Das verlorene Herz - Karin Bucha - E-Book

Das verlorene Herz E-Book

Karin Bucha

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Beschreibung

Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. »Henry!« schrie Angelika Oertzen verzweifelt auf. »Sag, daß das nicht wahr ist! Sag, daß du nicht mit meiner Liebe gespielt hast, daß du mich nur erschrecken wolltest… Henry, ich bitte dich, um unserer Liebe willen, nimm die häßlichen Worte zurück, wenn du nicht willst, daß ich den Verstand verliere! Henry –« Erschöpft brach Angelika ab. Ihre Arme, die sie um Henry Illenbergs Nacken geschlungen hatte, sanken zur Seite. Wie erstarrt stand sie da, vernichtet von der Erkenntnis, verraten und betrogen worden zu sein – keiner Bewegung fähig. Nur ihre großen Augen wanderten durch das Zimmer, das ihr heute so kalt und nüchtern vorkam, daß sie bis ins Herz hinein fror. Und es hatte doch einmal eine Zeit gegeben, da sie in dem gleichen Zimmer so glücklich, so unendlich glücklich gewesen war. Aber damals hatte ihr der Mann, der so unbeweglich mit kaltem Lächeln auf sie herabsah, noch nicht den Glauben an seine Liebe zerschlagen. Da glaubte sie noch an die Ehrlichkeit seiner Liebe – an seine Beteuerungen. Sie hob das von geisterhafter Blässe überzogene schöne Gesicht zu ihm auf. »Henry, versprich mir, daß du heute noch zu meinen Eltern gehen wirst. Ich kann nicht mehr, ich schäme mich vor mir selber. Täglich mahnt mich mein Vater an das Versprechen, das er Jörg Karsten gegeben hat. Jörg glaubt, daß wir so gut wie verlobt sind, und ich kann ihn doch nicht lieben, so sehr ich ihn auch achte und schätze! Ach, Henry, ich finde nachts keine Ruhe mehr, und am Tage möchte ich mich am liebsten vor den Menschen verkriechen. So hilf mir doch – hilf mir!« Er machte eine unwillige Bewegung.

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Karin Bucha Classic – 14 –

Das verlorene Herz

Karin Bucha

»Henry!« schrie Angelika Oertzen verzweifelt auf. »Sag, daß das nicht wahr ist! Sag, daß du nicht mit meiner Liebe gespielt hast, daß du mich nur erschrecken wolltest… Henry, ich bitte dich, um unserer Liebe willen, nimm die häßlichen Worte zurück, wenn du nicht willst, daß ich den Verstand verliere! Henry –«

Erschöpft brach Angelika ab. Ihre Arme, die sie um Henry Illenbergs Nacken geschlungen hatte, sanken zur Seite. Wie erstarrt stand sie da, vernichtet von der Erkenntnis, verraten und betrogen worden zu sein – keiner Bewegung fähig.

Nur ihre großen Augen wanderten durch das Zimmer, das ihr heute so kalt und nüchtern vorkam, daß sie bis ins Herz hinein fror. Und es hatte doch einmal eine Zeit gegeben, da sie in dem gleichen Zimmer so glücklich, so unendlich glücklich gewesen war. Aber damals hatte ihr der Mann, der so unbeweglich mit kaltem Lächeln auf sie herabsah, noch nicht den Glauben an seine Liebe zerschlagen. Da glaubte sie noch an die Ehrlichkeit seiner Liebe – an seine Beteuerungen.

Sie hob das von geisterhafter Blässe überzogene schöne Gesicht zu ihm auf.

»Henry, versprich mir, daß du heute noch zu meinen Eltern gehen wirst. Ich kann nicht mehr, ich schäme mich vor mir selber. Täglich mahnt mich mein Vater an das Versprechen, das er Jörg Karsten gegeben hat. Jörg glaubt, daß wir so gut wie verlobt sind, und ich kann ihn doch nicht lieben, so sehr ich ihn auch achte und schätze! Ach, Henry, ich finde nachts keine Ruhe mehr, und am Tage möchte ich mich am liebsten vor den Menschen verkriechen. So hilf mir doch – hilf mir!«

Er machte eine unwillige Bewegung. Kein Mitleid, eher Verdrießlichkeit stand in seinem Gesicht.

Angelikas Augen, diese wunderbaren Grauaugen, die in Tränen schwammen, waren in heißer Angst auf seinen Mund gerichtet. Ein Bild rührender Hilflosigkeit und unsagbar schön in der stummen Bitte um Verständnis – so sah Angelika Oertzen aus.

»Ich glaube, meine Erklärung ließ nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig«, kam es endlich nach einer für Angelika entsetzlich qualvollen Pause von seinen Lippen.

»Henry!« schrie sie entsetzt auf.

»Ich habe dir soeben erklärt, daß ich gebunden bin, gebunden an eine andere Frau, und daß ich niemals an eine Verbindung zwischen uns gedacht habe.«

Weit aufgerissen hingen Angelikas Augen an dem kaltblütigen Sprecher. Das vor Blässe förmlich leuchtende Gesicht des jungen Menschenkindes wurde hart und starr.

»Also hast du mit meiner Liebe gespielt?« fragte sie unheimlich ruhig.

»Gespielt?« Er versuchte ihr auszuweichen, aber Angelikas Augen hielten ihn irgendwie fest. Und doch war er ein schlechter Menschenkenner, wenigstens verstand er in einer mißhandelten Frauenseele schlecht zu lesen, sonst wäre er vorsichtiger gewesen. »Natürlich habe ich dich geliebt… liebe dich heute noch. Aber ich habe es nicht so ernst genommen wie du.«

»Also doch gespielt!« sagte Angelika mit tiefem Aufatmen, und dann schlug sie die Hände vor das Gesicht. Ein Schluchzen, weh und verzweifelt, rang sich über ihre Lippen – dann war es still, bedrückend still zwischen den beiden.

»Angelika!« Er versuchte ihr über das leuchtende Braunhaar zu streichen; als sie aber wie unter etwas Häßlichem zusammenzuckte, ließ er die Hand sinken.

»Benimm dich doch nicht so schrecklich theatralisch. Wenn ich gewußt hätte, daß du es so schwer nimmst, hätte ich mich dir wahrscheinlich niemals ge-nähert.«

Angelikas Kopf ruckte in die Höhe. Sie stieß einen Entsetzenslaut aus, bei dem er sofort verstummte.

»Du! Mit tausend Versprechungen und Schmeicheleien hast du mich betört, hast verstanden, mein Gewissen einzuschläfern, und nun, wo du für mich eintreten sollst, da stößt du mich kaltherzig von dir.«

Wie irr wanderte ihr Blick umher.

Was war aus ihr geworden? Ein zerrissener, verzweifelter Mensch, ohne Ehre, ohne Schutz. Sie hatte es fertiggebracht, einem Mann wie Jörg Karsten, der sie verehrte und glaubte, sich berechtigte Hoffnungen machen zu dürfen, immer wieder auszuweichen.

War diese schmachvolle Stunde der Abrechnung die Vergeltung?

Gab es für sie noch einen Lichtblick, ein Fünkchen Hoffnung auf Glück, auf das große, berauschende Glück, von dem sie einmal in den Armen dieses Mannes geträumt hatte, der doch nur ein Blender, ein gemeiner Lügner war? Der schon an eine Frau gebunden war, die er genauso belogen hatte wie sie?

»Angelika!« Henry Illenberg versuchte, noch einmal die Wärme von früher in dieses Wort zu legen, aber es hatte seine Wirkung auf Angelika vollständig verloren.

Verächtlich lachte sie auf, und das ganze Zimmer schien erfüllt von diesem verzweifelten Lachen.

»Angelika!«

Schlug das Gewissen doch in dem Mann?

Angelika riß sich los von ihm, raffte ihren Mantel vom Stuhl und warf ihn über den Arm.

»Laß mich! Rühr mich nicht an! Ich verachte dich! Ich mag nicht mehr weiterleben mit dieser Lüge.«

»Angelika!« Furcht kroch in dem Mann hoch. Er wollte das junge Mädchen zurückhalten, aber da war es schon aus dem Zimmer geflohen.

Angelika zu folgen, das wagte er nicht. Sie würde vielleicht das ganze Haus aufmerksam machen, und dann war er bloßgestellt.

Eine Zigarette rauchend, wanderte er ruhelos hin und her.

Einen Ausweg! – Einen Ausweg!

Angelika aber lehnte einen Augenblick, aller Kraft beraubt, draußen am Türrahmen, das Herz arbeitete wild und ungestüm und drohte die Brust zu sprengen. Nur ein paar Sekunden blieb sie in dieser Bewegungslosigkeit, bis sie die Schwäche überwunden hatte, dann stürzte sie davon, floh hinaus in den grauen regenverhangenen Novemberabend.

*

»Da schau, schon fertig!«

Jörg Karsten zog den Freund, Hans Michel, vor die Büste, die im günstigsten Licht des weiten Ateliers stand und wunderbar lebendig auf seine Beschauer herabblickte.

»Wundervoll«, war alles, was Hans Michel hervorbrachte, und von der letzten Arbeit des Freundes hinweg sah er auf Jörg Karsten. »Du arbeitest wie ein Besessener, Jörg. Du mußt etwas mehr haushalten mit deinen Kräften.«

Jörg Karsten lachte nur auf und reckte sich in den Schultern.

»Wie ein Fieber ist es über mich gekommen, seit Angelika in mein Leben trat. Ich habe den Kopf voller Ideen. Es gilt ja, Angelika eine sichere Zukunft zu schaffen, denn wenn sie ihre Liebe auch noch nicht zugegeben hat, so weiß ich doch, daß sie mich achtet und mein Können schätzt!«

Eine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt mit einem schmalen, interessanten Kopf und immer etwas wildem Haar, eine hohe, kantige Stirn und darunter kluge, treue, zuweilen herrisch blitzende Augen – das war Jörg Karsten, der Bildhauer. Er war mit seinen ersten Arbeiten an die Öffentlichkeit getreten und hatte damit Aufsehen erregt.

»Übrigens muß ich gleich fort«, sagte Jörg Karsten. »Mein zukünftiger Schwiegervater erwartet meinen Besuch, heute noch. Denk mal, er schlägt mir vor, mich an dem ausgeschriebenen Wettbewerb zu beteiligen.«

»Es handelt sich doch nicht etwa um den Entwurf für das Relief in der neu zu erbauenden Kongreßhalle?« warf Jörg Karsten ein.

»Doch, du hast es erraten.« In Jörg Karstens Augen stand ein stilles Leuchten.

»Dein ehemaliger Lehrer setzt großes Vertrauen in dich.«

Karstens Brust weitete sich in einem glücklichen Atemzug. »Ja, das tut er, und ich werde ihn nicht täuschen. Ich werde den Entwurf ausarbeiten. Deshalb muß ich heute noch zu ihm. Natürlich freue ich mich auch unbändig auf ein Wiedersehen mit Angelika. Infolge Überarbeitung habe ich sie in letzter Zeit etwas vernachlässigt. Aber Angelika versteht mich. Sie ist eine wunderbare Frau.«

»Ja, sie ist eine wunderbare Frau«, setzte Hans Michel zustimmend hinzu. Dann streckte er dem Freund die Hand hin. »Also Hals- und Beinbruch, alter Junge. Du wirst deinen Weg und dein Glück machen!«

Nach einer halben Stunde verließen die beiden Freunde Jörg Karstens Wohnung. Vor der Haustür trennten sie sich. Michel schlug den Weg in die Stadt ein, während Jörg Karsten durch den nebligen Novemberabend der Vorstadt zueilte. Dort stand das Haus seines Lehrers und zukünftigen Schwiegervaters, Prof. Oertzen.

Nun waren seine Gedanken wieder ganz erfüllt mit der Erinnerung an Angelika. Er sah sie vor sich, die ganze lichte Erscheinung mit den wunderbaren Augen. Noch nie hatte er Augen von solcher Tiefe und Klarheit gesehen.

Ein weiches Lächeln stand um seinen Mund. In Italien auf einem Maskenball hatte er sie zum ersten Mal gesehen – allerdings in Maske. Die Schönheit ihrer Gestalt war ihm gleich aufgefallen. Sie hatte sein Künstlerherz sofort gefesselt. Ein paar wunderschöne Stunden hatten sie zusammen verbracht – bis zur Demaskierung – da war sie plötzlich verschwunden, und er hatte sie gesucht den Rest des Abends und – nicht gefunden.

Überall hatte er nach ihr geforscht, und durch Zufall war sie ihm als Tochter seines Lehrers wiederbegegnet. Er versuchte, sich ihr scheues Herz zu erringen, und obwohl Angelika immer wieder versuchte, seiner offenen Werbung auszuweichen, gab es nur noch eine Frau in seinem Leben – Angelika!

Angelika!

Er stutzte. Vor ihm huschte ein junges Mädchen quer über die Straße.

Das war doch Angelika?

Er ging schneller und tauchte plötzlich neben dem wie geistesabwesend seinen Weg nehmenden Menschenkind auf.

»Angelika!«

Angelika fuhr zusammen beim Klang der wohlbekannten Stimme, und ein heißer Schreck zuckte ihr zum Herzen.

»Jörg – du? Wo – wo kommst du her?«

Er zog ihren Arm durch den seinen, lachte hell und glücklich auf.

»Dasselbe wollte ich dich eben fragen.« Er fühlte durch den Stoff ihres Mantels das Zittern ihres Körpers. »Du zitterst ja, Angelika. Ist dir kalt? Warst du Besorgungen machen?«

»Ja – ich habe – ich habe für Mama etwas zu erledigen gehabt«, stammelte sie. Sie hätte am liebsten ihre Arme um den Hals des Mannes geschlungen, dessen warme, tiefe Stimme so wunderbar beruhigend klang. Sie hätte sich in seine Ar-

me flüchten mögen. Aber das durfte sie nicht!

Sie mußte weiterhin Komödie spielen. Nur dieses eine Mal noch, dann war es so gleichgültig, was kam!

»Was hast du nur, Angelika?« drängte Jörg Karsten besorgt.

»Nichts, Jörg – mich hat ein wenig gefroren – und dann – mein Kopf!«

Tatsächlich, der Kopf schmerzte zum Zerspringen, und die Gedanken sprangen wie Irrlichter durcheinander.

»Du wirst doch nicht krank werden?«

In Jörg Karstens Stimme lag alle Liebe, alle Fürsorge, und Angelika mußte die Lippen ganz fest zusammenpressen, damit sie nicht aufschrie, ihr ganzes Leid, ihre Seelennot vor diesem Mann ausbreitete. Aber dann – gerade dann hätte er sich wahrscheinlich noch größere und doch vergebliche Hoffnungen gemacht!

»Nichts, Jörg, nur Kopfweh. Ich werde mich gleich hinlegen.«

Enttäuschung glitt über Jörg Karstens Züge, aber er nickte zustimmend.

Sie sprachen wenig bis zu Prof. Oertzens Haus. Und Angelika war ihm doppelt dankbar dafür. So konnte sie sich sammeln und die wahnsinnige Unruhe in sich niederzwingen.

Als sie in der anheimelnden Diele standen, brachte sie sogar ein schattenhaftes Lächeln zustande.

Jörg Karsten sah es, und es schnitt ihm tief ins Herz.

»Gute Nacht, Jörg!« Sie wandte sich langsam zum Gehen, schwerfällig, taumelte ein wenig – und da stand Jörg schon wieder neben ihr.

»Soll ich nicht lieber den Arzt rufen?«

»Nein! Nein!« wehrte sie heftig, ja, sie schrie es fast heraus, und da schlang sie in ihrer Verzweiflung die Arme um seinen Hals und stammelte: »Hab vielen Dank für deine Freundschaft, Jörg, vielen Dank – und verzeih mir, daß ich dich so oft enttäuschen mußte!«

Kopfschüttelnd sah Jörg hinter der die Treppe hinauffliehenden Mädchengestalt her.

»Wie sonderbar sie ist«, murmelte er, dann ging er in das Atelier Prof. Oert-zens.

*

»Ich freue mich über dich, Jörg«, sagte Prof. Oertzen, als sie sich in einer Ecke des weiten Ateliers gegenübersaßen. »Ich bewundere deine Schaffensfreude und den Ernst, mit dem du an jede Aufgabe herangehst. Du wirst noch einmal Großes in deinem Beruf leisten. Und ich bin stolz, daß ich dein Lehrer war.«

Die Bewegungen des alten Herrn waren jugendlich. Aus ihnen sprach die innere Freude, die Begeisterung, mit der er sich Jörgs Arbeiten annahm. Er griff in den Glastisch und brachte eine Flasche zum Vorschein.

»Komm, Jörg«, sagte er angeregt. »Wir trinken einen Kognak zusammen. Übrigens muß ich sagen, daß du nicht sehr glücklich aussiehst.«

Jörg Karsten nahm das Glas entgegen und erwiderte nachdenklich:

»Ich habe Sorgen!«

Prof. Oertzen lachte hellauf.

»Du – Sorgen?«

»Ja, ich mache mir ernstliche Sorgen um Angelika. Sie gefällt mir nicht recht, sie scheint krank zu sein. Ob man den Arzt einmal zu Rate zieht?«

Prof. Oertzen machte eine beschwichtigende Handbewegung.

»Prost, mein Junge! Also um Angelika sorgst du dich? Was wird sie schon haben, etwas Kopfweh, oder aber…«, er wurde ernst und überlegend. »Es könnte auch die Möglichkeit bestehen, daß sie wieder Post von ihrer Schwester bekommen hat.«

Jörg Karsten fuhr ungläubig lächelnd auf.

»Ich denke, Angelika ist dein einziges Kind? Nun hat sie plötzlich eine Schwester?«

Eine tiefe Falte entstand zwischen den dichten Brauen des Professor.«

»Jörg – du bist ja ein Freund und Vertrauter unserer Familie geworden, wirst sogar, wie ich hoffe, überhaupt bald ganz zu uns gehören. Also will ich dich unterrichten.

Angelika hat noch eine ältere Schwester. Sie hat sich mit mir und meiner Frau eines Mannes wegen überworfen und uns dann verlassen, um sich ihr Leben selbst aufzubauen und nach ihrem Geschmack einzurichten. Sie hat den gleichen Beruf wie du, ist Bildhauerin und wollte mit dem Kopf durch die Wand. Es ging damals hart auf hart, und sie brach alle Brücken hinter sich ab. Nur ab und zu schreibt sie kurze Grüße an Angelika. Die beiden Mädchen haben wie die Kletten aneinander gehangen. Wenn ein solcher Gruß ins Haus flattert, ist Angelika immer traurig und wie ausgewechselt. Dann läuft sie mit einem vorwurfsvollen Gesicht umher, als wolle sie uns für die Trennung von Alexandra ganz allein verantwortlich machen.«

Ein Laut der Erleichterung zitterte durch den Raum.

»Das ist ja interessant – dann bin ich beruhigt. Ich dachte schon, Angelika sei krank. Du weißt, daß ich nur den einen Wunsch habe, dein Kind glücklich zu machen.«

»Ich weiß, ich weiß«, winkte der Professor ab und maß das scharfgeschnittene Gesicht des jungen Künstlers mit einem fast liebevollen Blick. »Aber ihre Mutter wird sie schon wieder zur Vernunft bringen.«

Damit war für den Professor die Angelegenheit erledigt, die Jörg Karsten sehr beunruhigt hatte. Aber die Aussprache mit seinem Schwiegervater hatte ihm Angelikas sonderbares Verhalten in ein anderes Licht gerückt, und von neuem hoffte er, sich Angelikas Liebe bald endgültig zu erringen.

*

In der endlosen, qualvollen langen Nacht, die diesem Abend folgte, rang ein junges, um seine Liebe betrogenes, aller Ideale beraubtes Menschenkind mit sich und seinem Herzen, und als der Morgen graute, da stand Angelika Oertzen reisefertig vor der erschrockenen Mutter.

»Ich verstehe dich nicht, Angelika«, klagte die kleine Frau besorgt und maß das schöne, glühende Gesicht der Tochter mit einem ängstlichen Blick. »Gestern warst du krank, und heute willst du verreisen? Was soll ich Jörg sagen? Er will wiederkommen, sich nach deinem Befinden erkundigen. Das sieht ja beinahe wie Flucht aus.«

»Aber Mama!« Angelika fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung über die brennenden Augen. Um ihren blaßroten Mund stand ein Zug stummer Qual. »Wenn Jörg kommt, bin ich wieder zurück. Margarete bat so dringend um meinen Besuch.«

Sie brach jäh ab. Es war, als wollte die Lüge doch nicht über die Lippen. Sie wandte sich hastig ab von der Mutter, warf einen Blick auf den gepackten Handkoffer und richtete sich entschlossen auf. »Ich muß fort, Mama, bitte, halte mich nicht auf, sonst versäume ich den Zug.«

»Und was soll ich Vater sagen?« fragte Frau Klementine verletzt. Sie verstand das sonderbare Benehmen der Tochter nicht.

Angelika dachte an den Brief, der für den Vater bestimmt war und den sie in den nächsten Postkasten werfen wollte.

»Sag ihm, daß ich zu Margarete gefahren bin und morgen wieder da sei.« Das letzte kam wie ein Hauch.

Frau Klementine umklammerte die Schultern ihres Kindes und drehte es zu sich herum.

»Angelika, du verschweigst mir etwas«, sagte sie eindringlich, von einem Gefühl drohenden Unheils befallen. »Es handelt sich auch nicht um einen Freundschaftsbesuch. Hab doch Vertrauen zu mir, zu deiner Mutter.«

Ein Lächeln, das beruhigend sein sollte, das aber viel zu schattenhaft war, glitt um Angelikas Mund.

»Was du nur hast, Mama. Ein harmloser Besuch, weiter nichts. Lebe wohl, Mama!«

Frau Klementine fühlte die kalten Lippen ihres Kindes auf Mund und Wangen, und ehe sie recht zur Besinnung kam, hatte Angelika das Zimmer verlassen.

»Angelika!«

Ungehört verhallte der Ruf. Frau Klementine lief ans Fenster, sah hinter der schlanken, eiligen Erscheinung her, und ein Gefühl unsagbarer Angst schnürte ihr die Kehle zusammen.

»Angelika!«

Das junge Mädchen verhielt den Schritt und drehte sich um. Sie hob die Hand zum Gruß, aber ihr Blick glitt wie geistesabwesend an der Hausfront entlang.

Fort – nur fort – nicht schwach wer-den!

»Mein Gott!« flüsterte Frau Klementine und preßte in einem Gefühl von Hilflosigkeit und Angst die Handflächen zusammen. »Soll ich etwa auch noch das zweite Kind verlieren?«

Wie gehetzt legte Angelika Oertzen den Weg zum Bahnhof zurück. Unterwegs hatte sie den Brief an den Vater, dem sie ihre ganze Not geoffenbart, in den Postkasten geworfen.

Seitdem fühlte sie sich erleichtert.

Nun konnte sie nicht mehr zurück. Nun mußte das Schicksal seinen Lauf neh-men.

Sie wählte aber nicht den Zug, der sie zu der Freundin bringen sollte, sondern bestieg den bereitstehenden Zug nach Rosenheim.

In Rosenheim wohnte Alexandra, die geliebte Schwester, zu der es sie hinzog. Seit einiger Zeit bewohnte diese wieder ihr Heim, in dem sie schon vor ihrer Studienreise gelebt hatte. Dorthin wollte sie flüchten mitsamt ihrer Not, ihrer Schmach!

Erst als der Zug aus der Halle dampfte, hinein in eine neue, ungewisse Zukunft, zwang Angelika die maßlose Erregung etwas nieder.

Jörg, der treue, gütige Mann, dem sie einmal angehören sollte und den sie doch nicht lieben konnte, noch viel weniger betrügen wollte – er würde hoffentlich den Schlag verwinden, den sie ihm zugefügt hatte.

Ja, wäre Henry nicht in ihr Leben

getreten, hätte er es nicht vergif-

tet…

Ach, wie unerträglich der Kopf schmerzte. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Nichts mehr denken! Alles würde bald vorüber sein, alle Kämpfe, alle innere Not.

*

Es war ein leises zaghaftes Klingeln, das die junge Frau an die Wohnungstür lockte. Betroffen fuhr Alexandra zurück, als sie der Schwester gegenüberstand.

»Angelika – du?«

Sie zog, das schöne Gesicht von freudigem Rot übergossen, die Schwester in die kleine Diele.

»Alexandra!«

Polternd fiel Angelikas Handkoffer zur Erde. Mit einer fast wilden Gebärde schlang sie die Arme um Alexandra und hing ihr schluchzend am Hals.

Mehr erschreckt als erfreut von diesem Leidenschaftsausbruch preßte Alexandra die Schwester an sich.

»Aber Angelika, so beruhige dich doch! Wie kommst du hierher zu mir? Weshalb weinst du so bitterlich?«

Angelika sah wohl das Ungewöhnliche ihres Benehmens ein. Beschämt löste sie sich von der Schwester, die sie infolge Alexandras Bruch mit den Eltern beinahe zwei Jahre nicht gesehen hatte.

»Es ist nichts als Wiedersehensfreude«, stammelte Angelika und ließ sich in das Wohnzimmer ziehen.

Dort saßen die Schwestern auf der Couch. Jede hockte auf einer Ecke. Sie sahen sich forschend an und schwiegen.

Alexandra betrachtete stumm die wenige Jahre jüngere Angelika, die ihr merkwürdig verändert vorkam und nichts mehr von der sonnigen Heiterkeit von früher an sich hatte. Auch deren Blick suchte beharrlich den Boden. An die Tränen der Wiedersehensfreude glaubte sie nicht mehr.

»Du bist davongelaufen?« fragte sie, und es klang bereits wie eine Feststellung.

Angelikas Kopf flog in die Höhe.

»Man könnte es so nennen – das heißt – zwischen mir und den Eltern besteht nichts, gar nichts. Seitdem du uns verlassen hast, haben sich die Eltern noch inniger an mich geschlossen, Alexandra, weshalb bist du niemals wiedergekommen? Es wäre vielleicht alles, alles anders gekommen.«

»Wir wollen lieber von dir und deinem Kummer, aber nicht von den Eltern und mir sprechen.«

Angelika zuckte zusammen. Da war wieder dieses Harte, Unversöhnliche, dieses Bestimmte, das Alexandra schon immer eigen gewesen war.

Plötzlich glitt sie aus ihrer Ecke heraus, saß neben Alexandra und umschlang sie mit beiden Armen, schmiegte ihr heißes, tränennasses Gesicht an das der Schwester.

»Hilf mir, Alexandra. Ich – ich…«

Ihre Stimme brach, ging in einem heißen Tränenstrom unter, und jedes weitere Wort erstickte.

Gütig, mütterlich, nahm Alexandra die jammernde Schwester in ihre Arme. Sie hatte es gefühlt. Angelika trieb ein Leid – ein großes seelisches Leid zu ihr.

»Was ist es, Angelika? Vertrau dich mir an!«

Abermals löste Angelika sich von der Schwester, rückte ein Stück von ihr ab und schlang die Arme um die Knie. Ihre Tränen waren versiegt, und ihre nunmehrige Ruhe wirkte starr und unnatürlich. Sie begann zu erzählen, mit tonloser, seltsam harter Stimme.

»Er hat mich betrogen, Alexandra, er hat mir Liebe vorgegaukelt, und ich habe ihm vertraut, grenzenlos vertraut. Ich habe einen entsetzlichen Kampf geführt mit mir und meinem Herzen. Mein Gewissen mahnte, ließ mir keine Ruhe. Als ich in meiner Not keinen Ausweg mehr sah, stellte ich den anderen vor die Entscheidung, und – da erfuhr ich, daß er gebunden ist, daß er meine Liebe nur als eine nette Abwechslung betrachtet und gewissenlos genommen hatte. Mein Leben ist vernichtet. Ich weiß nicht, wie ich das tragen soll – ohne Ehre…«

Sie barg mit einem qualvollen Stöhnen das Gesicht in den Händen. Das Letzte, Schwerste wollte nicht über die Lippen. Aber Alexandra, wenn auch nur wenig älter, so doch viel lebenserfahrener als die Schwester, die noch nicht aus dem Elternhaus und seiner schützenden Atmosphäre herausgekommen war, hatte es sofort erfaßt.

»Arme Angelika!«

»Was soll ich tun? Rate mir, hilf mir!« rief Angelika leidenschaftlich.

»Sei ehrlich und wahr zu deinem Jörg. Wenn er der gütige Mann ist, wie du ihn mir geschildert hast, wird er dich verstehen und dich freigeben.«

»Aber der andere kann mich doch nicht heiraten«, schrie Angelika wild auf. »Er denkt auch nicht daran. Kaltlächelnd hat er mir gestanden, daß ich töricht gewesen wäre, ein für ihn reizvolles Spiel für Ernst zu nehmen!«

Angelika wimmerte leise vor sich hin. »Er ist ein gewissenloser Mensch. Ich habe es zu spät erkannt, aber ich liebe ihn, liebe ihn vielleicht jetzt noch. Ach, ich weiß es nicht, ich bin wie ausgebrannt. Mein Herz kann sich bald nicht mehr auflehnen. Das war zuviel, was ich in den letzten Wochen durchlitten und durchkämpft habe.«

»Wer ist der Mann, der dich ins Unglück gestürzt hat?«

Angelika schwieg. Alexandra drängte: »Sag mir den Namen, Angelika!«

»Nein, Alexandra, niemals! Der Name kommt nicht über meine Lippen. Es würde ein neues Unglück entstehen, denn Jörg würde ihn suchen und auch finden und ihn zur Rechenschaft ziehen. – Ich muß es allein, ganz allein bis zum bitteren Ende tragen.«

Alexandra strich sanft über den gesenkten Kopf der Schwester.

»Weine nicht mehr, Angelika. Es wird sich ein Ausweg finden lassen. Nun bist du bei mir, und ich werde dir helfen. Du legst dich jetzt in mein Bett und denkst immer daran, daß deine Not bei mir in den allerbesten Händen ruht. Ich muß leider auf eine Stunde fort – eine unaufschiebbare Angelegenheit. Du wirst aber nicht lange allein sein. Mein Mann muß jeden Augenblick kommen.«

Angelikas Augen weiteten sich vor Staunen.

»Dein Mann, Alexandra – ja aber – seit wann bist du verheiratet? Und du hast mir das nicht mitgeteilt?«

Alexandras schönes Gesicht überzog sich mit glühender Röte.

»Ich wollte es vorläufig noch geheimhalten vor dir und den Eltern. Ja – ich bin seit ein paar Monaten verheiratet, und ich bin unaussprechlich glücklich.« Sie sah den Schatten auf Angelikas Gesicht und zog die Schwester innig an sich. »Du wirst ihn kennenlernen, meinen Mann, und von ihm genauso begeistert sein wie ich.«

Angelikas Herz krampfte sich vor Weh zusammen. So glücklich durfte die Schwester sein, während sie… Weinend barg sie den Kopf an Angelikas Brust. Schlafen – nur schlafen!

Alexandra redete mit ihrer wohlklingenden Stimme begütigend auf die Schwester ein und hatte dabei doch das Gefühl, als würde sie kaum verstanden. Aber die Hauptsache war, Angelika ließ sich entkleiden und zu Bett bringen.

»Schlaf schön, mein Liebes. Wenn ich wieder da bin, reden wir weiter zusammen. Und…«

Ungestüm faßte Angelika nach der Hand der Schwester und drückte ihre heißen Lippen darauf.

»Ich danke dir, vielen Dank. Ich verdiene ja deine Güte gar nicht.«

Alexandra riß sich los, weil sie sich nicht länger beherrschen konnte. Sie stürmte davon. Fort – nur fort aus dem Bereich der verzweifelten, hoffnungslos in die Welt blickenden Augen. Das Herz konnte sich einem umdrehen vor so viel Jammer.

Im Nu saß Angelika aufrecht, lauschte mit angehaltenem Atem auf das Zuklappen der Wohnungstür, dann sprang sie aus dem Bett.

Und nun begann eine unruhige, rastlose Wanderung in dem kleinen Wohnzimmer. Von der Tür zum Fenster und wieder zurück. Ihre Augen hatten sich so schnell an das Halbdunkel gewöhnt, daß sie nicht einmal an die Sessel stieß. Sie zuckte nur ab und zu zusammen, wenn sich von draußen der Laut einer Hupe zu ihr verirrte.

Unaufhörlich kreisten die Gedanken hinter ihrer Stirn. Hier Jörg Karsten, der sie liebte, der an sie glaubte und den sie so schwer verletzt hatte. Dort der Mann, dem sie sich selbst und ihr junges, heißes Herz zu eigen gegeben – und der sie nun, da sie aus ihrer inneren Not keinen Ausweg mehr gefunden, kaltlächelnd von sich gestoßen hatte.

Sie begann in sinnloser Hast Gegenstände aufzunehmen und wieder hinzulegen. Sie schob Schubfächer auf und wieder zu, nur um sich irgendwie von den entsetzlichen Gedanken abzulenken.

Da fühlte sie etwas Kaltes zwischen den ruhelosen Fingern. Sie starrte aus großen, angstvollen Augen darauf nie-

der. Zaghaft griff sie nach dem Revol-

ver.

Die zarte Gestalt im langwallenden Nachtkleid stand plötzlich vor dem tiefen, bis zum Erdboden reichenden Spiegel, und die kleine Hand, die den Revolver umspannt hielt, hob sich Millimeter um Millimeter – kam der Schläfe immer näher.

Um den blassen halbgeöffneten Mund lag ein weltfremdes, süßes Lächeln.

Sie stand wie gelähmt, starrte aus angstgeweiteten Augen in den Spiegel – sah, wie die Tür aufgerissen wurde und ein Mann eintrat.

Sie wankte – der Revolver fiel polternd zu Boden. Sie aber sah nur den Menschen, dessen Bild der Spiegel zurückwarf.

»Henry!« Das war ein so wilder, verzweifelter Aufschrei, daß es den Mann, der regungslos am Türrahmen lehnte, schreckhaft durchfuhr.

Gütiger Himmel! Der Mann dort, dessen Gesicht sie unter Tausenden erkannt hätte – es war Henry Illenberg – und er war der Mann ihrer Schwester?

Weshalb tat sich die Erde nicht auf? – Weshalb öffnete sie sich nicht, um sie mitsamt ihrer Not zu verschlingen?

Rote Nebel wallten vor ihr auf – ihre Hände fuhren ins Leere.

Alexandras Mann hatte ein Doppelleben geführt?

Sie stürzte vorwärts, suchte nach einem Halt und brach mit einem grellen Aufschrei, der schaurig von den Wänden widerhallte, ohnmächtig zusammen.

Henry Illenberg schüttelte die Lähmung von sich und sprang auf sie zu.

Ihm war plötzlich zumute, als hielte eine eiskalte Faust seine Kehle umspannt.

»Angelika!«

Wie kam Angelika hierher? War das die Rache des in seiner Liebe betrogenen Menschenkindes, daß es gerade hier, in seinem Heim, seinem Leben ein Ende setzen wollte?

Und er – er allein trug die Schuld an diesem Verzweiflungsakt!

Er war zur rechten Zeit gekommen. Angst, wahnsinnige Angst griff nach ihm. Gedanken durchschossen ihn, Gedanken an eine Ausflucht und Gedanken, die schlecht und gefährlich waren.

Wenn er nun nicht rechtzeitig gekommen wäre? Dann – dann wäre Angelikas Mund für immer verstummt!

Er ließ die Ohnmächtige aus seinen Armen auf den Teppich gleiten und schlug die Hände vors Gesicht.