als ich den Besitzer fragte, ob er wüsste, was wir noch nicht gegessen hätten, war ihm die Frage anscheinend so peinlich, dass er uns mit einem neuen Essen überraschte. Er servierte uns Fisch, den er wahrscheinlich für seine Familie zubereiten wollte.

Leo hat dem Rosenverkäufer alle Rosen abgekauft, sie für mich nach Hause getragen. Ich habe keine so große Vase, sie passen kaum in den Kübel.

Geht es noch kitschiger? Will sie das? Soll ich statt Cognac rote Rosen mitbringen? Lächerlich, sie ist nicht mehr das Mädchen von damals, das sich von Rosen beeindrucken ließ. Das Mädchen von damals kenne ich nicht. Ich würde sie so gerne kennen, umarmen, einladen, begleiten …

Sie wollte studieren, Essen war ihr gleichgültig. Physik, Chemie, Medizin, Biologie – irgend so ein Wahnsinnsfach, das dir keine Zeit lässt zum Leben. Biophysik? Oder alles zusammen? Damals noch möglich, heute unvorstellbar. Sie ist gebildet, meine Geliebte ist in Bereichen gebildet, von denen ich keine Ahnung habe. Ich durfte studieren, was ich wollte. Ich wollte in die Wirtschaft, wollte reich werden. Wirtschaft und Publizistik, Politikwissenschaften, meine Eltern haben sich nicht darum gekümmert, sie wussten, sie können sich auf ihren Sohn verlassen. Ihre Erziehung fand nicht mit achtzehn statt, sondern im Kleinstkindalter. Sie haben sich nicht in mir getäuscht, ich habe die besten Abschlüsse, habe noch Jus angehängt, auswendig lernen, abstraktes Denken fielen mir immer leicht, außer bei ihr. Bei ihr fällt mir nichts leicht.

Eine Hand im Nacken, eine auf der Stirn, so fühlt sie sich geborgen, das liebt sie, in diesem Handmoment bin ich glücklich, ich dehne ihn aus, bis sie die Hand wegnimmt, immer zuerst von der Stirn, ihre Hand in meine legt, es ist wunderschön, wenn sie ganz in meinen Händen liegt, ich bewege meine Hände so sanft wie möglich, damit sie meine Hände nicht wegstößt, was sie tut, sobald ich eine winzige unbewusste Bewegung mache, in Gedanken abschweife, nicht ganz und gar bei ihr/uns bin. Wie kann sie das spüren? Du bist nicht da, sagt sie und geht weg. Ich merke den Unterschied nicht. Oder ist sie immer anwesend, wenn sie mich berührt? Jetzt spüre ich ihren Kopf, er ist so zart, der zarteste Kopf, den ich je berührte. Es ist, als wären ihre Gedanken leicht, ohne Beschwernis. Ich weiß, dass ich mir das einbilde, einbilden will, aber er fühlt sich schwerelos an, frei von Erinnerungen. Ich möchte in ihn eindringen, ohne sie kann ich das, vielleicht, ich spüre, wie sie sich entspannt, ich genieße sie, es ist himmlisch, wenn sie sich meinen Händen anvertraut, diesen kostbaren, einmaligen Kopf, in dem so viel Rettung lebt, mir überlässt …

Ich liebe sie!

Was immer sie tut, ich liebe sie. Sie darf nie erfahren, wie sehr.

Sie grenzt an mich, ich will uns grenzenlos …

Sogar, wenn sie sich von mir abwendet, liebe ich sie. Solange sie sich nicht vollkommen von mir entfernt, liebe ich sie.

1

In die Arbeit fallen, in meine Zeitlosigkeit, drei Wochen zeitlos leben, immer noch fasziniert von unseren Zellen. Ich möchte ihnen ihre Vollkommenheit zurückgeben, nichts Schöneres vorstellbar als vibrierende Zellen, absolute Perfektion. Ein Gedanke der Lust, nicht des Leids. Auch Schmerz kann vollkommen sein, Zellen im Schmerzzustand, erstarrte Zellen … Absolut ist nur der Zelltod, sagte ich mir, starrte auf die tote Masse in der Petrischale, spürte meine Hilflosigkeit, meine zunehmende Wut. Ich möchte so gerne können, was ich will. Aber ich kann nur, was möglich ist.

Rettungsbesessen nennt Erik mich. Verantwortungsbewusst antworte ich. In drei Wochen wird Erik wieder bei mir sein, wird die Zeit wieder gültig, der Rhythmus von Tag und Nacht. Die zunehmenden Streiks brachten unsere Pläne manchmal durcheinander, ließen Wiedersehen ausfallen, verlängerten andere. Nie flog ich nach Berlin, immer flog Erik nach Wien. Er hasste seine Wohnung, war zu beschäftigt für einen Umzug. Erik und ich wollten den ganzen Sonntag für uns, der Nachmittagsflug hätte die Zeit zusammenschrumpfen lassen, lieber fuhr ich mit sechzig auf der Autobahn nach Hause. Mein Körper vibrierte noch und ich spürte seine Hände in meinem Nacken, ließ sie vorsichtshalber dort liegen, um mich auf den Verkehr konzentrieren zu können, überdreht von der Intensität unserer Sinnlichkeit, unserer Lust/verschmolzene Lust, jede Trennung in ihr weiter weg als die sieben Berge der Märchen. Vielleicht würde dieses Vibrieren wieder tagelang bleiben, manchmal geschah es …

Als nichts mehr fuhr, ich in einem Stau gelandet war, nichts passieren konnte, kein Mensch in Gefahr war, überfahren zu werden, merkte ich, dass meine Benzinanzeige blinkte. Während der Fahrt zum Flughafen hatte ich nur Eriks Gegenwart genossen und für Augenblicke den vertrauten Abschiedsschmerz gespürt.

Mit ihm gab es nur meine Wohnung, das griechische Lokal ums Eck und hin und wieder eine Ausstellung an einem sonnigen Tag. Sobald es regnete oder nur die vage Möglichkeit von Regen bestand, weigerte sich Erik, die Wohnung zu verlassen. Er hasste die Natur, außer vom Auto aus die Rocky Mountains oder die Torbögen aus Stein im Arches Nationalpark, ihre durch die Windschutzscheibe sichtbare Schönheit. Manchmal erinnerte ich mich noch an diese gemeinsame Reise durch die USA. Inzwischen hat sie etwas Unwirkliches, da wir weder davor noch danach gemeinsam verreist sind. Hatten wir uns wirklich nächtelang in diesen riesigen Betten geliebt? Waren wir wahrhaftig im Zentrum eines Tornados gewesen, nur um nicht von ihm durch die Luft geschleudert zu werden? Ich erinnere mich an die Schönheit des Grand Canyon, den wir mit einem Hubschrauber überflogen, um in seine Tiefe sehen zu können, manchmal sogar den Colorado River erspähend. Abends, vor dem Wohnwagen, der einzigen Bleibe, die wir in dieser verlassenen Gegend finden konnten, kam es zu diesem merkwürdigen Gespräch mit einem Ureinwohner, der immerzu lachte, während er uns von den schrecklichen Verbrechen gegen seine Menschen, die Ureinwohner dieses Kontinents, erzählte. Erik hatte sein Diktiergerät eingeschaltet, doch als wir uns die Aufnahme am nächsten Tag anhören wollten, waren nur Naturgeräusche auf dem Band. Hatten wir mit einem Geist geredet? Oder besaß dieser Mensch wirklich die Macht, alles Unwichtige beeinflussen zu können, wie er behauptet hatte? Und sein Leid sei darin begründet, dass er nur sein Leben spielerisch gestalten könne, nicht das von anderen. Seine Kumpane seien während der Uranabbauten gestorben, nichts hätte er für sie tun können, nur sein Leben retten. Ein Engel ausschließlich für sich, das sei kein Engel, sondern gleiche eher dem christlichen Teufel! Er war abwechselnd lustig und verzweifelt. Wir schrieben alles auf, woran wir uns erinnerten. Das Aufnahmegerät funktionierte perfekt. Ach, was heißt Aufnahmegerät. Erik hatte in jeder Jackentasche eines und konnte sie so einschalten, dass nicht einmal ich es merkte, wenn er manchmal ein Gespräch von uns aufnahm, das er witzig fand. Ich verließ mich lieber auf mein Gedächtnis, das Gespräche wortwörtlich wiedergeben konnte, was wir manchmal testeten, bis Erik mir glaubte.

Die Schönheit der Natur ist mir noch in Erinnerung und New York, aber bei New York bin ich mir nicht sicher, ob es das New York mit Erik ist oder das von einer der unzähligen Konferenzen, die ich dort besuchte. Mein Gedächtnis funktioniert nur, wenn etwas wichtig ist, und unterscheidbare Erinnerungen an New York findet es offensichtlich unbedeutend.

Neben der Natur hasste Erik es noch mehr, Tourist zu spielen, weswegen unsere Ausstellungsbesuche während anhaltender Schönwetterperioden immer seltener wurden. Zu viele Touristen in Wien, ausschließlich Touristen in den Museen – seine Stimme klang nicht nur empört, er war es. In Berlin hatte er sich eine Wohnung gleich neben der Redaktion gesucht, um den Touristen nicht begegnen zu müssen. Immer noch faszinierte mich sein sprechendes Gesicht, in dem sich jede Empfindung augenblicklich zeigte. Wie ein Mensch ohne die Möglichkeit der Tarnung erfolgreich inmitten von Verstellungskünstlern leben konnte, verblüffte mich immer wieder.

Niemand außer mir genoss den Stau. Das Hupkonzert wurde lauter. Manche stiegen aus, Gruppen bildeten sich. Ich entschied mich herumzufragen, ob jemand einen Reservekanister besaß und hatte Glück: Ein junges Paar half mir ohne Kommentar.

Je länger ich menschliche Zellen unter dem Mikroskop beobachtete, desto öfter passierte es mir, dass ich die Menschen um mich in ihrer Zellstruktur sah: Das freundliche Lächeln, die zärtliche Geste der Frau, die Achtsamkeit, mit der er das Benzin einfüllte, jedes wütende Gesicht der Wartenden, alles löste sich in wundervolle Zellbilder auf. Ein Glücksmoment, der dauerte, bis ich weiterfuhr.

Ich konnte dieses Wunder nicht beeinflussen. Es geschah oder es geschah nicht. Ich wünschte mir nur, dass jeder Mensch dieses Wunder erleben könnte. Diese Schönheit erleben könnte. Inmitten der Zellen gibt es nichts Hässliches. Nur Zartheit, Schwingung, Leben, Vielfalt, Veränderung, Zusammenarbeit, Verständigung, Information …

… und Deformation, nicht sichtbar …

… und Erstarrung, sichtbar …